Table.Briefing: Security

Ukraine erwartet Großangriffe auf Infrastruktur + Erdoğan – Putins nützlicher Rivale

Liebe Leserin, lieber Leser,

es war mit Sicherheit kein Zufall, dass am gestrigen Nachmittag in Krywyj Rih Explosionen zu hören waren. Die Heimatstadt des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj war Ziel russischer Angriffe, während Selenskyj in Washington weilt. Heute soll er den US-Präsidenten Joe Biden treffen. Ihn muss er zwar nicht überzeugen, der Ukraine weiterzuhelfen – umso mehr aber skeptische Politiker im Kongress und auch die US-Bevölkerung. Laut der Nachrichtenagentur AP denken 45 Prozent der befragten Amerikaner, ihr Land gebe zu viel Geld für die Ukraine aus.

Russische Angriffe wie auf Krywyj Rih dürften in den kommenden Wochen zunehmen und gezielt gegen die Kritische Infrastruktur der Energie- und Wasserversorgung gerichtet sein. Denis Trubetskoy beschreibt in seiner Analyse, wie gut sich die Ukraine auf diesen Winter vorbereitet hat – und was Russland vorhat.

Die Auswirkungen des Krieges im Osten Europas weiß der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gut für sich zu nutzen. Er verdrängt Wladimir Putin aus dessen Machtbereich, ändert die Geopolitik in Zentralasien und besänftigt den Herrn im Kreml zugleich. Frank Nordhausen erläutert Erdoğans Schaukelpolitik.

Wissen Sie, welcher Bundesminister mit seiner Arbeit überzeugt? Laut unserer Umfrage, an der Sie vielleicht teilgenommen haben, ist es Boris Pistorius. Interessanterweise wird aber nicht Sicherheitspolitik als das wichtigste Thema für die zweite Hälfte der Legislaturperiode genannt. Es ist Energiepolitik.

Eine gute Lektüre wünscht Ihnen

Ihr
Viktor Funk
Bild von Viktor  Funk

Analyse

Neue Taktik der russischen Armee: Sie greift die Transformatoren der Umspannwerke an

Es schneit und friert in der Ukraine und das Land bereitet sich auf mögliche Stromausfälle vor – auch ohne russische Zerstörung der Energieinfrastruktur. Aktuell gleicht der staatliche Stromversorger die fehlenden Mengen durch Importe aus Moldau, Rumänien und der Slowakei aus.

Ob diese aber bei noch kälterem Wetter auch ohne russische Treffer ausreichen, ist zweifelhaft: Wolodymyr Omeltschenko, Leiter des Energieprogramms bei der Denkfabrik Zentr Rasumkowa, geht von der Umstellung auf planmäßige Stromabschaltungen, und das bei Durchschnittstemperaturen zwischen -5 und -7 Grad, aus.

Was planmäßige Energieabschaltungen sind, wissen die Menschen in der Ukraine seit dem vergangenen Winter. Wegen zerstörter Leitungen, Trafos und Angriffen auf Kraftwerke wurden die Haushalte in Zeitblöcken versorgt: drei Stunden Strom, drei Stunden kein Strom. Die ersten Folgen nach den massiven Angriffen auf die Energieinfrastruktur im vergangenen Winter waren gewaltig. Ganze Stadtteile blieben manchmal für 72 bis 96 Stunden komplett ohne Strom, Heizung und Leitungswasser.

50 bis 60 Raketen pro Woche

In diesem Winter hält sich Russland nach einem Großangriff mit 75 Drohnen ausgerechnet am 25. November, dem Gedenktag des Holodomor, noch zurück. 74 Drohnen seien abgefangen worden, meldete die ukrainische Luftwaffe. Laut Ministerpräsident Denys Schmyhal waren Objekte der Energieinfrastruktur das Ziel – genauso wie im letzten Winter, als im Durchschnitt jede Woche 50 bis 60 Raketen und Dutzende von Drohnen auf Energieobjekte der Ukraine zielten.

Dass auf den ersten Angriff eines großen Drohnenschwarms viele weitere folgen werden, ist aber wahrscheinlich. Russland produziert die ursprünglich iranischen Kampfdrohnen Shahed-136 inzwischen selbst – und hat sie auch noch weiterentwickelt. Auffällig ist zudem, dass die Angriffe mit Marschflugkörpern und Raketen im Herbst abgenommen haben. Dem Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Jurij Ihnat, zufolge könnte Russland bis zu 900 Raketen und Marschflugkörper für die winterliche Angriffswelle gesammelt haben.

Bessere Luftverteidigung als im vergangenen Winter

Die gute Nachricht für die Ukraine: Die Qualität der Flugabwehr hat sich im Vergleich zum Winter 2022/2023 deutlich verbessert. Damals war die Ukraine fast ausschließlich auf sowjetische Mittelstreckensysteme angewiesen. Weil die benötigten Abwehrraketen überwiegend in Russland produziert werden und für Kiew damit unerreichbar sind, setzte Russland auch gezielt darauf, die alten Vorräte auszuschöpfen.

Offenbar ist es den ukrainischen Streitkräften aber gelungen, westliche Flugabwehrraketen mit sowjetischen Systemen zu starten. Insgesamt entscheidender dürfte die Rolle westlicher Flugabwehr sein, zu deren Vorreitern Deutschland gehört. So hat sich die jüngste Patriot-Variante PAC-3 als effektiv sogar gegen russische ballistische Kinschal-Raketen erwiesen, was im Voraus nicht klar war.

Drei bisher gelieferte Patriot-Systeme und ein System SAMP/T werden große Städte effektiv gegen ballistische Raketen schützen, während das deutsche System IRIS-T – bisher drei geliefert – seine Effektivität bereits gegen klassische Marschflugkörper unter Beweis stellte. Die Flugabwehr-Kanonenpanzer Gepard sind darüber hinaus eine gute und kostengünstige Lösung, um nicht alle billigen Drohnen mit teuren Flugabwehrraketen abfangen zu müssen.

Kampfflugzeuge würden mehr Schutz bieten – doch die fehlen

Jedoch wird es für ein Land von der Größe der Ukraine -1,7-mal so groß wie Deutschland – immer zu wenig Flugabwehrsysteme geben. Um die Flugabwehr auf ein neues Niveau zu bringen, bräuchte die Ukraine Kampfflugzeuge. Dann könnte sie mit Schutz von oben riskieren, die Flugabwehr in Frontnähe zu verlegen. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Energieobjekte getroffen werden und sich das auf das gesamte Stromnetz auswirkt.

Wegen Geheimhaltung ist es schwierig einzuschätzen, in welchem Zustand sich die Energieinfrastruktur nach monatelangen Reparaturen befindet. Fakt ist, dass Russland sich vor einem Jahr weniger auf den Beschuss der Kraftwerke selbst konzentrierte, die überwiegend in Sowjetzeit – mit der Möglichkeit eines Atomkriegs im Hinterkopf – gebaut wurden und daher schwer zerstörbar sind. Stattdessen wurden vor allem Transformatoren der Umspannwerke beschossen.

Stromerzeugung wird dezentralisiert

Aus russischer Perspektive war diese Taktik klug: Die Produktion eines Transformators dauert in Friedenszeiten oft länger als ein Jahr. Einem UN-Bericht aus dem April zufolge hat die russische Armee 42 von 94 der systemwichtigen ukrainischen Transformatoren beschädigt oder zerstört. Inwieweit die Produktion von 100 Transformatoren, die Kiew laut einem Economist-Bericht bestellt haben soll, fortgeschritten ist, wird entscheidend sein – ebenfalls wie der Zustand der alten, vor dem russischen Angriffskrieg ausgemusterten Transformatoren, auf denen die Hoffnungen ruhen.

Zum Schutz sind einige Energieobjekte nun mit Erdwällen und Betonwürfeln bedeckt. Außerdem arbeiten Energiebetreiber an der Dezentralisierung der Stromerzeugung. Kleinere Netze sollen die Verteilung der Energie flexibler und sicherer machen.

Insgesamt dürfte die Lage wegen der verbesserten Flugabwehr und weiterer Schutzmaßnahmen nicht schlechter als im vergangenen Jahr sein. Viel besser aber auch nicht. Denn zum einen sind nicht alle Schäden beseitigt worden. Und zum anderen hat auch Moskau aus dem ersten Winter gelernt und sehr wahrscheinlich Kapazitäten für die Angriffe aufgebaut. Die kalte Phase des Winters hat gerade erst begonnen.

