die Zeitenwende in Syrien ist unser heutiger Schwerpunkt:
Markus Bickel analysiert die Lage vor Ort, worauf es für die Wahrung des inneren Friedens jetzt ankommt und was die israelischen Bombardierungen bedeuten. Thomas Wiegold blickt auf die Reise des deutschen Verteidigungsministers Boris Pistorius in den Irak und nach Jordanien und dessen Ankündigung, dass die Bundeswehr einen Beitrag für Syrien leisten muss. Und im Standpunkt erklärt Bente Scheller, die bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin für Nahost und Nordafrika verantwortlich ist, wie Assad an seiner eigenen Brutalität zerbrach.
Eine gute Lektüre wünscht
Keine 120 Stunden sind seit dem Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad vergangen, und überall im Land werden die Schrecken von 60 Jahren Baath-Diktatur sichtbar. Besonders deutlich bei der Befreiung des Sednaya-Gefängnisses nördlich von Damaskus: Mehr als 30.000 Insassen ließen die Schergen von Assads Sicherheitsapparat hier seit Beginn der Revolution 2011 bis 2018 töten, oder sie verstarben an den Folgen von Folter oder mangelnder medizinischer Versorgung und Ernährung.
Die Vergeltungs- und Rachemaßnahmen gegen die Verantwortlichen von Assads Folter- und Unterdrückungsapparat einzudämmen, zählt zu den schwierigsten Aufgaben im Übergang von Krieg zu Frieden, von Diktatur zu freiheitlichem System. Auch im Achtpunkteplan des Auswärtigen Amts “für ein freies und demokratischen Syrien” wird der Punkt prominent aufgeführt. Syriens neuer starker Mann, Ahmed al-Scharaa, bislang unter seinem Nom de Guerre Abu Mohammed al-Jolani bekannt, sende die richtigen Signale, sagen westliche Diplomaten: Amnestie für die einfachen Rekruten, strafrechtliche Verfolgung von für Verbrechen verantwortliche Geheimdienstoffiziere.
Ob es der von Hayat Tahrir al-Schams (HTS) geführten Islamistenallianz gelingt, den inneren Frieden im Vielkonfessionsstaat Syrien zu bewahren, ist die größte innenpolitische Frage fünf Tage nach dem Sturz Assads. Zugleich dringen regionalpolitische Akteure mit aller Gewalt in das militärische Vakuum hinein, das die Implosion des Sicherheitsapparats hinterlassen hat – und schaffen auf dem Boden Fakten, die als Verhandlungsmasse bei einer internationalen Syrien-Konferenz 2025 genutzt werden können.
Bis zu 80 Prozent der syrischen Militärbestände seien in den ersten 72 Stunden nach dem Umsturz in Damaskus zerstört worden, teilten die Israel Defense Forces (IDF) mit, bei mehr als 350 Angriffen in allen Landesteilen. Vergleichbar ist dieses Vorgehen allenfalls mit der Zerstörung der ägyptischen Luftwaffe am ersten Morgen des Sechstagekriegs 1967, wobei die IDF in Syrien neben Flugzeugen auch Flugabwehrsysteme und Mittelstreckenraketen, Panzer, Schiffe, Munitionslager sowie Chemiewaffenentwicklungslabore zerstörten und damit die Angriffsfähigkeiten der staatlichen syrischen Streitkräfte bis auf Weiteres ausschalteten. Ziel sei es, meint Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, diese aus den Händen der in Syrien siegreichen islamistischen Kämpfer zu halten.
Dass Israel den Sturz Assads nutzt, um militärische Fakten zu schaffen, ist dramatisch – dafür aber gebe es “absolut keine völkerrechtliche Grundlage”, so der UN-Sonderberichterstatter für die Förderung der Menschenrechte, Ben Saul, Mitte der Woche in Genf. Syrien präventiv zu entwaffnen, wie Israel es nun tue, setze einen gefährlichen Präzedenzfall und sei ein “Rezept für weltweites Chaos”.
Israel hat sich durch sein rasches militärisches Vorgehen allerdings eine strategische Überlegenheit gegenüber Syrien gesichert, wie sie das Land seit der Gründung 1948 nie hatte. Der Abschreckungscharakter, der durch den Terrorüberfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 verloren gegangen war, ist ebenfalls wiederhergestellt.
Hundert Jahre nach dem kolonialen Sykes-Picot-Geheimabkommen, in dem Frankreich und Großbritannien 1916 ihre Einflusssphären nach dem Ende des Osmanischen Reiches absteckten, ziehen die Türkei und Israel nun möglicherweise manche Grenzen neu: Zwar setzen EU-Diplomaten Hoffnung in das Versprechen Netanjahus, dass die IDF sich wieder aus der UN-Pufferzone auf dem Golan zurückziehen werde, doch eine Aufgabe des strategisch wichtigen Hermel-Gebirges ist unwahrscheinlich.
Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wird versuchen, der von ihm unterstützten Islamistenmiliz Syrische Nationale Armee (SNA) eine starke Rolle in einer künftigen Regierung nationaler Einheit in Damaskus zu verschaffen. Zunächst aber setzt er wie Netanjahu auf die militärische Karte: In den vergangenen Tagen ist es der SNA gelungen, die von den USA unterstützten Syrian Democratic Forces (SDF) aus Manbij am Westufer des Euphrats zu verdrängen. Nun toben Kämpfe um Kobane, die Stadt an der Grenze zur Türkei, die der syrische PKK-Ableger YPG (Volksverteidigungseinheiten) 2014/15 mit Unterstützung mehrerer Nato-Staaten gegen den Islamischen Staat (IS) verteidigte.
Netanjahu und Erdogan sind die Gewinner des Umsturzes in Damaskus, Russlands Präsident Wladimir Putin und Irans Oberster Führer Ali Khamenei vorerst die Verlierer der Zeitenwende in Nahost. Inwieweit die neuen islamistischen Herrscher in der Lage sein werden, Racheakte gegen Verantwortliche von Assads Geheimdienst-Folter- und Überwachungsapparats zu verhindern, wird für den Ausgang des Übergangsprozesses ebenso entscheidend sein.
“Pragmatische Friedenspartei” – so könnte die Überschrift für eine sozialdemokratische Sicherheitspolitik in der nächsten Legislaturperiode lauten. Wie das geht, hat Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem jüngsten Ukraine-Besuch deutlich gemacht: Einerseits Waffen liefern, andererseits verhindern, dass Deutschland – und die Nato – in eine direkte Auseinandersetzung mit Russland gezogen wird. Mit seiner Doppelstrategie glaubt der Spitzenkandidat, die Seele der Sozialdemokratie zu erreichen. “Pragmatismus”, gerade auch im Umgang mit den USA oder China, ist dabei genauso wichtig wie das Wort “Frieden”. Es besänftigt den linken Flügel der Sozialdemokratie, den die “Kriegstüchtigkeit” eines Boris Pistorius mächtig verschreckt hat.
