so viel Harmonie herrschte lange nicht mehr in der Ampel – und das nicht nur deshalb, weil Olaf Scholz heute Geburtstag hat. Zur Präsentation der laut Koalitionsvertrag längst überfälligen Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) kam der Bundeskanzler heute Mittag mit einer Art Sicherheitskabinett in die Bundespressekonferenz – Annalena Baerbock, Boris Pistorius, Nancy Faeser und Christian Lindner stellten Seite an Seite mit dem Geburtstagskind das “Integrierte Sicherheit für Deutschland” betitelte Strategiepapier vor.
Fast zu schön für die raue multipolare Welt, die die NSS skizziert, ist der Dreiklang, der dem ersten Regierungsdokument dieser Art in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zugrunde liegt: “Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig.” lauten die ersten Worte des 74 Seiten langen Papiers. Thomas Wiegold wertet aus, was hinter der von Ampelpolitikern proklamierten heiligen Dreifaltigkeit verteidigungs-, außen- und sicherheitspolitischer Interessen in dem Papier wirklich steckt – und ob sie sich überhaupt finanzieren lässt. Finanzminister Lindner jedenfalls wies Erwartungen zurück, der Wehretat lasse sich in den kommenden Jahren so aufstocken, dass allein dadurch das Zweiprozentziel der Nato erfüllt werden könne.
Offen bleibt auch, was Außenministerin Baerbock als “kleinen Cliffhanger für die nächste Pressekonferenz” ankündigte: das strategische Verhältnis Deutschlands zu China. Denn dazu finden sich in der NSS nur zwei, drei dürre Sätze. Wenige Tage vor den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen ist die im Koalitionsvertrag angekündigte “umfassende China-Strategie” noch nicht in Sicht. Dafür aber wäre es angesichts des strategischen Zusammenrückens von Peking und Moskau höchste Zeit, warnt Alexander Gabujew, Direktor des Carnegie Russia Eurasia Center im Interview mit Michael Radunski: “Wenn wir in einen neuen Kalten Krieg mit China eintreten, ist China die nächste Sowjetunion und Russland der nächste Warschauer Pakt.”
Der Ansatz der “integrierten Sicherheit”, der der Nationalen Sicherheitsstrategie zugrunde liegt, soll über die bisherigen Schwerpunkte Streitkräfte und Diplomatie hinaus auch innere Sicherheit, Cyber-Bedrohungen, die Auswirkungen von Wirtschaftspolitik und nicht zuletzt den Klimawandel in den Blick nehmen.
“Alle Stränge der Politik” zusammenzuführen, muss aus Sicht der Ampelkoalition allerdings vorerst ohne zusätzliche Mittel gelingen: “Angesichts der erheblichen aktuellen Anforderungen an unsere öffentlichen Haushalte streben wir an, die Aufgaben dieser Strategie ohne zusätzliche Belastung des Bundeshaushalts insgesamt zu bewältigen“, heißt es in dem 74 Seiten umfassenden Papier mit dem Titel “Integrierte Sicherheit für Deutschland”.
Was das vor allem im Hinblick auf den Verteidigungshaushalt bedeutet, machte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), Verteidigungsminister Boris Pistorius und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD) sehr deutlich. Zwar sagte Lindner, Deutschland müsse “aus der Zeit der Friedensdividende in die Zeit der Friedens- und Freiheitsinvestitionen” wechseln. Für die Finanzierung müsse dieser Schwerpunkt ab 2025 Jahr für Jahr neu erarbeitet werden, “indem auch wünschenswerte Vorhaben zurückgestellt” würden, weil die Sicherheit Vorrang habe.
Vorerst werde deshalb das in der Nato vereinbarte Ziel, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben, nur “im mehrjährigen Durchschnitt” zu erreichen sein, heißt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie. Auch wenn die politische Absicht bleibe, dieses Ziel zu erreichen: Den Verteidigungshaushalt ohne das zusätzliche Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr sofort auf diese zwei Prozent anzuheben, wäre “nur möglich durch massiven Eingriff in gesetzliche Leistungen oder Steuererhöhung”, warnte Lindner.
