im zweiten Jahr der Zeitenwende und trotz des 100 Milliarden Euro Sondervermögens bleiben die altbekannten Baustellen vor allem in den Bereichen, Personal, Infrastruktur und Material, bestehen. “Die Bundeswehr hat immer noch von allem zu wenig”, sagte die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) heute bei der Vorstellung des Wehrberichts 2023.
In dieser Sonderausgabe analysieren wir die Ergebnisse des Berichts und die Entwicklungen im Vergleich zum vergangenen Jahr.
Viel Raum nahm bei der Pressekonferenz die Debatte um eine Wehrpflicht ein. Högl hob positiv hervor, dass das Thema Personal mittlerweile “ganz oben auf der politischen Agenda” stehe und forderte, dass weiter über “moderne Konzepte” einer Wehrpflicht diskutiert werden solle. In unserer Reihe “Deutschland zu Diensten” veröffentlichen wir wöchentlich Standpunkte zur Ausgestaltung einer Wehrpflicht. Lesen Sie die bisherigen Beiträge aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft in unserer Presseschau.
Das Wort “Kriegstüchtigkeit” vermied die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) bei der Vorstellung ihres Jahresberichts 2023 am Dienstag. “Das Ziel hat der Minister mit dem Wort kriegstauglich umschrieben”, sagte sie. “Ich nenne es vollständige Einsatzbereitschaft, aber das ist deckungsgleich.”
“Es braucht vor allen Dingen mehr Geld für den laufenden Betrieb”, sagte Högl. Der Verteidigungshaushalt beträgt für 2024 knapp 52 Milliarden Euro, hinzu kommen rund 19 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen. Einen Großteil des Haushalts verschlingen laufende Personalkosten. 2023 waren es etwa 46 Prozent des Haushalts. Ein weiteres Sondervermögen wäre also nicht die Wunderlösung. “Die ganzen Beschaffungen, die jetzt auf den Weg gebracht wurden, (…) das braucht weiterhin viel Geld, aber auch Investitionen”, sagte Högl. Trotz aller Ertüchtigung der Bundeswehr war der Sozialdemokratin wichtig: “Wir sind in Deutschland nicht im Krieg und auch in der Nato nicht und in der Europäischen Union. Deswegen brauchen wir auch keine Kriegswirtschaft.” Die drei notorischen Baustellen der Bundeswehr für sie: Personalgewinnung, Infrastruktur und Material. Die Industrie müsse ihre Kapazitäten hochfahren.
Die wichtigsten Punkte:
“Die Bundeswehr altert und schrumpft”, so fasste die Wehrbeauftragte das Personalproblem der Bundeswehr zusammen. Es ließe sich noch hinzufügen: Und bleibt männlich. Im vergangenen Jahr dienten Ende des Jahres 1.537 Soldatinnen und Soldaten weniger in der Bundeswehr als 2022. 20.000 Stellen blieben unbesetzt, insgesamt sei das alles “zu wenig”, so Högl. Das Durchschnittsalter in der Truppe beträgt 33,8 Jahre.
Die verschiedenen Organisationsbereiche der Teilstreitkräfte sind von dem Personalmangel allerdings nach wie vor unterschiedlich stark betroffen. Während der Stand in der Marine “problematisch” und die Situation bei den Pilotinnen und Piloten “angespannt” bleibt, kann bei den Flugberaterfeldwebeln eine positive Entwicklung verzeichnet werden, heißt es im Wehrbericht.
Das gilt auch für die Bewerbungen. Manche Bereiche sind beliebter als andere, und trotzdem: Insgesamt ist die Anzahl der Bewerbungen leicht zurückgegangen. Die Abbruchquote liegt dagegen bei über 20 Prozent. Im vergangenen Jahr hatte die Bundeswehr das Ziel, diese Zahl auf 15 Prozent zu senken.
Ernüchternd sind auch die Entwicklungen bei der Gleichstellung. Das erklärte Ziel von einer Frauenquote von 15 Prozent ist “noch nicht annähernd erreicht”, die Bewerberinnenzahlen sind zurückgegangen und Frauen in Führungspositionen stellen nach wie vor die absolute Ausnahme dar.
