der Krieg in Israel weitet sich aus: Am Morgen feuerte die libanesische Hisbollah Raketen aus dem Libanon auf den Norden des Landes. Derweil riefen die Israel Defence Forces (IDF) die Bewohner der Gemeinden rund um den Gazastreifen dazu auf, die Gegend im Süden des Landes zu verlassen – ein deutliches Zeichen für eine bevorstehende Bodenoffensive. Und noch immer ist ungewiss, wie viele Israelis am Samstag von der Palästinensermiliz Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurden.
Schon nach 30 Stunden hat der Konflikt auf israelischer Seite mehr Opfer gefordert als der 33-Tage-Krieg zwischen IDF und Hisbollah 2006. 600 getötete Israelis konnten inzwischen identifiziert werden; die palästinensischen Gesundheitsbehörden sprechen von 250 Toten durch israelische Luftangriffe. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kündigte den Übergang von defensiven zu offensiven Operationen an – und bot der Opposition die Bildung eine Notregierung an.
Ich habe mit Gerhard Conrad gesprochen, der die multiplen Angriffe der Islamistenmiliz als “präzedenzlos” bezeichnet. Der frühere Leitungsstabsleiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) sitzt heute im Vorstand des Gesprächskreises Nachrichtendienste in Deutschland (GKND). Er rechnet mit “tiefgreifenden Konsequenzen für die Sicherheitsarchitektur des Landes”. Conrad war in den 2000er Jahren als Vermittler zwischen Israel, Hisbollah und Hamas an dem Austausch getöteter oder gefangener israelischer Soldaten gegen Kämpfer der beiden Islamistenmilizen beteiligt.
Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre
Ihr Markus Bickel
Analyse
“Die Hamas könnte Geiseln als menschliche Schutzschilde einsetzen”
Der frühere Nahostvermittler und BND-Leitungsstabschef Gerhard Conrad.
Herr Conrad, in Tel Aviv und Jerusalem ist nach dem Überraschungsangriff der Hamas von Samstag bereits von Israels 11. September die Rede.Zurecht?
Soweit bereits heute erkennbar, ist der konzertierte und offenbar weitgehend ungehinderte Durchbruch von bewaffneten Hamas-Elementen durch die Grenzbefestigungen zum Gazastreifen ins israelische Kernland präzedenzlos. Dies ist ein Vorgang, der nach fester israelischer Überzeugung nie hätte passieren dürfen. Alle Bemühungen zur Aufklärung von Hamas, zur Befestigung der Grenze wie zur Abwehr von Raketenbeschuss waren darauf gerichtet gewesen, bereits einzelne Infiltrationen zu verhindern und Raketenbeschuss in seiner Wirkung maximal zu beschränken.
Der 7. Oktober 2023 hat auf dramatische Weise die Grenzen dieses Ansatzes vor Augen geführt. Insoweit kann der Angriff sehr wohl mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA verglichen werden. Auch die historische Bezugnahme auf den japanischen Überraschungsangriff auf den US-Marinestützpunkt Pearl Harbour im Dezember 1941 ist durchaus angemessen. Selbst bei einer derzeit eher fraglichen Begrenzung des aktuellen Konflikts sind tiefgreifende Konsequenzen für die Sicherheitsarchitektur des Landes und voraussichtlich auch für die politischen Verhältnisse zu erwarten.
Könnten die Proteste von Reservisten und die anhaltende Mobilisierung gegen die Regierung Netanjahu den Sicherheitsapparat so geschwächt haben, dass die komplexe Operation der Hamas ohne dessen Wissen vorbereitet wurde?
Für eine seriöse Bewertung dieses bemerkenswerten Vorgangs ist es noch viel zu früh. Zunächst einmal müssen die konkreten Elemente und Ebenen der zweifellos gravierenden Fehlleistungen ermittelt werden: Lag es an fehlenden nachrichtendienstlichen Aufklärungsergebnissen? Wenn ja, wie wäre dies angesichts einer umfassenden Penetration des Gazastreifens durch israelische Nachrichten- und Sicherheitsdienste zu erklären? Hat Hamas Mittel und Wege für eine komplette Geheimhaltung oder auch Täuschung des Gegners gefunden, und wenn ja, welche?
