Table.Briefing: Security

+++ Table.Spezial: Russland nach dem Anschlag +++

Liebe Leserin, lieber Leser,

19 Stunden brauchte Wladimir Putin, ehe er sich öffentlich zu dem Anschlag auf die Crocus City Hall nordwestlich von Moskau äußerte. In der fünf Minuten kurzen Fernsehansprache bezeichnete er den Angriff mit mehr als 130 Toten als “barbarische terroristische Tat” – und verwies auf Spuren in die Ukraine. Auf das Bekenntnis des Islamischen Staats zu dem Anschlag auf die Veranstaltungshalle ging er nicht ein, und auch nicht auf die Terrorwarnungen, die US-Nachrichtendienste ihren russischen Kollegen bereits Anfang März übermittelt hatten.

Ein Vierteljahrhundert nach der schweren Anschlagserie auf Wohnkomplexe in Moskau und andere russische Städte im Herbst 1999 mit 293 Toten wendet sich der globale islamistische Terror wieder gegen die Führung in Moskau. Die mutmaßlichen Täter sollen aus den mehrheitlich muslimisch besiedelten Exsowjetrepubliken Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan stammen; sie bildeten die drittgrößte Gruppe ausländischer Kämpfer in den Reihen der Terrororganisation Islamischer Staat, als diese 2014 in Irak und Syrien ein Territorium von der Fläche der Bundesrepublik hielt.

Was der Anschlag für Russlands Rolle im internationalen Kampf gegen den islamistischen Terrorismus bedeutet, haben Viktor Funk und ich für Sie zusammengefasst.

Ihr
Markus Bickel
Bild von Markus  Bickel

Analyse

Feindbild Russland: Die Opfer der Kriege im Kaukasus, Syrien und Afghanistan schlagen zurück

Gedenken für die Opfer der Crocus City Hall vor einer Schule im nordossetischen Beslan, wo Terroristen 2004 mehr als 1100 Geiseln nahmen; nach der Erstürmung durch Sicherheitskräfte kamen 331 ums Leben .

Die Kondolenzbekundungen fielen spärlich aus, die internationalen Appelle zur koordinierten Verfolgung von Tätern und Unterstützern des Terroranschlags im Nordwesten der russischen Hauptstadt zu routiniert, um wirklich ernst genommen zu werden: Alle Staaten müssten “aktiv” mit der Regierung in Moskau zusammenarbeiten, um die Attentäter “zur Rechenschaft zu ziehen und vor Gericht zu stellen”, forderte am Samstag der UN-Sicherheitsrat; UN-Generalsekretär António Guterres verurteilte den Anschlag “aufs Schärfste”.

Doch ein Vierteljahrhundert nach den Anschlägen islamistischer Terroristen auf Wohnkomplexe in Moskau und anderen russischen Großstädten steht Wladimir Putin ziemlich allein da. Die Opfer seiner Kriege im Kaukasus, Syrien und Afghanistan schlagen zurück; längst hat Russland die USA als wichtigstes Feindbild des Islamischen Staats abgelöst. Im Herbst 1999 nutzte er die Terrorserie von Islamisten aus den zentralasiatischen Exsowjetrepubliken noch, um den zweiten Tschetschenien-Krieg zu begründen und in der Folge seine Macht zu festigen – auch international.

Putin Partner des Westens gegen Al Qaida und IS

So erntete Putin offenen Applaus, als er zwei Wochen nach den Terroranschlägen von 9/11 in den USA im September 2001 im Bundestag sagte: “Terrorismus, nationaler Hass, Separatismus und religiöser Extremismus haben überall dieselben Wurzeln und bringen dieselben giftigen Früchte hervor. Darum sollten auch die Kampfmittel gegen diese Probleme universal sein.” Im Westen müsse man aber verstehen, “dass Gegenschläge den vollständigen, zielstrebigen und gut koordinierten Kampf gegen den Terrorismus nicht ersetzen können. In diesem Sinne bin ich voll und ganz mit dem amerikanischen Präsidenten einverstanden.”

