gerade einmal 24 Stunden im Amt wird der neue deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius sein, wenn er am heutigen Freitag auf der US-Airbase Ramstein erscheint. Dort beraten Verbündete der Ukraine über die nächste, gemeinsame Waffenhilfe. Erst am gestrigen Donnerstag drängte ein Bündnis mehrerer Nato-Staaten zu stärkerer militärischer Hilfe und sprach dabei auch ausdrücklich von Kampfpanzern, inklusive Leopard 2. Bereits eine Stunde nach Amtseinführung am Donnerstag traf Pistorius im Bendlerblock auf US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, um mit ihm über anstehende Themen zu sprechen (Video).
In Ramstein muss Pistorius verschiedene Rollen einnehmen: Als Verteidigungsminister wird er die deutsche Position vermitteln – also den überraschenden Vorstoß von Kanzler Olaf Scholz, dass Deutschland Leopard-Panzer liefern werde, wenn die USA ihre Abrams schicken.
Und zugleich wird er die Beziehungen mit seinen EU-Kollegen kitten müssen. Denn Deutschlands Agieren in den vergangenen elf Monaten hat einiges an Porzellan zerschlagen. Wegen seiner Russlandpolitik vor dem Krieg und seiner oft zögerlichen Haltung nach Kriegsbeginn hat Deutschland erheblich an Einfluss in der EU eingebüßt. Pistorius ist sich dieser – zusätzlichen, außenpolitischen – Aufgabe offenbar bewusst. Gleich nach seiner Vereidigung am Donnerstag telefonierte er mit seinem französischen Kollegen, Sébastien Lecornu.
Nana Brink und ich haben vor dem Ramstein-Treffen mit der Politikwissenschaftlerin Jana Puglierin darüber gesprochen, wie Russlands Krieg die Machtverhältnisse in der EU durcheinandergewirbelt hat. Deutschland steht derzeit nicht gut da. Aber das muss nicht so bleiben.
Frau Puglierin, Deutschland war bis zum 24. Februar 2022 tonangebend in der EU bei Beziehungen zu Russland, ließ Warnungen aus Polen und den baltischen Staaten abprallen. Jetzt wirkt Berlin getrieben. Wie haben die vergangenen elf Monate das Machtgefüge in der EU verändert?
Die Deutschen haben am 24. Februar letzten Jahres die Deutungshoheit bei der Russlandpolitik der EU verloren. Dagegen sehen sich Länder in Zentraleuropa, also Polen, die baltischen Staaten, Tschechien jetzt gestärkt. Jahrelang galten sie als russophobe, fast schon hysterische Länder, die übertreiben. Ihre Ängste wurden nicht ernst genommen. Jetzt steht Deutschland eigentlich vor dem Bankrott der jüngeren Russlandpolitik. Wir haben viele Entwicklungen in Russland nicht gesehen …
Oder nicht sehen wollen …
Oder beides. Kommt darauf an, wer auf der deutschen Seite der Akteur war. Der Schock nach dem Beginn des Krieges saß tief. Die Mittel- und Osteuropäer haben dann bei der europäischen Antwort auf den Krieg das Narrativ stark bestimmt. Sie haben rasch Initiativen gestartet und das Tempo der Reaktionen vorgegeben in einer Weise, wie es vorher nicht denkbar war.
Sie fühlten sich bestätigt?
Ja, nach Kriegsbeginn hatten sie einen Moment der moralischen Überlegenheit. Die Debatte um den Visa-Bann für russische Staatsbürger zeigt beispielsweise, wie mittel- und osteuropäischer Staaten begannen, die europäische Agenda zu bestimmen. Deutschland fand sich hier sowie auch in der Debatte um den Ausschluss russischer Banken aus dem Swift System eher in der Rolle des Bremsers.
Zurückhaltend bei Reaktionen auf Russlands Überfall war auch Frankreich. Gleichzeitig gibt es auch Verstimmungen zwischen Paris und Berlin, ausgerechnet 60 Jahre nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags. Führt das zum Machtverlust der alten großen Player und Machtgewinn für Mittel- und Osteuropa?
