den Wehretat auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufstocken, Milliarden in die Verteidigung der Nato-Ostflanke stecken – und sich künftig militärisch nicht mehr auf die USA verlassen, schon gar nicht einer abermals von Donald Trump geführten: Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel spart im Gespräch mit Stefan Braun und Michael Radunski nicht mit radikalen Ratschlägen an seine Nachfolger in Auswärtigem Amt und Wirtschaftsministerium.
Was den Vorsitzenden der Atlantik-Brücke weltpolitisch außerdem nervt, ist die Scheu der Ampel vor der Macht: “Deutschland begnügt sich damit, normative Werte zu predigen, vergisst aber, dass wir auch Interessen haben”, sagt er im Table.Media-Interview.
Gabriel gehörte von 2013 bis 2018 der großen Koalition Angela Merkels als Wirtschafts- und Außenminister an – sein Fazit anderthalb Jahre nach Russlands Überfall auf die Ukraine: Um künftig Konflikte in Europa zu verhindern, komme es darauf an, “selbst ein Abschreckungspotenzial zu entwickeln.” Die dafür nötige militärische Stärke müsse Deutschland sich auch etwas kosten lassen – an erster Stelle durch Aufstockung des Nato-Fonds für die Ostflanke.
Herr Gabriel, wie oft spielen Sie inzwischen im Kopf durch, dass Donald Trump noch einmal US-Präsident wird?
Ich glaube, dass wir uns darauf vorbereiten sollten. Zwar hat Joe Biden nach wie vor gute Chancen, wiedergewählt zu werden. Die größte Gefahr für ihn sind aber Kandidaten, die Mitte-links zu verorten sind. Zum Beispiel ein Kandidat der Grünen oder die Gruppe “No Labels”. Niemand von diesen Kandidaten hat selbst eine Chance auf den Sieg, aber alle werden die Demokraten und Joe Biden weit mehr Stimmen kosten als Donald Trump. Es geht ja um ganz wenige Stimmen in zwei, drei Bundesstaaten. Geht das schief, dann wäre Trump wieder Präsident.
Was passiert dann?
Es gibt Leute wie Wladimir Putin, die würden sich freuen. Und es gibt viele Länder, die zu den klassischen Alliierten der USA gehören und sich dann große Sorgen machen müssten. Für uns in Europa und Deutschland heißt das: Wir müssen unsere Resilienz erhöhen – nicht nur gegenüber Mächten, die uns fremd sind, sondern leider auch gegenüber unserem bislang wichtigsten Partner, den USA. Unser Motto muss sein: Hope for the best, prepare for the worst.
Hat Deutschland das verstanden?
Offenbar noch nicht ausreichend. Die Europäische Union ist ja eher dabei, sich zu provinzialisieren. Was nur zeigt, dass zu viele in der EU die schon tektonischen Verschiebungen in den Achsen der Welt noch immer nicht wahrgenommen haben. Keine der Initiativen des französischen Präsidenten zur Stärkung einer gemeinsamen EU-Außenpolitik ist aufgegriffen worden – auch nicht von Deutschland. Unser größtes Pfund, der europäische Binnenmarkt, wird nicht weiterentwickelt und vertieft. Wir trauen uns nicht, den Euro zu einer wirklichen internationalen Reservewährung zu machen. Wir machen nichts, um die Türkei strategisch stärker an uns zu binden. Und dort, wo wir pragmatisch mit anderen Teilen der Welt Freihandelszonen eröffnen könnten, lassen wir die Chancen ungenutzt, weil unsere möglichen Partner unsere hohen Sozial- und Umweltstandards noch nicht erfüllen können. Wir und insbesondere Deutschland begnügt sich damit, normative Werte zu predigen, vergisst aber, dass wir auch Interessen haben.
Was müssten wir tun?
