Table.Briefing: Security

Sahel: Verliert der Westen den Zugang? + KI in Waffensystemen + Russlands Männer für den Krieg

Liebe Leserin, lieber Leser,

mit vielen Learnings im Gepäck kommt Boris Pistorius von seiner Afrika-Reise zurück, seiner ersten als Verteidigungsminister. Das wohl deutlichste: der erhobene Zeigefinger, und damit auch die betont werteorientierte Außenpolitik der Deutschen, kommt nicht gut an in Mali. Dass die Regierung in Bamako der Bundeswehr zuletzt das Leben schwer gemacht hat, liegt auch daran, dass die Kommunikation der Deutschen “wenig angepasst” war, wie Horand Knaup in seiner Analyse nach der Reise schreibt.

Zehn Jahre – solange hat die Debatte um die Bewaffnung von Drohnen gedauert. Bei der Antwort auf die Frage, worüber Künstliche Intelligenz (KI) in Waffensystemen selbständig entscheiden darf, hat Deutschland keinesfalls so viel Zeit. Die Entwicklungen schreiten rasant voran, zum einen bei der KI selbst, zum anderen bei Waffensystemen wie dem Future Combat Air System, das sich bereits jetzt zu wesentlichen Teilen auf KI stützt. Eine breite Debatte, wie ethische Normen bei der Steuerung weitgehend autonomer Waffensysteme gewahrt werden können, fordern deshalb Fachleute und Politiker, wie Nana Brink schreibt.

Für kriegstaugliche Männer in Russland wird es immer schwieriger, sich der Wehrpflicht zu entziehen. Zum 17. Geburtstag erhalten sie die Vorladung vor das “wojenkomat”, das Militärregistrierbüro, nun auch digital. Ab dem Tag dürfen sie nicht mehr ins Ausland ausreisen. Lesen Sie in der Analyse von Viktor Funk, warum für viele der Männer die NGO “Bewegung der Verweigerer” von Elena Popowa die letzte Rettung ist.

Ihre
Lisa-Martina Klein
Bild von Lisa-Martina  Klein

Analyse

Europäischer Druck hilft in der Sahelzone wenig

Verteidigungsminister Pistorius in Mali
Minister Pistorius bei der Truppe in Mali: Die Bundeswehr ist dort Teil der gefährlichen UN-Mission Minusma.

Der Bundesverteidigungsminister hatte die Schlagzeilen deutscher Blätter im Hinterkopf, als er am vergangenen Donnerstag in Mali eintraf. “Schikanen gegen die Bundeswehr in Mali” oder “Mali setzt voll auf den Kreml”. Schlagzeilen, die das Bild eines Putschistenregimes skizzieren, das vom Westen nichts mehr wissen will und sich Wladimir Putin unterworfen hat. Das den Truppen der Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen (Minusma), den 12.000 Männern und Frauen unter UN-Mandat, vor allem mit Schikanen begegnet. Das froh ist, sich erst des französischen Kontingents und dann auch der Deutschen entledigt zu haben.

Die Eindrücke, die Boris Pistorius und Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze mit nach Hause genommen haben, waren dann doch ein bisschen differenzierter. Erst bat Staatspräsident Assimi Goïta – was ursprünglich nicht geplant war – um ein Gespräch mit den beiden, und offensichtlich ließ der Oberst wenig Zweifel daran, dass er die Zusammenarbeit mit den Deutschen gerne fortsetzen würde. “Er hat das Signal verstanden, dass wir zu zweit gekommen sind”, berichtete Pistorius später. Und: “Freude über unseren Abzug habe ich in keinem der Gespräche vernommen.”

Aber erst einmal bleibt es dabei: Die deutschen Soldaten werden Mali und insbesondere den Standort Gao in den nächsten zwölf Monaten verlassen. Sie werden den allergrößten Teil ihres Materials in rund 1.500 Seecontainern nach Niamey im Niger schaffen und von dort aus nach Hause fliegen. Kein westliches Land wird dann Minusma noch unterstützen. Wie es überhaupt mit dem Mandat weiter geht, ist offen.