Polen, die baltischen Staaten oder Tschechien haben auch früher schon nicht nach Frankreich geschaut, wenn es um Russland ging. Unsere Coalition Explorer Daten aus dem Jahr 2020, mit denen wir sozusagen “gemessen” haben, wie sich Länder gegenseitig wahrnehmen, zeigten, dass die Beziehungen zwischen Frankreich und Mittel- und Osteuropa ganz schwierig waren. Deswegen haben sie dann auch nicht nach Paris geschaut, als in ihrer Nachbarschaft ein Krieg ausbrach. Sie haben stattdessen die Dynamik selbst bestimmt. Nach der jahrelangen Dominanz des deutsch – französischen Tandems fand ich dies zur Abwechslung ganz erfrischend. Inwiefern es zu einer nachhaltigen Machtverschiebung von Paris und Berlin nach Mittel- und Osteuropa kommt, wird sich zeigen.
Wer hat dabei besonders profitiert?
Nun, vor einem Jahr war Polen noch das Schmuddelkind in der EU. Es gab einen Konflikt mit der Biden-Administration, mit Berlin, mit der EU-Kommission in Brüssel. Heute geht an Warschau kein Weg mehr vorbei, es ist ein ganz zentrales Land für die Unterstützung der Ukraine. Außerdem nimmt sich Warschau als zentraler Akteur bei der Verteidigung westlicher Werte wahr. Ebenso sehen sich die Esten und Litauer in dieser Rolle. Das Ganze hat aber auch einen gefährlichen Drall, denn Polen ist in vielen Bereichen ein problematischer Akteur, etwa bei der Frage der Migration und der Rechtsstaatlichkeit.
Und Frankreich?
Paris hatte bisher keinen Zeitenwende-Moment. Macron ist eher weiter auf seinem Kurs geblieben. Und die Franzosen finden die enge Verständigung zwischen Scholz und Biden schwierig, besonders, was die Rüstungspolitik und das Beschaffungswesen für die Bundeswehr betrifft. Die Franzosen wünschen sich mehr Investitionen in die europäische Rüstungsindustrie und eine stärkere Europäisierung des Sondervermögens, während Deutschland gerade sehr viel von der Stange in den USA kauft. Deutlich war das, als Deutschland sich für die US-Jets F-35 entschied. Frankreich – und übrigens auch Polen – sind bei der Luftverteidigungsinitiative European Sky Shield nicht dabei.
Was bedeutet das alles für die Verteidigungsfähigkeit der EU?
Gerade für die Europäer an der Ostflanke sieht es so aus, dass ihnen im Zweifel nur Amerika aus der Patsche helfen kann. Ihnen ist klar, dass die Ukraine nicht mehr existieren würde, wenn die USA nicht so schnell gehandelt hätten. Sie nehmen auch wahr, dass die Ramstein-Konferenz zwar in Deutschland stattfindet, aber die Amerikaner sie organisieren. Ich glaube, dieser Krieg zeigt ganz stark, wie zentral die Rolle der Nato, speziell das Engagement der USA, für europäische Verteidigungsfähigkeit ist. Ich finde es schade, dass die Europäer nicht gleichzeitig dieses Momentum nutzen, um die europäische Verteidigungskooperation noch stärker voranzutreiben.
Nun hat Bundeskanzler Olaf Scholz vor der Ramstein-Konferenz gesagt, dass Leopard-Panzer erst geschickt werden, wenn die USA ihre Abrams schicken.
Deutschland wartet im Prinzip immer auf die Amerikaner und möchte nicht nur mit europäischen Partnern couragiert vorangehen. Eine europäische Leopard 2-Initiative würde diese Chance bieten, aber ohne die USA scheint es auch hier nicht zu gehen. Wir reden zwar davon, dass wir der Hauptgarant für europäische Sicherheit werden wollen, aber wir handeln oft nicht so. Und wir haben in den letzten elf Monaten viel Vertrauen der östlichen Partner verloren. Polen bildet jetzt eine große Armee, investiert in sie, während wir noch darüber reden.