Alles in allem sei “konsequent”, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius angekündigt hat, das Ziel von rund 203.000 Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr bis zum Jahr 2031, auf den Prüfstand zu stellen. Abgesehen davon, dass die Bundeswehr mehr Leute braucht, forderte die Wehrbeauftragte, dass die Truppe entlastet und effektiver eingesetzt werde. Wie das Thema Wehrpflicht zeigt, sei das Thema Personal aber zumindest “ganz oben auf der politischen Agenda” angekommen, so Högl.
Auch das ist für die Truppe keine Neuheit: “Lücken bei Material, Ersatzteilen und Munition lassen sich trotz der Beschleunigung der Beschaffung nur mittelfristig schließen“, steht im Bericht. Ein Beispiel: Das Dauerthema Funkgeräte. “Die Digitalisierungsvorhaben wurden aus dem Parlament heraus dauernd gebremst und aufgehalten”, sagt Alexander Müller, verteidigungspolitischer Sprecher der FDP zu Table.Briefings.
Zwischen den Ampelparteien hatte es Streit um die Beschaffung von Funkgeräten gegeben. Grund waren Zweifel bei der Auftragsvergabe, nachdem der französische Hersteller Thales geklagt hatte, weil der Bund einen Auftrag ausschließlich mit dem deutschen Hersteller Rohde & Schwarz verhandelt hatte. Für die Truppe bedeutet das ein längeres Warten auf die Funkgeräte.
“Dauerbrenner” für Högl wie schon im Vorjahr: marode Infrastruktur. Da sei die Zeitenwende bislang kaum zu spüren, heißt es im Bericht. Am Dienstag sagte sie: “Es gibt zu komplizierte Verfahren und zu wenig Personal, wir haben immer noch einen Investitionsbedarf von 50 Milliarden Euro.” Da gehe es um etwa 7.000 Bauvorhaben, “Unterkünfte, Truppenküchen, Sportanlagen, Munitionslager, Waffenkammer”. Das Problem sei, dass die 16 Bauverwaltungen der Bundeswehr “pro Jahr ungefähr 1,3 Milliarden Euro nur verbauen können”, was an den Verfahren liege und zu großen Teilen an mangelndem Personal. Da werde auch Konkurrenz aus der Privatwirtschaft umworben – die die Bundeswehr selbst mit Aufträgen versorgen muss, um die Bauvorhaben umzusetzen.
Auch der russische Krieg wirkt sich auf die Material- und Infrastrukturprobleme der Bundeswehr aus. Högl hob zwar hervor, dass die Bundeswehr mit technischen Lieferungen und Ausbildungen ukrainischer Soldaten Enormes leiste. Doch sie unterstrich auch, dass etwa die Ausbildung der Ukrainer in Deutschland zu einer Konkurrenzsituation führe. “Aufgrund der Bindung von Personal und Material musste die Truppe diverse eigene Ausbildungsvorhaben verschieben, verkürzen oder ausfallen lassen”, heißt es im Bericht.
Der ukrainische Widerstand gegen die russische Aggression gewinnt im neuen Bericht an Bedeutung, auch über das betroffene Land hinaus. Tauchte der gerade begonnene, voll umfassende Krieg im Bericht vom März 2022 nur als ein peripheres Ereignis auf, so spielte er im vergangenen Bericht vom März 2023 vor allem in Bezug auf die Ausrüstung und die Wehrhaftigkeit der Bundeswehr eine Rolle. Jetzt, bei der Vorstellung des dritten Berichts während des Krieges, sind der russische Krieg in der Ukraine und auch der Überfall der Hamas auf Israel quasi Systemkonflikte, in denen Demokratien sich langfristig verteidigen können müssen.
178 “meldepflichtige” Ereignisse gehen auf Rechtsextremismus zurück. Im Vorjahr waren es 195. Darunter fallen “verbale Entgleisungen”, Verwendung rechtsextremer Symbole, rassistische Äußerungen, Hitlergrüße. Dafür hat sich die Zahl der Fälle von Vorfällen der Kategorie “Reichsbürger” von 1 auf 20 erhöht. Rechnet man die rechtsextremen Fällen hinzu, bleibt die Zahl konstant. Allerdings verliefen die Ermittlungen gegen Verstöße noch zu langsam, sagte die Wehrbeauftragte. Und wenn der Verfassungsschutz seine Einschätzung zur AfD verändert, könnte die Zahl der meldepflichtigen Ereignisse steigen, wenn die Mitgliedschaft eines Soldaten in der AfD darunter fällt.