Minusma alles andere als eine Erfolgsgeschichte

Klar ist: Die malische Regierung hat es den Deutschen nicht leicht gemacht. Sie hat Überflüge verboten, Anträge unbearbeitet liegen gelassen, sie hat seit vergangenem Herbst Drohnenflüge untersagt. Und ohne Luftüberwachung sind die deutschen Soldaten – wie andere auch – für Terrorgruppen ein leichtes Ziel. Denn man muss wissen: Die Minusma-Mission ist eine der gefährlichsten in der UN-Geschichte. Weit über 200 Blauhelme sind seit ihrem Beginn 2013 ums Leben gekommen.

Nicht nur deshalb ist das Unternehmen Minusma alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Stabilisieren konnte es Mali nicht. Im Gegenteil, der Schrecken der Dschihadisten und Kriminellen dehnte sich immer weiter aus. Demokratie und Wahlen sind den Menschen in Mali wichtig, vielleicht auch ihren Regenten – noch wichtiger ist ihnen aber Sicherheit. Und ein Ende des Terrors. Und deshalb könnten sich auch die versprochenen Wahlen noch hinziehen.

Warum aber die Zusammenarbeit mit den Russen? Weil Minusma versagt habe, heißt es bei der malischen Regierung. Auch dass als Leiter der Einheit erst ein Mann aus dem Tschad, später dann aus Mauretanien ernannt wurden, habe die Mission und die Einheimischen nicht wirklich zusammen gebracht. Außerdem habe niemand die Waffen und Unterstützung liefern wollen, die es im Kampf gegen die Terroristen und Banden brauche. Auch und vor allem die Europäer nicht. Deshalb die Hinwendung zu Moskau. Wo ohnehin einige der Generäle ihre Ausbildung durchlaufen haben. Wer ums Überleben kämpfe, greife nach jedem Strohhalm, ließen die Obristen ihre deutschen Gäste wissen.

Im Schulterschluss mit Frankreich? In Afrika wenig zielführend

Zwei weitere Erkenntnisse nahm Pistorius mit nach Hause: Die Franzosen sind ob ihrer angeblichen Arroganz, der vermeintlich rücksichtslosen Verfolgung eigener Interessen und ihres selbstherrlichen Auftretens in Westafrika geradezu verhasst – und in Mali ganz besonders. Zwar sind die Franzosen aus Gao abgezogen, aber im Minusma-Stab sitzen ihre Offiziere immer noch. Was bei den Einheimischen tiefes Misstrauen auslöst. Lange haben die Deutschen versucht, sich trotz nicht immer kongruenter Interessen einigermaßen mit Frankreich abzustimmen. In Westafrika ist das derzeit eher kontraproduktiv.

Derart in die Defensive geraten, versucht Emmanuel Macron gegenzusteuern. Im Juni lädt er in Paris zu einem Frankreich-China-Afrikagipfel. Vordergründig soll es um Klimafragen gehen. In Wahrheit ist es der fast schon verzweifelte Versuch, verlorenen Boden auf dem Nachbarkontinent zurückzuerobern.

Werteorientierte Außenpolitik kommt nicht gut an

Zugleich ist das Image von Bundeswehr und deutscher Entwicklungszusammenarbeit in Mali immer noch positiv. Mehr noch: Goïta und seine Mitstreiter würden die Deutschen mit Soldaten und Entwicklungsprojekten gerne im Land behalten. Unabhängig von Franzosen und Minusma. Das transportierten die Gastgeber durchaus glaubwürdig. Und möglicherweise dürfen auch die Drohnen in Kürze schon wieder aufsteigen.

Offensichtlich wurde aber, und das nicht zum ersten Mal: Auch die Attitüde der Deutschen gegenüber den Ländern des Südens ist ausbaufähig. Politischer Druck bringt gar nichts. Der erhobene Zeigefinger, und das gilt auch für eine betont werteorientierte Außenpolitik, kommt nicht gut an. Und es hilft auch nicht weiter, wie geschehen, die malischen Gastgeber streng zu befragen, warum sie im UN-Sicherheitsrat Wladimir Putin unterstützt haben.

