mehr als 250 Israelis und Palästinenser sterben innerhalb weniger Stunden am Samstag: Die Kämpfe rund um den Gazastreifen sind die gewaltsamsten seit dem Zehntagekrieg zwischen Hamas und der israelischen Armee im Mai 2021. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sagt: “Wir sind im Krieg, und wir werden gewinnen.” Die Bundesregierung verurteilt “diese Angriffe der Hamas und steht an Israels Seite”, teilte Bundeskanzler Olaf Scholz mit.
Vieles spricht dafür, dass die Kämpfe am Samstag der Auftakt zu einem langen Konflikt sein könnten. Denn nach Monaten innenpolitischer Auseinandersetzungen traf der koordinierte Angriff militanter Palästinenserorganisationen aus dem Gazastreifen den israelischen Sicherheitsapparat offenbar unvorbereitet. Noch am frühen Samstagabend sollen an 16 Orten, vor allem im Süden des Landes, israelische Soldaten und Polizisten in Gefechte mit Kämpfern von Hamas und Islamischem Dschihad verwickelt gewesen sein.
Was der heftige Ausbruch der Gewalt für den Nahen Osten bedeutet – und wie die israelisch-saudische Annäherung durch den Waffengang von Irans palästinensischen Verbündeten gestoppt werden könnte, analysiert mein Kollege Markus Bickel.
Ihr Viktor Funk
Analyse
Israels 9/11
epa10904795 Burning vehicles in the Israeli city of Ashkelon following rocket launches from Gaza, 07 October 2023. Rocket barrages were launched from the Gaza Strip early Saturday in a surprise attack claimed by the Islamist movement Hamas. EPA-EFE/ATEF SAFADI
Die Angriffe am frühen Schabbat-Morgen wecken in Israel schlimmste Erinnerungen. Fast auf den Tag genau 50 Jahre nach Beginn des Jom-Kippur-Krieges im Oktober 1973 durchbrechen um sechs Uhr morgens militante palästinensische Kämpfer an mehreren Stellen den Sperrzaun rund um den Gazastreifen. Sie dringen auf israelisches Kernland vor, kapern Militärfahrzeuge – und nehmen an mehreren Orten offenbar auch Geiseln. Noch am frühen Abend spricht Polizeichef Kobi Shabtai von anhaltenden Kämpfen, vor allem in den Grenzgemeinden zum Gazastreifen.
Terroristen schlagen an einem Feiertag zu
Dafür, dass die Gewalt im israelischen Kernland, aber auch im Westjordanland in den vergangenen Monaten stetig zugenommen hatte, trafen die Angriffe den israelischen Sicherheitsapparat völlig unvorbereitet. So wie vor 50 Jahren an Jom Kippur schlugen die Angreifer wieder an einem Feiertag zu – gerade endete das Laubhüttenfest; viele Jüdinnen und Juden wollten heute Simchat Tora begehen. Daraus wurde vielerorts nichts. Militär- und Polizeiführung empfahlen der Bevölkerung vor allem im Süden des Landes, in ihren Häusern zu bleiben. Am morgigen Sonntag, der in Israel der erste Wochentag ist, bleiben die Schulen landesweit geschlossen.
Die rasche Ankündigung von Verteidigungsminister Joaw Gallant am Samstagsmittag, Reservisten einzuberufen und sich auf einen Krieg vorzubereiten, kann über das Scheitern der Israel Defence Forces (IDF) nicht hinwegtäuschen. Der Generalsekretär der libanesischen Hisbollah, Hassan Nasrallah, hatte in den vergangenen Monaten immer wieder darauf hingewiesen, dass Israel so schwach sei wie seit Jahren nicht. Dass die Nordfront zum Libanon ruhig bleibt, ist nach den Spannungen der letzten Wochen unwahrscheinlich.
Mit Raketenangriffen auf Hamas-Stellungen im Gazastreifen reagierte Israel unmittelbar nach Beginn der palästinensischen Attacken. Die begannen am Morgen mit dem Abfeuern Tausender Raketen. Gleichzeitig drangen bewaffnete Palästinenser über Land, See und aus der Luft nach Israel vor. Nach Medienberichten töteten sie viele Israelis in Ortschaften in Grenznähe. Einige Angreifer hätten sich auch mit Geiseln in Häusern verschanzt. Mehrere Israelis seien in den Gazastreifen verschleppt worden. In sozialen Medien kursierten Videos von israelischen Geiseln. Die Videos lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen. Im Laufe des Tages griffen die Kämpfe auf das von Israel seit 1967 besetzte Westjordanland über, Zusammenstöße zwischen IDF-Soldaten und bewaffneten Palästinensern wurden aus mehreren Orten gemeldet.