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Toxische Beziehung: Erdoğan ist für Putin ein unberechenbarer Partner

Profitieren voneinander und misstrauen einander: Erdoğan und Putin.

Mit großem Selbstbewusstsein, aber ebenso großer Vorsicht hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine sein Verhältnis zum Kreml-Chef Wladimir Putin und die Beziehung der Türkei zu Russland entwickelt – als komplexe Schaukelpolitik zwischen den Großmächten. “Im derzeitigen Moment traue ich Russland genauso viel wie dem Westen”, sagte Erdoğan in einem denkwürdigen Interview mit der US-amerikanischen TV-Senderkette PBS im September. Der Nato-Staat Türkei ist ein paradoxer “Freund” Russlands. Außenpolitisch kooperieren beide Länder, wo es möglich ist, bekämpfen sich aber militärisch auf verschiedenen Kriegsschauplätzen mit unterschiedlicher Intensität: in Syrien, in Libyen, im Kaukasus.

Infolge des Gaza-Kriegs hat Erdoğan nach einer Periode des Austestens roter Linien Putins derzeit wieder zu einem geopolitischen Gleichklang mit dem großen Nachbarn gefunden. Den israelisch-palästinensischen Konflikt instrumentalisieren beide Autokraten: Sie positionieren sich gegen Israel und den Westen und intensivieren gleichzeitig ihre eigenen Kriege – Russland in der Ukraine, die Türkei in Nordsyrien (Rojava).

Machtverschiebungen zugunsten Ankaras

Erdogan kommt zugute, dass Russland durch den seinen Krieg gebunden und geschwächt ist. Im Südkaukasus hat die Türkei spätestens seit dem Bergkarabach-Krieg vom September jene Vormachtrolle übernommen, die Russland bisher innehatte. Auch in Zentralasien profitiert Ankara von der Schwäche Moskau und verstärkt die geopolitische Rivalität mit dem Nachbarn, um die Beziehungen mit den Staaten Zentralasiens, die ihre Abhängigkeit von Russland reduzieren wollen, auszubauen.

Vor allem auf dem ukrainischen Schauplatz nutzt Erdoğan jede Schwäche Putins für machtpolitische und ökonomische Gewinne. Der Ukraine schickte Erdoğan gleich zu Beginn des Krieges militärische Bayraktar-Drohnen, die wesentlich zur erfolgreichen Abwehr der russischen Angriffe beitrugen. Erdoğan sperrte den Bosporus für russische (und andere) Kriegsschiffe und forderte mehrfach die Rückgabe der Krim an die Ukraine. Zudem ist die Türkei stark im risikoreichen Handel mit ukrainischem Getreide engagiert. Nach dem einseitigen russischen Ausstieg aus dem Schwarzmeer-Getreideabkommen im Juli ließ Putin zwar Mitte August einen türkischen Frachter auf dem Weg zum ukrainischen Getreidehafen Ismajil mit Warnschüssen stoppen, die Lieferungen gingen trotzdem weiter.

Türkei und Zentralasien helfen, Sanktionen zu umgehen

Putin lässt Erdoğan notgedrungen gewähren, weil er letztlich von der Partnerschaft profitiert. Trotz ihrer Nato-Mitgliedschaft spielt die Türkei eine Schlüsselrolle beim Unterlaufen der westlichen Russland-Sanktionen, denen sie sich ausdrücklich nicht angeschlossen hat. Der Sanktionsbruch durch türkische Unternehmen ist spätestens seit Anfang September aktenkundig. Zu dem Zeitpunkt belegten die USA fünf führende türkische Handelsfirmen wegen der Ausfuhr militärisch verwendbarer Komponenten für Drohnen und Sensortechnik nach Russland mit Sanktionen.

Danach blockierte die Türkei zwar den Transit sanktionierter Waren ins Nachbarland, doch werden die türkischen Exporte lebenswichtiger High-Tech-Güter für Russlands Kriegsmaschine jetzt offenkundig über Lieferketten im Kaukausus und Zentralasien verschoben, wie die britische Financial Times jüngst berichtete. Laut dem Bericht werden “hochprioritäre” Komponenten für die Rüstungsindustrie über den Umweg der ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan verdeckt nach Russland geliefert. Sie beträfen 45 Warenkategorien wie Mikrochips, Kommunikationsgeräte oder Zielfernrohre. Das Volumen dieses Handels ist sprunghaft angestiegen und hat westliche Besorgnis deutlich verstärkt.

Washington hat daher den politischen Druck auf Ankara noch einmal erhöht, um die fortgesetzte Obstruktion der Nato-Politik durch türkische Firmen zu unterbinden. Der stellvertretende US-Außenminister James O’Brien warnte Ankara vor zwei Wochen öffentlich, die westlichen Staaten wollten nicht, “dass einer unserer wichtigsten Partner zu einem Ort wird, an dem unsere Sanktionen umgangen werden”. Das türkische Außenministerium konterte wachsweich, es werde alles getan, um Sanktionsumgehungen zu verhindern, doch gebe es leider solche “Versuche” durch “obskure Unternehmen”.

Dazu erklärten Türkeiexperten auf einer internationalen Tagung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Nikosia im November, mit der Tolerierung des “Geisterhandels” sanktionierter Waren revanchiere sich Erdoğan auch für die massive Unterstützung Putins bei den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai. Damals habe sich Putin erstmals offen in Türkei-Wahlen eingemischt, indem er türkische Gas-Schulden in Höhe mehrerer hundert Millionen Dollar stundete und Erdoğan damit ermöglichte, seiner Wählerschaft kostenlose Gaslieferungen zu versprechen. Diese Intervention habe das ohnehin asymmetrische Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Autokraten zugunsten Putins weiter verstärkt.

Erdoğan hat Türkeis Abhängigkeit von Russland vergrößert

Der türkische Präsident hat ohnehin aus den Verwerfungen seit November 2015 seine Schlüsse gezogen, als die türkische Luftverteidigung ein russisches Flugzeug abschoss, das aus Syrien kommend in den türkischen Luftraum eingedrungen war. Russland verhängte Sanktionen gegen die Türkei; Erdoğan sah sich zu einer demütigenden Entschuldigung bei Putin gezwungen. Anschließend bestellte Ankara für zwei Milliarden Dollar russische S-400-Flugabwehrraketen und lässt Russland seit 2018 in der Südtürkei das Atomkraftwerk Akkuyu errichten, das die türkische Opposition als russische Basis mitten in der Türkei kritisiert.

Russland gab seinerseits grünes Licht für militärische Operationen der Türkei im Norden Syriens und nahm den Bau der Pipeline TurkStream wieder auf, durch die seit Januar 2020 russisches Gas in die Türkei fließt. Die stark gewachsene energiepolitische Abhängigkeit der Türkei von Russland hat Putin enormes Erpressungspotential in die Hände gespielt. Derzeit plant Moskau die Errichtung eines Erdgasknotenpunktes in der Türkei, um offenkundig russisches Gas für den Export in die EU zu türkischem Gas weißzuwaschen.

Der Handel mit Russland floriert

Das Handelsvolumen zwischen Russland und der Türkei hat sich seit Beginn des Ukraine-Kriegs stark erhöht und wird in diesem Jahr voraussichtlich 65 Milliarden US-Dollar übersteigen. Im vergangenen Jahr war Russland erstmals der wichtigste Importpartner der Türkei mit Waren im Wert von 58,85 Milliarden Dollar, eine Verdreifachung gegenüber 2021.

Trotzdem bleibt Erdoğan wegen seines Bestrebens nach “strategischer Autonomie” für Putin ein unberechenbares Risiko. Zumal der türkische Präsident Pragmatiker genug ist, um seine Nato-Partnerschaft nicht zu gefährden und Signale der Kulanz an den Westen zu senden, von dem die Türkei wegen ihrer gewaltigen finanziellen und wirtschaftlichen Probleme mehr denn je abhängt. So leitete er im November die Gesetzesvorlage zum schwedischen Nato-Beitritt endlich zur Ratifizierung ans Parlament in Ankara weiter. Trotzdem dürfte die Zustimmung dazu noch auf sich warten lassen. Erdoğan will für das Okay 40 F-16-Kampfjets und 40 Eurofighter von den Nato-Partnern haben.

