27 Tote in 24 Stunden – und eine schneller Feuerpause. Das ist das Lagebild einen Tag nach dem Einmarsch von Soldaten der Armee Aserbaidschans in Berg-Karabach. Ob die Waffen über Nacht wirklich schweigen, wie von beiden Seiten vereinbart, ist im Moment unklar.
Vor den Verhandlungen am Donnerstag geben sich die vorläufigen Sieger jedenfalls konziliant: Freies Geleit bei freiwilliger Übergabe schwerer Waffen lautet das Angebot der Regierung in Baku an die von ihr als Separatisten verfolgten ethnisch-armenischen Kämpfer. 5.000 Mann sollen sich in den Dörfern und Gemeinden rund um Stepanakert verschanzt haben.
Die Eskalation in der völkerrechtlich nicht anerkannten Enklave bahnte sich über Monate an – und trotzdem konnten Olaf Scholz und Emmanuel Macron ihren Einfluss gegenüber Aserbaidschans Machthaber Ilham Alijev nicht durchsetzen. Über die Schwäche der EU in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft habe ich mit dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags, Michael Roth gesprochen.
Ihr Markus Bickel
Analyse
“Sanktionen zeigen, dass wir militärische Eskalation nicht hinnehmen”
Michael Roth (SPD) ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages.
Wer trägt Schuld an der Eskalation in Berg-Karabach?
Aserbaidschan, keine Frage – ein autoritäres Land, das mit militärischen Mitteln politische Ziele durchzusetzen versucht, braucht von uns ein klares Stoppschild. Da muss die EU mit einer Stimme sprechen.
Die Regierung in Baku spricht von einer Antiterroraktion.
Wir beobachten seit Wochen eine Massierung von Soldaten und schweren Waffen, von bewaffneten Drohnen bis zu Artillerie, die es eher unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass es sich hier, wie von aserischer Seite behauptet, nur um eine Antiterroraktion handelt. Es geht Aserbaidschan ganz offensichtlich darum, militärisch Fakten zu schaffen und die Verhältnisse in Berg-Karabach zu seinen Gunsten zu klären. Und das bedeutet ethnische Säuberung und militärische Kontrolle.
Emmanuel Macron und Olaf Scholz haben seit Monaten an einer Verständigung zwischen Aserbaidschans Präsidenten Ilham Alijev und Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan gearbeitet. Ist die EU nur ein Papiertiger auf dem eigenen Kontinent?
Das Selbstbewusstsein von Aserbaidschan ist natürlich mächtig gestiegen. Zum einen gehört die Türkei zu den engen Verbündeten. Aber auch Russland, die ehemalige Schutzmacht Armeniens, hat vor dem Hintergrund eigener wirtschaftlicher Probleme ein großes Interesse an einer engeren Zusammenarbeit mit Aserbaidschan. Und nicht zuletzt weiß natürlich auch Präsident Alijev, dass in Deutschland und anderen europäischen Ländern das preisgünstige Gas aus Aserbaidschan dringend gebraucht wird.
Sind Sie für Sanktionen gegen Baku?
Ja, auch wenn es in Deutschland bisweilen einen großen Irrtum gibt: Natürlich führen Sanktionen nicht automatisch dazu, dass sich die Politik des sanktionierten Landes sofort verändert. Aber es ist ein wichtiges Signal, dass wir eine militärische Eskalation nicht einfach achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Dafür braucht es aber einen Konsens in der EU. Die einzige Sprache, die autoritäre Herrscher wie Alijev verstehen, sind klare Ansagen mit Konsequenzen und nicht einfach nur die Einladung zum Tee trinken und laue Ermahnungen.
Was erwidern Sie Kritikern von Sanktionen wie dem Ostausschusses der deutschen Wirtschaft?
Dass wir aus den Fehlern der Vergangenheit endlich lernen sollten. Einseitige Energieabhängigkeit ist weder gut für die Wirtschaft noch für unsere Gesellschaft. Deswegen müssen wir auf erneuerbare Energien und Diversifizierung setzen. Wir dürfen uns nicht allen Ernstes abermals von einem autoritären Regime abhängig machen. Menschenrechte, Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie dürfen nicht gegen wirtschaftliche Interessen ausgespielt werden. Es gilt hier nach wie vor das Primat der Politik.
Ist die EU-Politik überhaupt in der Lage, autoritären Staaten wie Aserbaidschan einen Riegel vorzuschieben?
Wir müssen endlich den jungen, zugegebenermaßen fragilen Demokratien in unserer Nachbarschaft mehr Aufmerksamkeit schenken. Ich mache mir große Sorgen um Georgien und Moldau, aber eben auch um Armenien. Wir haben der Samtenen Revolution dort, die für alles eingetreten ist, was Putin hasst, nicht genügend Unterstützung zuteilwerden lassen.
Die EU ist mit einer von Spöttern als Micky-Maus-Mission bezeichneten unbewaffneten Beobachtertruppe an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan präsent. Wie soll die EU so sicherheitspolitisch Eindruck hinterlassen?