Wir müssten unsere Stärken stärken und unsere Schwächen ausgleichen. Das ist zugegebenermaßen einfacher gesagt als getan. Aber warum haben wir keinen europäischen Sicherheitsrat gegründet, wie es Frankreich vorgeschlagen hat? Und warum investieren wir Deutschen nicht 0,5 Prozent unseres BIP in die Nato-Fonds zur Ausstattung der Ostflanke der Nato? Das tun bislang nur die USA. Aber selbst, wenn wir das jetzt beginnen, wird es lange dauern, bis wir annähernd dazu in der Lage sind, uns wirklich selbst zu verteidigen. Was viel schneller ginge, wäre die Stärkung unser größten Stärke. Und das ist der europäische Binnenmarkt. Warum schaffen wir nicht die Kapitalmarktunion, die ja dafür sorgen soll, dass Europa nicht ausschließlich vom amerikanischen Bankenmarkt dominiert wird? Wir sollten das alles jetzt nicht wegen einer drohenden Rückkehr von Donald Trump tun, sondern weil es so oder so gut für uns Europäer ist.
Was droht, wenn Trump wiederkommt?
Trump wird nicht aus der Nato austreten, denn der amerikanische Congress würde dem niemals zustimmen. Aber er wird vermutlich die Finanzmittel drastisch reduzieren und das Beistandsversprechen der Nato rhetorisch in Frage stellen. Das wäre eine Einladung an Putin und andere. Die wirkliche Gefahr droht nicht von der Anzahl vorhandener Panzer oder Truppen, sondern vom Zweifel an der Bereitschaft, füreinander einzustehen.
Was bedeutet das?
Es kann auf die Frage hinauslaufen, ob wir bereit sind, selbst ein Abschreckungspotenzial zu entwickeln. Warum sind Schweden und Finnland Mitglieder der Nato geworden? Nicht für eine europäische Verteidigungsunion, sondern weil sie unter den atomaren Schutzschild der Nato, genauer noch: der USA wollten. Sollte Trump kommen und diesen Schutz infrage stellen, wie er es ja schon einmal getan hat, werden wir womöglich bald vor der Frage stehen, ob Europa diesen Schutzschild auf andere Weise leisten kann. Keine leichte Debatte und sie zeigt, wie sehr wir auf die USA angewiesen sind.
Was hieße das für die Ukraine?
Ich vermute, dass Donald Trump als erster einen Rachefeldzug gegen alle Demokraten in den USA beginnen wird. Er würde sicher alle Spitzenpositionen mit absolut loyalen Leuten besetzen und die Spaltung des Landes zu vertiefen. Und er würde auf keinen Fall mehr das tun, was er bei seiner ersten Runde noch gemacht hat. Er wird niemanden im Amt belassen, der als Experte gilt, und nur noch auf absolut loyale Leute setzen. Solch charmante Figuren wie der damalige US-Botschafter Richard Grenell. Sie werden an die zentralen Schaltstellen des Weißen Hauses kommen. Und das ist nicht ganz ohne.
Und die Ukraine?
Donald Trump handelt transaktional, er will seine “Deals” abschließen. Allianzen sind für ihn kein Wert an sich. Deshalb wird er wenig Rücksicht auf uns Europäer nehmen und es ist zu befürchten, dass er der Ukraine die Unterstützung entzieht und auf einen schnellen “Deal” mit Putin setzt. Der geht dann gewiss zu Lasten der Ukraine und zu unseren Lasten aus. Und er wird in der Handels- und Wirtschaftspolitik das fortsetzen, was er damals schon begonnen hat, nicht nur im Konflikt mit China, sondern auch mit Europa. Ich erinnere daran, dass er gesagt hat, Europa und Deutschland seien genauso schlimm wie China, nur kleiner. Das ist eine Umkehrung dessen, was die USA bis heute ausgezeichnet hat.
Inwiefern?
Die eigentliche Stärke Amerikas ist seine Fähigkeit, Allianzen zu bilden. Die USA haben sich von der Sowjetunion oder von China oder von Russland immer dadurch unterschieden, dass sie in der Lage waren, Alliierte zu finden. Die anderen haben keine Alliierten, sie haben Abhängige. Alliierte dagegen sind der eigentliche Multiplikator amerikanischer Macht in der Welt. Trump ist der erste Präsident, der Allianzen für überflüssig gehalten hat. Anhängsel sind ihm lieber. Und das wird Amerika am Ende schwächen. Für uns kann das nur heißen: Wir müssen unsere Geschicke – einschließlich der in der Verteidigungspolitik – in die eigenen Hände nehmen.
Also eher drei Prozent statt zwei vom BIP für Verteidigung?