Eine andere zentrale Frage: Wie sind angesichts einer – jedenfalls stets behaupteten – technisch lückenlosen Überwachung der Grenzsicherungsanlagen, die offenbar eher langsame und unzureichende militärische Reaktion auf die Durchbruchsoperationen von Hamas zu erklären. Ein Erklärungsansatz könnte hier die rasche, offenbar vorgeplante geografische Verteilung bewaffneter Hamas-Elemente auf zahlreiche Ziele im Einsatzraum unter Ausnutzung der allgemeinen Feiertagsruhe sein.
Sie haben in der Vergangenheit zwischen Hamas und Israel vermittelt. Wie lange wird es dauern, bis Gespräche zwischen beiden Seiten wieder möglich sind?
Im Fall Gilad Shalit hat es bekanntlich mehr als fünf Jahre (2006 bis 2011) gedauert, um zu einem Ergebnis zu kommen. Gespräche sind erst nach einem derzeit noch gar nicht absehbaren Ende der Kampfhandlungen vorstellbar. Unter anderem wird entscheidend sein, wer nach den klaren Vergeltungsdrohungen der israelischen Regierung gegen die Verantwortlichen von Hamas als künftiger Gesprächspartner dann überhaupt noch zur Verfügung stehen wird. Viel wird davon abhängen, ob und insbesondere wann die zu erwartenden Bemühungen, etwa von ägyptischer Seite, zur Schadensbegrenzung greifen können.
Ein limitierendes Moment für eine ungehemmte Gewalteskalation dürften allerdings die offenbar zahlreichen zivilen und militärischen Gefangenen in Händen von Hamas sein, die mit großer Wahrscheinlichkeit als menschliche Schutzschilde missbraucht werden. Hier werden auf israelischer Seite ganz erhebliche Dilemmata zu erwarten sein, die Hamas vor dem Hintergrund der langjährigen Erfahrungen mit dem Gegner zu nutzen wissen dürfte. Dass Hamas mit präzedenzlosen Geiselnahmen eine präzedenzlose Austauschaktion beabsichtigt, hat deren Führung bereits gestern verlautbaren lassen.
Könnten Verhandlungen über die Freilassung der Gefangenen nicht endlich eine größere Lösung des Konflikts in den Blick nehmen?
Ein gewiss frommer Wunsch, für dessen Realisierung jedoch bis auf Weiteres keine Ansatzpunkte erkennbar sind. Entscheidend wird zunächst sein, welche Lage nach Ende des militärischen Konflikts in Israel und seinem geografischen Umfeld eingetreten sein wird: Welche Verwüstungen sind angerichtet, welche militärischen und politischen Weiterungen hat der Konflikt nach sich gezogen, welche Akteure stehen mit welcher Agenda und mit welchen Ressourcen am Ende des Krieges zur Verfügung. Das Potenzial für katastrophale Entwicklungen muss erst einmal reduziert werden, bevor man an weitreichende, aus heutiger Sicht illusionäre Perspektiven denken kann.
Droht Israel nach dem Beschuss aus dem Libanon ein Mehrfrontenkrieg auch mit der Hisbollah?
Eine horizontale Eskalation bleibt bis auf weiteres ein Risiko, das es zu beachten gilt. Die bisherigen Aktionen von Hisbollah, erklärtermaßen “in Solidarität mit Hamas”, wirken erst einmal eher als symbolisch, nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Begrenzung auf die Shebaa-Farmen/Mount Dov im weitgehend unbesiedelten Dreiländereck Israel, Libanon und Syrien.
Welche Interessen hat Hisbollahin dieser Situation?