Die Leitlinien der neuen Strategie unter den Schlagworten “Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig.” fassen im Wesentlichen die bisherigen Regierungsbemühungen zusammen, sehen allerdings kaum grundlegend neue Vorgehensweisen vor. Ein nationaler Sicherheitsrat, wie er in der Debatte über diese Strategie mehrfach auch aus der Koalition gefordert wurde, ist nicht vorgesehen. Sowohl Baerbock als auch Scholz betonten, die Arbeit der Bundesregierung als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine habe gezeigt, dass der Regierungsapparat handlungsfähig sei und kein neues Gremium eingerichtet werden müsse.
Ein neues Detail, das allerdings in der Pressekonferenz von Kanzler, gleich zwei Ministerinnen und zwei Ministern nicht zur Sprache kam, betrifft erstmals nicht nur die Nach-, sondern auch die Aufrüstung der Bundeswehr: Ausdrücklich wird in der Strategie die “Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähiger Präzisionswaffen” genannt. Über die bisherige Kapazität der Bundeswehr hinaus, mit dem Marschflugkörper Taurus Ziele in rund 500 Kilometern Entfernung anzugreifen, deutet das auf die Beschaffung von konventionellen Kurz- und gegebenenfalls Mittelstreckenraketen hin – eine grundlegend neue Fähigkeit für die deutschen Streitkräfte.
Wenig überraschend wird in der Strategie “das heutige Russland” als “auf absehbare Zeit größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum” bezeichnet. Dennoch sollten “belastbare politische und militärische Kommunikationskanäle” zwischen der Nato und Russland erhalten bleiben. Langfristig bedeutsamer scheint allerdings, gerade im Bekenntnis zu einer multipolaren Welt, die Beziehung zu China. Was in dem Papier nüchtern auf die Formel “China ist Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale” gebracht wird, machte Finanzminister Lindner mit seinen Worten noch etwas greifbarer: “Die USA sind ein Wertepartner, China ist ein Handelspartner, aber Werterivale.”
Vor wenigen Tagen sind Berichte aufgetaucht, wonach China Waffen an Russland liefere. Was wissen Sie darüber?
Ja, das stimmt. Es handelt sich aber um keine tödlichen Waffen in großen Mengen, sondern offenbar um gewissen Mengen an Kleinwaffen, gepanzerte Fahrzeuge oder auch Drohnen. Zudem soll die chinesische Militärindustrie einige Teile für russische Waffensysteme liefern. Aber diese Verbindungen reichen weit zurück und finden zwischen sanktionierten chinesischen und sanktionierten russischen Unternehmen statt.
Alles ohne Konsequenzen. Wird China also bald mehr liefern?
Würde China mehr tun, würde das sofort aufgedeckt – und alle Bemühungen, sich als neutraler Akteur zu positionieren, zunichtemachen. China weiß, dass Russland chinesische Waffen braucht, um zu gewinnen, aber Russland verliert diesen Krieg nicht. China ist völlig agnostisch. Ob die Frontlinie 100 Kilometer westlich verläuft, ob über Bachmut eine russische oder ukrainische Flagge weht, das ist China vollkommen egal. Peking liegt Putins Schicksal am Herzen. Was ich mir maximal vorstellen kann, wäre ein Artilleriegranatenaustausch, bei dem Nordkorea mehr nach Russland schickt und China dann Nordkorea versorgt.
Angesichts dieser Berichte, wie ehrlich ist Chinas Diplomatie-Ansatz gegenüber der Ukraine?
In Chinas Außenpolitik dreht sich alles um China. Es gibt viele egoistische Länder, aber China ist die Verkörperung des pragmatischen Egoismus, eingebettet in eine Propaganda, die China in der internationalen Gemeinschaft als eine Kraft des Guten darstellt.
Aber es war eher ein PR-Desaster, dass China als selbsternannter Vermittler so lange nicht mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gesprochen hat?
Chinas Ansatz wird von Risikowahrnehmung bestimmt. Und hier war man in Peking der Meinung, dass die Risiken eines Gesprächs mit Selenskyj die potenziellen Vorteile bei weitem überwiegen.
Welche Risiken?
Es bestand die reale Gefahr, dass Selenskyj einen sehr aggressiven Ton anschlagen würde. Dass er China anklagen würde, die russische Aggression zu ermöglichen oder Ähnliches. Wenn Selenskyj einen solchen Ansatz gewählt hätte, wäre das eine PR-Katastrophe für China gewesen.
Was brachte Xi Jinping nun dazu, mit Selenskyj zu sprechen?