Jedenfalls war das unter Willy Brandt genau so. Und ich würde raten zu überlegen, ob wir dann einen Teil dessen nicht in die Bundeswehr stecken, sondern in die Verteidigungsfähigkeit der osteuropäischen Nato-Partner. Es gibt den Nato-Fonds für die Ostflanke, für Polen, für das Baltikum, aus dem also auch Nato-Verteidigungsfähigkeit mitfinanziert wird. Nur: In diesen Fonds zahlen bislang nur die USA ein. Ich würde sagen: Das ist eine Aufgabe für Deutschland. Es würde den Amerikanern zeigen, dass wir bereit sind, sie hier zu entlasten. Aber noch viel mehr würde es wahrscheinlich die Osteuropäer und die Polen überraschen, dass die Deutschen bereit sind, Verantwortung, in diesem Fall finanzielle Verantwortung für ihre Verteidigung, zu übernehmen. Ich würde das nicht über die EU machen, sondern über den Nato-Fonds. Die Nato ist das Bindeglied zwischen West- und Osteuropa.
Verteidigungsminister Pistorius hat jüngst davon gesprochen, dass Deutschland dafür das richtige Mindset brauche. Er meinte Wahrhaftigkeit, Wehrhaftigkeit, Standhaftigkeit und Haltung. Fehlt uns das?
Erst mal ist es ganz normal, dass so etwas nicht gleich passiert. Seit Ende der 50er Jahre herrschte in der Bundesrepublik die Gewissheit, dass solche großen Fragen von den Vereinigten Staaten gelöst werden. Wir haben uns also Jahrzehnte lang nicht wirklich darum gekümmert. Mehr noch: Wir sollten es gar nicht, weil an vielen Stellen der Welt das Gefühl vorherrschte: Besser nicht die Deutschen, wenn es um Militär ging. Und dafür hatte der Rest der Welt ja gute Gründe in unserer Geschichte. Insofern war es doch nur typisch für uns, dass im sogenannten Triell vor der letzten Bundestagswahl die Journalisten in 180 Minuten Sendung gerade mal 15 Minuten nach der Welt da draußen fragten. Und dabei ging es ausschließlich um das Scheitern in Afghanistan. Für den Rest der Welt haben sich weder die Journalisten, noch die drei Kandidaten noch die Öffentlichkeit wirklich interessiert. Dabei war die Welt schon vor dem Ukraine Krieg in Bewegung. Niemand sollte sich also wundern, dass wir nicht wirklich vorbreitet sind.
Und jetzt?
Es ist der Kern von politischer Führung, das zu ändern. Man darf die Debatte auf keinen Fall so führen, dass man den Menschen sagt: Wir wären ja so weit, aber ihr als Gesellschaft seid es leider noch nicht. Es liegt an der Politik, zu begründen, warum sich die Welt verändert hat und was das bedeutet. Dass es außerordentlich ernst ist und dass es letztlich, wenn man es ein bisschen pathetisch zusammenfasst, um die Freiheit und Selbstbestimmung unserer Kinder und Enkelkinder in Europa geht. Denn die werden in einem ganz anderen Europa groß werden, wenn ein Autokrat wie Putin sich durchsetzt. Das scheint mir nicht ausreichend der Fall zu sein.
Warum?
Die jetzige Bundesregierung und das Programm der Koalition ist in einer Zeit entstanden, wo viele dachten, dass die einzige große Herausforderung der Menschheit der Klimawandel sei. Darauf ist bei uns vieles ausgerichtet. Dann mussten wir lernen, dass Pandemien, Migration und sogar Krieg mindestens ebenso große Herausforderungen darstellen. Noch gelingt es uns nicht, die Prioritäten in der Politik neu auszubalancieren. Und unserer Gesellschaft zu sagen, warum wir uns jetzt auf vielleicht zwei oder drei wichtige Dinge konzentrieren müssen und nicht auf alles mögliche. Bei uns scheint alles gleich wichtig. Jeder erhebt sein individuelles Thema zur gesellschaftlichen Priorität. Und zeitgleich hat ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung das Gefühl, dass der demokratische Staat in seinen Kernaufgaben nicht mehr handlungsfähig ist. Ich glaube, diese beiden Dinge hängen zusammen: die Individualisierung von Politik und der Ansehensverlust in der Öffentlichkeit. Wir in der Politik und in den Medien reden zu viel über unwichtige Dinge und zu wenig über das ganz Wichtige. Das merken Menschen.