Hisbollah hätte in einem Krieg mit Israel sehr viel zu verlieren. Es erscheint erst einmal fraglich, ob dieses Risiko so ohne weiteres in Kauf genommen würde, und mit welcher strategischen Zielsetzung. Hisbollah ist eher eine Status-quo-Macht im Libanon und teilweise auch in Syrien; die Organisation befindet sich in einem Zustand relativ stabiler gegenseitiger Abschreckung zu Israel. Um einen extrem verlustreichen und folgenschweren Krieges auszulösen, müsste es sehr gravierende, langfristig angelegte Opportunitätserwägungen geben. Dafür sind im öffentlichen Raum erst einmal keine konkreten Anhaltspunkte erkennbar.
Welche Rolle könnte die Bundesregierung für eine Beendigung des Konflikts spielen – auch längerfristig?
Wie würde Präsident Biden hierzu sagen? “That’s above my pay grade.”
Hat der Fokus auf Russlands Krieg gegen die Ukraine zu einer Vernachlässigung der Krisen im Nahen Osten geführt?
Die geopolitischen Rahmenbedingungen in der Region haben sich in den vergangenen beiden Jahren erheblich verändert durch die chinesischen und russischen Einflussnahmen auf Akteure wie Iran und Saudi-Arabien. Wir haben es hier inzwischen mit unterschiedlichen, wenn nicht gegenläufigen Tendenzen und Interessen aller drei Großmächte in der Region zu tun. Von einer Vernachlässigung der Region kann jedenfalls nicht die Rede sein, wenngleich die wirtschaftliche wie potenziell auch militärische Rückendeckung für Iran durch China und Russland dessen Handlungsspielraum und Resilienz gegenüber westlicher Einflussnahme erheblich fördern dürfte. Erneut wird hier allerdings die Frage zu stellen sein, welche Vorteile aus der gegenwärtigen Eskalation zwischen Israel und Hamas und deren Weiterungen in Teheran, Peking oder Moskau gezogen werden sollten.
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass westliche Waffen über Afghanistan an die Hamas geliefert wurden, wie nun berichtet wurde?
Erst sollten diese westlichen Waffen einmal im Kriegsgebiet auftauchen und in ihrer Herkunft bestimmt worden sein.
Wie ist es überhaupt möglich, dass im streng abgeriegelten Gazastreifen eine solche Aufrüstung erfolgen kann?
Die Frage stellt sich bereits seit bald zwei Jahrzehnten immer wieder aufs Neue. Letztlich liegt es an einem ausgeklügelten, langfristig betriebenen und offenbar nie wirksam unterbundenen System der Konterbande. Organisiert über eine grenzüberschreitende organisierte Kriminalität im Süden Israels (Negev) und in Ägypten (Sinai), zu Wasser wie zu Lande, über Jahre hinweg auch betrieben über ein lukratives System der Tunnelwirtschaft, über die Gaza mit dem Sinai verbunden war.
Glauben Sie, dass der Zeitpunkt der Operation dazu diente, die Verhandlungen zwischen Israel, den USA und Saudi-Arabien über einen Friedensschluss zwischen Riad und Jerusalem zu torpedieren?
Die aktuelle Eskalation des Nahostkonflikts liegt aufgrund seiner polarisierenden Wirkung in der Region jedenfalls im Interesse von Iran und seiner Klientel. Insoweit liegt diese cui bono-Annahme nahe. Sie müsste jedoch wie so oft erst einmal durch entsprechende Aufklärungsergebnisse zu erhärten sein. Ein klarer Fall also für die Nachrichtendienste.
Gerhard Conrad ist Vorstandsmitglied des Gesprächskreises Nachrichtendienste in Deutschland. Von 1990 bis 2020 arbeite er für den Bundesnachrichtendienst (BND), unter anderem als Leiter des Leitungsstabs – und als Vermittler bei Gefangenenaustauschen zwischen Israel, der palästinensischen Hamas und der libanesischen Hisbollah, was ihm den Namen “Mr. Hisbollah” einbrachte.Von 2016 bis 2019 war Conrad Direktor des EU Intelligence Analysis Centre (INTCEN) in Brüssel.
der Krieg in Israel weitet sich aus: Am Morgen feuerte die libanesische Hisbollah Raketen aus dem Libanon auf den Norden des Landes. Derweil riefen die Israel Defence Forces (IDF) die Bewohner der Gemeinden rund um den Gazastreifen dazu auf, die Gegend im Süden des Landes zu verlassen – ein deutliches Zeichen für eine bevorstehende Bodenoffensive. Und noch immer ist ungewiss, wie viele Israelis am Samstag von der Palästinensermiliz Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurden.