Bis zu einem gewissen Grad der Druck aus dem Westen. China muss seine vielen Interessen in Einklang bringen: Erstens Russland als Juniorpartner, was für China als Folge dieses Krieges sehr vorteilhaft ist. Zweitens den strategischen Wettbewerb mit den USA. Der wird nicht verschwinden. Und drittens die Partnerschaft mit Europa.
Also waren Emmanuel Macron und Olaf Scholz mit ihrem Vorgehen gegenüber China erfolgreich?
Betrachten wir es aus chinesischer Sicht: China hat erkannt, dass Leute wie Scholz und Macron eine Begründung für ihren engen Kontakt zu Peking benötigen. Man musste ihnen etwas geben – und Xi Jinping hat genau das getan. Er hat China als Kraft für Diplomatie und friedliche Lösungen positioniert und zugleich westlichen Führern, die Wirtschaftsabkommen mit China abschließen wollen, einen billigen Deckmantel gegeben. Das gilt für Scholz und Macron, aber auch für Meloni, Sanchez und so weiter.
Und wie beurteilen Sie konkret Chinas Lösung für die Ukraine?
China fährt bislang damit ganz gut.
Wirklich? Die Kämpfe gehen unerbittlich weiter, der Krieg ist noch lange nicht vorbei.
Dass Chinas Vorschlag auf entscheidende Fragen nicht näher eingeht, ist doch kein Zufall, sondern Absicht. Dennoch ist es China gelungen, sich als Kraft des Guten und als bilateraler Partner der Ukraine zu positionieren. Selbst die Ukraine kritisiert China mit keinem Wort, sondern sagt im Grunde: Wir freuen uns über die Partnerschaft. Das sind gute Ergebnisse für China.
Und für den Frieden?
Ich erwarte nicht, dass Chinas 12-Punkte zu einem ernsthafteren Engagement führen werden. China weiß, dass es derzeit weder in Moskau noch in Kiew einen wirklichen Willen für Frieden gibt. Selenskyj kann seine Forderungen nicht herunterschrauben, zumindest nicht, bevor die Gegenoffensive vorbei ist. Und Putin glaubt, dass die Zeit auf seiner Seite ist. Seine Truppen schlagen sich miserabel, werden diesen Krieg aber nicht verlieren. Putin geht davon aus, dass die Ukraine ein weiteres Syrien oder Libyen für den Westen wird und dass die USA und ihre Partner irgendwann müde und abgelenkt werden.
Ohne ein sinnvolles Ergebnis für die Menschen in der Ukraine.
Nun, ich glaube nicht, dass China an einer Lösung des Konflikts interessiert ist. Es will aber auch nicht, dass der Konflikt auf unbestimmte Zeit andauert. China hat sich schlicht an die Situation vor Ort angepasst.
Sie bleiben dabei: Das ist ein gutes Ergebnis für China?
Aus Pekinger Sicht: Ja. Russland ist klarer Juniorpartner geworden. Russland war ohnehin auf diesem Weg, aber durch den Krieg ist es eine Junior-Partnerschaft wie auf Steroide. Und China will immer mehr: mehr Zugang zu Russlands billigen Energieressourcen, zu Düngemitteln, zu Metallen und landwirtschaftlichen Kapazitäten. China erhält Zugang zu allem, was Russland zu bieten hat – sogar zur besten russischen Militärtechnologie. Vor ein paar Jahren war das undenkbar.
Wie groß ist Chinas Einfluss auf Russland?
Die Situation ähnelt sehr dem Verhältnis von China zu Nordkorea, obwohl Nordkorea viel stärker von China abhängig ist und eine weitaus kleinere Macht als Russland. Aber selbst da: Kim Jong-uns Politik wird nicht von Peking diktiert. Er tut Dinge, die China nicht will, aber tolerieren muss, weil Kim weiß, wie man damit umgeht. Russland wird wie Nordkorea, aber in einer anderen Kategorie. Aber China ist clever, sie wissen, wie man damit umgeht, wie man Putins Ego massiert und wie man Russlands Elite zunehmend antiwestlich stimmt.
Würde Chinas Einfluss ausreichen, um diesen Krieg zu beenden?
Nein. China hat keinen Einfluss auf die ukrainische Seite. Und sein Einfluss auf Russland in diesem Sinne wird leicht überschätzt. Wenn China seine Unterstützung für Russland vollständig zurückzieht, würde Putin dann aufhören, die Ukraine verlassen und sich ein Ticket nach Den Haag kaufen? Wohl kaum. Russland würde trotzdem weitermachen.