Ist das ein Problem oder schon eine Gefahr?
Es ist mehr als nur ein Problem. Wir haben über Jahrzehnte eine Politik gemacht, bei der wir dachten, der Rest der Welt wird sich schon irgendwann nach unseren Spielregeln richten. Unsere Normen sollten auch die aller anderen werden. Deutschland war so selbstgewiss, dass wir sogar fünf Jahre gebraucht haben, um ein europäisches Freihandelsabkommen mit Kanada zu ratifizieren. Mit den USA ist es komplett gescheitert. Kanada ist europäischer als mancher europäischer Mitgliedsstaat und heute jammern wir über die USA, weil wir nicht wie Mexiko und Kanada an deren Investitionsprogrammen teilhaben können. Es sind oft wir Deutschen, die das alles zu verantworten haben. Viele um uns herum in Europa haben diese Selbstgewissheit als Arroganz wahrgenommen. Ich glaube, dass wir uns der Welt viel pragmatischer nähern müssen. Sonst machen das andere wie zum Beispiel China. Es hilft nichts, darüber zu jammern, dass China Geostrategie betreibt. Schlimm ist, dass wir das nicht tun.
Dann sind ja irgendwie alle schuld?
Ich halte nichts von Schuld-Debatten, weil sich vieles ja aus anderen historischen Situationen heraus entwickelt hat. Die Welt hat sich dramatisch geändert, und das weiß Gott nicht erst seit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wir Deutschen haben das lange nicht wahrgenommen oder nicht wahrnehmen wollen, weil es uns mit der alten Welt ja auch unfassbar gut ging. Wir sind ja die großen Gewinner der liberalen Weltwirtschaft, der in der Geopolitik keine Rolle spielen sollte, sondern nur Geoökonomie. Und nun auf einmal schläge Geopolitik wieder die Geoökonomie und das Mutterland des “Washingtoner Konsensus” einer liberalen Weltwirtschaft verkündert das Ende genau dieser Idee. Dass wir da ein bisschen brauchen, um uns umzustellen, ist normal. Aber das muss jetzt kommen. Und das ist die Aufgabe der politischen Führung des gesamten demokratischen Zentrums unseres Landes.
den Wehretat auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufstocken, Milliarden in die Verteidigung der Nato-Ostflanke stecken – und sich künftig militärisch nicht mehr auf die USA verlassen, schon gar nicht einer abermals von Donald Trump geführten: Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel spart im Gespräch mit Stefan Braun und Michael Radunski nicht mit radikalen Ratschlägen an seine Nachfolger in Auswärtigem Amt und Wirtschaftsministerium.
Was den Vorsitzenden der Atlantik-Brücke weltpolitisch außerdem nervt, ist die Scheu der Ampel vor der Macht: “Deutschland begnügt sich damit, normative Werte zu predigen, vergisst aber, dass wir auch Interessen haben”, sagt er im Table.Media-Interview.
Gabriel gehörte von 2013 bis 2018 der großen Koalition Angela Merkels als Wirtschafts- und Außenminister an – sein Fazit anderthalb Jahre nach Russlands Überfall auf die Ukraine: Um künftig Konflikte in Europa zu verhindern, komme es darauf an, “selbst ein Abschreckungspotenzial zu entwickeln.” Die dafür nötige militärische Stärke müsse Deutschland sich auch etwas kosten lassen – an erster Stelle durch Aufstockung des Nato-Fonds für die Ostflanke.
Herr Gabriel, wie oft spielen Sie inzwischen im Kopf durch, dass Donald Trump noch einmal US-Präsident wird?
Ich glaube, dass wir uns darauf vorbereiten sollten. Zwar hat Joe Biden nach wie vor gute Chancen, wiedergewählt zu werden. Die größte Gefahr für ihn sind aber Kandidaten, die Mitte-links zu verorten sind. Zum Beispiel ein Kandidat der Grünen oder die Gruppe “No Labels”. Niemand von diesen Kandidaten hat selbst eine Chance auf den Sieg, aber alle werden die Demokraten und Joe Biden weit mehr Stimmen kosten als Donald Trump. Es geht ja um ganz wenige Stimmen in zwei, drei Bundesstaaten. Geht das schief, dann wäre Trump wieder Präsident.
Was passiert dann?