Schon nach 30 Stunden hat der Konflikt auf israelischer Seite mehr Opfer gefordert als der 33-Tage-Krieg zwischen IDF und Hisbollah 2006. 600 getötete Israelis konnten inzwischen identifiziert werden; die palästinensischen Gesundheitsbehörden sprechen von 250 Toten durch israelische Luftangriffe. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kündigte den Übergang von defensiven zu offensiven Operationen an – und bot der Opposition die Bildung eine Notregierung an.
Ich habe mit Gerhard Conrad gesprochen, der die multiplen Angriffe der Islamistenmiliz als “präzedenzlos” bezeichnet. Der frühere Leitungsstabsleiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) sitzt heute im Vorstand des Gesprächskreises Nachrichtendienste in Deutschland (GKND). Er rechnet mit “tiefgreifenden Konsequenzen für die Sicherheitsarchitektur des Landes”. Conrad war in den 2000er Jahren als Vermittler zwischen Israel, Hisbollah und Hamas an dem Austausch getöteter oder gefangener israelischer Soldaten gegen Kämpfer der beiden Islamistenmilizen beteiligt.
Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre
Ihr Markus Bickel
Analyse
“Die Hamas könnte Geiseln als menschliche Schutzschilde einsetzen”
Der frühere Nahostvermittler und BND-Leitungsstabschef Gerhard Conrad.
Herr Conrad, in Tel Aviv und Jerusalem ist nach dem Überraschungsangriff der Hamas von Samstag bereits von Israels 11. September die Rede.Zurecht?
Soweit bereits heute erkennbar, ist der konzertierte und offenbar weitgehend ungehinderte Durchbruch von bewaffneten Hamas-Elementen durch die Grenzbefestigungen zum Gazastreifen ins israelische Kernland präzedenzlos. Dies ist ein Vorgang, der nach fester israelischer Überzeugung nie hätte passieren dürfen. Alle Bemühungen zur Aufklärung von Hamas, zur Befestigung der Grenze wie zur Abwehr von Raketenbeschuss waren darauf gerichtet gewesen, bereits einzelne Infiltrationen zu verhindern und Raketenbeschuss in seiner Wirkung maximal zu beschränken.
Der 7. Oktober 2023 hat auf dramatische Weise die Grenzen dieses Ansatzes vor Augen geführt. Insoweit kann der Angriff sehr wohl mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA verglichen werden. Auch die historische Bezugnahme auf den japanischen Überraschungsangriff auf den US-Marinestützpunkt Pearl Harbour im Dezember 1941 ist durchaus angemessen. Selbst bei einer derzeit eher fraglichen Begrenzung des aktuellen Konflikts sind tiefgreifende Konsequenzen für die Sicherheitsarchitektur des Landes und voraussichtlich auch für die politischen Verhältnisse zu erwarten.
Könnten die Proteste von Reservisten und die anhaltende Mobilisierung gegen die Regierung Netanjahu den Sicherheitsapparat so geschwächt haben, dass die komplexe Operation der Hamas ohne dessen Wissen vorbereitet wurde?
Für eine seriöse Bewertung dieses bemerkenswerten Vorgangs ist es noch viel zu früh. Zunächst einmal müssen die konkreten Elemente und Ebenen der zweifellos gravierenden Fehlleistungen ermittelt werden: Lag es an fehlenden nachrichtendienstlichen Aufklärungsergebnissen? Wenn ja, wie wäre dies angesichts einer umfassenden Penetration des Gazastreifens durch israelische Nachrichten- und Sicherheitsdienste zu erklären? Hat Hamas Mittel und Wege für eine komplette Geheimhaltung oder auch Täuschung des Gegners gefunden, und wenn ja, welche?