Das betrifft auch die Bundeswehr. Dass die deutschen Überwachungsdrohnen in Gao nicht mehr fliegen durften und kaum noch Überflugrechte gab, hatte viel mit der Überforderung der malischen Administration zu tun, mitunter offenbar aber auch mit kulturellen Unterschieden. Oder anders: Mit der bisweilen wenig angepassten Kommunikation auf Minusma-Seite. Deutsche Soldaten waren daran offenbar nicht immer unbeteiligt.

Die nationale Souveränität ist unverhandelbar geworden

Die Länder des Globalen Südens mögen noch so arm sein, noch so unfähig, ihre Bevölkerung zu ernähren oder zu schützen, noch so unzulänglich in ihren Strukturen; aber die nationale Souveränität ist ihnen unverhandelbar geworden. In Brasilien genauso wie in Indien – oder in Mali.

In den sozialen Medien kursiert seit kurzem ein schon älteres Video von Norbert Lammert als Vorsitzendem der Konrad-Adenauer-Stiftung, der dem namibischen Präsidenten Hage Geingob die chinesische Präsenz in seinem Land vorhält. Der Präsident reagiert schnell und entschieden: “Was reden Sie da? Wir brauchen Ihnen nicht leidzutun. Die Chinesen behandeln uns nicht wie ihr Deutschen …”

Boris Pistorius sprach zum ersten Mal seit Amtsbeginn in Afrika als Verteidigungsminister vor. Und so war der Besuch in Niamey und Bamako vor allem eine Lernerfahrung: Die nationale Souveränität ist den Ländern des Südens ein hohes Gut. Und entweder es gelingt den Ländern des Nordens, dieses neue Selbstbewusstsein in ihre Überlegungen und Entscheidungen einzubeziehen – oder sie verlieren den Zugang.

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KI in Waffensystemen: “Deutschland darf Entwicklung nicht verschlafen”

Selten ist so viel über Künstliche Intelligenz (KI) gesprochen worden, wie in den vergangenen Wochen. In einem Offenen Brief forderten kürzlich rund 1000 Experten, unter ihnen Elon Musk, eine Entwicklungspause. Diese sollte genutzt werden, um ein Regelwerk für den Einsatz von KI zu schaffen.

Meist diskutiertes Beispiel ist das generative KI-System GPT-4, das eigenständig Fragen beantworten und Texte formulieren kann. Bislang findet in Deutschland jedoch keine breite Debatte darüber statt, was KI der dritten Generation für die Entwicklung von Waffensystemen bedeuten kann.

Frank Sauer, der an der Bundeswehruniversität München zum Einsatz von KI im Militär forscht, erklärt gegenüber Table.Media: “Wir müssen in Deutschland endlich eine ergebnisorientierte Diskussion führen.” Anders als in den USA oder Frankreich, die längst KI-Strategien für Waffensysteme vorgelegt haben, gibt es in Deutschland keine kohärente Vorgehensweise.

Für den Verteidigungs-Experten der FDP, Marcus Faber, wäre eine Debatte über KI in Waffensystemen im Parlament “sinnvoll, ähnlich wie wir sie über die Bewaffnung von Drohnen geführt haben, zum Beispiel im Rahmen einer Anhörung im Verteidigungsausschuss”.

Keine Zeit für zehnjährige Debatte

Viel Zeit bleibt angesichts der rasanten Entwicklung auf dem Gebiet der KI nicht. Politikwissenschaftler Sauer warnt: “Die Debatte über die Bewaffnung von Drohnen hat zehn Jahre gedauert. Diese Zeit haben wir nicht.” Mit der Entwicklung des Future Combat Air System (FCAS), dem größten europäischen Rüstungsprojekt mit deutscher und französischer Beteiligung, wird die Frage nach der Rolle von KI in den Waffensystemen der Zukunft virulent.