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News

Table.Media-Umfrage: Kein Minister leistete mehr als Boris Pistorius

Mehr geleistet als Verteidigungsminister Boris Pistorius – und zwar mit Abstand – hat nach Einschätzung der Entscheider in Deutschland bisher kein anderer Minister. Der SPD-Politiker hat bei knapp 69 Prozent von ihnen die Erwartungen an ihn eher übertroffen oder übertroffen, weniger als drei Prozent wurden enttäuscht. Zum Vergleich: Auf Platz zwei folgte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die bei gut 48 Prozent die Erwartungen eher übertroffen oder übertroffen hat.

Das geht aus einer exklusiven Umfrage des digitalen Medienhauses Table.Media hervor, an der über 3000 hochrangige Interessensvertreter teilgenommen haben. Sie sind im Transparenzregister des Deutschen Bundestags registriert und kommen zum überwiegenden Teil aus Unternehmen, Verbänden sowie Nichtregierungsorganisationen oder aus der Wissenschaft und der Verwaltung. Sie verteilen sich auf Branchen wie den Automobil- oder Energiesektor, die Bau- oder Digitalwirtschaft sowie Gewerkschaften und Umweltverbände.

Geringes Streitpotential bei Rüstungspolitik

Zugleich gehen die führenden Köpfe hierzulande davon aus, dass die Sicherheitspolitik ein inhaltlicher Schwerpunkt der Ampel bleiben wird – und dass die Aufgabenstellungen dabei auch besonders geräuschlos abgearbeitet werden wird. Knapp 69 Prozent der Entscheiderinnen und Entscheider schreiben der Sicherheitspolitik eine eher hohe oder hohe Bedeutung zu. Sie rechnen damit, dass sie auch in den verbleibenden zwei Jahren der aktuellen Legislaturperiode im Fokus bleiben wird. Das Thema liegt damit aus ihrer Sicht auf Platz zwei der Agenda. Vorne liegt die Energiepolitik mit einem Wert von 85 Prozent.

Anders als bei der Energiepolitik gehen die Befragten jedoch davon aus, dass die Rüstungspolitik kaum politischen Zündstoff bietet. Gerade einmal elf Prozent erwarten hier hohes Streitpotential. Das Thema landet damit auf dem letzten Platz. Ganz anders sieht es bei Fragen der Finanz- und Verschuldungspolitik aus. Hier sehen 60 Prozent ein hohes Streitpotential. löh

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Israel, Iran, Ukraine: EU bereitet mehrere Sanktionspakete vor

Die EU bereitet Sanktionen gegen radikale israelische Siedler im Westjordanland vor. Die Arbeiten hätten begonnen, sagte EU-Chefdiplomat Josep Borrell nach einem Treffen der EU-Außenminister am Montag in Brüssel. Als Grundlage dient das bestehende Sanktionsinstrument zur Bestrafung von schweren Menschenrechtsverstößen. Es würde Einreiseverbote und das Einfrieren von Vermögenswerten ermöglichen.

Parallel diskutieren die Mitgliedstaaten über weitere Sanktionen gegen die islamistische Terrororganisation Hamas. Bereits am Freitag hatte die EU zwei Anführer der Hamas auf ihre Terrorliste gesetzt. Damit reagiere man “auf die Bedrohung durch die Hamas und ihre brutalen und wahllosen Terroranschläge in Israel am 7. Oktober”, hieß es in einer Erklärung der 27 EU-Staaten.

Betroffen sind der militärische Hamas-Anführer Mohammed Deif und sein Stellvertreter Marwan Issa. Sie werden mit einer Vermögenssperre belegt. Deutschland, Frankreich und Italien wollen aber noch weiter gehen und ein neues, speziell auf Hamas zugeschnittenes Sanktionsregime schaffen. Auf dieser Rechtsgrundlage könnten dann weitere Strafen erlassen werden.

Ukraine: Borrell appelliert an Ungarn

Ein weiteres Thema des Außenministertreffens war der Krieg in der Ukraine. Ungarn droht immer noch, die geplanten Beschlüsse beim EU-Gipfel am Donnerstag zu blockieren. Doch nun steht der als notorischer Neinsager bekannte Regierungschef Viktor Orban selbst unter Druck.

“Ich hoffe, dass die europäische Geschlossenheit nicht zerbrechen wird, denn dies ist nicht der Moment, unsere Unterstützung für die Ukraine zu schwächen. Im Gegenteil, dies ist der Moment, sie zu verstärken”, sagte Borrell. Geplant sind neue Finanzhilfen und die Eröffnung von EU-Beitrittsgesprächen.

Die EU verstärkt auch den Druck auf Iran. Sie verhängte am Montag weitere Sanktionen, um das Land an der Herstellung von Drohnen für den russischen Angriff auf die Ukraine zu hindern. Betroffen sind nach einem EU-Beschluss fünf Unternehmen und sechs Personen.

Maßnahmen gegen iranische Drohnenproduktion

Konkret geht es laut EU-Amtsblatt um die Unternehmen Shakad Sanat Asmari und Saad Sazeh Faraz Sharif sowie die Baharestan Kish Company, die Kimia Part Sivan Company und die Sarmad Electronic Sepahan Company. Zudem wurde der Direktor der iranischen Organisation der Luft- und Raumfahrtindustrien (AIO), Nader Khoon Siavash, gelistet.

Es handelt sich um die ersten Strafen nach einem neuen Sanktionsregime, das speziell für Irans Unterstützung des russischen Kriegs in der Ukraine geschaffen wurde. eb

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Greenpeace beklagt Intransparenz beim Rüstungslobbying

Die Umweltorganisation Greenpeace hat in einer neuen Recherche die Verflechtungen zwischen Rüstungsindustrie und Bundestagsabgeordneten, aber auch mit von der Bundesregierung geförderten Forschungseinrichtungen wie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) kritisiert. “Die Unabhängigkeit der Beratung der Politik durch führende Think-Tanks in Deutschland ist nicht oder nur mit Einschränkungen gegeben”, lautet ein Fazit der 37 Seiten langen Recherche mit dem Titel “Revolving DoorsWie Politik und Rüstungsindustrie gemeinsame Sache machen“, die Table.Media exklusiv vorliegt.

Greenpeace beklagt, dass das “ohnehin bereits intransparente Geschäft der Lobbyarbeit” im Bereich der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik “zusätzlich im Schatten von staatlichen Geheimhaltungsinteressen” stehe. So agierten einzelne Mitglieder der Bundestagsausschüsse für Haushalt und Verteidigung als “Diener zweier Herren”, da sie neben ihrer Abgeordnetentätigkeit auch als Präsidiums- und Vorstandsmitglieder von Organisationen wie der Deutschen Wehrtechnischen Gesellschaft oder dem Förderkreis Deutsches Heer tätig seien. “Von einem Institut für Gesundheitsforschung, das Geld von der Tabakindustrie bekommt, ist keine objektive Studie zu den Schäden des Tabakkonsums zu erwarten. Nichts anderes ist es, wenn die DGAP Geld von der Rüstungsindustrie bekommt und dann Studien zur Erhöhung der Militärausausgaben herausgibt”, sagte der bei Greenpeace für die Studie verantwortliche Rechercheur Philip Steeg gegenüber Table.Media.

Die NGO will Sicherheit breiter denken

Die Recherche “Revolving Doors” ist bereits die fünfte, die Greenpeace diesen Herbst veröffentlicht – mit dem Ziel, die öffentliche Debatte über die deutsche Sicherheitspolitik zu weiten, so Alexander Lurz, Experte für Frieden und Abrüstung bei Greenpeace. So sei Sicherheitspolitik “nicht gleichzusetzen mit Erhöhung der Militärausgaben, welche erhebliche negative volkswirtschaftliche und gesellschaftspolitische Konsequenzen nach sich ziehen können”. Vielmehr gehe es um die Umsetzung eines Konzepts “menschlicher Sicherheit”, das auf die menschlichen Grundbedürfnisse nach Bildung, einer gesunden Umwelt und sozialer Sicherheit abziele.

Die bisherigen Greenpeace-Studien hatten unter anderem das Beschaffungswesen der Bundeswehr zum Thema, rüstungskontrollpolitische Initiativen der Bundesregierung sowie eine Analyse der volkswirtschaftlichen Effekte von Militärausgaben in Italien, Spanien und Deutschland im Vergleich zu den Ausgaben in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Umweltschutz. mrb

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Presseschau

Defence AI Observatory: Caught Between Today and Tomorrow – Defence AI in Estonia. Estland stellt bei der Rüstungsbeschaffung radikal um: weniger ausrangierte Systeme aus anderen Ländern, mehr brandneues Equipment mit weit entwickelten Fähigkeiten im Bereich Künstlicher Intelligenz. Allerdings tut sich Estland schwer, seinen Vorsprung im Digitalsektor zu nutzen, um im Bereich KI-Anwendungen seinen eigenen Footprint im internationalen Verteidigungssektor zu hinterlassen.