Die Meldezahl sexualisierter Übergriffe ist gestiegen. Insgesamt berichtet die Wehrbeauftragte von 385 meldepflichtige Ereignisse und 49 Eingaben und konstatiert: “Es ist zu viel.” Auffällig sei, dass besonders viele Vorfälle im Zusammenhang mit Alkoholkonsum stehen.
Im September des Berichtsjahres ist in diesem Zusammenhang die neue Dienstvorschrift “Umgang mit Sexualität und sexualisiertem Fehlverhalten” in Kraft getreten. Laut Eva Högl stellt das “hoffentlich eine gute Handlungsanleitung” dar, um die Fälle zu reduzieren.
Auf das Thema Kriegsdienstverweigerer geht der aktuelle Bericht zwar nicht ein – ganz anders als im Jahr zuvor, als Högl von einem starken Anstieg von Verweigerungsanträgen berichtete: “Gab es im Jahr 2021 noch 209 Anträge auf Kriegsdienstverweigerung (2020: 142 Anträge), so belief sich deren Zahl im Berichtsjahr [2022] auf 1.123.” Auf Nachfrage von Table.Briefings teilte das Büro der Wehrbeauftragten jedoch mit, dass die Zahl der Kriegsdienstverweigerer wieder gestiegen ist.
2023 gab es 1.609 Anträge auf Kriegsdienstverweigerung: 835 Ungediente, 595 Reservistinnen und Reservisten und 178 aktive Soldatinnen und Soldaten. “Der Grund für eine Kriegsdienstverweigerung wird von der zuständigen Behörde nicht erfasst. Die Aussagekraft der Zahlen ist somit gering bzw. lassen die Zahlen keine inhaltlichen Rückschlüsse zu”, heißt es in der Antwort auf die Nachfrage.
Geht es bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht nur ganz oder gar nicht? In unserer Standpunkt-Reihe stellen Fachleute unterschiedliche Modelle vor. Die Wehrbeauftragte Eva Högl wünscht sich eine breitere Debatte.
Schweden-Modell für Wehrpflicht: “Keine ‘silver bullet’ für die Bundeswehr.” In der Debatte über die Rückkehr der Wehrpflicht wird immer wieder das “schwedische Modell” als mögliches Vorbild genannt. Kapitän zur See Jonas Hård af Segerstad, Verteidigungsattaché an der schwedischen Botschaft in Berlin, erläutert, warum es kein Allheilmittel für die Bundeswehr wäre.
Debatte über Wehrpflicht gehört in den Bundestag. Ein Jahr Dienst für die Gesellschaft? Die Wehrbeauftragte Eva Högl plädiert dafür in ihrem Gastbeitrag für Table.Briefings. Es geht ihr nicht um die Bundeswehr allein. Sie wünscht sich eine breite gesellschaftliche Debatte, am besten in einem Bürgerrat im Bundestag.
Norwegens Militär hat kein Nachwuchsproblem – dank Wehrpflicht. Der norwegische Verteidigungsattaché in Berlin, Kapitän zur See Fredrik B. Borgmann, empfiehlt Deutschland das Modell seines Landes, wo seit 2015 alle Männer und Frauen wehrpflichtig sind – mit positiven Auswirkungen auf Militär und Gesellschaft.
Es braucht eine allgemeine Dienstpflicht für den Kriegsfall. Deutschland bräuchte zur Landesverteidigung nicht nur das entsprechende militärische Material, sondern auch Personal. Eine allgemeine Dienstpflicht müsse deswegen jetzt in die Praxis umgesetzt werden, schreibt der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johann Wadephul, in seinem Standpunkt.
“Deutschland fehlt der Wehrwille.” In Finnland ist die Wehrpflicht aus verschiedenen Gründen wichtig, unter anderem wegen der geografischen und demografischen Gegebenheiten. Die deutsche Debatte über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht hält die finnische Sicherheitsexpertin Minna Ålander jedoch für eine Scheindebatte. Unter anderem fehle es an gesellschaftlicher Akzeptanz.
im zweiten Jahr der Zeitenwende und trotz des 100 Milliarden Euro Sondervermögens bleiben die altbekannten Baustellen vor allem in den Bereichen, Personal, Infrastruktur und Material, bestehen. “Die Bundeswehr hat immer noch von allem zu wenig”, sagte die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) heute bei der Vorstellung des Wehrberichts 2023.