Der weltweiten Allianz gegen den Terror aber, die die US-Regierung George W. Bushs Ende 2001 schmiedete, gehört Russland heute nicht mehr an. Anders als nach den Anschlägen auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 in Paris und auf den Konzertsaal Bataclan zehn Monate später hat Putin seine Glaubwürdigkeit als verlässlicher Partner gegen den globalen Terrorismus verspielt. Die einende Klammer, die ihn selbst nach der Annexion der Krim 2014 beim Kampf gegen den Islamischen Staat im Irak und Syrien noch an die Seite des Westens brachte, gibt es nun nicht mehr.

Krieg in der Ukraine destabilisiert Russland im Innern

Das liegt nicht nur daran, dass Putin Hinweise US-amerikanischer Nachrichtendienste auf einen bevorstehenden Anschlag noch vorige Woche öffentlich ins Lächerliche zog. Das Versagen des russischen Sicherheitsapparats beim Anschlag auf die Konzerthalle Crocus City zeigt die Lücken auf, die die volle Konzentration der russischen Führung auf den Krieg in der Ukraine reißt.

Im Schatten des Krieges gegen das Nachbarland geriet aus dem Blick, wie sich jene islamistischen Kräfte wieder gegen Moskau sammelten, die schon nach Putins erster Wahl zum Präsidenten 2000 für zahlreiche Anschläge verantwortlich waren, darunter das tödliche Geiseldrama im Moskauer Dubrowka-Theater 2002 und die Geiselnahme von mehr als 1100 Menschen in einer Schule in der nordossetischen Stadt Beslan 2004.

Aufstieg der Islamisten Erbe des Zerfalls der Sowjetunion

Nach dem Zerfall der Sowjetunion mischten sich Unabhängigkeitsbewegungen gegen Moskau sowohl in den Kaukasus-Republiken Dagestan und Tschetschenien wie auch in zentralasiatischen Staaten mit religiösen Bewegungen. Russische Experten verwiesen schon früh darauf, dass die Anschläge von 9/11 einen einigenden Effekt auf die bis dahin national getrennt agierenden Gruppen hatten. Nach dem US-Einmarsch im Irak 2003 und vermehrt noch im Zuge des Syrien-Kriegs 2011 rekrutieren unterschiedliche islamistische Gruppen in Tadschikistan, Kirgistan, Kasachstan, Usbekistan und im Kaukasus immer wieder neue Kämpfer für die Kriege in Nahost.

Mit mehr als 5.500 Personen bildeten sie die drittgrößte Gruppe ausländischer Kämpfer im sogenannten Kalifat des Islamischen Staats, darunter wiederum waren Tadschiken und Usbeken am häufigsten vertreten. Alle Herkunftsstaaten haben große Mühen mit Repatriierungen von gefangenen genommen ISIS-Kämpfern und deren Familien. Religiös-extremistische Bewegungen in Tadschikistan, Kirgistan und Kasachstan entwickeln sich auch als Gegensatz zu säkular definierten Staatsformen. Besonders in Tadschikistan, Grenzstaat zu Afghanistan, trägt die religiöse Unterdrückung zu starker Radikalisierung bei.

Taliban sehen Moskau als Verbündeten

Hinzu kommt die internationale Dimension: Weil Russland zuletzt einen Militärattaché des Taliban-Regimes in Afghanistan zuließ, haben Moskau und seine Verbündeten die USA als wichtigsten Feind des Islamischen Staats inzwischen abgelöst. Das zeigen auch die anderen Anschläge, derer sich der Islamische Staat Khorasan (ISIS-K) in den vergangenen Monaten bezichtigte: Im Iran tötete die Gruppe im Januar bei zwei Selbstmordanschlägen mehr als 80 Menschen, in Afghanistan droht sie immer wieder Angriffe auf die Botschaften Chinas, Indiens und Irans in Kabul an.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Putin nur noch zweifelhafte Partner im Kampf gegen ISIS-K und weniger schlagkräftige Islamistenmilizen bleiben. “Die Länder der Region müssen eine koordinierte, klare und entschlossene Haltung gegenüber solchen Vorfällen einnehmen, die auf eine Destabilisierung der Region abzielen”, schrieb ein Sprecher des von den Taliban geführten afghanischen Außenministeriums am Samstag auf der Plattform X. Der Anschlag stelle einen “eklatanten Verstoß gegen alle menschlichen Normen” dar.