Wie gefährlich ist die China-Russland-Partnerschaft für den Westen?
Durch den Krieg in der Ukraine und die Sanktionen des Westens hat der Kreml weniger Optionen und ist abhängiger von China als je zuvor. Zugleich ist Russland für China ein unverzichtbarer Juniorpartner bei Pekings Bestreben, die USA und ihre Verbündeten zurückzudrängen. China hat keinen anderen Freund, der so viel zu bieten hat. Und Xi, der sein Land auf eine lange Zeit der Konfrontation mit dem mächtigsten Land der Welt vorbereitet, braucht jede Hilfe, die er bekommen kann.
Wohin führt das?
Wenn wir in einen neuen Kalten Krieg mit China eintreten, ist China die nächste Sowjetunion und Russland der nächste Warschauer Pakt. Es gibt nur einen Unterschied: Russland ist freiwillig dabei, nicht wie einst die von der Sowjetunion besetzten Warschauer-Pakt-Staaten.
Dadurch wird die Lage gefährlicher als früher.
Zweifellos ist die China-Russland-Partnerschaft gefährlich für den Westen. Die Grenze der Nato zu China wird ihre Grenze zu Russland sein. Jeder ernsthafte Militärplaner sollte China und Russland zunehmend als Einheit betrachten, auch wenn es kein formelles Bündnis ist. Das hat enorme Konsequenzen für den Westen. Beispielsweise könnte Russland von China gebeten werden, eine große militärische Übung im Baltikum durchzuführen oder dort zu eskalieren, um westliche Einheiten zu binden und so China die Möglichkeit zu geben, in Asien etwas zu unternehmen. Das ist ein Szenario, auf das wir uns verstärkt konzentrieren sollten.
Alexander Gabujew ist Direktor des Carnegie Russia Eurasia Center. Er leitet ein Team von Analysten, die früher Mitarbeiter des Carnegie Moscow Center waren, das 2022 vom Kreml geschlossen wurde. Seine eigene Forschung konzentriert sich auf die russische Außenpolitik, den Krieg in der Ukraine und die chinesisch-russischen Beziehungen.
so viel Harmonie herrschte lange nicht mehr in der Ampel – und das nicht nur deshalb, weil Olaf Scholz heute Geburtstag hat. Zur Präsentation der laut Koalitionsvertrag längst überfälligen Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) kam der Bundeskanzler heute Mittag mit einer Art Sicherheitskabinett in die Bundespressekonferenz – Annalena Baerbock, Boris Pistorius, Nancy Faeser und Christian Lindner stellten Seite an Seite mit dem Geburtstagskind das “Integrierte Sicherheit für Deutschland” betitelte Strategiepapier vor.
Fast zu schön für die raue multipolare Welt, die die NSS skizziert, ist der Dreiklang, der dem ersten Regierungsdokument dieser Art in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zugrunde liegt: “Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig.” lauten die ersten Worte des 74 Seiten langen Papiers. Thomas Wiegold wertet aus, was hinter der von Ampelpolitikern proklamierten heiligen Dreifaltigkeit verteidigungs-, außen- und sicherheitspolitischer Interessen in dem Papier wirklich steckt – und ob sie sich überhaupt finanzieren lässt. Finanzminister Lindner jedenfalls wies Erwartungen zurück, der Wehretat lasse sich in den kommenden Jahren so aufstocken, dass allein dadurch das Zweiprozentziel der Nato erfüllt werden könne.
Offen bleibt auch, was Außenministerin Baerbock als “kleinen Cliffhanger für die nächste Pressekonferenz” ankündigte: das strategische Verhältnis Deutschlands zu China. Denn dazu finden sich in der NSS nur zwei, drei dürre Sätze. Wenige Tage vor den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen ist die im Koalitionsvertrag angekündigte “umfassende China-Strategie” noch nicht in Sicht. Dafür aber wäre es angesichts des strategischen Zusammenrückens von Peking und Moskau höchste Zeit, warnt Alexander Gabujew, Direktor des Carnegie Russia Eurasia Center im Interview mit Michael Radunski: “Wenn wir in einen neuen Kalten Krieg mit China eintreten, ist China die nächste Sowjetunion und Russland der nächste Warschauer Pakt.”