Financial Times: ‘Catastrophic’ conditions in Rafah as Palestinians reach the end of the line. 85 Prozent der 2,3 Millionen Einwohner Gazas flohen in den Süden des Gebiets, etwa eine Million von ihnen befinden sich in der Grenzstadt Rafah, dem äußersten Ort, an den sie fliehen können. UN-Beamte warnen, dass die Stadt überlastet ist: Tausende leben auf der Straßen, sind dem Winterwetter ausgesetzt und haben kaum Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser oder Hygieneeinrichtungen.

The Atlantic: Netanyahu Should Quit. The U.S. Can Help With That. Der 7. Oktober bedeutete für Israel nicht nur eine unmittelbare Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit, sondern auch den Verlust der grundlegenden strategischen Annahmen des Landes über die Welt. Für Israel stellt sich die Frage, was die Leere, die durch den Verlust der alten Wahrheiten entstanden ist, füllen wird. Für Daniel Benjamin und Steven Simon steht fest, dass die neue Wahrheit ohne Netanyahu gefunden werden muss.

Sipri: More investment in nuclear deterrence will not make Europe safer. Polen würde gerne unter den US-amerikanischen Atomwaffenschutzschirm. Tytti Erästö diskutiert, warum eine über viele europäische Länder gestreute nukleare Abschreckung mehr Nachteile als Vorteile bringt. Unter anderem seien das mehr potenzielle Ziele in Europa und wegen der vielen Mitentscheider eine behäbige Abschreckung.

Janes: AUKUS members eye development of joint electronic warfare capabilities. Die Mitglieder der trilateralen Sicherheitskooperation leiten die gemeinsame Entwicklung fortschrittlicher Kampftechnologien ein. Beginnen soll diese mit den Fähigkeiten der elektronischen Kampfführung. Mittelpunkt der AUKUS-Vereinbarung war zudem der Verkauf amerikanischer Angriffs-U-Boote der Virginia-Klasse an Australien.

Heads

Johannes Voswinkel – Ein Russlandexperte mit Kurswechsel 

Johannes Voswinkel

Der ehemalige Journalist widmete einen Großteil seines beruflichen Lebens bisher einem Land: Russland. Von Touristenreisen in die Sowjetunion in den 1980er-Jahren über seine Tätigkeit als Moskau-Korrespondent für verschiedene Zeitungen bis zum Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau. Heute besetzt er eben diese Position des Büroleiters in Kiew, doch wie kam es zu dem Wechsel? 

Johannes Voswinkel wurde 1961 in Frankfurt am Main geboren. In einer Arbeitsgemeinschaft in der Schule lernte er jeden Nachmittag Russisch. Nach seinem Schulabschluss studierte er Ostslawistik und Romanistik in Hamburg. Parallel dazu besuchte er die “Henri-Nannen-Schule” für Journalisten, was der Beginn seiner journalistischen Karriere war. Nach einer langen Zeit in der Branche spielte er jedoch mit dem Gedanken, eine neue Richtung einzuschlagen. Die Stelle, welche er 2015 in der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau antrat, war für ihn ein beruflicher Neuanfang.  

Eingeschränkte Stiftungsarbeit

Trotz einer aufschlussreichen Zeit war die Arbeit unter dem russischen Regime nicht immer ohne Einschränkungen. Zwar hätte es in seinen Jahren als Büroleiter für die Stiftung selbst kein klares Drohszenario gegeben. Jedoch seien vor allem die Partnerorganisationen der Überwachung durch die staatlichen Behörden ausgesetzt gewesen. Er erzählt von Fällen, in denen selbst kommerzielle Partner der Stiftung Besuch vom russischen Geheimdienst bekamen. Auch zu einem Extremfall kam es: Voswinkel wurde von der Staatsanwaltschaft vorgeladen und sollte über eine frühere Partnerin der Stiftung aussagen. Daraus lernte er, zum Schutz der Partnerorganisationen darauf zu achten, über gewisse Themen eingeschränkter zu berichten – ohne jedoch das Programm der Stiftung aus den Augen zu verlieren. 

Erkalten der Leidenschaft 

Durch seine vielfältige Arbeit in Russland gewann er Einblicke in die Gesellschaft, die von der westlichen Vorstellung – die anfangs auch seine gewesen war – abwichen. Die Pluralität der Quellen, zum Beispiel der Konsum von oppositionellen oder westlichen Nachrichten, führte nicht immer zu einer Meinung, die von der des Regimes abweicht. Auch scheint aus seiner heutigen Fernbeobachtung heraus ein großer Teil der Bevölkerung apathisch gegenüber dem Angriffskrieg und der Annexion der Krim 2014 zu sein.  

Für Voswinkel, der die Entwicklung Russlands seit den Zeiten der Sowjetunion verfolgt, ist der Wandel hin zu einem autoritären Regime eine große Enttäuschung. Der Weg dorthin sei “manchmal nicht so augenfällig gewesen”, sagt er. Wenn man selbst “in solchen Entwicklungen drinnen steht”, könne man manchmal ihre “ganze Dimension” nicht erfassen.  Er spricht von einer persönlichen “Entfremdung” von der russischen Föderation, die sich im Prozess der Autokratisierung des Landes vollzogen hat. Zu diesem Zeitpunkt hätte er eine demokratische Entwicklung des Landes noch für möglich gehalten. In seiner Zeit als Korrespondent war er jedoch stets bemüht, ein objektives Bild Russlands – geprägt von seinen vielfältigen Kulturen und Traditionen – wiederzugeben.  

Seine Zukunft mit der Ukraine 

Mit dem Ablaufen seines sechsjährigen Vertrags als Büroleiter in Moskau stellte er sich 2021 die Frage, wohin seine Reise von Russland aus weitergehen sollte. Schon während seiner Tätigkeit als Moskau-Korrespondent, unter anderem für “Die Zeit” und das “Amnesty Journal”, schrieb er über die Ukraine. Mit nur einem Sakko und zwei Hosen im Gepäck berichtete er 2004 über die “Orange Revolution”, die länger dauerte als viele angenommen hatten. Aufgrund seiner über die Jahre erworbenen Expertise und dem Wunsch, weiterhin in derselben Region tätig zu sein, entschloss er sich, in der Ukraine zu bleiben. 

Voswinkel ist heute Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, wobei er vom Drittlandstandort Prag aus arbeitet. Seine Frau, die er in Russland kennengelernt hatte, und seine zwei Kinder leben in Berlin. Eine permanente Anwesenheit in der Ukraine ist zum jetzigen Zeitpunkt vom Auswärtigen Amt nicht empfohlen. Auch wenn ihm die Arbeit aus der Distanz noch aus Corona-Zeiten vertraut ist, fehlt ihm der persönliche Austausch vor Ort. Über Dienstreisen ist der Aufenthalt in der Ukraine jedoch trotzdem möglich. Anna Tayts

Personalien

Michael Roth wird künftig nicht mehr im SPD-Parteivorstand vertreten sein. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags war seit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 der wohl prominenteste Sozialdemokrat, der sich für eine stärkere militärische Unterstützung Kiews durch die Bundesregierung eingesetzt hatte – unter anderem gegen den Widerstand von SPD-Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich. “Der Einsatz für eine freie, demokratische Ukraine – fest verankert in EU und Nato”, bleibe ihm “ein Herzensanliegen”, auch wenn er den Führungsgremien der SPD künftig nicht mehr angehöre”, sagte Roth nach seiner Abstimmungsniederlage auf dem Parteitag in Berlin. Er sehe sich “ganz und gar nicht isoliert in meiner Partei”, so Roth, der dem SPD-Vorstand seit 2017 angehört hatte. Die außenpolitischen Beschlüsse des Parteitags bestärkten ihn in seiner Position, “dass wir bei der Unterstützung der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf einen langen Atem benötigen und auch noch mehr leisten, wenn andere schwächeln”. Zuletzt hatte Roth Bundeskanzler Olaf Scholz erfolglos zur Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine gedrängt. mrb

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Security.Table Redaktion

SECURITY.TABLE REDAKTION

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    es war mit Sicherheit kein Zufall, dass am gestrigen Nachmittag in Krywyj Rih Explosionen zu hören waren. Die Heimatstadt des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj war Ziel russischer Angriffe, während Selenskyj in Washington weilt. Heute soll er den US-Präsidenten Joe Biden treffen. Ihn muss er zwar nicht überzeugen, der Ukraine weiterzuhelfen – umso mehr aber skeptische Politiker im Kongress und auch die US-Bevölkerung. Laut der Nachrichtenagentur AP denken 45 Prozent der befragten Amerikaner, ihr Land gebe zu viel Geld für die Ukraine aus.