Zu einem pragmatischen Handeln gehört laut SPD-Verteidigungspolitiker Joe Weingarten die Erhöhung der Verteidigungsausgaben von jetzt zwei auf mindestens drei Prozent. Weingarten, Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der Nato, hält dies angesichts der Planungsziele der Nato für zwingend notwendig. Auch die neue US-Administration unter Donald Trump werde dies fordern, “davon müssen wir weiterhin ausgehen”.
Anders als viele europäische Staaten wie Polen oder Frankreich, die bereits den direkten Kontakt zum designierten US-Präsidenten Trump suchen, will Fraktionschef Rolf Mützenich sich ihm “als stolzer Demokrat nicht anbiedern”. In seiner Grundsatzrede anlässlich der Willy Brandt Lecture Anfang Dezember stellte er auch die vereinbarte Stationierung von US-Mittelstreckenraketen ab 2026 in Deutschland zur Disposition. “Sie erhöhen die Gefahr einer unbeabsichtigten Eskalation.” Die SPD ist in dieser Frage also gespalten.
Eines der heikelsten Themen für die SPD im Wahlkampf ist der Umgang mit Russland. Fraktionschef Mützenich bringt das Idol Willy Brandt ins Spiel – und erhält dafür großen Beifall vom linken Flügel, der sich in der “Kriegstüchtigkeits-Debatte” an den Rand gedrängt gesehen hat. Auch Brandts Entspannungsdiplomatie in Richtung Ostblock sei anfangs belächelt worden, erklärte Mützenich. Langfristig müsse man mit Russland eine “friedliche Koexistenz” anstreben. Ein Mitglied der SPD-Parteispitze fasste diese Politik so zusammen: “Nach dem Bruch der Ampel können wir endlich wieder SPD pur machen.”
Eine selbstkritische Analyse der vergangenen Russland-Politik ist aus den Reihen der “Friedens”-Apologeten nicht zu hören. Die Situation in Syrien zeige eher, wie Putins Einfluss schwinden könne, erklärte ein Mitglied des Parteivorstands. Laut Mützenich müsse man “gerade jetzt” auf diplomatische Lösungen setzen, “unabhängig davon, wie realistisch sie sind”. Der Fraktionschef wird mit dieser Strategie weite Teile der alten SPD-Basis abholen. Pragmatische Stimmen wie die des langjährigen Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses Wolfgang Hellmich scheinen nicht mehr en vogue: “Es ist eine Illusion, zu glauben, dass Deutschland allein den Konflikt lösen könnte.”
Was hat Priorität: die innere oder äußere Sicherheit? Gebetsmühlenartig antworten Sozialdemokraten darauf: “‘Entweder oder’ wäre Gift. Innere, äußere und soziale Sicherheit gehören für uns untrennbar zusammen.” Der pragmatische Teil der SPD, zu der auch Parteichef Lars Klingbeil gehört, erklärte allerdings Anfang November: “Deutschland wird mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit und Wirtschaft übernehmen müssen. Mit aller Konsequenz.” Was das heißt, ließ der Parteichef allerdings bewusst offen.
SPD-Verteidigungspolitiker wie Weingarten oder die Wehrbeauftragte der Bundeswehr, Eva Högl, hingegen fordern ein neues Sondervermögen in Höhe von mindestens 200 Milliarden Euro: “So können über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg tatsächlich belastbare Ausgabemöglichkeiten geschaffen werden.”
Zwar steht in der neuen “Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie”, die gemeinsam vom grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck und SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius vorgelegt wurde, der Begriff “wehrhaft” statt “kriegstüchtig”. Jener Begriff, mit dem Verteidigungsminister Pistorius vor über einem Jahr Furore gemacht hat, ist für die “Friedenspartei” ein Unwort geworden. Der Flügel um Fraktionschef Mützenich, der ihn nicht benutzt hat, scheint sich durchgesetzt zu haben.
Oberste Priorität hat laut der neuen Strategie die Förderung von sogenannten Schlüsseltechnologien wie Künstliche Intelligenz, Munition, Marineschiffbau und Flugsysteme. Für Hellmich, der bis Oktober Sprecher der Arbeitsgruppe Sicherheit- und Verteidigungspolitik der SPD-Bundestagsfraktion war, ist entscheidend, dass sich der Bund bei Unternehmen, die Schlüsseltechnologien bereitstellen, beteiligen müsse. Als Beispiel nannte er Thyssen Krupp Marine Systems, bei denen die Bundesregierung vier neue U-Boote bestellen will, um die neuen Nato-Anforderungen zum besseren Schutz der Nordflanke zu erfüllen.
Den größten Teil ihrer Auslandseinsätze bestreitet die Bundeswehr inzwischen in Nahost – und ihr Engagement dort könnte noch ausgeweitet werden. Die überraschende Entwicklung in Syrien sei eine Aufforderung an Deutschland, Europa und den Westen, bei der Stabilisierung der Region “aktiv mitzuhelfen”, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius bei seiner Reise nach Jordanien und Irak in dieser Woche. Das bedeute zwar nicht, allein zu agieren, aber eben auch einen militärischen Beitrag zu leisten. Bislang steht die Unterstützung des Iraks im Fokus des deutschen Einsatzes, eine Neuorientierung für ein Engagement auch in oder für Syrien würde ein neues Bundestagsmandat erfordern.
Unter anderem deshalb ließ Pistorius noch offen, wie eine ausgeweitete Beteiligung aussehen könnte. Zudem mahnte der Minister zur Vorsicht im Umgang mit der Lage nach dem Sturz des Assad-Regimes: “Nach 50 Jahren Autokratie und Diktatur kann man nicht erwarten, dass morgen die Dinge plötzlich ganz anders laufen.” Allerdings dürfte der Westen frühere Fehler gegenüber Syrien nicht wiederholen und erneut Russland “das Feld überlassen”.
Die Bundeswehr beteiligt sich in der Region seit fast zehn Jahren an der internationalen Koalition zum Kampf gegen den Islamischen Staat (IS). Die Aufgaben haben sich aber seit dem Beginn des Einsatzes 2015, damals noch vom türkischen Stützpunkt Incirlik aus, deutlich verschoben: Von der jordanischen Basis Al-Azraq starten deutsche A400-Transporter zur Luftbetankung von Kampfjets der US-geführten “Operation Inherent Resolve”, die IS-Ziele auch in Syrien angreifen. In Erbil in der Kurdenregion im Nordirak sind Ausbilder und Unterstützer der Bundeswehr im Einsatz. In der irakischen Hauptstadt Bagdad stellen die Deutschen zudem wesentliche Teile der Nato-Mission im Irak (NMI).