In der öffentlichen Meinung in Deutschland gibt es zwei interessante Aussagen, einerseits gibt es eine Mehrheit für höhere Ausgaben für die Bundeswehr, andererseits lehnt auch eine Mehrheit eine militärische Führungsrolle ab. Das klingt nach: Hauptsache es ist bei uns sicher.
Es gibt Untersuchungen, die zeigen klar, dass die Deutschen mehrheitlich nicht pazifistisch sind, dass sie eine funktionierende Bundeswehr haben wollen, aber zögerlich bei der Frage sind, ob Deutschland sich international mehr militärisch engagieren soll. Es kann auch damit zusammenhängen, dass über Jahre hinweg immer wieder gesagt wurde, es gebe keine militärischen Lösungen. Auch Kanzlerin Merkel hat sich in 16 Jahren des Themas Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht angenommen, sie hat nie angestrebt, dass wir hier in Europa eine echte Führungsrolle übernehmen sollen. Wir haben jahrelang die zwei Prozent für Verteidigungsausgaben versprochen, aber nicht erreicht. Im Prinzip haben alle Parteien den Sparkurs bei der Bundeswehr mitgetragen.
Das sowieso schon komplizierte Machtgefüge in der EU wird spätestens seit dem Krieg in Syrien und dem Flüchtlingspakt Brüssels mit Ankara von 2016 auch von der Regierung Erdogans beeinflusst. Hat sich Europa von ihm mit dem damaligen Deal oder auch jetzt als selbsternannter Vermittler im russisch-ukrainischen Krieg erpressbar gemacht?
Jetzt wäre es jedenfalls der falsche Moment, das Tischtuch mit der Türkei zu zerschneiden. An der Türkei sieht man gut, dass die Mittelmächte erstarken. Deutlich zum Beispiel daran zu sehen, dass es einerseits Drohnen an die Ukraine liefert, andererseits von Russland als Gesprächspartner akzeptiert wird. Die EU ist dankbar, dass Erdogan den Getreidedeal vermitteln konnte. Ankara spielt die Abhängigkeiten gezielt aus, wie man beim Pokern um die Aufnahme von Schweden und Finnland in die Nato sieht. Das hat natürlich mit der Präsidentschaftswahl in der Türkei in diesem Jahr zu tun.
Hat Deutschland nachhaltig seinen Einfluss verloren?
Scholz hat in seiner Prager Rede im vergangenen August gesagt, dass Deutschland “Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenführen” will. Nach der Erfahrung der vergangenen Monate wird für Deutschland aber nicht einfach, das in Mittel- und Osteuropa verlorene Vertrauen zukünftig wieder herzustellen. Zugleich brauchen die Osteuropäer Deutschland, es ist immer noch die Zentralmacht Europas. Trotz aller Verstimmungen kann nicht dauerhaft Politik gegen Deutschland gemacht werden.
Es klingt eher düster, was die Gestaltungsmöglichkeiten der EU in der aktuellen Krise betrifft.
Es gibt auch viele positive Aspekte. Bisher ist kein Land bei den Sanktionen ausgeschert und die European Peace Facility schafft die Möglichkeit, mit europäischem Geld Waffen für die Ukraine zu kaufen. Auch die schnelle, unbürokratische Aufnahme der Flüchtlinge in Europa und insbesondere in Polen – das sind bemerkenswerte Erfolge. Wenn die Europäer wollen, haben sie großes Gewicht.
Jana Puglierin ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations und Leiterin des Berliner Büros des ECFR und gehört zum erweiterten Vorstand von Women in International Security Deutschland (WIIS).