Autonome Waffensysteme (AWS) – und damit der Einsatz von KI – sind längst Bestandteil moderner Armeen, auch der Bundeswehr. Ohne “Autonomie in Waffensystemen”, so der wissenschaftlich korrekte Begriff, würde das Flugabwehrraketensystem Patriot oder das Waffenleitsystem der Fregatte 125 nicht funktionieren. Die AWS übernehmen in Maschinengeschwindigkeit sowohl Zielerfassung wie Verteidigung. Noch allerdings entscheidet ein Mensch, wann und in welchem Umfang die AWS eingesetzt werden.

Rolle des Menschen im Vordergrund

Das könnte sich ändern, wenn KI die “meaningful human control” übernimmt. Die umgangssprachlich als “Killerroboter” bezeichneten AWS gelten als die Schreckgespenster künftiger Schlachtfelder. In dem Science-Fiction-Video “Slaughterbots” aus dem Jahre 2017 führt ein Schwarm autonomer und vernetzter Drohnen Angriffe auf Studenten und Politiker aus. Der Videoclip, den Kritiker von AWS produziert haben, bündelt die Ängste vor Waffen, die sich jeder menschlichen Kontrolle entziehen.

Die Diskussion über die Existenz solcher Waffensysteme hält Militärexperte Sauer für nicht zielführend: “Die zentrale Frage lautet vielmehr, insbesondere mit Blick auf das Ausführen der kritischen Funktion der Zielauswahl und -bekämpfung: Wer oder was – Mensch oder Maschine – übernimmt was, wann und wo? Kurz: Der Fokus muss weg von Waffenkategorien und hin zur Rolle des Menschen.”

Keine nationale Strategie

Bislang gibt es in Deutschland keine offizielle Strategie, die eine nationale Position im Umgang mit AWS definieren würde. Im Koalitionsvertrag heißt es lediglich: “Letale autonome Waffensysteme, die der Verfügung des Menschen entzogen sind, lehnen wir ab.”

Auch in der Bundeswehr gibt es kein umfassendes, verbindliches Papier, das die Beziehung Mensch-Maschine definiert. Das Amt für Heeresführung hat 2019 das Konzeptpapier “Künstliche Intelligenz in den Landstreitkräften” herausgegeben. Darin steht: “Der Mensch muss die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod behalten. Es gilt das Prinzip wirksamer menschlicher Kontrolle.” Was daraus resultiert, ist jedoch unklar.

Deutschland muss KI-Strategie entwickeln

Dabei erfordert zum Beispiel die Entwicklung eines so hochkomplexes “system of systems” wie FCAS dringend klare Anforderungsprofile. Zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergonomie hat Airbus Defence and Space, einer der Partner von FCAS, eine AG Technikverantwortung gegründet.

Ihr gehören, neben Industrie und Bundeswehr, vor allem Mitglieder der Zivilgesellschaft wie Theologen und Politikwissenschaftlerinnen an. Sie diskutieren die Frage: Wie kann KI ethischen Normen gerecht werden? Eine Frage, die auch die Politik beantworten müsste.

Experten wie Sauer von der Bundeswehruniversität fordern schon lange eine KI-Strategie: “Als größtes europäisches Land mit steigenden Militärausgaben sollte Deutschland im Sinne der Mitgestaltung der regulatorischen Landschaft bei AWS aktiver und selbstbewusster werden.” In Frankreich beispielsweise hat eine Ethikkommission Leitlinien für das Verteidigungsministerium entwickelt.

Der CDU-Sicherheitspolitiker Markus Grübel, Mitglied des Verteidigungsausschusses, sieht dabei die Politik in der Pflicht: “Vielleicht gelingt es uns anders als bei der zehnjährigen Diskussion über die Bewaffnung von Drohnen, dass wir eine rationale Debatte führen können und nicht wieder eine Entwicklung verschlafen.”