    Russische Angriffe wie auf Krywyj Rih dürften in den kommenden Wochen zunehmen und gezielt gegen die Kritische Infrastruktur der Energie- und Wasserversorgung gerichtet sein. Denis Trubetskoy beschreibt in seiner Analyse, wie gut sich die Ukraine auf diesen Winter vorbereitet hat – und was Russland vorhat.

    Die Auswirkungen des Krieges im Osten Europas weiß der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gut für sich zu nutzen. Er verdrängt Wladimir Putin aus dessen Machtbereich, ändert die Geopolitik in Zentralasien und besänftigt den Herrn im Kreml zugleich. Frank Nordhausen erläutert Erdoğans Schaukelpolitik.

    Wissen Sie, welcher Bundesminister mit seiner Arbeit überzeugt? Laut unserer Umfrage, an der Sie vielleicht teilgenommen haben, ist es Boris Pistorius. Interessanterweise wird aber nicht Sicherheitspolitik als das wichtigste Thema für die zweite Hälfte der Legislaturperiode genannt. Es ist Energiepolitik.

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    Analyse

    Neue Taktik der russischen Armee: Sie greift die Transformatoren der Umspannwerke an

    Es schneit und friert in der Ukraine und das Land bereitet sich auf mögliche Stromausfälle vor – auch ohne russische Zerstörung der Energieinfrastruktur. Aktuell gleicht der staatliche Stromversorger die fehlenden Mengen durch Importe aus Moldau, Rumänien und der Slowakei aus.

    Ob diese aber bei noch kälterem Wetter auch ohne russische Treffer ausreichen, ist zweifelhaft: Wolodymyr Omeltschenko, Leiter des Energieprogramms bei der Denkfabrik Zentr Rasumkowa, geht von der Umstellung auf planmäßige Stromabschaltungen, und das bei Durchschnittstemperaturen zwischen -5 und -7 Grad, aus.

    Was planmäßige Energieabschaltungen sind, wissen die Menschen in der Ukraine seit dem vergangenen Winter. Wegen zerstörter Leitungen, Trafos und Angriffen auf Kraftwerke wurden die Haushalte in Zeitblöcken versorgt: drei Stunden Strom, drei Stunden kein Strom. Die ersten Folgen nach den massiven Angriffen auf die Energieinfrastruktur im vergangenen Winter waren gewaltig. Ganze Stadtteile blieben manchmal für 72 bis 96 Stunden komplett ohne Strom, Heizung und Leitungswasser.

    50 bis 60 Raketen pro Woche

    In diesem Winter hält sich Russland nach einem Großangriff mit 75 Drohnen ausgerechnet am 25. November, dem Gedenktag des Holodomor, noch zurück. 74 Drohnen seien abgefangen worden, meldete die ukrainische Luftwaffe. Laut Ministerpräsident Denys Schmyhal waren Objekte der Energieinfrastruktur das Ziel – genauso wie im letzten Winter, als im Durchschnitt jede Woche 50 bis 60 Raketen und Dutzende von Drohnen auf Energieobjekte der Ukraine zielten.

    Dass auf den ersten Angriff eines großen Drohnenschwarms viele weitere folgen werden, ist aber wahrscheinlich. Russland produziert die ursprünglich iranischen Kampfdrohnen Shahed-136 inzwischen selbst – und hat sie auch noch weiterentwickelt. Auffällig ist zudem, dass die Angriffe mit Marschflugkörpern und Raketen im Herbst abgenommen haben. Dem Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Jurij Ihnat, zufolge könnte Russland bis zu 900 Raketen und Marschflugkörper für die winterliche Angriffswelle gesammelt haben.

    Bessere Luftverteidigung als im vergangenen Winter

    Die gute Nachricht für die Ukraine: Die Qualität der Flugabwehr hat sich im Vergleich zum Winter 2022/2023 deutlich verbessert. Damals war die Ukraine fast ausschließlich auf sowjetische Mittelstreckensysteme angewiesen. Weil die benötigten Abwehrraketen überwiegend in Russland produziert werden und für Kiew damit unerreichbar sind, setzte Russland auch gezielt darauf, die alten Vorräte auszuschöpfen.

    Offenbar ist es den ukrainischen Streitkräften aber gelungen, westliche Flugabwehrraketen mit sowjetischen Systemen zu starten. Insgesamt entscheidender dürfte die Rolle westlicher Flugabwehr sein, zu deren Vorreitern Deutschland gehört. So hat sich die jüngste Patriot-Variante PAC-3 als effektiv sogar gegen russische ballistische Kinschal-Raketen erwiesen, was im Voraus nicht klar war.

    Drei bisher gelieferte Patriot-Systeme und ein System SAMP/T werden große Städte effektiv gegen ballistische Raketen schützen, während das deutsche System IRIS-T – bisher drei geliefert – seine Effektivität bereits gegen klassische Marschflugkörper unter Beweis stellte. Die Flugabwehr-Kanonenpanzer Gepard sind darüber hinaus eine gute und kostengünstige Lösung, um nicht alle billigen Drohnen mit teuren Flugabwehrraketen abfangen zu müssen.

    Kampfflugzeuge würden mehr Schutz bieten – doch die fehlen

    Jedoch wird es für ein Land von der Größe der Ukraine -1,7-mal so groß wie Deutschland – immer zu wenig Flugabwehrsysteme geben. Um die Flugabwehr auf ein neues Niveau zu bringen, bräuchte die Ukraine Kampfflugzeuge. Dann könnte sie mit Schutz von oben riskieren, die Flugabwehr in Frontnähe zu verlegen. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Energieobjekte getroffen werden und sich das auf das gesamte Stromnetz auswirkt.

    Wegen Geheimhaltung ist es schwierig einzuschätzen, in welchem Zustand sich die Energieinfrastruktur nach monatelangen Reparaturen befindet. Fakt ist, dass Russland sich vor einem Jahr weniger auf den Beschuss der Kraftwerke selbst konzentrierte, die überwiegend in Sowjetzeit – mit der Möglichkeit eines Atomkriegs im Hinterkopf – gebaut wurden und daher schwer zerstörbar sind. Stattdessen wurden vor allem Transformatoren der Umspannwerke beschossen.

    Stromerzeugung wird dezentralisiert

    Aus russischer Perspektive war diese Taktik klug: Die Produktion eines Transformators dauert in Friedenszeiten oft länger als ein Jahr. Einem UN-Bericht aus dem April zufolge hat die russische Armee 42 von 94 der systemwichtigen ukrainischen Transformatoren beschädigt oder zerstört. Inwieweit die Produktion von 100 Transformatoren, die Kiew laut einem Economist-Bericht bestellt haben soll, fortgeschritten ist, wird entscheidend sein – ebenfalls wie der Zustand der alten, vor dem russischen Angriffskrieg ausgemusterten Transformatoren, auf denen die Hoffnungen ruhen.

    Zum Schutz sind einige Energieobjekte nun mit Erdwällen und Betonwürfeln bedeckt. Außerdem arbeiten Energiebetreiber an der Dezentralisierung der Stromerzeugung. Kleinere Netze sollen die Verteilung der Energie flexibler und sicherer machen.

    Insgesamt dürfte die Lage wegen der verbesserten Flugabwehr und weiterer Schutzmaßnahmen nicht schlechter als im vergangenen Jahr sein. Viel besser aber auch nicht. Denn zum einen sind nicht alle Schäden beseitigt worden. Und zum anderen hat auch Moskau aus dem ersten Winter gelernt und sehr wahrscheinlich Kapazitäten für die Angriffe aufgebaut. Die kalte Phase des Winters hat gerade erst begonnen.

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    Toxische Beziehung: Erdoğan ist für Putin ein unberechenbarer Partner

    Profitieren voneinander und misstrauen einander: Erdoğan und Putin.