Als Teil der erst im Oktober verlängerten Mission “Counter Daesh/Nato Mission Iraq” sind derzeit rund 300 Bundeswehrsoldaten in der Region; die Hälfte davon in Jordanien für den Betrieb von Luftbetankung und Lufttransport. Im weiteren regionalen Zusammenhang stellen die deutschen Streitkräfte zudem die “Maritime Task Force“ der UN-Mission im Libanon (UNIFIL) mit einem Kriegsschiff und Stabspersonal, für die aktuell ebenfalls rund 300 Soldaten gemeldet sind. tw
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat am Donnerstag betont, dass es derzeit keine Pläne gebe, ausländische Truppen in der Ukraine zur Sicherung eines Waffenstillstandes einzusetzen. Und wenn eine Entscheidung über den Einsatz polnischer Truppen getroffen würde, dann “in Warschau und nur in Warschau”, sagte Tusk bei einem Treffen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Polen. Gemeinsam mit Frankreich wolle Polen aber an einer Lösung arbeiten, die Europa und die Ukraine vor einem Wiederausbruch des Krieges schützen könne, sobald eine Vereinbarung getroffen sei. Anfang der Woche hatte Tusk gesagt, dass Verhandlungen über ein Ende des Kriegs in der Ukraine noch “in diesem Winter” stattfinden könnten.
Weil die USA “in den kommenden Wochen und Monaten” eine neue Rolle einnehmen würden, so Macron, müsse man mit den Amerikanern und der Ukraine zusammenarbeiten, um einen Weg zu finden, der die Sicherheitsinteressen und die Souveränität der Ukraine und der Europäer berücksichtige. Der designierte US-Präsident Donald Trump soll auf einen Waffenstillstand in der Ukraine entlang des Frontverlaufs drängen.
Fast gleichzeitig beriet die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in Berlin mit europäischen Amtskollegen, einschließlich des ukrainischen Außenministers Andrij Sybiha und der EU-Außenbeauftragen Kaja Kallas. Baerbock hatte eine deutsche Beteiligung an Friedenstruppen nicht ausgeschlossen. Darauf angesprochen sagte sie, dass es “unterschiedliche Elemente des Friedens” brauche und man diese Gespräche in Berlin intensivieren werde. Beim Treffen zwischen Tusk und Macron gehe es um die gleichen Dinge.
Am Mittwoch hatte die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita berichtet, dass Macron mit dem Vorschlag nach Polen gereist sei, die Stationierung von Friedenstruppen bei einem Kriegsende zu diskutieren. Nach Angaben von Politico bestätigte ein EU-Diplomat, dass man über etwa 40.000 Soldaten spreche, die eine Waffenstillstandslinie sichern könnten. bub
Norwegens Verteidigungsministerium will sich am Bau des zivilen Flughafens in Bodø, Nordnorwegen, beteiligen, damit dieser künftig auch für militärische Zwecke genutzt werden kann. Das hat das Verteidigungsministerium am Dienstag bekanntgegeben. Der Flughafen soll bis 2029 fertig sein und den alten ablösen, der bis 2022 auch von der norwegischen Luftwaffe genutzt worden war.
Die Regierung unterstreicht mit dem Einstieg ihre Bereitschaft, künftig die Führung des von der Nato angedachten, aber noch nicht beschlossenen gemeinsamen Luftoperationszentrums (Combined Air Operations Centre) für die nordischen Länder und die Arktis zu übernehmen. Bodø gilt als ein potenzieller Standort für einen solchen multinationalen Gefechtsstand, der der dritte in Europa wäre – neben Uedem in Deutschland und Torrejón in Spanien. Zur Übung “Nordic Response” im März hatten Dänemark, Finnland, Schweden und Norwegen bereits ein temporäres Luftoperationszentrum in Bodø eingerichtet.
Ursprünglich war der neue Flughafen als rein ziviles Projekt geplant worden. Der militärische Teil des Flughafens war 2022 nach Ørlandet und Evenes verlegt worden. Aufgrund der veränderten Sicherheitslage macht Norwegen nun eine Kehrtwende.
Gleichzeitig sieht der langfristige Verteidigungsplan der Norweger eine Weiterentwicklung der Flughäfen Andøya, Værnes, und Sola vor. Hierüber sollen künftig Übungen mit Alliierten in Friedenszeiten und der Empfang alliierter Luftstreitkräfte in Krisen- und Kriegszeiten laufen. klm
New York Times: The Syria Opportunity. Das Ende des Assad-Regimes in Syrien eröffnet Chancen für die amerikanische Nahost-Politik, heißt es in diesem Meinungsbeitrag der NYT. Die Aufhebung von Sanktionen gegen die HTS könne von deren Verhalten gegenüber Minderheiten abhängig gemacht werden. Im Libanon könne man auf eine vollständige Entwaffnung der Hisbollah drängen und dem Iran drohen, falls er an seinem Atombombenprogramm festhält.
Carnegie Endowment: The Joint Expeditionary Force: Deterrent, Defender, or Distraction? Die Mitglieder der nordeuropäischen Joint Expeditionary Force (JEF) unter britischer Führung wollen dieses Bündnis erhalten. Wichtig sei, dass sie die JEF mit den entscheidenden Ressourcen ausstatten, um einen Beitrag zu den Abschreckungs- und Verteidigungsaktivitäten der Nato in den nordisch-baltischen und nordatlantischen Regionen leisten zu können.
Missile Matters: Arrow 3 after Oreshnik. Der Einsatz der russischen Rakete Oreschnik bei einem Angriff auf die ukrainische Stadt Dnipro, könnte der deutschen Anschaffung des Arrow-3-Raketenabwehrsystems eine Rechtfertigung geben. Es bestehen aber weiter Zweifel, ob Arrow-3 für die Abwehr optimiert sei, argumentiert der Autor Fabian Hoffmann.
Nato Defense College: Nuclear NATO: How to make it credible and efficient. Die Bedeutung der nuklearen Abschreckung hat seit 2022 wieder zugenommen. Die Nato sei auf das neue Bedrohungsumfeld nicht ausreichend vorbereitet. Ihre Nuklearstrategie müsse an die neue Lage angepasst werden. Dies könne unter anderem durch eine Erhöhung der Einsatzbereitschaft der in Europa gelagerten amerikanischen B61-Bomben geschehen.
“Willkommen in Assads Syrien” – dieser Spruch begrüßte Reisende am Flughafen in Damaskus ebenso wie an den Landesgrenzen. Genau so behandelten seit 1970 Hafez al-Assad und nach dessen Tod im Jahr 2000 sein Sohn Baschar al-Assad ihr Land: Als handele es sich bei Syrien um ihren Privatbesitz, eifersüchtig bewacht und lieber zerstört, als dass es anderen in die Hände fallen sollte. Als die syrische Armee 2011 dann in den ersten Dörfern einfiel, um den Aufstand der Bevölkerung niederzuschlagen, hinterließen Soldaten Graffiti: “Assad oder wir brennen das Land nieder – gezeichnet: die Brigade des Todes.”