Der Ansatz der “integrierten Sicherheit”, der der Nationalen Sicherheitsstrategie zugrunde liegt, soll über die bisherigen Schwerpunkte Streitkräfte und Diplomatie hinaus auch innere Sicherheit, Cyber-Bedrohungen, die Auswirkungen von Wirtschaftspolitik und nicht zuletzt den Klimawandel in den Blick nehmen.
“Alle Stränge der Politik” zusammenzuführen, muss aus Sicht der Ampelkoalition allerdings vorerst ohne zusätzliche Mittel gelingen: “Angesichts der erheblichen aktuellen Anforderungen an unsere öffentlichen Haushalte streben wir an, die Aufgaben dieser Strategie ohne zusätzliche Belastung des Bundeshaushalts insgesamt zu bewältigen“, heißt es in dem 74 Seiten umfassenden Papier mit dem Titel “Integrierte Sicherheit für Deutschland”.
Was das vor allem im Hinblick auf den Verteidigungshaushalt bedeutet, machte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), Verteidigungsminister Boris Pistorius und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD) sehr deutlich. Zwar sagte Lindner, Deutschland müsse “aus der Zeit der Friedensdividende in die Zeit der Friedens- und Freiheitsinvestitionen” wechseln. Für die Finanzierung müsse dieser Schwerpunkt ab 2025 Jahr für Jahr neu erarbeitet werden, “indem auch wünschenswerte Vorhaben zurückgestellt” würden, weil die Sicherheit Vorrang habe.
Vorerst werde deshalb das in der Nato vereinbarte Ziel, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben, nur “im mehrjährigen Durchschnitt” zu erreichen sein, heißt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie. Auch wenn die politische Absicht bleibe, dieses Ziel zu erreichen: Den Verteidigungshaushalt ohne das zusätzliche Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr sofort auf diese zwei Prozent anzuheben, wäre “nur möglich durch massiven Eingriff in gesetzliche Leistungen oder Steuererhöhung”, warnte Lindner.
Die Leitlinien der neuen Strategie unter den Schlagworten “Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig.” fassen im Wesentlichen die bisherigen Regierungsbemühungen zusammen, sehen allerdings kaum grundlegend neue Vorgehensweisen vor. Ein nationaler Sicherheitsrat, wie er in der Debatte über diese Strategie mehrfach auch aus der Koalition gefordert wurde, ist nicht vorgesehen. Sowohl Baerbock als auch Scholz betonten, die Arbeit der Bundesregierung als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine habe gezeigt, dass der Regierungsapparat handlungsfähig sei und kein neues Gremium eingerichtet werden müsse.
Ein neues Detail, das allerdings in der Pressekonferenz von Kanzler, gleich zwei Ministerinnen und zwei Ministern nicht zur Sprache kam, betrifft erstmals nicht nur die Nach-, sondern auch die Aufrüstung der Bundeswehr: Ausdrücklich wird in der Strategie die “Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähiger Präzisionswaffen” genannt. Über die bisherige Kapazität der Bundeswehr hinaus, mit dem Marschflugkörper Taurus Ziele in rund 500 Kilometern Entfernung anzugreifen, deutet das auf die Beschaffung von konventionellen Kurz- und gegebenenfalls Mittelstreckenraketen hin – eine grundlegend neue Fähigkeit für die deutschen Streitkräfte.
Wenig überraschend wird in der Strategie “das heutige Russland” als “auf absehbare Zeit größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum” bezeichnet. Dennoch sollten “belastbare politische und militärische Kommunikationskanäle” zwischen der Nato und Russland erhalten bleiben. Langfristig bedeutsamer scheint allerdings, gerade im Bekenntnis zu einer multipolaren Welt, die Beziehung zu China. Was in dem Papier nüchtern auf die Formel “China ist Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale” gebracht wird, machte Finanzminister Lindner mit seinen Worten noch etwas greifbarer: “Die USA sind ein Wertepartner, China ist ein Handelspartner, aber Werterivale.”
Vor wenigen Tagen sind Berichte aufgetaucht, wonach China Waffen an Russland liefere. Was wissen Sie darüber?
Ja, das stimmt. Es handelt sich aber um keine tödlichen Waffen in großen Mengen, sondern offenbar um gewissen Mengen an Kleinwaffen, gepanzerte Fahrzeuge oder auch Drohnen. Zudem soll die chinesische Militärindustrie einige Teile für russische Waffensysteme liefern. Aber diese Verbindungen reichen weit zurück und finden zwischen sanktionierten chinesischen und sanktionierten russischen Unternehmen statt.