    Mit großem Selbstbewusstsein, aber ebenso großer Vorsicht hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine sein Verhältnis zum Kreml-Chef Wladimir Putin und die Beziehung der Türkei zu Russland entwickelt – als komplexe Schaukelpolitik zwischen den Großmächten. “Im derzeitigen Moment traue ich Russland genauso viel wie dem Westen”, sagte Erdoğan in einem denkwürdigen Interview mit der US-amerikanischen TV-Senderkette PBS im September. Der Nato-Staat Türkei ist ein paradoxer “Freund” Russlands. Außenpolitisch kooperieren beide Länder, wo es möglich ist, bekämpfen sich aber militärisch auf verschiedenen Kriegsschauplätzen mit unterschiedlicher Intensität: in Syrien, in Libyen, im Kaukasus.

    Infolge des Gaza-Kriegs hat Erdoğan nach einer Periode des Austestens roter Linien Putins derzeit wieder zu einem geopolitischen Gleichklang mit dem großen Nachbarn gefunden. Den israelisch-palästinensischen Konflikt instrumentalisieren beide Autokraten: Sie positionieren sich gegen Israel und den Westen und intensivieren gleichzeitig ihre eigenen Kriege – Russland in der Ukraine, die Türkei in Nordsyrien (Rojava).

    Machtverschiebungen zugunsten Ankaras

    Erdogan kommt zugute, dass Russland durch den seinen Krieg gebunden und geschwächt ist. Im Südkaukasus hat die Türkei spätestens seit dem Bergkarabach-Krieg vom September jene Vormachtrolle übernommen, die Russland bisher innehatte. Auch in Zentralasien profitiert Ankara von der Schwäche Moskau und verstärkt die geopolitische Rivalität mit dem Nachbarn, um die Beziehungen mit den Staaten Zentralasiens, die ihre Abhängigkeit von Russland reduzieren wollen, auszubauen.

    Vor allem auf dem ukrainischen Schauplatz nutzt Erdoğan jede Schwäche Putins für machtpolitische und ökonomische Gewinne. Der Ukraine schickte Erdoğan gleich zu Beginn des Krieges militärische Bayraktar-Drohnen, die wesentlich zur erfolgreichen Abwehr der russischen Angriffe beitrugen. Erdoğan sperrte den Bosporus für russische (und andere) Kriegsschiffe und forderte mehrfach die Rückgabe der Krim an die Ukraine. Zudem ist die Türkei stark im risikoreichen Handel mit ukrainischem Getreide engagiert. Nach dem einseitigen russischen Ausstieg aus dem Schwarzmeer-Getreideabkommen im Juli ließ Putin zwar Mitte August einen türkischen Frachter auf dem Weg zum ukrainischen Getreidehafen Ismajil mit Warnschüssen stoppen, die Lieferungen gingen trotzdem weiter.

    Türkei und Zentralasien helfen, Sanktionen zu umgehen

    Putin lässt Erdoğan notgedrungen gewähren, weil er letztlich von der Partnerschaft profitiert. Trotz ihrer Nato-Mitgliedschaft spielt die Türkei eine Schlüsselrolle beim Unterlaufen der westlichen Russland-Sanktionen, denen sie sich ausdrücklich nicht angeschlossen hat. Der Sanktionsbruch durch türkische Unternehmen ist spätestens seit Anfang September aktenkundig. Zu dem Zeitpunkt belegten die USA fünf führende türkische Handelsfirmen wegen der Ausfuhr militärisch verwendbarer Komponenten für Drohnen und Sensortechnik nach Russland mit Sanktionen.

    Danach blockierte die Türkei zwar den Transit sanktionierter Waren ins Nachbarland, doch werden die türkischen Exporte lebenswichtiger High-Tech-Güter für Russlands Kriegsmaschine jetzt offenkundig über Lieferketten im Kaukausus und Zentralasien verschoben, wie die britische Financial Times jüngst berichtete. Laut dem Bericht werden “hochprioritäre” Komponenten für die Rüstungsindustrie über den Umweg der ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan verdeckt nach Russland geliefert. Sie beträfen 45 Warenkategorien wie Mikrochips, Kommunikationsgeräte oder Zielfernrohre. Das Volumen dieses Handels ist sprunghaft angestiegen und hat westliche Besorgnis deutlich verstärkt.

    Washington hat daher den politischen Druck auf Ankara noch einmal erhöht, um die fortgesetzte Obstruktion der Nato-Politik durch türkische Firmen zu unterbinden. Der stellvertretende US-Außenminister James O’Brien warnte Ankara vor zwei Wochen öffentlich, die westlichen Staaten wollten nicht, “dass einer unserer wichtigsten Partner zu einem Ort wird, an dem unsere Sanktionen umgangen werden”. Das türkische Außenministerium konterte wachsweich, es werde alles getan, um Sanktionsumgehungen zu verhindern, doch gebe es leider solche “Versuche” durch “obskure Unternehmen”.

    Dazu erklärten Türkeiexperten auf einer internationalen Tagung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Nikosia im November, mit der Tolerierung des “Geisterhandels” sanktionierter Waren revanchiere sich Erdoğan auch für die massive Unterstützung Putins bei den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai. Damals habe sich Putin erstmals offen in Türkei-Wahlen eingemischt, indem er türkische Gas-Schulden in Höhe mehrerer hundert Millionen Dollar stundete und Erdoğan damit ermöglichte, seiner Wählerschaft kostenlose Gaslieferungen zu versprechen. Diese Intervention habe das ohnehin asymmetrische Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Autokraten zugunsten Putins weiter verstärkt.

    Erdoğan hat Türkeis Abhängigkeit von Russland vergrößert

    Der türkische Präsident hat ohnehin aus den Verwerfungen seit November 2015 seine Schlüsse gezogen, als die türkische Luftverteidigung ein russisches Flugzeug abschoss, das aus Syrien kommend in den türkischen Luftraum eingedrungen war. Russland verhängte Sanktionen gegen die Türkei; Erdoğan sah sich zu einer demütigenden Entschuldigung bei Putin gezwungen. Anschließend bestellte Ankara für zwei Milliarden Dollar russische S-400-Flugabwehrraketen und lässt Russland seit 2018 in der Südtürkei das Atomkraftwerk Akkuyu errichten, das die türkische Opposition als russische Basis mitten in der Türkei kritisiert.

    Russland gab seinerseits grünes Licht für militärische Operationen der Türkei im Norden Syriens und nahm den Bau der Pipeline TurkStream wieder auf, durch die seit Januar 2020 russisches Gas in die Türkei fließt. Die stark gewachsene energiepolitische Abhängigkeit der Türkei von Russland hat Putin enormes Erpressungspotential in die Hände gespielt. Derzeit plant Moskau die Errichtung eines Erdgasknotenpunktes in der Türkei, um offenkundig russisches Gas für den Export in die EU zu türkischem Gas weißzuwaschen.

    Der Handel mit Russland floriert

    Das Handelsvolumen zwischen Russland und der Türkei hat sich seit Beginn des Ukraine-Kriegs stark erhöht und wird in diesem Jahr voraussichtlich 65 Milliarden US-Dollar übersteigen. Im vergangenen Jahr war Russland erstmals der wichtigste Importpartner der Türkei mit Waren im Wert von 58,85 Milliarden Dollar, eine Verdreifachung gegenüber 2021.

    Trotzdem bleibt Erdoğan wegen seines Bestrebens nach “strategischer Autonomie” für Putin ein unberechenbares Risiko. Zumal der türkische Präsident Pragmatiker genug ist, um seine Nato-Partnerschaft nicht zu gefährden und Signale der Kulanz an den Westen zu senden, von dem die Türkei wegen ihrer gewaltigen finanziellen und wirtschaftlichen Probleme mehr denn je abhängt. So leitete er im November die Gesetzesvorlage zum schwedischen Nato-Beitritt endlich zur Ratifizierung ans Parlament in Ankara weiter. Trotzdem dürfte die Zustimmung dazu noch auf sich warten lassen. Erdoğan will für das Okay 40 F-16-Kampfjets und 40 Eurofighter von den Nato-Partnern haben.