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Wie Russland den Nachschub an Soldaten für den Krieg organisiert

Kurz nach seinem Überfall auf die Ukraine hatte Präsident Wladimir Putin den Aufbau einer digitalen Datenbank mit Wehrpflichtigen angeordnet. Dann wurde die Sollzahl von Soldatinnen und Soldaten erhöht. Vergangene Woche nun beschloss die Duma mehrere Gesetze, die die staatliche Kontrolle über alle kriegstauglichen Männer massiv ausweiten.

Konkret:

  • Dauerhaft soll die Zahl der Soldatinnen und Soldaten in der russischen Armee auf 1,5 Millionen anwachsen – rund 500.000 mehr als zu Beginn des Krieges
  • Alle Wehrpflichtigen werden künftig in einer Datenbank erfasst, im Alter von 17 Jahren bekommen alle Männer eine Vorladung vor das Militärregistrierbüro (wojenkomat)
  • Vorladungen sollen nun auch digital über ein staatliches Dienstleistungsportal zugesandt werden und müssen nicht mehr persönlich angenommen werden
  • Ausreisen aus Russland nach einer Vorladung sind untersagt
  • Zusätzlich entsteht eine neue Datenbank mit allen Wehrdienstpflichtigen und Reservisten

“Das Ziel dieses Gesetzes ist klar: Die Männer sollen sich in den Militärregistrierungsbüros melden”, sagt Elena Popowa. Sie koordiniert die Arbeit der Organisation “Bewegung der Verweigerer”. Sie berät Wehrpflichtige oder auch aktive Soldaten, die aus Gewissensgründen nicht dienen können oder aus dem Dienst ausscheiden wollen. Im Gespräch mit Table.Media berichtet sie, dass das Telefon nicht stillstehe, seit die neuen Gesetze verabschiedet worden seien. “Es ist nicht ganz so schlimm wie bei der Mobilmachung im vergangenen Herbst, aber es sind mehrere Hundert Anrufe am Tag.”

“Wenn ihr könnt, reist sofort aus”

Dabei hatte Putins Regime mit viel Propaganda und auch inoffiziellen Verboten an linientreue Medien, über Mobilmachungen zu berichten, die Bevölkerung nach der großen Ausreisewelle Hunderttausender junger Menschen im vergangenen Jahr wieder beruhigt. Das ist nun wieder vorbei.

In aller Deutlichkeit fasst der russische Schriftsteller Dmitri Gluchowski seine Sorgen zusammen: “Das ist ein Gesetz über das Recht des Staates, mit einer Mail jeden Beliebigen zum Tode zu verurteilen, ohne Recht auf Widerspruch. (…) Wenn ihr könnt, reist sofort aus.”

Genau das – das Ausreisen – soll aber das neue Gesetz verhindern. Es sieht zudem Strafen für diejenigen vor, die die Vorladungen ignorieren. Russland braucht menschliche Ressourcen für seinen Krieg. Die Zahl der Getöteten oder schwer Verwundeten ist unbekannt, westliche Geheimdienste gehen aber von insgesamt mehr als 220.000 aus. Weder die Rekrutierung in den Gefängnissen, noch die verstärkte Werbekampagne für Zeitsoldaten reichen aus.

Zahl der Wehrpflichtigen im Frühling ist größer als im Vorjahr

Wie viele Armeeangehörige Russland für den Krieg tatsächlich mobilisiert hat, ist unklar. Nach offiziellen Angaben verfügte Russland über knapp eine Million Soldaten und Soldatinnen vor dem Krieg, deren Zahl soll nun auf mehr als 1,5 Millionen steigen.

Im vergangenen Herbst wurden 120.000 Wehrpflichtige eingezogen. Seit dem ersten April und bis Mitte Juli sollen weitere 147.000 zum regulären Wehrpflichtdienst eingezogen werden – mehr als im vergangenen Frühling. Nach der Grundausbildung in den ersten Monaten, versuchen die Vorgesetzten, die jungen Männer als Zeitsoldaten anzuwerben. Dann können sie an die Front. Der Vorschlag des Verteidigungsministers Sergej Schoigu, zusätzlich die Zahl der Reservisten auf 350.000 zu erhöhen, ist aber offenbar erstmal vom Tisch.