  • Extremismus
  • Russland
  • Syrien
  • Taliban
  • Terrorismus
  • USA

Security.Table Redaktion

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    19 Stunden brauchte Wladimir Putin, ehe er sich öffentlich zu dem Anschlag auf die Crocus City Hall nordwestlich von Moskau äußerte. In der fünf Minuten kurzen Fernsehansprache bezeichnete er den Angriff mit mehr als 130 Toten als “barbarische terroristische Tat” – und verwies auf Spuren in die Ukraine. Auf das Bekenntnis des Islamischen Staats zu dem Anschlag auf die Veranstaltungshalle ging er nicht ein, und auch nicht auf die Terrorwarnungen, die US-Nachrichtendienste ihren russischen Kollegen bereits Anfang März übermittelt hatten.

    Ein Vierteljahrhundert nach der schweren Anschlagserie auf Wohnkomplexe in Moskau und andere russische Städte im Herbst 1999 mit 293 Toten wendet sich der globale islamistische Terror wieder gegen die Führung in Moskau. Die mutmaßlichen Täter sollen aus den mehrheitlich muslimisch besiedelten Exsowjetrepubliken Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan stammen; sie bildeten die drittgrößte Gruppe ausländischer Kämpfer in den Reihen der Terrororganisation Islamischer Staat, als diese 2014 in Irak und Syrien ein Territorium von der Fläche der Bundesrepublik hielt.

    Was der Anschlag für Russlands Rolle im internationalen Kampf gegen den islamistischen Terrorismus bedeutet, haben Viktor Funk und ich für Sie zusammengefasst.

    Ihr
    Markus Bickel
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    Feindbild Russland: Die Opfer der Kriege im Kaukasus, Syrien und Afghanistan schlagen zurück

    Gedenken für die Opfer der Crocus City Hall vor einer Schule im nordossetischen Beslan, wo Terroristen 2004 mehr als 1100 Geiseln nahmen; nach der Erstürmung durch Sicherheitskräfte kamen 331 ums Leben .

    Die Kondolenzbekundungen fielen spärlich aus, die internationalen Appelle zur koordinierten Verfolgung von Tätern und Unterstützern des Terroranschlags im Nordwesten der russischen Hauptstadt zu routiniert, um wirklich ernst genommen zu werden: Alle Staaten müssten “aktiv” mit der Regierung in Moskau zusammenarbeiten, um die Attentäter “zur Rechenschaft zu ziehen und vor Gericht zu stellen”, forderte am Samstag der UN-Sicherheitsrat; UN-Generalsekretär António Guterres verurteilte den Anschlag “aufs Schärfste”.

    Doch ein Vierteljahrhundert nach den Anschlägen islamistischer Terroristen auf Wohnkomplexe in Moskau und anderen russischen Großstädten steht Wladimir Putin ziemlich allein da. Die Opfer seiner Kriege im Kaukasus, Syrien und Afghanistan schlagen zurück; längst hat Russland die USA als wichtigstes Feindbild des Islamischen Staats abgelöst. Im Herbst 1999 nutzte er die Terrorserie von Islamisten aus den zentralasiatischen Exsowjetrepubliken noch, um den zweiten Tschetschenien-Krieg zu begründen und in der Folge seine Macht zu festigen – auch international.

    Putin Partner des Westens gegen Al Qaida und IS

    So erntete Putin offenen Applaus, als er zwei Wochen nach den Terroranschlägen von 9/11 in den USA im September 2001 im Bundestag sagte: “Terrorismus, nationaler Hass, Separatismus und religiöser Extremismus haben überall dieselben Wurzeln und bringen dieselben giftigen Früchte hervor. Darum sollten auch die Kampfmittel gegen diese Probleme universal sein.” Im Westen müsse man aber verstehen, “dass Gegenschläge den vollständigen, zielstrebigen und gut koordinierten Kampf gegen den Terrorismus nicht ersetzen können. In diesem Sinne bin ich voll und ganz mit dem amerikanischen Präsidenten einverstanden.”