In dieser Sonderausgabe analysieren wir die Ergebnisse des Berichts und die Entwicklungen im Vergleich zum vergangenen Jahr.
Viel Raum nahm bei der Pressekonferenz die Debatte um eine Wehrpflicht ein. Högl hob positiv hervor, dass das Thema Personal mittlerweile “ganz oben auf der politischen Agenda” stehe und forderte, dass weiter über “moderne Konzepte” einer Wehrpflicht diskutiert werden solle. In unserer Reihe “Deutschland zu Diensten” veröffentlichen wir wöchentlich Standpunkte zur Ausgestaltung einer Wehrpflicht. Lesen Sie die bisherigen Beiträge aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft in unserer Presseschau.
Das Wort “Kriegstüchtigkeit” vermied die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) bei der Vorstellung ihres Jahresberichts 2023 am Dienstag. “Das Ziel hat der Minister mit dem Wort kriegstauglich umschrieben”, sagte sie. “Ich nenne es vollständige Einsatzbereitschaft, aber das ist deckungsgleich.”
“Es braucht vor allen Dingen mehr Geld für den laufenden Betrieb”, sagte Högl. Der Verteidigungshaushalt beträgt für 2024 knapp 52 Milliarden Euro, hinzu kommen rund 19 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen. Einen Großteil des Haushalts verschlingen laufende Personalkosten. 2023 waren es etwa 46 Prozent des Haushalts. Ein weiteres Sondervermögen wäre also nicht die Wunderlösung. “Die ganzen Beschaffungen, die jetzt auf den Weg gebracht wurden, (…) das braucht weiterhin viel Geld, aber auch Investitionen”, sagte Högl. Trotz aller Ertüchtigung der Bundeswehr war der Sozialdemokratin wichtig: “Wir sind in Deutschland nicht im Krieg und auch in der Nato nicht und in der Europäischen Union. Deswegen brauchen wir auch keine Kriegswirtschaft.” Die drei notorischen Baustellen der Bundeswehr für sie: Personalgewinnung, Infrastruktur und Material. Die Industrie müsse ihre Kapazitäten hochfahren.
Die wichtigsten Punkte:
“Die Bundeswehr altert und schrumpft”, so fasste die Wehrbeauftragte das Personalproblem der Bundeswehr zusammen. Es ließe sich noch hinzufügen: Und bleibt männlich. Im vergangenen Jahr dienten Ende des Jahres 1.537 Soldatinnen und Soldaten weniger in der Bundeswehr als 2022. 20.000 Stellen blieben unbesetzt, insgesamt sei das alles “zu wenig”, so Högl. Das Durchschnittsalter in der Truppe beträgt 33,8 Jahre.
Die verschiedenen Organisationsbereiche der Teilstreitkräfte sind von dem Personalmangel allerdings nach wie vor unterschiedlich stark betroffen. Während der Stand in der Marine “problematisch” und die Situation bei den Pilotinnen und Piloten “angespannt” bleibt, kann bei den Flugberaterfeldwebeln eine positive Entwicklung verzeichnet werden, heißt es im Wehrbericht.
Das gilt auch für die Bewerbungen. Manche Bereiche sind beliebter als andere, und trotzdem: Insgesamt ist die Anzahl der Bewerbungen leicht zurückgegangen. Die Abbruchquote liegt dagegen bei über 20 Prozent. Im vergangenen Jahr hatte die Bundeswehr das Ziel, diese Zahl auf 15 Prozent zu senken.
Ernüchternd sind auch die Entwicklungen bei der Gleichstellung. Das erklärte Ziel von einer Frauenquote von 15 Prozent ist “noch nicht annähernd erreicht”, die Bewerberinnenzahlen sind zurückgegangen und Frauen in Führungspositionen stellen nach wie vor die absolute Ausnahme dar.