New York Times – How Western Goods Reach Russia: A Long Line of Trucks Through Georgia (Paywall): Ausgerechnet Georgien spielt derzeit eine zentrale Rolle, um Russland mit begehrter westlicher Ware zu versorgen. Das viele Geld, was dabei zu verdienen ist, lässt den Krieg von 2008 und die anhaltenden Grenzstreitigkeiten mit dem aggressiven Nachbarn vergessen. Eine sehr lesenswerte Reportage mit Bildern des preisgekrönten Fotografen Sergey Ponomarev über den Schmuggel nach Russland.
ZDFzoom – Weinen werden wir später. Vier Ukrainer und der Krieg: Filmemacher Jens Strohschnieder porträtiert vier Ukrainerinnen und Ukrainer, die in der Ukraine geblieben sind und den Krieg hautnah erleben. Darunter ist auch die TikTokerin Valeria Shashenok, die zu Beginn des Krieges durch ihre Videos aus dem Luftschutzbunker bekannt wurde. Geht unter die Haut! 29 Minuten
Welt – Das Land, das heimlich die Ukraine rettete (Paywall): Die Überschrift ist zwar ein wenig optimistisch – die Ukraine ist noch nicht gerettet – aber interessant ist trotzdem, wie Bulgariens Premierminister Kiril Petkow und sein Finanzminister Assen Wassilew öffentlich keine Waffen liefern ließen, über Umwege aber Munition, Rüstungsgüter und Diesel in die Ukraine exportierten. In der Frühphase des Krieges sei ein Drittel der von der ukrainischen Armee benötigten Munition aus Bulgarien gekommen, sagt Petkow, der als Premier mittlerweile abgelöst wurde.
Foreign Affairs – The Sanctions on Russia Are Working: Wenn man sich in Russland Rubelkurs, Inflationsrate und Arbeitslosenquote anschaut, könnte man denken, dass es der russischen Wirtschaft gut geht. Vladimir Milov, russischer Oppositionspolitiker im Exil, erklärt, warum die Sanktionen wirken und wie das Bruttoinlandsprodukt zu betrachten ist, weil die Produktion von Rüstungsgütern eingerechnet wird, die schnell wieder zerstört werden.
gerade einmal 24 Stunden im Amt wird der neue deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius sein, wenn er am heutigen Freitag auf der US-Airbase Ramstein erscheint. Dort beraten Verbündete der Ukraine über die nächste, gemeinsame Waffenhilfe. Erst am gestrigen Donnerstag drängte ein Bündnis mehrerer Nato-Staaten zu stärkerer militärischer Hilfe und sprach dabei auch ausdrücklich von Kampfpanzern, inklusive Leopard 2. Bereits eine Stunde nach Amtseinführung am Donnerstag traf Pistorius im Bendlerblock auf US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, um mit ihm über anstehende Themen zu sprechen (Video).
In Ramstein muss Pistorius verschiedene Rollen einnehmen: Als Verteidigungsminister wird er die deutsche Position vermitteln – also den überraschenden Vorstoß von Kanzler Olaf Scholz, dass Deutschland Leopard-Panzer liefern werde, wenn die USA ihre Abrams schicken.
Und zugleich wird er die Beziehungen mit seinen EU-Kollegen kitten müssen. Denn Deutschlands Agieren in den vergangenen elf Monaten hat einiges an Porzellan zerschlagen. Wegen seiner Russlandpolitik vor dem Krieg und seiner oft zögerlichen Haltung nach Kriegsbeginn hat Deutschland erheblich an Einfluss in der EU eingebüßt. Pistorius ist sich dieser – zusätzlichen, außenpolitischen – Aufgabe offenbar bewusst. Gleich nach seiner Vereidigung am Donnerstag telefonierte er mit seinem französischen Kollegen, Sébastien Lecornu.
Nana Brink und ich haben vor dem Ramstein-Treffen mit der Politikwissenschaftlerin Jana Puglierin darüber gesprochen, wie Russlands Krieg die Machtverhältnisse in der EU durcheinandergewirbelt hat. Deutschland steht derzeit nicht gut da. Aber das muss nicht so bleiben.