Der Kriegsausbruch bedeutet das vorläufige Ende der Proteste gegen die Regierung Benjamin Netanjahus. Neben Angehörigen des Hightech-Sektors hatten dort nicht zuletzt Reservisten eine wichtige Rolle eingenommen, um gegen den Abbau von Demokratie zu demonstrieren. Deren Vertreter kündigten nun an, sich bei ihren Einheiten einzufinden. Die für heute Abend geplanten Demonstrationen wurden abgesagt.
Wie so oft in der Vergangenheit rückt die israelische Gesellschaft in Zeiten äußerer Bedrohung zusammen – allen internen Streitigkeiten zum Trotz. Dass das Land gegen Hamas und Islamischen Dschihad zusammensteht, ist daher nicht neu. Neu ist etwas Anderes:Der Regierung Netanjahus kommt der von den Palästinensermilizen aufgezwungene Waffengang nicht unbedingt recht. Schließlich hatte Netanjahu in den vergangenen Wochen seine Bemühungen erhöht, gemeinsam mit US-Präsident Joe Biden einen Friedensschluss mit Saudi-Arabien zu erreichen.
Keine Normalisierung der Beziehungen mit Saudi-Arabien
Diese Bemühungen sind vorerst gescheitert. Katar und Iran unterstützen die Hamas und den Islamischen Dschihad – und senden mit dem Waffengang aus dem Nichts ein klares Zeichen: Einer Normalisierung der Beziehungen Israels zu Saudi-Arabien werden sie nicht zustimmen. Zumindest so lange nicht, wie den Palästinensern im Gegenzug für Zugeständnisse an Israels Sicherheitsinteressen kein eigener Staat garantiert wird.
Der aber bleibt weiter Illusion. Zumal die Unterstützung auch von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas für die islamistischen Kämpfer zeigt, dass die Spaltung zwischen Abbas’ Fatah und der Hamas vorerst zur Seite gestellt ist. Der vermeintliche Erfolg der Islamistenmiliz, Israel auf eigenem Boden in einer Weise herausgefordert zu haben wie seit dem letzten großen Gaza-Krieg 2014 nicht mehr, wiegt für den greisen Machthaber ohne Staat mehr als die Aussicht auf eine Verhandlungslösung.
mehr als 250 Israelis und Palästinenser sterben innerhalb weniger Stunden am Samstag: Die Kämpfe rund um den Gazastreifen sind die gewaltsamsten seit dem Zehntagekrieg zwischen Hamas und der israelischen Armee im Mai 2021. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sagt: “Wir sind im Krieg, und wir werden gewinnen.” Die Bundesregierung verurteilt “diese Angriffe der Hamas und steht an Israels Seite”, teilte Bundeskanzler Olaf Scholz mit.
Vieles spricht dafür, dass die Kämpfe am Samstag der Auftakt zu einem langen Konflikt sein könnten. Denn nach Monaten innenpolitischer Auseinandersetzungen traf der koordinierte Angriff militanter Palästinenserorganisationen aus dem Gazastreifen den israelischen Sicherheitsapparat offenbar unvorbereitet. Noch am frühen Samstagabend sollen an 16 Orten, vor allem im Süden des Landes, israelische Soldaten und Polizisten in Gefechte mit Kämpfern von Hamas und Islamischem Dschihad verwickelt gewesen sein.
Was der heftige Ausbruch der Gewalt für den Nahen Osten bedeutet – und wie die israelisch-saudische Annäherung durch den Waffengang von Irans palästinensischen Verbündeten gestoppt werden könnte, analysiert mein Kollege Markus Bickel.
Ihr Viktor Funk
Analyse
Israels 9/11
epa10904795 Burning vehicles in the Israeli city of Ashkelon following rocket launches from Gaza, 07 October 2023. Rocket barrages were launched from the Gaza Strip early Saturday in a surprise attack claimed by the Islamist movement Hamas. EPA-EFE/ATEF SAFADI
Die Angriffe am frühen Schabbat-Morgen wecken in Israel schlimmste Erinnerungen. Fast auf den Tag genau 50 Jahre nach Beginn des Jom-Kippur-Krieges im Oktober 1973 durchbrechen um sechs Uhr morgens militante palästinensische Kämpfer an mehreren Stellen den Sperrzaun rund um den Gazastreifen. Sie dringen auf israelisches Kernland vor, kapern Militärfahrzeuge – und nehmen an mehreren Orten offenbar auch Geiseln. Noch am frühen Abend spricht Polizeichef Kobi Shabtai von anhaltenden Kämpfen, vor allem in den Grenzgemeinden zum Gazastreifen.