    Der weltweiten Allianz gegen den Terror aber, die die US-Regierung George W. Bushs Ende 2001 schmiedete, gehört Russland heute nicht mehr an. Anders als nach den Anschlägen auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 in Paris und auf den Konzertsaal Bataclan zehn Monate später hat Putin seine Glaubwürdigkeit als verlässlicher Partner gegen den globalen Terrorismus verspielt. Die einende Klammer, die ihn selbst nach der Annexion der Krim 2014 beim Kampf gegen den Islamischen Staat im Irak und Syrien noch an die Seite des Westens brachte, gibt es nun nicht mehr.

    Krieg in der Ukraine destabilisiert Russland im Innern

    Das liegt nicht nur daran, dass Putin Hinweise US-amerikanischer Nachrichtendienste auf einen bevorstehenden Anschlag noch vorige Woche öffentlich ins Lächerliche zog. Das Versagen des russischen Sicherheitsapparats beim Anschlag auf die Konzerthalle Crocus City zeigt die Lücken auf, die die volle Konzentration der russischen Führung auf den Krieg in der Ukraine reißt.

    Im Schatten des Krieges gegen das Nachbarland geriet aus dem Blick, wie sich jene islamistischen Kräfte wieder gegen Moskau sammelten, die schon nach Putins erster Wahl zum Präsidenten 2000 für zahlreiche Anschläge verantwortlich waren, darunter das tödliche Geiseldrama im Moskauer Dubrowka-Theater 2002 und die Geiselnahme von mehr als 1100 Menschen in einer Schule in der nordossetischen Stadt Beslan 2004.

    Aufstieg der Islamisten Erbe des Zerfalls der Sowjetunion

    Nach dem Zerfall der Sowjetunion mischten sich Unabhängigkeitsbewegungen gegen Moskau sowohl in den Kaukasus-Republiken Dagestan und Tschetschenien wie auch in zentralasiatischen Staaten mit religiösen Bewegungen. Russische Experten verwiesen schon früh darauf, dass die Anschläge von 9/11 einen einigenden Effekt auf die bis dahin national getrennt agierenden Gruppen hatten. Nach dem US-Einmarsch im Irak 2003 und vermehrt noch im Zuge des Syrien-Kriegs 2011 rekrutieren unterschiedliche islamistische Gruppen in Tadschikistan, Kirgistan, Kasachstan, Usbekistan und im Kaukasus immer wieder neue Kämpfer für die Kriege in Nahost.

    Mit mehr als 5.500 Personen bildeten sie die drittgrößte Gruppe ausländischer Kämpfer im sogenannten Kalifat des Islamischen Staats, darunter wiederum waren Tadschiken und Usbeken am häufigsten vertreten. Alle Herkunftsstaaten haben große Mühen mit Repatriierungen von gefangenen genommen ISIS-Kämpfern und deren Familien. Religiös-extremistische Bewegungen in Tadschikistan, Kirgistan und Kasachstan entwickeln sich auch als Gegensatz zu säkular definierten Staatsformen. Besonders in Tadschikistan, Grenzstaat zu Afghanistan, trägt die religiöse Unterdrückung zu starker Radikalisierung bei.

    Taliban sehen Moskau als Verbündeten

    Hinzu kommt die internationale Dimension: Weil Russland zuletzt einen Militärattaché des Taliban-Regimes in Afghanistan zuließ, haben Moskau und seine Verbündeten die USA als wichtigsten Feind des Islamischen Staats inzwischen abgelöst. Das zeigen auch die anderen Anschläge, derer sich der Islamische Staat Khorasan (ISIS-K) in den vergangenen Monaten bezichtigte: Im Iran tötete die Gruppe im Januar bei zwei Selbstmordanschlägen mehr als 80 Menschen, in Afghanistan droht sie immer wieder Angriffe auf die Botschaften Chinas, Indiens und Irans in Kabul an.

    Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Putin nur noch zweifelhafte Partner im Kampf gegen ISIS-K und weniger schlagkräftige Islamistenmilizen bleiben. “Die Länder der Region müssen eine koordinierte, klare und entschlossene Haltung gegenüber solchen Vorfällen einnehmen, die auf eine Destabilisierung der Region abzielen”, schrieb ein Sprecher des von den Taliban geführten afghanischen Außenministeriums am Samstag auf der Plattform X. Der Anschlag stelle einen “eklatanten Verstoß gegen alle menschlichen Normen” dar.

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