Frau Puglierin, Deutschland war bis zum 24. Februar 2022 tonangebend in der EU bei Beziehungen zu Russland, ließ Warnungen aus Polen und den baltischen Staaten abprallen. Jetzt wirkt Berlin getrieben. Wie haben die vergangenen elf Monate das Machtgefüge in der EU verändert?
Die Deutschen haben am 24. Februar letzten Jahres die Deutungshoheit bei der Russlandpolitik der EU verloren. Dagegen sehen sich Länder in Zentraleuropa, also Polen, die baltischen Staaten, Tschechien jetzt gestärkt. Jahrelang galten sie als russophobe, fast schon hysterische Länder, die übertreiben. Ihre Ängste wurden nicht ernst genommen. Jetzt steht Deutschland eigentlich vor dem Bankrott der jüngeren Russlandpolitik. Wir haben viele Entwicklungen in Russland nicht gesehen …
Oder nicht sehen wollen …
Oder beides. Kommt darauf an, wer auf der deutschen Seite der Akteur war. Der Schock nach dem Beginn des Krieges saß tief. Die Mittel- und Osteuropäer haben dann bei der europäischen Antwort auf den Krieg das Narrativ stark bestimmt. Sie haben rasch Initiativen gestartet und das Tempo der Reaktionen vorgegeben in einer Weise, wie es vorher nicht denkbar war.
Sie fühlten sich bestätigt?
Ja, nach Kriegsbeginn hatten sie einen Moment der moralischen Überlegenheit. Die Debatte um den Visa-Bann für russische Staatsbürger zeigt beispielsweise, wie mittel- und osteuropäischer Staaten begannen, die europäische Agenda zu bestimmen. Deutschland fand sich hier sowie auch in der Debatte um den Ausschluss russischer Banken aus dem Swift System eher in der Rolle des Bremsers.
Zurückhaltend bei Reaktionen auf Russlands Überfall war auch Frankreich. Gleichzeitig gibt es auch Verstimmungen zwischen Paris und Berlin, ausgerechnet 60 Jahre nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags. Führt das zum Machtverlust der alten großen Player und Machtgewinn für Mittel- und Osteuropa?
Polen, die baltischen Staaten oder Tschechien haben auch früher schon nicht nach Frankreich geschaut, wenn es um Russland ging. Unsere Coalition Explorer Daten aus dem Jahr 2020, mit denen wir sozusagen “gemessen” haben, wie sich Länder gegenseitig wahrnehmen, zeigten, dass die Beziehungen zwischen Frankreich und Mittel- und Osteuropa ganz schwierig waren. Deswegen haben sie dann auch nicht nach Paris geschaut, als in ihrer Nachbarschaft ein Krieg ausbrach. Sie haben stattdessen die Dynamik selbst bestimmt. Nach der jahrelangen Dominanz des deutsch – französischen Tandems fand ich dies zur Abwechslung ganz erfrischend. Inwiefern es zu einer nachhaltigen Machtverschiebung von Paris und Berlin nach Mittel- und Osteuropa kommt, wird sich zeigen.
Wer hat dabei besonders profitiert?
Nun, vor einem Jahr war Polen noch das Schmuddelkind in der EU. Es gab einen Konflikt mit der Biden-Administration, mit Berlin, mit der EU-Kommission in Brüssel. Heute geht an Warschau kein Weg mehr vorbei, es ist ein ganz zentrales Land für die Unterstützung der Ukraine. Außerdem nimmt sich Warschau als zentraler Akteur bei der Verteidigung westlicher Werte wahr. Ebenso sehen sich die Esten und Litauer in dieser Rolle. Das Ganze hat aber auch einen gefährlichen Drall, denn Polen ist in vielen Bereichen ein problematischer Akteur, etwa bei der Frage der Migration und der Rechtsstaatlichkeit.
Und Frankreich?