Alles in allem sei “konsequent”, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius angekündigt hat, das Ziel von rund 203.000 Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr bis zum Jahr 2031, auf den Prüfstand zu stellen. Abgesehen davon, dass die Bundeswehr mehr Leute braucht, forderte die Wehrbeauftragte, dass die Truppe entlastet und effektiver eingesetzt werde. Wie das Thema Wehrpflicht zeigt, sei das Thema Personal aber zumindest “ganz oben auf der politischen Agenda” angekommen, so Högl.
Auch das ist für die Truppe keine Neuheit: “Lücken bei Material, Ersatzteilen und Munition lassen sich trotz der Beschleunigung der Beschaffung nur mittelfristig schließen“, steht im Bericht. Ein Beispiel: Das Dauerthema Funkgeräte. “Die Digitalisierungsvorhaben wurden aus dem Parlament heraus dauernd gebremst und aufgehalten”, sagt Alexander Müller, verteidigungspolitischer Sprecher der FDP zu Table.Briefings.
Zwischen den Ampelparteien hatte es Streit um die Beschaffung von Funkgeräten gegeben. Grund waren Zweifel bei der Auftragsvergabe, nachdem der französische Hersteller Thales geklagt hatte, weil der Bund einen Auftrag ausschließlich mit dem deutschen Hersteller Rohde & Schwarz verhandelt hatte. Für die Truppe bedeutet das ein längeres Warten auf die Funkgeräte.
“Dauerbrenner” für Högl wie schon im Vorjahr: marode Infrastruktur. Da sei die Zeitenwende bislang kaum zu spüren, heißt es im Bericht. Am Dienstag sagte sie: “Es gibt zu komplizierte Verfahren und zu wenig Personal, wir haben immer noch einen Investitionsbedarf von 50 Milliarden Euro.” Da gehe es um etwa 7.000 Bauvorhaben, “Unterkünfte, Truppenküchen, Sportanlagen, Munitionslager, Waffenkammer”. Das Problem sei, dass die 16 Bauverwaltungen der Bundeswehr “pro Jahr ungefähr 1,3 Milliarden Euro nur verbauen können”, was an den Verfahren liege und zu großen Teilen an mangelndem Personal. Da werde auch Konkurrenz aus der Privatwirtschaft umworben – die die Bundeswehr selbst mit Aufträgen versorgen muss, um die Bauvorhaben umzusetzen.
Auch der russische Krieg wirkt sich auf die Material- und Infrastrukturprobleme der Bundeswehr aus. Högl hob zwar hervor, dass die Bundeswehr mit technischen Lieferungen und Ausbildungen ukrainischer Soldaten Enormes leiste. Doch sie unterstrich auch, dass etwa die Ausbildung der Ukrainer in Deutschland zu einer Konkurrenzsituation führe. “Aufgrund der Bindung von Personal und Material musste die Truppe diverse eigene Ausbildungsvorhaben verschieben, verkürzen oder ausfallen lassen”, heißt es im Bericht.
Der ukrainische Widerstand gegen die russische Aggression gewinnt im neuen Bericht an Bedeutung, auch über das betroffene Land hinaus. Tauchte der gerade begonnene, voll umfassende Krieg im Bericht vom März 2022 nur als ein peripheres Ereignis auf, so spielte er im vergangenen Bericht vom März 2023 vor allem in Bezug auf die Ausrüstung und die Wehrhaftigkeit der Bundeswehr eine Rolle. Jetzt, bei der Vorstellung des dritten Berichts während des Krieges, sind der russische Krieg in der Ukraine und auch der Überfall der Hamas auf Israel quasi Systemkonflikte, in denen Demokratien sich langfristig verteidigen können müssen.
178 “meldepflichtige” Ereignisse gehen auf Rechtsextremismus zurück. Im Vorjahr waren es 195. Darunter fallen “verbale Entgleisungen”, Verwendung rechtsextremer Symbole, rassistische Äußerungen, Hitlergrüße. Dafür hat sich die Zahl der Fälle von Vorfällen der Kategorie “Reichsbürger” von 1 auf 20 erhöht. Rechnet man die rechtsextremen Fällen hinzu, bleibt die Zahl konstant. Allerdings verliefen die Ermittlungen gegen Verstöße noch zu langsam, sagte die Wehrbeauftragte. Und wenn der Verfassungsschutz seine Einschätzung zur AfD verändert, könnte die Zahl der meldepflichtigen Ereignisse steigen, wenn die Mitgliedschaft eines Soldaten in der AfD darunter fällt.