Alles ohne Konsequenzen. Wird China also bald mehr liefern?
Würde China mehr tun, würde das sofort aufgedeckt – und alle Bemühungen, sich als neutraler Akteur zu positionieren, zunichtemachen. China weiß, dass Russland chinesische Waffen braucht, um zu gewinnen, aber Russland verliert diesen Krieg nicht. China ist völlig agnostisch. Ob die Frontlinie 100 Kilometer westlich verläuft, ob über Bachmut eine russische oder ukrainische Flagge weht, das ist China vollkommen egal. Peking liegt Putins Schicksal am Herzen. Was ich mir maximal vorstellen kann, wäre ein Artilleriegranatenaustausch, bei dem Nordkorea mehr nach Russland schickt und China dann Nordkorea versorgt.
Angesichts dieser Berichte, wie ehrlich ist Chinas Diplomatie-Ansatz gegenüber der Ukraine?
In Chinas Außenpolitik dreht sich alles um China. Es gibt viele egoistische Länder, aber China ist die Verkörperung des pragmatischen Egoismus, eingebettet in eine Propaganda, die China in der internationalen Gemeinschaft als eine Kraft des Guten darstellt.
Aber es war eher ein PR-Desaster, dass China als selbsternannter Vermittler so lange nicht mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gesprochen hat?
Chinas Ansatz wird von Risikowahrnehmung bestimmt. Und hier war man in Peking der Meinung, dass die Risiken eines Gesprächs mit Selenskyj die potenziellen Vorteile bei weitem überwiegen.
Welche Risiken?
Es bestand die reale Gefahr, dass Selenskyj einen sehr aggressiven Ton anschlagen würde. Dass er China anklagen würde, die russische Aggression zu ermöglichen oder Ähnliches. Wenn Selenskyj einen solchen Ansatz gewählt hätte, wäre das eine PR-Katastrophe für China gewesen.
Was brachte Xi Jinping nun dazu, mit Selenskyj zu sprechen?
Bis zu einem gewissen Grad der Druck aus dem Westen. China muss seine vielen Interessen in Einklang bringen: Erstens Russland als Juniorpartner, was für China als Folge dieses Krieges sehr vorteilhaft ist. Zweitens den strategischen Wettbewerb mit den USA. Der wird nicht verschwinden. Und drittens die Partnerschaft mit Europa.
Also waren Emmanuel Macron und Olaf Scholz mit ihrem Vorgehen gegenüber China erfolgreich?
Betrachten wir es aus chinesischer Sicht: China hat erkannt, dass Leute wie Scholz und Macron eine Begründung für ihren engen Kontakt zu Peking benötigen. Man musste ihnen etwas geben – und Xi Jinping hat genau das getan. Er hat China als Kraft für Diplomatie und friedliche Lösungen positioniert und zugleich westlichen Führern, die Wirtschaftsabkommen mit China abschließen wollen, einen billigen Deckmantel gegeben. Das gilt für Scholz und Macron, aber auch für Meloni, Sanchez und so weiter.
Und wie beurteilen Sie konkret Chinas Lösung für die Ukraine?
China fährt bislang damit ganz gut.
Wirklich? Die Kämpfe gehen unerbittlich weiter, der Krieg ist noch lange nicht vorbei.
Dass Chinas Vorschlag auf entscheidende Fragen nicht näher eingeht, ist doch kein Zufall, sondern Absicht. Dennoch ist es China gelungen, sich als Kraft des Guten und als bilateraler Partner der Ukraine zu positionieren. Selbst die Ukraine kritisiert China mit keinem Wort, sondern sagt im Grunde: Wir freuen uns über die Partnerschaft. Das sind gute Ergebnisse für China.
Und für den Frieden?
Ich erwarte nicht, dass Chinas 12-Punkte zu einem ernsthafteren Engagement führen werden. China weiß, dass es derzeit weder in Moskau noch in Kiew einen wirklichen Willen für Frieden gibt. Selenskyj kann seine Forderungen nicht herunterschrauben, zumindest nicht, bevor die Gegenoffensive vorbei ist. Und Putin glaubt, dass die Zeit auf seiner Seite ist. Seine Truppen schlagen sich miserabel, werden diesen Krieg aber nicht verlieren. Putin geht davon aus, dass die Ukraine ein weiteres Syrien oder Libyen für den Westen wird und dass die USA und ihre Partner irgendwann müde und abgelenkt werden.