Paris hatte bisher keinen Zeitenwende-Moment. Macron ist eher weiter auf seinem Kurs geblieben. Und die Franzosen finden die enge Verständigung zwischen Scholz und Biden schwierig, besonders, was die Rüstungspolitik und das Beschaffungswesen für die Bundeswehr betrifft. Die Franzosen wünschen sich mehr Investitionen in die europäische Rüstungsindustrie und eine stärkere Europäisierung des Sondervermögens, während Deutschland gerade sehr viel von der Stange in den USA kauft. Deutlich war das, als Deutschland sich für die US-Jets F-35 entschied. Frankreich – und übrigens auch Polen – sind bei der Luftverteidigungsinitiative European Sky Shield nicht dabei.
Was bedeutet das alles für die Verteidigungsfähigkeit der EU?
Gerade für die Europäer an der Ostflanke sieht es so aus, dass ihnen im Zweifel nur Amerika aus der Patsche helfen kann. Ihnen ist klar, dass die Ukraine nicht mehr existieren würde, wenn die USA nicht so schnell gehandelt hätten. Sie nehmen auch wahr, dass die Ramstein-Konferenz zwar in Deutschland stattfindet, aber die Amerikaner sie organisieren. Ich glaube, dieser Krieg zeigt ganz stark, wie zentral die Rolle der Nato, speziell das Engagement der USA, für europäische Verteidigungsfähigkeit ist. Ich finde es schade, dass die Europäer nicht gleichzeitig dieses Momentum nutzen, um die europäische Verteidigungskooperation noch stärker voranzutreiben.
Nun hat Bundeskanzler Olaf Scholz vor der Ramstein-Konferenz gesagt, dass Leopard-Panzer erst geschickt werden, wenn die USA ihre Abrams schicken.
Deutschland wartet im Prinzip immer auf die Amerikaner und möchte nicht nur mit europäischen Partnern couragiert vorangehen. Eine europäische Leopard 2-Initiative würde diese Chance bieten, aber ohne die USA scheint es auch hier nicht zu gehen. Wir reden zwar davon, dass wir der Hauptgarant für europäische Sicherheit werden wollen, aber wir handeln oft nicht so. Und wir haben in den letzten elf Monaten viel Vertrauen der östlichen Partner verloren. Polen bildet jetzt eine große Armee, investiert in sie, während wir noch darüber reden.
In der öffentlichen Meinung in Deutschland gibt es zwei interessante Aussagen, einerseits gibt es eine Mehrheit für höhere Ausgaben für die Bundeswehr, andererseits lehnt auch eine Mehrheit eine militärische Führungsrolle ab. Das klingt nach: Hauptsache es ist bei uns sicher.
Es gibt Untersuchungen, die zeigen klar, dass die Deutschen mehrheitlich nicht pazifistisch sind, dass sie eine funktionierende Bundeswehr haben wollen, aber zögerlich bei der Frage sind, ob Deutschland sich international mehr militärisch engagieren soll. Es kann auch damit zusammenhängen, dass über Jahre hinweg immer wieder gesagt wurde, es gebe keine militärischen Lösungen. Auch Kanzlerin Merkel hat sich in 16 Jahren des Themas Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht angenommen, sie hat nie angestrebt, dass wir hier in Europa eine echte Führungsrolle übernehmen sollen. Wir haben jahrelang die zwei Prozent für Verteidigungsausgaben versprochen, aber nicht erreicht. Im Prinzip haben alle Parteien den Sparkurs bei der Bundeswehr mitgetragen.
Das sowieso schon komplizierte Machtgefüge in der EU wird spätestens seit dem Krieg in Syrien und dem Flüchtlingspakt Brüssels mit Ankara von 2016 auch von der Regierung Erdogans beeinflusst. Hat sich Europa von ihm mit dem damaligen Deal oder auch jetzt als selbsternannter Vermittler im russisch-ukrainischen Krieg erpressbar gemacht?