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    Table.Media-Umfrage: Kein Minister leistete mehr als Boris Pistorius

    Mehr geleistet als Verteidigungsminister Boris Pistorius – und zwar mit Abstand – hat nach Einschätzung der Entscheider in Deutschland bisher kein anderer Minister. Der SPD-Politiker hat bei knapp 69 Prozent von ihnen die Erwartungen an ihn eher übertroffen oder übertroffen, weniger als drei Prozent wurden enttäuscht. Zum Vergleich: Auf Platz zwei folgte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die bei gut 48 Prozent die Erwartungen eher übertroffen oder übertroffen hat.

    Das geht aus einer exklusiven Umfrage des digitalen Medienhauses Table.Media hervor, an der über 3000 hochrangige Interessensvertreter teilgenommen haben. Sie sind im Transparenzregister des Deutschen Bundestags registriert und kommen zum überwiegenden Teil aus Unternehmen, Verbänden sowie Nichtregierungsorganisationen oder aus der Wissenschaft und der Verwaltung. Sie verteilen sich auf Branchen wie den Automobil- oder Energiesektor, die Bau- oder Digitalwirtschaft sowie Gewerkschaften und Umweltverbände.

    Geringes Streitpotential bei Rüstungspolitik

    Zugleich gehen die führenden Köpfe hierzulande davon aus, dass die Sicherheitspolitik ein inhaltlicher Schwerpunkt der Ampel bleiben wird – und dass die Aufgabenstellungen dabei auch besonders geräuschlos abgearbeitet werden wird. Knapp 69 Prozent der Entscheiderinnen und Entscheider schreiben der Sicherheitspolitik eine eher hohe oder hohe Bedeutung zu. Sie rechnen damit, dass sie auch in den verbleibenden zwei Jahren der aktuellen Legislaturperiode im Fokus bleiben wird. Das Thema liegt damit aus ihrer Sicht auf Platz zwei der Agenda. Vorne liegt die Energiepolitik mit einem Wert von 85 Prozent.

    Anders als bei der Energiepolitik gehen die Befragten jedoch davon aus, dass die Rüstungspolitik kaum politischen Zündstoff bietet. Gerade einmal elf Prozent erwarten hier hohes Streitpotential. Das Thema landet damit auf dem letzten Platz. Ganz anders sieht es bei Fragen der Finanz- und Verschuldungspolitik aus. Hier sehen 60 Prozent ein hohes Streitpotential. löh

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    Israel, Iran, Ukraine: EU bereitet mehrere Sanktionspakete vor

    Die EU bereitet Sanktionen gegen radikale israelische Siedler im Westjordanland vor. Die Arbeiten hätten begonnen, sagte EU-Chefdiplomat Josep Borrell nach einem Treffen der EU-Außenminister am Montag in Brüssel. Als Grundlage dient das bestehende Sanktionsinstrument zur Bestrafung von schweren Menschenrechtsverstößen. Es würde Einreiseverbote und das Einfrieren von Vermögenswerten ermöglichen.

    Parallel diskutieren die Mitgliedstaaten über weitere Sanktionen gegen die islamistische Terrororganisation Hamas. Bereits am Freitag hatte die EU zwei Anführer der Hamas auf ihre Terrorliste gesetzt. Damit reagiere man “auf die Bedrohung durch die Hamas und ihre brutalen und wahllosen Terroranschläge in Israel am 7. Oktober”, hieß es in einer Erklärung der 27 EU-Staaten.

    Betroffen sind der militärische Hamas-Anführer Mohammed Deif und sein Stellvertreter Marwan Issa. Sie werden mit einer Vermögenssperre belegt. Deutschland, Frankreich und Italien wollen aber noch weiter gehen und ein neues, speziell auf Hamas zugeschnittenes Sanktionsregime schaffen. Auf dieser Rechtsgrundlage könnten dann weitere Strafen erlassen werden.

    Ukraine: Borrell appelliert an Ungarn

    Ein weiteres Thema des Außenministertreffens war der Krieg in der Ukraine. Ungarn droht immer noch, die geplanten Beschlüsse beim EU-Gipfel am Donnerstag zu blockieren. Doch nun steht der als notorischer Neinsager bekannte Regierungschef Viktor Orban selbst unter Druck.

    “Ich hoffe, dass die europäische Geschlossenheit nicht zerbrechen wird, denn dies ist nicht der Moment, unsere Unterstützung für die Ukraine zu schwächen. Im Gegenteil, dies ist der Moment, sie zu verstärken”, sagte Borrell. Geplant sind neue Finanzhilfen und die Eröffnung von EU-Beitrittsgesprächen.

    Die EU verstärkt auch den Druck auf Iran. Sie verhängte am Montag weitere Sanktionen, um das Land an der Herstellung von Drohnen für den russischen Angriff auf die Ukraine zu hindern. Betroffen sind nach einem EU-Beschluss fünf Unternehmen und sechs Personen.

    Maßnahmen gegen iranische Drohnenproduktion

    Konkret geht es laut EU-Amtsblatt um die Unternehmen Shakad Sanat Asmari und Saad Sazeh Faraz Sharif sowie die Baharestan Kish Company, die Kimia Part Sivan Company und die Sarmad Electronic Sepahan Company. Zudem wurde der Direktor der iranischen Organisation der Luft- und Raumfahrtindustrien (AIO), Nader Khoon Siavash, gelistet.

    Es handelt sich um die ersten Strafen nach einem neuen Sanktionsregime, das speziell für Irans Unterstützung des russischen Kriegs in der Ukraine geschaffen wurde. eb

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    Greenpeace beklagt Intransparenz beim Rüstungslobbying

    Die Umweltorganisation Greenpeace hat in einer neuen Recherche die Verflechtungen zwischen Rüstungsindustrie und Bundestagsabgeordneten, aber auch mit von der Bundesregierung geförderten Forschungseinrichtungen wie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) kritisiert. “Die Unabhängigkeit der Beratung der Politik durch führende Think-Tanks in Deutschland ist nicht oder nur mit Einschränkungen gegeben”, lautet ein Fazit der 37 Seiten langen Recherche mit dem Titel “Revolving DoorsWie Politik und Rüstungsindustrie gemeinsame Sache machen“, die Table.Media exklusiv vorliegt.

    Greenpeace beklagt, dass das “ohnehin bereits intransparente Geschäft der Lobbyarbeit” im Bereich der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik “zusätzlich im Schatten von staatlichen Geheimhaltungsinteressen” stehe. So agierten einzelne Mitglieder der Bundestagsausschüsse für Haushalt und Verteidigung als “Diener zweier Herren”, da sie neben ihrer Abgeordnetentätigkeit auch als Präsidiums- und Vorstandsmitglieder von Organisationen wie der Deutschen Wehrtechnischen Gesellschaft oder dem Förderkreis Deutsches Heer tätig seien. “Von einem Institut für Gesundheitsforschung, das Geld von der Tabakindustrie bekommt, ist keine objektive Studie zu den Schäden des Tabakkonsums zu erwarten. Nichts anderes ist es, wenn die DGAP Geld von der Rüstungsindustrie bekommt und dann Studien zur Erhöhung der Militärausausgaben herausgibt”, sagte der bei Greenpeace für die Studie verantwortliche Rechercheur Philip Steeg gegenüber Table.Media.

    Die NGO will Sicherheit breiter denken

    Die Recherche “Revolving Doors” ist bereits die fünfte, die Greenpeace diesen Herbst veröffentlicht – mit dem Ziel, die öffentliche Debatte über die deutsche Sicherheitspolitik zu weiten, so Alexander Lurz, Experte für Frieden und Abrüstung bei Greenpeace. So sei Sicherheitspolitik “nicht gleichzusetzen mit Erhöhung der Militärausgaben, welche erhebliche negative volkswirtschaftliche und gesellschaftspolitische Konsequenzen nach sich ziehen können”. Vielmehr gehe es um die Umsetzung eines Konzepts “menschlicher Sicherheit”, das auf die menschlichen Grundbedürfnisse nach Bildung, einer gesunden Umwelt und sozialer Sicherheit abziele.

    Die bisherigen Greenpeace-Studien hatten unter anderem das Beschaffungswesen der Bundeswehr zum Thema, rüstungskontrollpolitische Initiativen der Bundesregierung sowie eine Analyse der volkswirtschaftlichen Effekte von Militärausgaben in Italien, Spanien und Deutschland im Vergleich zu den Ausgaben in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Umweltschutz. mrb

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    Presseschau

    Defence AI Observatory: Caught Between Today and Tomorrow – Defence AI in Estonia. Estland stellt bei der Rüstungsbeschaffung radikal um: weniger ausrangierte Systeme aus anderen Ländern, mehr brandneues Equipment mit weit entwickelten Fähigkeiten im Bereich Künstlicher Intelligenz. Allerdings tut sich Estland schwer, seinen Vorsprung im Digitalsektor zu nutzen, um im Bereich KI-Anwendungen seinen eigenen Footprint im internationalen Verteidigungssektor zu hinterlassen.