Indem man dem Regime in Baku die Konsequenzen seines militärischen Handelns aufzeigt. So könnte sich die Tür für eine friedliche Verhandlungslösung wieder einen Spalt weit öffnen.
Der Verteidigungshaushalt Aserbaidschans ist mehr als zwei Milliarden Euro schwer, die Kampfkraft der 60.000 Soldaten seiner Armee weitaus effektiver als die Armeniens.
Sie zeigen zu Recht das militärische Ungleichgewicht auf, das sich seit dem Krieg 2020 mit mehr als 6.000 Toten weiter zulasten Armeniens verschoben hat. Militärisch ist die aserische Armee der armenischen weit überlegen, die ja nach wie vor noch unter den Folgen des verlorenen Krieges leidet. Abschreckung geht von ihr nicht aus. Insofern muss Aserbaidschan militärisch wenig befürchten.
Wie lautet Ihre Antwort für einen Ausweg aus der militärischen Spirale?
Eine europäische Perspektive. Die Erweiterungspolitik war ja für viele Jahrzehnte das erfolgreichste Instrument der EU zur Befriedung, Stabilisierung und Demokratisierung von Staaten. Ich will nicht sagen, dass es für alle ost- und südosteuropäischen Staaten einen Anspruch auf einen EU-Beitritt gibt, natürlich müssen Bedingungen erfüllt werden. Aber wir können nicht länger sagen, wir interessieren uns nicht für unsere unmittelbare Nachbarschaft. Das gilt für die Länder des südlichen Kaukasus wie für den westlichen Balkan, weil auch hier die Europäische Union Versprechungen nicht eingehalten hat. Wir brauchen in diesem Erweiterungsprozess eine neue Dynamik, ein neues Tempo, neues Vertrauen, neue Ambitionen. Sonst verlieren nicht nur diese Länder den Anschluss, sonst verlieren auch wir.
Im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina sind die Spannungen so hoch wie seit Jahren nicht.
Ich kann nicht ausschließen, dass es wieder zu militärischer Gewalt im westlichen Balkan kommt. Die Lage ist teilweise brandgefährlich. Ein von Serbien gesteuerter Mob hat dort im April KFOR-Soldaten misshandelt und geschlagen. Wir erleben die Separatismus-Bestrebungen der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina sowie das Erstarken der Nationalisten in Nordmazedonien. Um es mal hart zu sagen: Wenn am Ende alle demokratisch gewählten Regierungen, die der EU-Perspektive verpflichtet sind und sich für Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung einsetzen, Niederlagen erleiden und durch nationalistische, populistische Regierungen ersetzt werden, kann das auch nicht in unserem Interesse sein.
27 Tote in 24 Stunden – und eine schneller Feuerpause. Das ist das Lagebild einen Tag nach dem Einmarsch von Soldaten der Armee Aserbaidschans in Berg-Karabach. Ob die Waffen über Nacht wirklich schweigen, wie von beiden Seiten vereinbart, ist im Moment unklar.
Vor den Verhandlungen am Donnerstag geben sich die vorläufigen Sieger jedenfalls konziliant: Freies Geleit bei freiwilliger Übergabe schwerer Waffen lautet das Angebot der Regierung in Baku an die von ihr als Separatisten verfolgten ethnisch-armenischen Kämpfer. 5.000 Mann sollen sich in den Dörfern und Gemeinden rund um Stepanakert verschanzt haben.
Die Eskalation in der völkerrechtlich nicht anerkannten Enklave bahnte sich über Monate an – und trotzdem konnten Olaf Scholz und Emmanuel Macron ihren Einfluss gegenüber Aserbaidschans Machthaber Ilham Alijev nicht durchsetzen. Über die Schwäche der EU in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft habe ich mit dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags, Michael Roth gesprochen.
Ihr Markus Bickel
Analyse
“Sanktionen zeigen, dass wir militärische Eskalation nicht hinnehmen”
Michael Roth (SPD) ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages.
Wer trägt Schuld an der Eskalation in Berg-Karabach?
Aserbaidschan, keine Frage – ein autoritäres Land, das mit militärischen Mitteln politische Ziele durchzusetzen versucht, braucht von uns ein klares Stoppschild. Da muss die EU mit einer Stimme sprechen.
Die Regierung in Baku spricht von einer Antiterroraktion.
Wir beobachten seit Wochen eine Massierung von Soldaten und schweren Waffen, von bewaffneten Drohnen bis zu Artillerie, die es eher unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass es sich hier, wie von aserischer Seite behauptet, nur um eine Antiterroraktion handelt. Es geht Aserbaidschan ganz offensichtlich darum, militärisch Fakten zu schaffen und die Verhältnisse in Berg-Karabach zu seinen Gunsten zu klären. Und das bedeutet ethnische Säuberung und militärische Kontrolle.
Emmanuel Macron und Olaf Scholz haben seit Monaten an einer Verständigung zwischen Aserbaidschans Präsidenten Ilham Alijev und Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan gearbeitet. Ist die EU nur ein Papiertiger auf dem eigenen Kontinent?