Es gibt Leute wie Wladimir Putin, die würden sich freuen. Und es gibt viele Länder, die zu den klassischen Alliierten der USA gehören und sich dann große Sorgen machen müssten. Für uns in Europa und Deutschland heißt das: Wir müssen unsere Resilienz erhöhen – nicht nur gegenüber Mächten, die uns fremd sind, sondern leider auch gegenüber unserem bislang wichtigsten Partner, den USA. Unser Motto muss sein: Hope for the best, prepare for the worst.
Hat Deutschland das verstanden?
Offenbar noch nicht ausreichend. Die Europäische Union ist ja eher dabei, sich zu provinzialisieren. Was nur zeigt, dass zu viele in der EU die schon tektonischen Verschiebungen in den Achsen der Welt noch immer nicht wahrgenommen haben. Keine der Initiativen des französischen Präsidenten zur Stärkung einer gemeinsamen EU-Außenpolitik ist aufgegriffen worden – auch nicht von Deutschland. Unser größtes Pfund, der europäische Binnenmarkt, wird nicht weiterentwickelt und vertieft. Wir trauen uns nicht, den Euro zu einer wirklichen internationalen Reservewährung zu machen. Wir machen nichts, um die Türkei strategisch stärker an uns zu binden. Und dort, wo wir pragmatisch mit anderen Teilen der Welt Freihandelszonen eröffnen könnten, lassen wir die Chancen ungenutzt, weil unsere möglichen Partner unsere hohen Sozial- und Umweltstandards noch nicht erfüllen können. Wir und insbesondere Deutschland begnügt sich damit, normative Werte zu predigen, vergisst aber, dass wir auch Interessen haben.
Was müssten wir tun?
Wir müssten unsere Stärken stärken und unsere Schwächen ausgleichen. Das ist zugegebenermaßen einfacher gesagt als getan. Aber warum haben wir keinen europäischen Sicherheitsrat gegründet, wie es Frankreich vorgeschlagen hat? Und warum investieren wir Deutschen nicht 0,5 Prozent unseres BIP in die Nato-Fonds zur Ausstattung der Ostflanke der Nato? Das tun bislang nur die USA. Aber selbst, wenn wir das jetzt beginnen, wird es lange dauern, bis wir annähernd dazu in der Lage sind, uns wirklich selbst zu verteidigen. Was viel schneller ginge, wäre die Stärkung unser größten Stärke. Und das ist der europäische Binnenmarkt. Warum schaffen wir nicht die Kapitalmarktunion, die ja dafür sorgen soll, dass Europa nicht ausschließlich vom amerikanischen Bankenmarkt dominiert wird? Wir sollten das alles jetzt nicht wegen einer drohenden Rückkehr von Donald Trump tun, sondern weil es so oder so gut für uns Europäer ist.
Was droht, wenn Trump wiederkommt?
Trump wird nicht aus der Nato austreten, denn der amerikanische Congress würde dem niemals zustimmen. Aber er wird vermutlich die Finanzmittel drastisch reduzieren und das Beistandsversprechen der Nato rhetorisch in Frage stellen. Das wäre eine Einladung an Putin und andere. Die wirkliche Gefahr droht nicht von der Anzahl vorhandener Panzer oder Truppen, sondern vom Zweifel an der Bereitschaft, füreinander einzustehen.
Was bedeutet das?
Es kann auf die Frage hinauslaufen, ob wir bereit sind, selbst ein Abschreckungspotenzial zu entwickeln. Warum sind Schweden und Finnland Mitglieder der Nato geworden? Nicht für eine europäische Verteidigungsunion, sondern weil sie unter den atomaren Schutzschild der Nato, genauer noch: der USA wollten. Sollte Trump kommen und diesen Schutz infrage stellen, wie er es ja schon einmal getan hat, werden wir womöglich bald vor der Frage stehen, ob Europa diesen Schutzschild auf andere Weise leisten kann. Keine leichte Debatte und sie zeigt, wie sehr wir auf die USA angewiesen sind.
Was hieße das für die Ukraine?
Ich vermute, dass Donald Trump als erster einen Rachefeldzug gegen alle Demokraten in den USA beginnen wird. Er würde sicher alle Spitzenpositionen mit absolut loyalen Leuten besetzen und die Spaltung des Landes zu vertiefen. Und er würde auf keinen Fall mehr das tun, was er bei seiner ersten Runde noch gemacht hat. Er wird niemanden im Amt belassen, der als Experte gilt, und nur noch auf absolut loyale Leute setzen. Solch charmante Figuren wie der damalige US-Botschafter Richard Grenell. Sie werden an die zentralen Schaltstellen des Weißen Hauses kommen. Und das ist nicht ganz ohne.