Was den Zorn der Machthaber besonders entfachte, war, dass die Proteste auch nach Monaten friedlich blieben: Mit erhobenen Händen als Zeichen, dass sie unbewaffnet waren, gingen Hunderttausende auf die Straße und skandierten “silmi, silmi!” – “friedlich, friedlich!”
Dass die Demonstrierenden es wagten, gegen Korruption, für Würde und den Sturz des Regimes zu protestieren, konterkarierte Assads Darstellung, dass es sich um einen bewaffneten Aufstand von “Terroristen” handele. Schlimmer noch aus Sicht des Regimes: Die in den Protesten sichtbar werdende Solidarität über gesellschaftliche Grenzen hinweg stellte das System des Misstrauens infrage, das Syriens mächtige Geheimdienste etabliert hatten. Die Protestierenden waren wie elektrisiert: Selbst im Privaten hatten sie sich über ihre Kritik am Regime nie austauschen können, nun zeigten sie sie auf offener Straße und erkannten Gleichgesinnte. Ihr Mut brach das Herzstück von Assads Herrschaft: die Angst.
Unter den Demonstrierenden waren vor zehn, zwölf Jahren viele junge Menschen. “Wenn wir verhaftet werden, dann kommen wir wieder frei und dann gehen wir wieder auf die Straße”, sagte damals eine Aktivistin. Nur wurde bald immer klarer: Nicht alle kehren zurück aus der Haft. Einige verschwanden spurlos, ihre Familien blieben gefangen zwischen Hoffnung und Bangen. Andere überlebten die Haft nicht. Darunter waren Menschen wie jener junge Ingenieursstudent, der 2012 nur zwei Wochen nach Teilnahme an einem Workshop über gewaltfreie Kommunikation getötet wurde, weil ihn Zuträger der syrischen Geheimdienste an diese verraten hatten.
In Syrien “verschwanden” Tausende Menschen, das heißt, dass sie von Verhören nicht zurückkehrten, dass sie an unbekannten Orten über Jahre oder gar Jahrzehnte festgehalten wurden. Langjährige Haft ohne Gerichtsprozesse oder weit über das Verbüßen der Strafe hinaus waren an der Tagesordnung. Was sich mit dem Ausbruch der Revolution 2011 änderte, war, dass die Willkür nicht mehr nur Angehörige der organisierten Opposition, insbesondere Islamisten, treffen konnte, sondern jeden.
Das Regime selbst hat den Foltertod von mehr als 5.000 Männern, Frauen und Kindern in Haft dokumentiert. Kinder, schwangere Frauen und Ältere litten am meisten, als zwischen 2012 und 2018 ganze Landstriche von Assads Truppen ausgehungert wurden. Systematisch bombardierten seit 2015 die syrische und die russische Luftwaffe Krankenhäuser und Gesundheitszentren. Aus zuvor vom Regime durchgewinkten Hilfskonvois entfernte es grundlegende Artikel medizinischer Versorgung: sterile Handschuhe, Desinfektionsmittel, Medikamente. Sich stets an den Schwächsten für den Aufstand zu rächen, zerstörte jeden Glauben der vom Regime Verfolgten daran, dass mit dem immer korrupteren Regime ein Neuanfang möglich sein könnte.
Zugleich konnte Assad die loyalen Teile der Gesellschaft immer schlechter bei der Stange halten. Die Moral der chronisch schlecht bezahlten und bereits 2013 auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe geschrumpften Armee sank, je mehr das Regime Bürgerwehren und anderen Milizen freie Hand ließ, sich zu bereichern. Spätestens mit der Offensive der Rebellen auf die Hauptstadt und dem Bekanntwerden von Assads Flucht nach Moskau vermuteten viele Armeeangehörige, dass sie nur den Kopf hinhalten sollten für jemanden, der nur sich selbst retten wollte. Aus Angst, die eigene Macht zu verlieren, hat Assad das Land in Schutt und Asche gelegt. Am Ende hat er nicht einmal mehr seinen Getreuen Vertrauen einflößen können, sondern sich als letzte Amtshandlung mit Bombardements einst loyaler Viertel in Aleppo an ihnen gerächt.
Bente Scheller leitet seit 2019 das Referat Nahost und Nordafrika der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung (hbs) in Berlin. Von 2012 bis 2019 war sie die Referatsleiterin des Regionalbüros Mittlerer Osten der hbs in Beirut/Libanon. Zuvor leitete sie das Büro in Afghanistan und arbeitete von 2002 bis 2004 als Referentin für Terrorismusbekämpfung an der deutschen Botschaft in Damaskus. Sie promovierte an der FU Berlin zu syrischer Außenpolitik.
Tobias Lindner (Bündnis 90/Die Grünen) ist neuer Syrien-Koordinator der Bundesregierung. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, der seit dem Ampel-Aus auch den Posten des Transatlantikkoordinators kommissarisch bekleidet, wurde am Mittwoch von Außenministerin Annalena Baerbock mit der Funktion betraut. Damit könne eine engere Koordinierung mit den Kräften des Übergangsprozesses nach dem Sturz des Regimes von Baschar al-Assad erreicht werden, heißt es in Diplomatenkreisen. Lindner solle die deutsche Präsenz in Syrien erhöhen, sagte Baerbock zu der Ernennung. Die Bundesregierung hatte ihre Botschaft in Damaskus 2012 nach Beginn des Bürgerkriegs geschlossen. mrb
Haben sich Menschen immer schon bekriegt? Die simple Antwort lautet: ja. Oder um mit Richard Overy zu sprechen: “Krieg ist ein Bestandteil der menschlichen Evolution.” Aber warum? Natürlich gibt der britische Historiker, Spezialist für den Zweiten Weltkrieg, keine endgültige Antwort darauf. Wer das Buch so liest, wird enttäuscht. Was Overy aber brillant schafft, ist eine originelle Tour d’Horizon durch die Geschichte des homo bellicus.
In einer spanischen Höhle fanden sich 800.000 Jahre alte Knochen von Menschenaffen mit eingeschlagenen Schädeln. Schon damals seien die Anlagen dafür gelegt, dass der Mensch sich um Nahrung, Macht und Vorherrschaft prügelt. Und dafür auch gerne tötet. Brutal. Wer meint, die Brutalität habe zugenommen, der irrt, so Overy: “Die Waffen sind nur besser geworden.” Aber warum? Wer wissen will, was Darwin, Freud oder Einstein dazu sagen, warum der Mensch immer ein Feindbild braucht, und was das alles mit Sex zu tun hat, der ist hier gut aufgehoben.