Die Meldezahl sexualisierter Übergriffe ist gestiegen. Insgesamt berichtet die Wehrbeauftragte von 385 meldepflichtige Ereignisse und 49 Eingaben und konstatiert: “Es ist zu viel.” Auffällig sei, dass besonders viele Vorfälle im Zusammenhang mit Alkoholkonsum stehen.
Im September des Berichtsjahres ist in diesem Zusammenhang die neue Dienstvorschrift “Umgang mit Sexualität und sexualisiertem Fehlverhalten” in Kraft getreten. Laut Eva Högl stellt das “hoffentlich eine gute Handlungsanleitung” dar, um die Fälle zu reduzieren.
Auf das Thema Kriegsdienstverweigerer geht der aktuelle Bericht zwar nicht ein – ganz anders als im Jahr zuvor, als Högl von einem starken Anstieg von Verweigerungsanträgen berichtete: “Gab es im Jahr 2021 noch 209 Anträge auf Kriegsdienstverweigerung (2020: 142 Anträge), so belief sich deren Zahl im Berichtsjahr [2022] auf 1.123.” Auf Nachfrage von Table.Briefings teilte das Büro der Wehrbeauftragten jedoch mit, dass die Zahl der Kriegsdienstverweigerer wieder gestiegen ist.
2023 gab es 1.609 Anträge auf Kriegsdienstverweigerung: 835 Ungediente, 595 Reservistinnen und Reservisten und 178 aktive Soldatinnen und Soldaten. “Der Grund für eine Kriegsdienstverweigerung wird von der zuständigen Behörde nicht erfasst. Die Aussagekraft der Zahlen ist somit gering bzw. lassen die Zahlen keine inhaltlichen Rückschlüsse zu”, heißt es in der Antwort auf die Nachfrage.
Geht es bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht nur ganz oder gar nicht? In unserer Standpunkt-Reihe stellen Fachleute unterschiedliche Modelle vor. Die Wehrbeauftragte Eva Högl wünscht sich eine breitere Debatte.
Schweden-Modell für Wehrpflicht: “Keine ‘silver bullet’ für die Bundeswehr.” In der Debatte über die Rückkehr der Wehrpflicht wird immer wieder das “schwedische Modell” als mögliches Vorbild genannt. Kapitän zur See Jonas Hård af Segerstad, Verteidigungsattaché an der schwedischen Botschaft in Berlin, erläutert, warum es kein Allheilmittel für die Bundeswehr wäre.
Debatte über Wehrpflicht gehört in den Bundestag. Ein Jahr Dienst für die Gesellschaft? Die Wehrbeauftragte Eva Högl plädiert dafür in ihrem Gastbeitrag für Table.Briefings. Es geht ihr nicht um die Bundeswehr allein. Sie wünscht sich eine breite gesellschaftliche Debatte, am besten in einem Bürgerrat im Bundestag.
Norwegens Militär hat kein Nachwuchsproblem – dank Wehrpflicht. Der norwegische Verteidigungsattaché in Berlin, Kapitän zur See Fredrik B. Borgmann, empfiehlt Deutschland das Modell seines Landes, wo seit 2015 alle Männer und Frauen wehrpflichtig sind – mit positiven Auswirkungen auf Militär und Gesellschaft.
Es braucht eine allgemeine Dienstpflicht für den Kriegsfall. Deutschland bräuchte zur Landesverteidigung nicht nur das entsprechende militärische Material, sondern auch Personal. Eine allgemeine Dienstpflicht müsse deswegen jetzt in die Praxis umgesetzt werden, schreibt der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Johann Wadephul, in seinem Standpunkt.
“Deutschland fehlt der Wehrwille.” In Finnland ist die Wehrpflicht aus verschiedenen Gründen wichtig, unter anderem wegen der geografischen und demografischen Gegebenheiten. Die deutsche Debatte über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht hält die finnische Sicherheitsexpertin Minna Ålander jedoch für eine Scheindebatte. Unter anderem fehle es an gesellschaftlicher Akzeptanz.