Ohne ein sinnvolles Ergebnis für die Menschen in der Ukraine.
Nun, ich glaube nicht, dass China an einer Lösung des Konflikts interessiert ist. Es will aber auch nicht, dass der Konflikt auf unbestimmte Zeit andauert. China hat sich schlicht an die Situation vor Ort angepasst.
Sie bleiben dabei: Das ist ein gutes Ergebnis für China?
Aus Pekinger Sicht: Ja. Russland ist klarer Juniorpartner geworden. Russland war ohnehin auf diesem Weg, aber durch den Krieg ist es eine Junior-Partnerschaft wie auf Steroide. Und China will immer mehr: mehr Zugang zu Russlands billigen Energieressourcen, zu Düngemitteln, zu Metallen und landwirtschaftlichen Kapazitäten. China erhält Zugang zu allem, was Russland zu bieten hat – sogar zur besten russischen Militärtechnologie. Vor ein paar Jahren war das undenkbar.
Wie groß ist Chinas Einfluss auf Russland?
Die Situation ähnelt sehr dem Verhältnis von China zu Nordkorea, obwohl Nordkorea viel stärker von China abhängig ist und eine weitaus kleinere Macht als Russland. Aber selbst da: Kim Jong-uns Politik wird nicht von Peking diktiert. Er tut Dinge, die China nicht will, aber tolerieren muss, weil Kim weiß, wie man damit umgeht. Russland wird wie Nordkorea, aber in einer anderen Kategorie. Aber China ist clever, sie wissen, wie man damit umgeht, wie man Putins Ego massiert und wie man Russlands Elite zunehmend antiwestlich stimmt.
Würde Chinas Einfluss ausreichen, um diesen Krieg zu beenden?
Nein. China hat keinen Einfluss auf die ukrainische Seite. Und sein Einfluss auf Russland in diesem Sinne wird leicht überschätzt. Wenn China seine Unterstützung für Russland vollständig zurückzieht, würde Putin dann aufhören, die Ukraine verlassen und sich ein Ticket nach Den Haag kaufen? Wohl kaum. Russland würde trotzdem weitermachen.
Wie gefährlich ist die China-Russland-Partnerschaft für den Westen?
Durch den Krieg in der Ukraine und die Sanktionen des Westens hat der Kreml weniger Optionen und ist abhängiger von China als je zuvor. Zugleich ist Russland für China ein unverzichtbarer Juniorpartner bei Pekings Bestreben, die USA und ihre Verbündeten zurückzudrängen. China hat keinen anderen Freund, der so viel zu bieten hat. Und Xi, der sein Land auf eine lange Zeit der Konfrontation mit dem mächtigsten Land der Welt vorbereitet, braucht jede Hilfe, die er bekommen kann.
Wohin führt das?
Wenn wir in einen neuen Kalten Krieg mit China eintreten, ist China die nächste Sowjetunion und Russland der nächste Warschauer Pakt. Es gibt nur einen Unterschied: Russland ist freiwillig dabei, nicht wie einst die von der Sowjetunion besetzten Warschauer-Pakt-Staaten.
Dadurch wird die Lage gefährlicher als früher.
Zweifellos ist die China-Russland-Partnerschaft gefährlich für den Westen. Die Grenze der Nato zu China wird ihre Grenze zu Russland sein. Jeder ernsthafte Militärplaner sollte China und Russland zunehmend als Einheit betrachten, auch wenn es kein formelles Bündnis ist. Das hat enorme Konsequenzen für den Westen. Beispielsweise könnte Russland von China gebeten werden, eine große militärische Übung im Baltikum durchzuführen oder dort zu eskalieren, um westliche Einheiten zu binden und so China die Möglichkeit zu geben, in Asien etwas zu unternehmen. Das ist ein Szenario, auf das wir uns verstärkt konzentrieren sollten.
Alexander Gabujew ist Direktor des Carnegie Russia Eurasia Center. Er leitet ein Team von Analysten, die früher Mitarbeiter des Carnegie Moscow Center waren, das 2022 vom Kreml geschlossen wurde. Seine eigene Forschung konzentriert sich auf die russische Außenpolitik, den Krieg in der Ukraine und die chinesisch-russischen Beziehungen.