Werden sich Menschen immer bekriegen? Die Rezensentin würde sagen: ja. Leider. Auch der großartige Overy hat da bedauerlicherweise nichts Besseres anzubieten. nana
Richard Overy: Warum Krieg? – Rowohlt Verlag Berlin 2024, 368 Seiten, 28 Euro.
die Zeitenwende in Syrien ist unser heutiger Schwerpunkt:
Markus Bickel analysiert die Lage vor Ort, worauf es für die Wahrung des inneren Friedens jetzt ankommt und was die israelischen Bombardierungen bedeuten. Thomas Wiegold blickt auf die Reise des deutschen Verteidigungsministers Boris Pistorius in den Irak und nach Jordanien und dessen Ankündigung, dass die Bundeswehr einen Beitrag für Syrien leisten muss. Und im Standpunkt erklärt Bente Scheller, die bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin für Nahost und Nordafrika verantwortlich ist, wie Assad an seiner eigenen Brutalität zerbrach.
Eine gute Lektüre wünscht
Keine 120 Stunden sind seit dem Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad vergangen, und überall im Land werden die Schrecken von 60 Jahren Baath-Diktatur sichtbar. Besonders deutlich bei der Befreiung des Sednaya-Gefängnisses nördlich von Damaskus: Mehr als 30.000 Insassen ließen die Schergen von Assads Sicherheitsapparat hier seit Beginn der Revolution 2011 bis 2018 töten, oder sie verstarben an den Folgen von Folter oder mangelnder medizinischer Versorgung und Ernährung.
Die Vergeltungs- und Rachemaßnahmen gegen die Verantwortlichen von Assads Folter- und Unterdrückungsapparat einzudämmen, zählt zu den schwierigsten Aufgaben im Übergang von Krieg zu Frieden, von Diktatur zu freiheitlichem System. Auch im Achtpunkteplan des Auswärtigen Amts “für ein freies und demokratischen Syrien” wird der Punkt prominent aufgeführt. Syriens neuer starker Mann, Ahmed al-Scharaa, bislang unter seinem Nom de Guerre Abu Mohammed al-Jolani bekannt, sende die richtigen Signale, sagen westliche Diplomaten: Amnestie für die einfachen Rekruten, strafrechtliche Verfolgung von für Verbrechen verantwortliche Geheimdienstoffiziere.
Ob es der von Hayat Tahrir al-Schams (HTS) geführten Islamistenallianz gelingt, den inneren Frieden im Vielkonfessionsstaat Syrien zu bewahren, ist die größte innenpolitische Frage fünf Tage nach dem Sturz Assads. Zugleich dringen regionalpolitische Akteure mit aller Gewalt in das militärische Vakuum hinein, das die Implosion des Sicherheitsapparats hinterlassen hat – und schaffen auf dem Boden Fakten, die als Verhandlungsmasse bei einer internationalen Syrien-Konferenz 2025 genutzt werden können.
Bis zu 80 Prozent der syrischen Militärbestände seien in den ersten 72 Stunden nach dem Umsturz in Damaskus zerstört worden, teilten die Israel Defense Forces (IDF) mit, bei mehr als 350 Angriffen in allen Landesteilen. Vergleichbar ist dieses Vorgehen allenfalls mit der Zerstörung der ägyptischen Luftwaffe am ersten Morgen des Sechstagekriegs 1967, wobei die IDF in Syrien neben Flugzeugen auch Flugabwehrsysteme und Mittelstreckenraketen, Panzer, Schiffe, Munitionslager sowie Chemiewaffenentwicklungslabore zerstörten und damit die Angriffsfähigkeiten der staatlichen syrischen Streitkräfte bis auf Weiteres ausschalteten. Ziel sei es, meint Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, diese aus den Händen der in Syrien siegreichen islamistischen Kämpfer zu halten.
Dass Israel den Sturz Assads nutzt, um militärische Fakten zu schaffen, ist dramatisch – dafür aber gebe es “absolut keine völkerrechtliche Grundlage”, so der UN-Sonderberichterstatter für die Förderung der Menschenrechte, Ben Saul, Mitte der Woche in Genf. Syrien präventiv zu entwaffnen, wie Israel es nun tue, setze einen gefährlichen Präzedenzfall und sei ein “Rezept für weltweites Chaos”.
Israel hat sich durch sein rasches militärisches Vorgehen allerdings eine strategische Überlegenheit gegenüber Syrien gesichert, wie sie das Land seit der Gründung 1948 nie hatte. Der Abschreckungscharakter, der durch den Terrorüberfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 verloren gegangen war, ist ebenfalls wiederhergestellt.
Hundert Jahre nach dem kolonialen Sykes-Picot-Geheimabkommen, in dem Frankreich und Großbritannien 1916 ihre Einflusssphären nach dem Ende des Osmanischen Reiches absteckten, ziehen die Türkei und Israel nun möglicherweise manche Grenzen neu: Zwar setzen EU-Diplomaten Hoffnung in das Versprechen Netanjahus, dass die IDF sich wieder aus der UN-Pufferzone auf dem Golan zurückziehen werde, doch eine Aufgabe des strategisch wichtigen Hermel-Gebirges ist unwahrscheinlich.
Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wird versuchen, der von ihm unterstützten Islamistenmiliz Syrische Nationale Armee (SNA) eine starke Rolle in einer künftigen Regierung nationaler Einheit in Damaskus zu verschaffen. Zunächst aber setzt er wie Netanjahu auf die militärische Karte: In den vergangenen Tagen ist es der SNA gelungen, die von den USA unterstützten Syrian Democratic Forces (SDF) aus Manbij am Westufer des Euphrats zu verdrängen. Nun toben Kämpfe um Kobane, die Stadt an der Grenze zur Türkei, die der syrische PKK-Ableger YPG (Volksverteidigungseinheiten) 2014/15 mit Unterstützung mehrerer Nato-Staaten gegen den Islamischen Staat (IS) verteidigte.
Netanjahu und Erdogan sind die Gewinner des Umsturzes in Damaskus, Russlands Präsident Wladimir Putin und Irans Oberster Führer Ali Khamenei vorerst die Verlierer der Zeitenwende in Nahost. Inwieweit die neuen islamistischen Herrscher in der Lage sein werden, Racheakte gegen Verantwortliche von Assads Geheimdienst-Folter- und Überwachungsapparats zu verhindern, wird für den Ausgang des Übergangsprozesses ebenso entscheidend sein.
“Pragmatische Friedenspartei” – so könnte die Überschrift für eine sozialdemokratische Sicherheitspolitik in der nächsten Legislaturperiode lauten. Wie das geht, hat Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem jüngsten Ukraine-Besuch deutlich gemacht: Einerseits Waffen liefern, andererseits verhindern, dass Deutschland – und die Nato – in eine direkte Auseinandersetzung mit Russland gezogen wird. Mit seiner Doppelstrategie glaubt der Spitzenkandidat, die Seele der Sozialdemokratie zu erreichen. “Pragmatismus”, gerade auch im Umgang mit den USA oder China, ist dabei genauso wichtig wie das Wort “Frieden”. Es besänftigt den linken Flügel der Sozialdemokratie, den die “Kriegstüchtigkeit” eines Boris Pistorius mächtig verschreckt hat.