Eine andere zentrale Frage: Wie sind angesichts einer – jedenfalls stets behaupteten – technisch lückenlosen Überwachung der Grenzsicherungsanlagen, die offenbar eher langsame und unzureichende militärische Reaktion auf die Durchbruchsoperationen von Hamas zu erklären. Ein Erklärungsansatz könnte hier die rasche, offenbar vorgeplante geografische Verteilung bewaffneter Hamas-Elemente auf zahlreiche Ziele im Einsatzraum unter Ausnutzung der allgemeinen Feiertagsruhe sein.
Sie haben in der Vergangenheit zwischen Hamas und Israel vermittelt. Wie lange wird es dauern, bis Gespräche zwischen beiden Seiten wieder möglich sind?
Im Fall Gilad Shalit hat es bekanntlich mehr als fünf Jahre (2006 bis 2011) gedauert, um zu einem Ergebnis zu kommen. Gespräche sind erst nach einem derzeit noch gar nicht absehbaren Ende der Kampfhandlungen vorstellbar. Unter anderem wird entscheidend sein, wer nach den klaren Vergeltungsdrohungen der israelischen Regierung gegen die Verantwortlichen von Hamas als künftiger Gesprächspartner dann überhaupt noch zur Verfügung stehen wird. Viel wird davon abhängen, ob und insbesondere wann die zu erwartenden Bemühungen, etwa von ägyptischer Seite, zur Schadensbegrenzung greifen können.
Ein limitierendes Moment für eine ungehemmte Gewalteskalation dürften allerdings die offenbar zahlreichen zivilen und militärischen Gefangenen in Händen von Hamas sein, die mit großer Wahrscheinlichkeit als menschliche Schutzschilde missbraucht werden. Hier werden auf israelischer Seite ganz erhebliche Dilemmata zu erwarten sein, die Hamas vor dem Hintergrund der langjährigen Erfahrungen mit dem Gegner zu nutzen wissen dürfte. Dass Hamas mit präzedenzlosen Geiselnahmen eine präzedenzlose Austauschaktion beabsichtigt, hat deren Führung bereits gestern verlautbaren lassen.
Könnten Verhandlungen über die Freilassung der Gefangenen nicht endlich eine größere Lösung des Konflikts in den Blick nehmen?
Ein gewiss frommer Wunsch, für dessen Realisierung jedoch bis auf Weiteres keine Ansatzpunkte erkennbar sind. Entscheidend wird zunächst sein, welche Lage nach Ende des militärischen Konflikts in Israel und seinem geografischen Umfeld eingetreten sein wird: Welche Verwüstungen sind angerichtet, welche militärischen und politischen Weiterungen hat der Konflikt nach sich gezogen, welche Akteure stehen mit welcher Agenda und mit welchen Ressourcen am Ende des Krieges zur Verfügung. Das Potenzial für katastrophale Entwicklungen muss erst einmal reduziert werden, bevor man an weitreichende, aus heutiger Sicht illusionäre Perspektiven denken kann.
Droht Israel nach dem Beschuss aus dem Libanon ein Mehrfrontenkrieg auch mit der Hisbollah?
Eine horizontale Eskalation bleibt bis auf weiteres ein Risiko, das es zu beachten gilt. Die bisherigen Aktionen von Hisbollah, erklärtermaßen “in Solidarität mit Hamas”, wirken erst einmal eher als symbolisch, nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Begrenzung auf die Shebaa-Farmen/Mount Dov im weitgehend unbesiedelten Dreiländereck Israel, Libanon und Syrien.
Welche Interessen hat Hisbollahin dieser Situation?