Das Selbstbewusstsein von Aserbaidschan ist natürlich mächtig gestiegen. Zum einen gehört die Türkei zu den engen Verbündeten. Aber auch Russland, die ehemalige Schutzmacht Armeniens, hat vor dem Hintergrund eigener wirtschaftlicher Probleme ein großes Interesse an einer engeren Zusammenarbeit mit Aserbaidschan. Und nicht zuletzt weiß natürlich auch Präsident Alijev, dass in Deutschland und anderen europäischen Ländern das preisgünstige Gas aus Aserbaidschan dringend gebraucht wird.
Sind Sie für Sanktionen gegen Baku?
Ja, auch wenn es in Deutschland bisweilen einen großen Irrtum gibt: Natürlich führen Sanktionen nicht automatisch dazu, dass sich die Politik des sanktionierten Landes sofort verändert. Aber es ist ein wichtiges Signal, dass wir eine militärische Eskalation nicht einfach achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Dafür braucht es aber einen Konsens in der EU. Die einzige Sprache, die autoritäre Herrscher wie Alijev verstehen, sind klare Ansagen mit Konsequenzen und nicht einfach nur die Einladung zum Tee trinken und laue Ermahnungen.
Was erwidern Sie Kritikern von Sanktionen wie dem Ostausschusses der deutschen Wirtschaft?
Dass wir aus den Fehlern der Vergangenheit endlich lernen sollten. Einseitige Energieabhängigkeit ist weder gut für die Wirtschaft noch für unsere Gesellschaft. Deswegen müssen wir auf erneuerbare Energien und Diversifizierung setzen. Wir dürfen uns nicht allen Ernstes abermals von einem autoritären Regime abhängig machen. Menschenrechte, Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie dürfen nicht gegen wirtschaftliche Interessen ausgespielt werden. Es gilt hier nach wie vor das Primat der Politik.
Ist die EU-Politik überhaupt in der Lage, autoritären Staaten wie Aserbaidschan einen Riegel vorzuschieben?
Wir müssen endlich den jungen, zugegebenermaßen fragilen Demokratien in unserer Nachbarschaft mehr Aufmerksamkeit schenken. Ich mache mir große Sorgen um Georgien und Moldau, aber eben auch um Armenien. Wir haben der Samtenen Revolution dort, die für alles eingetreten ist, was Putin hasst, nicht genügend Unterstützung zuteilwerden lassen.
Die EU ist mit einer von Spöttern als Micky-Maus-Mission bezeichneten unbewaffneten Beobachtertruppe an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan präsent. Wie soll die EU so sicherheitspolitisch Eindruck hinterlassen?
Indem man dem Regime in Baku die Konsequenzen seines militärischen Handelns aufzeigt. So könnte sich die Tür für eine friedliche Verhandlungslösung wieder einen Spalt weit öffnen.
Der Verteidigungshaushalt Aserbaidschans ist mehr als zwei Milliarden Euro schwer, die Kampfkraft der 60.000 Soldaten seiner Armee weitaus effektiver als die Armeniens.
Sie zeigen zu Recht das militärische Ungleichgewicht auf, das sich seit dem Krieg 2020 mit mehr als 6.000 Toten weiter zulasten Armeniens verschoben hat. Militärisch ist die aserische Armee der armenischen weit überlegen, die ja nach wie vor noch unter den Folgen des verlorenen Krieges leidet. Abschreckung geht von ihr nicht aus. Insofern muss Aserbaidschan militärisch wenig befürchten.
Wie lautet Ihre Antwort für einen Ausweg aus der militärischen Spirale?
Eine europäische Perspektive. Die Erweiterungspolitik war ja für viele Jahrzehnte das erfolgreichste Instrument der EU zur Befriedung, Stabilisierung und Demokratisierung von Staaten. Ich will nicht sagen, dass es für alle ost- und südosteuropäischen Staaten einen Anspruch auf einen EU-Beitritt gibt, natürlich müssen Bedingungen erfüllt werden. Aber wir können nicht länger sagen, wir interessieren uns nicht für unsere unmittelbare Nachbarschaft. Das gilt für die Länder des südlichen Kaukasus wie für den westlichen Balkan, weil auch hier die Europäische Union Versprechungen nicht eingehalten hat. Wir brauchen in diesem Erweiterungsprozess eine neue Dynamik, ein neues Tempo, neues Vertrauen, neue Ambitionen. Sonst verlieren nicht nur diese Länder den Anschluss, sonst verlieren auch wir.
Im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina sind die Spannungen so hoch wie seit Jahren nicht.
Ich kann nicht ausschließen, dass es wieder zu militärischer Gewalt im westlichen Balkan kommt. Die Lage ist teilweise brandgefährlich. Ein von Serbien gesteuerter Mob hat dort im April KFOR-Soldaten misshandelt und geschlagen. Wir erleben die Separatismus-Bestrebungen der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina sowie das Erstarken der Nationalisten in Nordmazedonien. Um es mal hart zu sagen: Wenn am Ende alle demokratisch gewählten Regierungen, die der EU-Perspektive verpflichtet sind und sich für Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung einsetzen, Niederlagen erleiden und durch nationalistische, populistische Regierungen ersetzt werden, kann das auch nicht in unserem Interesse sein.