Zu einem pragmatischen Handeln gehört laut SPD-Verteidigungspolitiker Joe Weingarten die Erhöhung der Verteidigungsausgaben von jetzt zwei auf mindestens drei Prozent. Weingarten, Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der Nato, hält dies angesichts der Planungsziele der Nato für zwingend notwendig. Auch die neue US-Administration unter Donald Trump werde dies fordern, “davon müssen wir weiterhin ausgehen”.
Anders als viele europäische Staaten wie Polen oder Frankreich, die bereits den direkten Kontakt zum designierten US-Präsidenten Trump suchen, will Fraktionschef Rolf Mützenich sich ihm “als stolzer Demokrat nicht anbiedern”. In seiner Grundsatzrede anlässlich der Willy Brandt Lecture Anfang Dezember stellte er auch die vereinbarte Stationierung von US-Mittelstreckenraketen ab 2026 in Deutschland zur Disposition. “Sie erhöhen die Gefahr einer unbeabsichtigten Eskalation.” Die SPD ist in dieser Frage also gespalten.
Eines der heikelsten Themen für die SPD im Wahlkampf ist der Umgang mit Russland. Fraktionschef Mützenich bringt das Idol Willy Brandt ins Spiel – und erhält dafür großen Beifall vom linken Flügel, der sich in der “Kriegstüchtigkeits-Debatte” an den Rand gedrängt gesehen hat. Auch Brandts Entspannungsdiplomatie in Richtung Ostblock sei anfangs belächelt worden, erklärte Mützenich. Langfristig müsse man mit Russland eine “friedliche Koexistenz” anstreben. Ein Mitglied der SPD-Parteispitze fasste diese Politik so zusammen: “Nach dem Bruch der Ampel können wir endlich wieder SPD pur machen.”
Eine selbstkritische Analyse der vergangenen Russland-Politik ist aus den Reihen der “Friedens”-Apologeten nicht zu hören. Die Situation in Syrien zeige eher, wie Putins Einfluss schwinden könne, erklärte ein Mitglied des Parteivorstands. Laut Mützenich müsse man “gerade jetzt” auf diplomatische Lösungen setzen, “unabhängig davon, wie realistisch sie sind”. Der Fraktionschef wird mit dieser Strategie weite Teile der alten SPD-Basis abholen. Pragmatische Stimmen wie die des langjährigen Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses Wolfgang Hellmich scheinen nicht mehr en vogue: “Es ist eine Illusion, zu glauben, dass Deutschland allein den Konflikt lösen könnte.”
Was hat Priorität: die innere oder äußere Sicherheit? Gebetsmühlenartig antworten Sozialdemokraten darauf: “‘Entweder oder’ wäre Gift. Innere, äußere und soziale Sicherheit gehören für uns untrennbar zusammen.” Der pragmatische Teil der SPD, zu der auch Parteichef Lars Klingbeil gehört, erklärte allerdings Anfang November: “Deutschland wird mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit und Wirtschaft übernehmen müssen. Mit aller Konsequenz.” Was das heißt, ließ der Parteichef allerdings bewusst offen.
SPD-Verteidigungspolitiker wie Weingarten oder die Wehrbeauftragte der Bundeswehr, Eva Högl, hingegen fordern ein neues Sondervermögen in Höhe von mindestens 200 Milliarden Euro: “So können über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg tatsächlich belastbare Ausgabemöglichkeiten geschaffen werden.”
Zwar steht in der neuen “Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie”, die gemeinsam vom grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck und SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius vorgelegt wurde, der Begriff “wehrhaft” statt “kriegstüchtig”. Jener Begriff, mit dem Verteidigungsminister Pistorius vor über einem Jahr Furore gemacht hat, ist für die “Friedenspartei” ein Unwort geworden. Der Flügel um Fraktionschef Mützenich, der ihn nicht benutzt hat, scheint sich durchgesetzt zu haben.
Oberste Priorität hat laut der neuen Strategie die Förderung von sogenannten Schlüsseltechnologien wie Künstliche Intelligenz, Munition, Marineschiffbau und Flugsysteme. Für Hellmich, der bis Oktober Sprecher der Arbeitsgruppe Sicherheit- und Verteidigungspolitik der SPD-Bundestagsfraktion war, ist entscheidend, dass sich der Bund bei Unternehmen, die Schlüsseltechnologien bereitstellen, beteiligen müsse. Als Beispiel nannte er Thyssen Krupp Marine Systems, bei denen die Bundesregierung vier neue U-Boote bestellen will, um die neuen Nato-Anforderungen zum besseren Schutz der Nordflanke zu erfüllen.
Den größten Teil ihrer Auslandseinsätze bestreitet die Bundeswehr inzwischen in Nahost – und ihr Engagement dort könnte noch ausgeweitet werden. Die überraschende Entwicklung in Syrien sei eine Aufforderung an Deutschland, Europa und den Westen, bei der Stabilisierung der Region “aktiv mitzuhelfen”, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius bei seiner Reise nach Jordanien und Irak in dieser Woche. Das bedeute zwar nicht, allein zu agieren, aber eben auch einen militärischen Beitrag zu leisten. Bislang steht die Unterstützung des Iraks im Fokus des deutschen Einsatzes, eine Neuorientierung für ein Engagement auch in oder für Syrien würde ein neues Bundestagsmandat erfordern.
Unter anderem deshalb ließ Pistorius noch offen, wie eine ausgeweitete Beteiligung aussehen könnte. Zudem mahnte der Minister zur Vorsicht im Umgang mit der Lage nach dem Sturz des Assad-Regimes: “Nach 50 Jahren Autokratie und Diktatur kann man nicht erwarten, dass morgen die Dinge plötzlich ganz anders laufen.” Allerdings dürfte der Westen frühere Fehler gegenüber Syrien nicht wiederholen und erneut Russland “das Feld überlassen”.
Die Bundeswehr beteiligt sich in der Region seit fast zehn Jahren an der internationalen Koalition zum Kampf gegen den Islamischen Staat (IS). Die Aufgaben haben sich aber seit dem Beginn des Einsatzes 2015, damals noch vom türkischen Stützpunkt Incirlik aus, deutlich verschoben: Von der jordanischen Basis Al-Azraq starten deutsche A400-Transporter zur Luftbetankung von Kampfjets der US-geführten “Operation Inherent Resolve”, die IS-Ziele auch in Syrien angreifen. In Erbil in der Kurdenregion im Nordirak sind Ausbilder und Unterstützer der Bundeswehr im Einsatz. In der irakischen Hauptstadt Bagdad stellen die Deutschen zudem wesentliche Teile der Nato-Mission im Irak (NMI).