Terroristen schlagen an einem Feiertag zu
Dafür, dass die Gewalt im israelischen Kernland, aber auch im Westjordanland in den vergangenen Monaten stetig zugenommen hatte, trafen die Angriffe den israelischen Sicherheitsapparat völlig unvorbereitet. So wie vor 50 Jahren an Jom Kippur schlugen die Angreifer wieder an einem Feiertag zu – gerade endete das Laubhüttenfest; viele Jüdinnen und Juden wollten heute Simchat Tora begehen. Daraus wurde vielerorts nichts. Militär- und Polizeiführung empfahlen der Bevölkerung vor allem im Süden des Landes, in ihren Häusern zu bleiben. Am morgigen Sonntag, der in Israel der erste Wochentag ist, bleiben die Schulen landesweit geschlossen.
Die rasche Ankündigung von Verteidigungsminister Joaw Gallant am Samstagsmittag, Reservisten einzuberufen und sich auf einen Krieg vorzubereiten, kann über das Scheitern der Israel Defence Forces (IDF) nicht hinwegtäuschen. Der Generalsekretär der libanesischen Hisbollah, Hassan Nasrallah, hatte in den vergangenen Monaten immer wieder darauf hingewiesen, dass Israel so schwach sei wie seit Jahren nicht. Dass die Nordfront zum Libanon ruhig bleibt, ist nach den Spannungen der letzten Wochen unwahrscheinlich.
Mit Raketenangriffen auf Hamas-Stellungen im Gazastreifen reagierte Israel unmittelbar nach Beginn der palästinensischen Attacken. Die begannen am Morgen mit dem Abfeuern Tausender Raketen. Gleichzeitig drangen bewaffnete Palästinenser über Land, See und aus der Luft nach Israel vor. Nach Medienberichten töteten sie viele Israelis in Ortschaften in Grenznähe. Einige Angreifer hätten sich auch mit Geiseln in Häusern verschanzt. Mehrere Israelis seien in den Gazastreifen verschleppt worden. In sozialen Medien kursierten Videos von israelischen Geiseln. Die Videos lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen. Im Laufe des Tages griffen die Kämpfe auf das von Israel seit 1967 besetzte Westjordanland über, Zusammenstöße zwischen IDF-Soldaten und bewaffneten Palästinensern wurden aus mehreren Orten gemeldet.
Der Kriegsausbruch bedeutet das vorläufige Ende der Proteste gegen die Regierung Benjamin Netanjahus. Neben Angehörigen des Hightech-Sektors hatten dort nicht zuletzt Reservisten eine wichtige Rolle eingenommen, um gegen den Abbau von Demokratie zu demonstrieren. Deren Vertreter kündigten nun an, sich bei ihren Einheiten einzufinden. Die für heute Abend geplanten Demonstrationen wurden abgesagt.
Wie so oft in der Vergangenheit rückt die israelische Gesellschaft in Zeiten äußerer Bedrohung zusammen – allen internen Streitigkeiten zum Trotz. Dass das Land gegen Hamas und Islamischen Dschihad zusammensteht, ist daher nicht neu. Neu ist etwas Anderes:Der Regierung Netanjahus kommt der von den Palästinensermilizen aufgezwungene Waffengang nicht unbedingt recht. Schließlich hatte Netanjahu in den vergangenen Wochen seine Bemühungen erhöht, gemeinsam mit US-Präsident Joe Biden einen Friedensschluss mit Saudi-Arabien zu erreichen.
Keine Normalisierung der Beziehungen mit Saudi-Arabien
Diese Bemühungen sind vorerst gescheitert. Katar und Iran unterstützen die Hamas und den Islamischen Dschihad – und senden mit dem Waffengang aus dem Nichts ein klares Zeichen: Einer Normalisierung der Beziehungen Israels zu Saudi-Arabien werden sie nicht zustimmen. Zumindest so lange nicht, wie den Palästinensern im Gegenzug für Zugeständnisse an Israels Sicherheitsinteressen kein eigener Staat garantiert wird.
Der aber bleibt weiter Illusion. Zumal die Unterstützung auch von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas für die islamistischen Kämpfer zeigt, dass die Spaltung zwischen Abbas’ Fatah und der Hamas vorerst zur Seite gestellt ist. Der vermeintliche Erfolg der Islamistenmiliz, Israel auf eigenem Boden in einer Weise herausgefordert zu haben wie seit dem letzten großen Gaza-Krieg 2014 nicht mehr, wiegt für den greisen Machthaber ohne Staat mehr als die Aussicht auf eine Verhandlungslösung.