    Financial Times: ‘Catastrophic’ conditions in Rafah as Palestinians reach the end of the line. 85 Prozent der 2,3 Millionen Einwohner Gazas flohen in den Süden des Gebiets, etwa eine Million von ihnen befinden sich in der Grenzstadt Rafah, dem äußersten Ort, an den sie fliehen können. UN-Beamte warnen, dass die Stadt überlastet ist: Tausende leben auf der Straßen, sind dem Winterwetter ausgesetzt und haben kaum Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser oder Hygieneeinrichtungen.

    The Atlantic: Netanyahu Should Quit. The U.S. Can Help With That. Der 7. Oktober bedeutete für Israel nicht nur eine unmittelbare Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit, sondern auch den Verlust der grundlegenden strategischen Annahmen des Landes über die Welt. Für Israel stellt sich die Frage, was die Leere, die durch den Verlust der alten Wahrheiten entstanden ist, füllen wird. Für Daniel Benjamin und Steven Simon steht fest, dass die neue Wahrheit ohne Netanyahu gefunden werden muss.

    Sipri: More investment in nuclear deterrence will not make Europe safer. Polen würde gerne unter den US-amerikanischen Atomwaffenschutzschirm. Tytti Erästö diskutiert, warum eine über viele europäische Länder gestreute nukleare Abschreckung mehr Nachteile als Vorteile bringt. Unter anderem seien das mehr potenzielle Ziele in Europa und wegen der vielen Mitentscheider eine behäbige Abschreckung.

    Janes: AUKUS members eye development of joint electronic warfare capabilities. Die Mitglieder der trilateralen Sicherheitskooperation leiten die gemeinsame Entwicklung fortschrittlicher Kampftechnologien ein. Beginnen soll diese mit den Fähigkeiten der elektronischen Kampfführung. Mittelpunkt der AUKUS-Vereinbarung war zudem der Verkauf amerikanischer Angriffs-U-Boote der Virginia-Klasse an Australien.

    Heads

    Johannes Voswinkel – Ein Russlandexperte mit Kurswechsel 

    Johannes Voswinkel

    Der ehemalige Journalist widmete einen Großteil seines beruflichen Lebens bisher einem Land: Russland. Von Touristenreisen in die Sowjetunion in den 1980er-Jahren über seine Tätigkeit als Moskau-Korrespondent für verschiedene Zeitungen bis zum Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau. Heute besetzt er eben diese Position des Büroleiters in Kiew, doch wie kam es zu dem Wechsel? 

    Johannes Voswinkel wurde 1961 in Frankfurt am Main geboren. In einer Arbeitsgemeinschaft in der Schule lernte er jeden Nachmittag Russisch. Nach seinem Schulabschluss studierte er Ostslawistik und Romanistik in Hamburg. Parallel dazu besuchte er die “Henri-Nannen-Schule” für Journalisten, was der Beginn seiner journalistischen Karriere war. Nach einer langen Zeit in der Branche spielte er jedoch mit dem Gedanken, eine neue Richtung einzuschlagen. Die Stelle, welche er 2015 in der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau antrat, war für ihn ein beruflicher Neuanfang.  

    Eingeschränkte Stiftungsarbeit

    Trotz einer aufschlussreichen Zeit war die Arbeit unter dem russischen Regime nicht immer ohne Einschränkungen. Zwar hätte es in seinen Jahren als Büroleiter für die Stiftung selbst kein klares Drohszenario gegeben. Jedoch seien vor allem die Partnerorganisationen der Überwachung durch die staatlichen Behörden ausgesetzt gewesen. Er erzählt von Fällen, in denen selbst kommerzielle Partner der Stiftung Besuch vom russischen Geheimdienst bekamen. Auch zu einem Extremfall kam es: Voswinkel wurde von der Staatsanwaltschaft vorgeladen und sollte über eine frühere Partnerin der Stiftung aussagen. Daraus lernte er, zum Schutz der Partnerorganisationen darauf zu achten, über gewisse Themen eingeschränkter zu berichten – ohne jedoch das Programm der Stiftung aus den Augen zu verlieren. 

    Erkalten der Leidenschaft 

    Durch seine vielfältige Arbeit in Russland gewann er Einblicke in die Gesellschaft, die von der westlichen Vorstellung – die anfangs auch seine gewesen war – abwichen. Die Pluralität der Quellen, zum Beispiel der Konsum von oppositionellen oder westlichen Nachrichten, führte nicht immer zu einer Meinung, die von der des Regimes abweicht. Auch scheint aus seiner heutigen Fernbeobachtung heraus ein großer Teil der Bevölkerung apathisch gegenüber dem Angriffskrieg und der Annexion der Krim 2014 zu sein.  

    Für Voswinkel, der die Entwicklung Russlands seit den Zeiten der Sowjetunion verfolgt, ist der Wandel hin zu einem autoritären Regime eine große Enttäuschung. Der Weg dorthin sei “manchmal nicht so augenfällig gewesen”, sagt er. Wenn man selbst “in solchen Entwicklungen drinnen steht”, könne man manchmal ihre “ganze Dimension” nicht erfassen.  Er spricht von einer persönlichen “Entfremdung” von der russischen Föderation, die sich im Prozess der Autokratisierung des Landes vollzogen hat. Zu diesem Zeitpunkt hätte er eine demokratische Entwicklung des Landes noch für möglich gehalten. In seiner Zeit als Korrespondent war er jedoch stets bemüht, ein objektives Bild Russlands – geprägt von seinen vielfältigen Kulturen und Traditionen – wiederzugeben.  

    Seine Zukunft mit der Ukraine 

    Mit dem Ablaufen seines sechsjährigen Vertrags als Büroleiter in Moskau stellte er sich 2021 die Frage, wohin seine Reise von Russland aus weitergehen sollte. Schon während seiner Tätigkeit als Moskau-Korrespondent, unter anderem für “Die Zeit” und das “Amnesty Journal”, schrieb er über die Ukraine. Mit nur einem Sakko und zwei Hosen im Gepäck berichtete er 2004 über die “Orange Revolution”, die länger dauerte als viele angenommen hatten. Aufgrund seiner über die Jahre erworbenen Expertise und dem Wunsch, weiterhin in derselben Region tätig zu sein, entschloss er sich, in der Ukraine zu bleiben. 

    Voswinkel ist heute Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, wobei er vom Drittlandstandort Prag aus arbeitet. Seine Frau, die er in Russland kennengelernt hatte, und seine zwei Kinder leben in Berlin. Eine permanente Anwesenheit in der Ukraine ist zum jetzigen Zeitpunkt vom Auswärtigen Amt nicht empfohlen. Auch wenn ihm die Arbeit aus der Distanz noch aus Corona-Zeiten vertraut ist, fehlt ihm der persönliche Austausch vor Ort. Über Dienstreisen ist der Aufenthalt in der Ukraine jedoch trotzdem möglich. Anna Tayts

    Personalien

    Michael Roth wird künftig nicht mehr im SPD-Parteivorstand vertreten sein. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags war seit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 der wohl prominenteste Sozialdemokrat, der sich für eine stärkere militärische Unterstützung Kiews durch die Bundesregierung eingesetzt hatte – unter anderem gegen den Widerstand von SPD-Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich. “Der Einsatz für eine freie, demokratische Ukraine – fest verankert in EU und Nato”, bleibe ihm “ein Herzensanliegen”, auch wenn er den Führungsgremien der SPD künftig nicht mehr angehöre”, sagte Roth nach seiner Abstimmungsniederlage auf dem Parteitag in Berlin. Er sehe sich “ganz und gar nicht isoliert in meiner Partei”, so Roth, der dem SPD-Vorstand seit 2017 angehört hatte. Die außenpolitischen Beschlüsse des Parteitags bestärkten ihn in seiner Position, “dass wir bei der Unterstützung der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf einen langen Atem benötigen und auch noch mehr leisten, wenn andere schwächeln”. Zuletzt hatte Roth Bundeskanzler Olaf Scholz erfolglos zur Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine gedrängt. mrb

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