Als Teil der erst im Oktober verlängerten Mission “Counter Daesh/Nato Mission Iraq” sind derzeit rund 300 Bundeswehrsoldaten in der Region; die Hälfte davon in Jordanien für den Betrieb von Luftbetankung und Lufttransport. Im weiteren regionalen Zusammenhang stellen die deutschen Streitkräfte zudem die “Maritime Task Force“ der UN-Mission im Libanon (UNIFIL) mit einem Kriegsschiff und Stabspersonal, für die aktuell ebenfalls rund 300 Soldaten gemeldet sind. tw
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat am Donnerstag betont, dass es derzeit keine Pläne gebe, ausländische Truppen in der Ukraine zur Sicherung eines Waffenstillstandes einzusetzen. Und wenn eine Entscheidung über den Einsatz polnischer Truppen getroffen würde, dann “in Warschau und nur in Warschau”, sagte Tusk bei einem Treffen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Polen. Gemeinsam mit Frankreich wolle Polen aber an einer Lösung arbeiten, die Europa und die Ukraine vor einem Wiederausbruch des Krieges schützen könne, sobald eine Vereinbarung getroffen sei. Anfang der Woche hatte Tusk gesagt, dass Verhandlungen über ein Ende des Kriegs in der Ukraine noch “in diesem Winter” stattfinden könnten.
Weil die USA “in den kommenden Wochen und Monaten” eine neue Rolle einnehmen würden, so Macron, müsse man mit den Amerikanern und der Ukraine zusammenarbeiten, um einen Weg zu finden, der die Sicherheitsinteressen und die Souveränität der Ukraine und der Europäer berücksichtige. Der designierte US-Präsident Donald Trump soll auf einen Waffenstillstand in der Ukraine entlang des Frontverlaufs drängen.
Fast gleichzeitig beriet die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in Berlin mit europäischen Amtskollegen, einschließlich des ukrainischen Außenministers Andrij Sybiha und der EU-Außenbeauftragen Kaja Kallas. Baerbock hatte eine deutsche Beteiligung an Friedenstruppen nicht ausgeschlossen. Darauf angesprochen sagte sie, dass es “unterschiedliche Elemente des Friedens” brauche und man diese Gespräche in Berlin intensivieren werde. Beim Treffen zwischen Tusk und Macron gehe es um die gleichen Dinge.
Am Mittwoch hatte die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita berichtet, dass Macron mit dem Vorschlag nach Polen gereist sei, die Stationierung von Friedenstruppen bei einem Kriegsende zu diskutieren. Nach Angaben von Politico bestätigte ein EU-Diplomat, dass man über etwa 40.000 Soldaten spreche, die eine Waffenstillstandslinie sichern könnten. bub
Norwegens Verteidigungsministerium will sich am Bau des zivilen Flughafens in Bodø, Nordnorwegen, beteiligen, damit dieser künftig auch für militärische Zwecke genutzt werden kann. Das hat das Verteidigungsministerium am Dienstag bekanntgegeben. Der Flughafen soll bis 2029 fertig sein und den alten ablösen, der bis 2022 auch von der norwegischen Luftwaffe genutzt worden war.
Die Regierung unterstreicht mit dem Einstieg ihre Bereitschaft, künftig die Führung des von der Nato angedachten, aber noch nicht beschlossenen gemeinsamen Luftoperationszentrums (Combined Air Operations Centre) für die nordischen Länder und die Arktis zu übernehmen. Bodø gilt als ein potenzieller Standort für einen solchen multinationalen Gefechtsstand, der der dritte in Europa wäre – neben Uedem in Deutschland und Torrejón in Spanien. Zur Übung “Nordic Response” im März hatten Dänemark, Finnland, Schweden und Norwegen bereits ein temporäres Luftoperationszentrum in Bodø eingerichtet.
Ursprünglich war der neue Flughafen als rein ziviles Projekt geplant worden. Der militärische Teil des Flughafens war 2022 nach Ørlandet und Evenes verlegt worden. Aufgrund der veränderten Sicherheitslage macht Norwegen nun eine Kehrtwende.
Gleichzeitig sieht der langfristige Verteidigungsplan der Norweger eine Weiterentwicklung der Flughäfen Andøya, Værnes, und Sola vor. Hierüber sollen künftig Übungen mit Alliierten in Friedenszeiten und der Empfang alliierter Luftstreitkräfte in Krisen- und Kriegszeiten laufen. klm
New York Times: The Syria Opportunity. Das Ende des Assad-Regimes in Syrien eröffnet Chancen für die amerikanische Nahost-Politik, heißt es in diesem Meinungsbeitrag der NYT. Die Aufhebung von Sanktionen gegen die HTS könne von deren Verhalten gegenüber Minderheiten abhängig gemacht werden. Im Libanon könne man auf eine vollständige Entwaffnung der Hisbollah drängen und dem Iran drohen, falls er an seinem Atombombenprogramm festhält.
Carnegie Endowment: The Joint Expeditionary Force: Deterrent, Defender, or Distraction? Die Mitglieder der nordeuropäischen Joint Expeditionary Force (JEF) unter britischer Führung wollen dieses Bündnis erhalten. Wichtig sei, dass sie die JEF mit den entscheidenden Ressourcen ausstatten, um einen Beitrag zu den Abschreckungs- und Verteidigungsaktivitäten der Nato in den nordisch-baltischen und nordatlantischen Regionen leisten zu können.
Missile Matters: Arrow 3 after Oreshnik. Der Einsatz der russischen Rakete Oreschnik bei einem Angriff auf die ukrainische Stadt Dnipro, könnte der deutschen Anschaffung des Arrow-3-Raketenabwehrsystems eine Rechtfertigung geben. Es bestehen aber weiter Zweifel, ob Arrow-3 für die Abwehr optimiert sei, argumentiert der Autor Fabian Hoffmann.
Nato Defense College: Nuclear NATO: How to make it credible and efficient. Die Bedeutung der nuklearen Abschreckung hat seit 2022 wieder zugenommen. Die Nato sei auf das neue Bedrohungsumfeld nicht ausreichend vorbereitet. Ihre Nuklearstrategie müsse an die neue Lage angepasst werden. Dies könne unter anderem durch eine Erhöhung der Einsatzbereitschaft der in Europa gelagerten amerikanischen B61-Bomben geschehen.
“Willkommen in Assads Syrien” – dieser Spruch begrüßte Reisende am Flughafen in Damaskus ebenso wie an den Landesgrenzen. Genau so behandelten seit 1970 Hafez al-Assad und nach dessen Tod im Jahr 2000 sein Sohn Baschar al-Assad ihr Land: Als handele es sich bei Syrien um ihren Privatbesitz, eifersüchtig bewacht und lieber zerstört, als dass es anderen in die Hände fallen sollte. Als die syrische Armee 2011 dann in den ersten Dörfern einfiel, um den Aufstand der Bevölkerung niederzuschlagen, hinterließen Soldaten Graffiti: “Assad oder wir brennen das Land nieder – gezeichnet: die Brigade des Todes.”