Und die Ukraine?
Donald Trump handelt transaktional, er will seine “Deals” abschließen. Allianzen sind für ihn kein Wert an sich. Deshalb wird er wenig Rücksicht auf uns Europäer nehmen und es ist zu befürchten, dass er der Ukraine die Unterstützung entzieht und auf einen schnellen “Deal” mit Putin setzt. Der geht dann gewiss zu Lasten der Ukraine und zu unseren Lasten aus. Und er wird in der Handels- und Wirtschaftspolitik das fortsetzen, was er damals schon begonnen hat, nicht nur im Konflikt mit China, sondern auch mit Europa. Ich erinnere daran, dass er gesagt hat, Europa und Deutschland seien genauso schlimm wie China, nur kleiner. Das ist eine Umkehrung dessen, was die USA bis heute ausgezeichnet hat.
Inwiefern?
Die eigentliche Stärke Amerikas ist seine Fähigkeit, Allianzen zu bilden. Die USA haben sich von der Sowjetunion oder von China oder von Russland immer dadurch unterschieden, dass sie in der Lage waren, Alliierte zu finden. Die anderen haben keine Alliierten, sie haben Abhängige. Alliierte dagegen sind der eigentliche Multiplikator amerikanischer Macht in der Welt. Trump ist der erste Präsident, der Allianzen für überflüssig gehalten hat. Anhängsel sind ihm lieber. Und das wird Amerika am Ende schwächen. Für uns kann das nur heißen: Wir müssen unsere Geschicke – einschließlich der in der Verteidigungspolitik – in die eigenen Hände nehmen.
Also eher drei Prozent statt zwei vom BIP für Verteidigung?
Jedenfalls war das unter Willy Brandt genau so. Und ich würde raten zu überlegen, ob wir dann einen Teil dessen nicht in die Bundeswehr stecken, sondern in die Verteidigungsfähigkeit der osteuropäischen Nato-Partner. Es gibt den Nato-Fonds für die Ostflanke, für Polen, für das Baltikum, aus dem also auch Nato-Verteidigungsfähigkeit mitfinanziert wird. Nur: In diesen Fonds zahlen bislang nur die USA ein. Ich würde sagen: Das ist eine Aufgabe für Deutschland. Es würde den Amerikanern zeigen, dass wir bereit sind, sie hier zu entlasten. Aber noch viel mehr würde es wahrscheinlich die Osteuropäer und die Polen überraschen, dass die Deutschen bereit sind, Verantwortung, in diesem Fall finanzielle Verantwortung für ihre Verteidigung, zu übernehmen. Ich würde das nicht über die EU machen, sondern über den Nato-Fonds. Die Nato ist das Bindeglied zwischen West- und Osteuropa.
Verteidigungsminister Pistorius hat jüngst davon gesprochen, dass Deutschland dafür das richtige Mindset brauche. Er meinte Wahrhaftigkeit, Wehrhaftigkeit, Standhaftigkeit und Haltung. Fehlt uns das?
Erst mal ist es ganz normal, dass so etwas nicht gleich passiert. Seit Ende der 50er Jahre herrschte in der Bundesrepublik die Gewissheit, dass solche großen Fragen von den Vereinigten Staaten gelöst werden. Wir haben uns also Jahrzehnte lang nicht wirklich darum gekümmert. Mehr noch: Wir sollten es gar nicht, weil an vielen Stellen der Welt das Gefühl vorherrschte: Besser nicht die Deutschen, wenn es um Militär ging. Und dafür hatte der Rest der Welt ja gute Gründe in unserer Geschichte. Insofern war es doch nur typisch für uns, dass im sogenannten Triell vor der letzten Bundestagswahl die Journalisten in 180 Minuten Sendung gerade mal 15 Minuten nach der Welt da draußen fragten. Und dabei ging es ausschließlich um das Scheitern in Afghanistan. Für den Rest der Welt haben sich weder die Journalisten, noch die drei Kandidaten noch die Öffentlichkeit wirklich interessiert. Dabei war die Welt schon vor dem Ukraine Krieg in Bewegung. Niemand sollte sich also wundern, dass wir nicht wirklich vorbreitet sind.