Jetzt wäre es jedenfalls der falsche Moment, das Tischtuch mit der Türkei zu zerschneiden. An der Türkei sieht man gut, dass die Mittelmächte erstarken. Deutlich zum Beispiel daran zu sehen, dass es einerseits Drohnen an die Ukraine liefert, andererseits von Russland als Gesprächspartner akzeptiert wird. Die EU ist dankbar, dass Erdogan den Getreidedeal vermitteln konnte. Ankara spielt die Abhängigkeiten gezielt aus, wie man beim Pokern um die Aufnahme von Schweden und Finnland in die Nato sieht. Das hat natürlich mit der Präsidentschaftswahl in der Türkei in diesem Jahr zu tun.
Hat Deutschland nachhaltig seinen Einfluss verloren?
Scholz hat in seiner Prager Rede im vergangenen August gesagt, dass Deutschland “Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenführen” will. Nach der Erfahrung der vergangenen Monate wird für Deutschland aber nicht einfach, das in Mittel- und Osteuropa verlorene Vertrauen zukünftig wieder herzustellen. Zugleich brauchen die Osteuropäer Deutschland, es ist immer noch die Zentralmacht Europas. Trotz aller Verstimmungen kann nicht dauerhaft Politik gegen Deutschland gemacht werden.
Es klingt eher düster, was die Gestaltungsmöglichkeiten der EU in der aktuellen Krise betrifft.
Es gibt auch viele positive Aspekte. Bisher ist kein Land bei den Sanktionen ausgeschert und die European Peace Facility schafft die Möglichkeit, mit europäischem Geld Waffen für die Ukraine zu kaufen. Auch die schnelle, unbürokratische Aufnahme der Flüchtlinge in Europa und insbesondere in Polen – das sind bemerkenswerte Erfolge. Wenn die Europäer wollen, haben sie großes Gewicht.
Jana Puglierin ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations und Leiterin des Berliner Büros des ECFR und gehört zum erweiterten Vorstand von Women in International Security Deutschland (WIIS).
New York Times – How Western Goods Reach Russia: A Long Line of Trucks Through Georgia (Paywall): Ausgerechnet Georgien spielt derzeit eine zentrale Rolle, um Russland mit begehrter westlicher Ware zu versorgen. Das viele Geld, was dabei zu verdienen ist, lässt den Krieg von 2008 und die anhaltenden Grenzstreitigkeiten mit dem aggressiven Nachbarn vergessen. Eine sehr lesenswerte Reportage mit Bildern des preisgekrönten Fotografen Sergey Ponomarev über den Schmuggel nach Russland.
ZDFzoom – Weinen werden wir später. Vier Ukrainer und der Krieg: Filmemacher Jens Strohschnieder porträtiert vier Ukrainerinnen und Ukrainer, die in der Ukraine geblieben sind und den Krieg hautnah erleben. Darunter ist auch die TikTokerin Valeria Shashenok, die zu Beginn des Krieges durch ihre Videos aus dem Luftschutzbunker bekannt wurde. Geht unter die Haut! 29 Minuten
Welt – Das Land, das heimlich die Ukraine rettete (Paywall): Die Überschrift ist zwar ein wenig optimistisch – die Ukraine ist noch nicht gerettet – aber interessant ist trotzdem, wie Bulgariens Premierminister Kiril Petkow und sein Finanzminister Assen Wassilew öffentlich keine Waffen liefern ließen, über Umwege aber Munition, Rüstungsgüter und Diesel in die Ukraine exportierten. In der Frühphase des Krieges sei ein Drittel der von der ukrainischen Armee benötigten Munition aus Bulgarien gekommen, sagt Petkow, der als Premier mittlerweile abgelöst wurde.
Foreign Affairs – The Sanctions on Russia Are Working: Wenn man sich in Russland Rubelkurs, Inflationsrate und Arbeitslosenquote anschaut, könnte man denken, dass es der russischen Wirtschaft gut geht. Vladimir Milov, russischer Oppositionspolitiker im Exil, erklärt, warum die Sanktionen wirken und wie das Bruttoinlandsprodukt zu betrachten ist, weil die Produktion von Rüstungsgütern eingerechnet wird, die schnell wieder zerstört werden.