Was den Zorn der Machthaber besonders entfachte, war, dass die Proteste auch nach Monaten friedlich blieben: Mit erhobenen Händen als Zeichen, dass sie unbewaffnet waren, gingen Hunderttausende auf die Straße und skandierten “silmi, silmi!” – “friedlich, friedlich!”
Dass die Demonstrierenden es wagten, gegen Korruption, für Würde und den Sturz des Regimes zu protestieren, konterkarierte Assads Darstellung, dass es sich um einen bewaffneten Aufstand von “Terroristen” handele. Schlimmer noch aus Sicht des Regimes: Die in den Protesten sichtbar werdende Solidarität über gesellschaftliche Grenzen hinweg stellte das System des Misstrauens infrage, das Syriens mächtige Geheimdienste etabliert hatten. Die Protestierenden waren wie elektrisiert: Selbst im Privaten hatten sie sich über ihre Kritik am Regime nie austauschen können, nun zeigten sie sie auf offener Straße und erkannten Gleichgesinnte. Ihr Mut brach das Herzstück von Assads Herrschaft: die Angst.
Unter den Demonstrierenden waren vor zehn, zwölf Jahren viele junge Menschen. “Wenn wir verhaftet werden, dann kommen wir wieder frei und dann gehen wir wieder auf die Straße”, sagte damals eine Aktivistin. Nur wurde bald immer klarer: Nicht alle kehren zurück aus der Haft. Einige verschwanden spurlos, ihre Familien blieben gefangen zwischen Hoffnung und Bangen. Andere überlebten die Haft nicht. Darunter waren Menschen wie jener junge Ingenieursstudent, der 2012 nur zwei Wochen nach Teilnahme an einem Workshop über gewaltfreie Kommunikation getötet wurde, weil ihn Zuträger der syrischen Geheimdienste an diese verraten hatten.
In Syrien “verschwanden” Tausende Menschen, das heißt, dass sie von Verhören nicht zurückkehrten, dass sie an unbekannten Orten über Jahre oder gar Jahrzehnte festgehalten wurden. Langjährige Haft ohne Gerichtsprozesse oder weit über das Verbüßen der Strafe hinaus waren an der Tagesordnung. Was sich mit dem Ausbruch der Revolution 2011 änderte, war, dass die Willkür nicht mehr nur Angehörige der organisierten Opposition, insbesondere Islamisten, treffen konnte, sondern jeden.
Das Regime selbst hat den Foltertod von mehr als 5.000 Männern, Frauen und Kindern in Haft dokumentiert. Kinder, schwangere Frauen und Ältere litten am meisten, als zwischen 2012 und 2018 ganze Landstriche von Assads Truppen ausgehungert wurden. Systematisch bombardierten seit 2015 die syrische und die russische Luftwaffe Krankenhäuser und Gesundheitszentren. Aus zuvor vom Regime durchgewinkten Hilfskonvois entfernte es grundlegende Artikel medizinischer Versorgung: sterile Handschuhe, Desinfektionsmittel, Medikamente. Sich stets an den Schwächsten für den Aufstand zu rächen, zerstörte jeden Glauben der vom Regime Verfolgten daran, dass mit dem immer korrupteren Regime ein Neuanfang möglich sein könnte.
Zugleich konnte Assad die loyalen Teile der Gesellschaft immer schlechter bei der Stange halten. Die Moral der chronisch schlecht bezahlten und bereits 2013 auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe geschrumpften Armee sank, je mehr das Regime Bürgerwehren und anderen Milizen freie Hand ließ, sich zu bereichern. Spätestens mit der Offensive der Rebellen auf die Hauptstadt und dem Bekanntwerden von Assads Flucht nach Moskau vermuteten viele Armeeangehörige, dass sie nur den Kopf hinhalten sollten für jemanden, der nur sich selbst retten wollte. Aus Angst, die eigene Macht zu verlieren, hat Assad das Land in Schutt und Asche gelegt. Am Ende hat er nicht einmal mehr seinen Getreuen Vertrauen einflößen können, sondern sich als letzte Amtshandlung mit Bombardements einst loyaler Viertel in Aleppo an ihnen gerächt.
Bente Scheller leitet seit 2019 das Referat Nahost und Nordafrika der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung (hbs) in Berlin. Von 2012 bis 2019 war sie die Referatsleiterin des Regionalbüros Mittlerer Osten der hbs in Beirut/Libanon. Zuvor leitete sie das Büro in Afghanistan und arbeitete von 2002 bis 2004 als Referentin für Terrorismusbekämpfung an der deutschen Botschaft in Damaskus. Sie promovierte an der FU Berlin zu syrischer Außenpolitik.
Tobias Lindner (Bündnis 90/Die Grünen) ist neuer Syrien-Koordinator der Bundesregierung. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, der seit dem Ampel-Aus auch den Posten des Transatlantikkoordinators kommissarisch bekleidet, wurde am Mittwoch von Außenministerin Annalena Baerbock mit der Funktion betraut. Damit könne eine engere Koordinierung mit den Kräften des Übergangsprozesses nach dem Sturz des Regimes von Baschar al-Assad erreicht werden, heißt es in Diplomatenkreisen. Lindner solle die deutsche Präsenz in Syrien erhöhen, sagte Baerbock zu der Ernennung. Die Bundesregierung hatte ihre Botschaft in Damaskus 2012 nach Beginn des Bürgerkriegs geschlossen. mrb
Haben sich Menschen immer schon bekriegt? Die simple Antwort lautet: ja. Oder um mit Richard Overy zu sprechen: “Krieg ist ein Bestandteil der menschlichen Evolution.” Aber warum? Natürlich gibt der britische Historiker, Spezialist für den Zweiten Weltkrieg, keine endgültige Antwort darauf. Wer das Buch so liest, wird enttäuscht. Was Overy aber brillant schafft, ist eine originelle Tour d’Horizon durch die Geschichte des homo bellicus.
In einer spanischen Höhle fanden sich 800.000 Jahre alte Knochen von Menschenaffen mit eingeschlagenen Schädeln. Schon damals seien die Anlagen dafür gelegt, dass der Mensch sich um Nahrung, Macht und Vorherrschaft prügelt. Und dafür auch gerne tötet. Brutal. Wer meint, die Brutalität habe zugenommen, der irrt, so Overy: “Die Waffen sind nur besser geworden.” Aber warum? Wer wissen will, was Darwin, Freud oder Einstein dazu sagen, warum der Mensch immer ein Feindbild braucht, und was das alles mit Sex zu tun hat, der ist hier gut aufgehoben.
Werden sich Menschen immer bekriegen? Die Rezensentin würde sagen: ja. Leider. Auch der großartige Overy hat da bedauerlicherweise nichts Besseres anzubieten. nana
Richard Overy: Warum Krieg? – Rowohlt Verlag Berlin 2024, 368 Seiten, 28 Euro.