Und jetzt?
Es ist der Kern von politischer Führung, das zu ändern. Man darf die Debatte auf keinen Fall so führen, dass man den Menschen sagt: Wir wären ja so weit, aber ihr als Gesellschaft seid es leider noch nicht. Es liegt an der Politik, zu begründen, warum sich die Welt verändert hat und was das bedeutet. Dass es außerordentlich ernst ist und dass es letztlich, wenn man es ein bisschen pathetisch zusammenfasst, um die Freiheit und Selbstbestimmung unserer Kinder und Enkelkinder in Europa geht. Denn die werden in einem ganz anderen Europa groß werden, wenn ein Autokrat wie Putin sich durchsetzt. Das scheint mir nicht ausreichend der Fall zu sein.
Warum?
Die jetzige Bundesregierung und das Programm der Koalition ist in einer Zeit entstanden, wo viele dachten, dass die einzige große Herausforderung der Menschheit der Klimawandel sei. Darauf ist bei uns vieles ausgerichtet. Dann mussten wir lernen, dass Pandemien, Migration und sogar Krieg mindestens ebenso große Herausforderungen darstellen. Noch gelingt es uns nicht, die Prioritäten in der Politik neu auszubalancieren. Und unserer Gesellschaft zu sagen, warum wir uns jetzt auf vielleicht zwei oder drei wichtige Dinge konzentrieren müssen und nicht auf alles mögliche. Bei uns scheint alles gleich wichtig. Jeder erhebt sein individuelles Thema zur gesellschaftlichen Priorität. Und zeitgleich hat ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung das Gefühl, dass der demokratische Staat in seinen Kernaufgaben nicht mehr handlungsfähig ist. Ich glaube, diese beiden Dinge hängen zusammen: die Individualisierung von Politik und der Ansehensverlust in der Öffentlichkeit. Wir in der Politik und in den Medien reden zu viel über unwichtige Dinge und zu wenig über das ganz Wichtige. Das merken Menschen.
Ist das ein Problem oder schon eine Gefahr?
Es ist mehr als nur ein Problem. Wir haben über Jahrzehnte eine Politik gemacht, bei der wir dachten, der Rest der Welt wird sich schon irgendwann nach unseren Spielregeln richten. Unsere Normen sollten auch die aller anderen werden. Deutschland war so selbstgewiss, dass wir sogar fünf Jahre gebraucht haben, um ein europäisches Freihandelsabkommen mit Kanada zu ratifizieren. Mit den USA ist es komplett gescheitert. Kanada ist europäischer als mancher europäischer Mitgliedsstaat und heute jammern wir über die USA, weil wir nicht wie Mexiko und Kanada an deren Investitionsprogrammen teilhaben können. Es sind oft wir Deutschen, die das alles zu verantworten haben. Viele um uns herum in Europa haben diese Selbstgewissheit als Arroganz wahrgenommen. Ich glaube, dass wir uns der Welt viel pragmatischer nähern müssen. Sonst machen das andere wie zum Beispiel China. Es hilft nichts, darüber zu jammern, dass China Geostrategie betreibt. Schlimm ist, dass wir das nicht tun.
Dann sind ja irgendwie alle schuld?
Ich halte nichts von Schuld-Debatten, weil sich vieles ja aus anderen historischen Situationen heraus entwickelt hat. Die Welt hat sich dramatisch geändert, und das weiß Gott nicht erst seit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wir Deutschen haben das lange nicht wahrgenommen oder nicht wahrnehmen wollen, weil es uns mit der alten Welt ja auch unfassbar gut ging. Wir sind ja die großen Gewinner der liberalen Weltwirtschaft, der in der Geopolitik keine Rolle spielen sollte, sondern nur Geoökonomie. Und nun auf einmal schläge Geopolitik wieder die Geoökonomie und das Mutterland des “Washingtoner Konsensus” einer liberalen Weltwirtschaft verkündert das Ende genau dieser Idee. Dass wir da ein bisschen brauchen, um uns umzustellen, ist normal. Aber das muss jetzt kommen. Und das ist die Aufgabe der politischen Führung des gesamten demokratischen Zentrums unseres Landes.