Hisbollah hätte in einem Krieg mit Israel sehr viel zu verlieren. Es erscheint erst einmal fraglich, ob dieses Risiko so ohne weiteres in Kauf genommen würde, und mit welcher strategischen Zielsetzung. Hisbollah ist eher eine Status-quo-Macht im Libanon und teilweise auch in Syrien; die Organisation befindet sich in einem Zustand relativ stabiler gegenseitiger Abschreckung zu Israel. Um einen extrem verlustreichen und folgenschweren Krieges auszulösen, müsste es sehr gravierende, langfristig angelegte Opportunitätserwägungen geben. Dafür sind im öffentlichen Raum erst einmal keine konkreten Anhaltspunkte erkennbar.
Welche Rolle könnte die Bundesregierung für eine Beendigung des Konflikts spielen – auch längerfristig?
Wie würde Präsident Biden hierzu sagen? “That’s above my pay grade.”
Hat der Fokus auf Russlands Krieg gegen die Ukraine zu einer Vernachlässigung der Krisen im Nahen Osten geführt?
Die geopolitischen Rahmenbedingungen in der Region haben sich in den vergangenen beiden Jahren erheblich verändert durch die chinesischen und russischen Einflussnahmen auf Akteure wie Iran und Saudi-Arabien. Wir haben es hier inzwischen mit unterschiedlichen, wenn nicht gegenläufigen Tendenzen und Interessen aller drei Großmächte in der Region zu tun. Von einer Vernachlässigung der Region kann jedenfalls nicht die Rede sein, wenngleich die wirtschaftliche wie potenziell auch militärische Rückendeckung für Iran durch China und Russland dessen Handlungsspielraum und Resilienz gegenüber westlicher Einflussnahme erheblich fördern dürfte. Erneut wird hier allerdings die Frage zu stellen sein, welche Vorteile aus der gegenwärtigen Eskalation zwischen Israel und Hamas und deren Weiterungen in Teheran, Peking oder Moskau gezogen werden sollten.
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass westliche Waffen über Afghanistan an die Hamas geliefert wurden, wie nun berichtet wurde?
Erst sollten diese westlichen Waffen einmal im Kriegsgebiet auftauchen und in ihrer Herkunft bestimmt worden sein.
Wie ist es überhaupt möglich, dass im streng abgeriegelten Gazastreifen eine solche Aufrüstung erfolgen kann?
Die Frage stellt sich bereits seit bald zwei Jahrzehnten immer wieder aufs Neue. Letztlich liegt es an einem ausgeklügelten, langfristig betriebenen und offenbar nie wirksam unterbundenen System der Konterbande. Organisiert über eine grenzüberschreitende organisierte Kriminalität im Süden Israels (Negev) und in Ägypten (Sinai), zu Wasser wie zu Lande, über Jahre hinweg auch betrieben über ein lukratives System der Tunnelwirtschaft, über die Gaza mit dem Sinai verbunden war.
Glauben Sie, dass der Zeitpunkt der Operation dazu diente, die Verhandlungen zwischen Israel, den USA und Saudi-Arabien über einen Friedensschluss zwischen Riad und Jerusalem zu torpedieren?
Die aktuelle Eskalation des Nahostkonflikts liegt aufgrund seiner polarisierenden Wirkung in der Region jedenfalls im Interesse von Iran und seiner Klientel. Insoweit liegt diese cui bono-Annahme nahe. Sie müsste jedoch wie so oft erst einmal durch entsprechende Aufklärungsergebnisse zu erhärten sein. Ein klarer Fall also für die Nachrichtendienste.
Gerhard Conrad ist Vorstandsmitglied des Gesprächskreises Nachrichtendienste in Deutschland. Von 1990 bis 2020 arbeite er für den Bundesnachrichtendienst (BND), unter anderem als Leiter des Leitungsstabs – und als Vermittler bei Gefangenenaustauschen zwischen Israel, der palästinensischen Hamas und der libanesischen Hisbollah, was ihm den Namen “Mr. Hisbollah” einbrachte.Von 2016 bis 2019 war Conrad Direktor des EU Intelligence Analysis Centre (INTCEN) in Brüssel.