Die Gesamtstärke der russischen Truppe in der Ukraine ist unbekannt. Unmittelbar vor dem 24. Februar 2022 sollen 190.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine gestanden haben, hinzu kommen die im besetzten Donbass, auf der Krim und in Belarus. Im vergangenen Herbst mobilisierte Russland für den euphemistisch als “Sondermilitäroperation” bezeichneten Krieg rund 300.000.

Die neuen Gesetze sollen den stetigen Zufluss an neuen Soldaten sichern, ohne offiziell eine neue Mobilmachung im großen Stil auszurufen. Sie hatte nicht nur Hunderttausende ins Ausland getrieben, sondern auch Kritik aus der Wirtschaft laut werden lassen. Der russische Arbeitsmarkt hatte schon vor dem Krieg Personalprobleme.

Kein Widerstand in der Bevölkerung zu erwarten

Die aktuelle Reform der Vorladungen sei aber keine direkte Folge des Krieges, sondern gehe auf Pläne von 2018 zurück, sagt eine weitere Expertin einer anderen, kritischen NGO, die Wehrpflichtige berät. Die Expertin möchte ihren Namen und den Namen der Organisation nicht öffentlich nennen. “Wir werden auch so schon verfolgt”, erläutert sie. Ihrer Meinung nach sei es für die Betroffenen nun wichtig, sich über ihre Rechte zu informieren. Häufig nutzten die Behörden das Unwissen aus. Ein wichtiger und durch die Verfassung garantierter Ausweg sei etwa das Recht auf einen alternativen Dienst.

Als Putin im vergangenen September die “begrenzte Mobilmachung” ausrief, kam es zu kleineren Protesten. Neuen öffentlichen Widerstand erwartet Elena Popowa von der “Bewegung der Verweigerer” nicht. “Nein, es wird keine Proteste geben”, sagte sie. “Die Menschen sind verängstigt.”

Dass das Regime zumindest offiziell keine neue Mobilmachung ausruft, zeigt wohl die Sorge vor einer neuen größeren Auswanderung. Zudem folgten die neuen Gesetze einem einfachen Kalkül, erläutert der russische Journalist Dmitrij Kolesew: “Sehr wahrscheinlich rechnet man damit, dass die Hörigsten den Vorladungen folgen. Und selbst wenn nur 30 Prozent von denen kommen, die die Vorladungen bekommen – das reicht für eine neue Mobilmachung. Man sollte also nicht Teil dieser 30 Prozent sein.”

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News

Mehr Asylanträge von Männern aus Russland

Die Zahl der Asylanträge russischer Staatsbürger in Deutschland steigt stark: Es kommen insgesamt mehr Männer, und auch der Anteil der Altersgruppe 19 bis 30 Jahre steigt. Männer dieses Alters werden derzeit in Russland verstärkt für den Krieg gegen die Ukraine eingezogen.

Aus den neuen Daten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), die Table.Media vorliegen, geht hervor, dass die Zahl der Erstanträge bis Ende des Jahres um ein Vielfaches höher ausfallen könnte als im vergangenen Jahr. Haben im Jahr 2022 insgesamt 2851 Frauen und Männer aus Russland hier einen Asylantrag gestellt, so sind es bis Ende März 2023 bereits 2381 gewesen. Das sind 83 Prozent des gesamten vergangenen Jahres. Auffällig ist, dass der Anteil der Männer deutlich zunimmt.

Schon jetzt mehr Anträge bei 19-bis 30-Jährigen als 2022

Betrug der Anteil der Männer 2022 noch 59 Prozent, so waren es in den ersten drei Monaten dieses Jahres bereits 64 Prozent. Schon jetzt gab es in der Gruppe der 19- bis 30-jährigen russischen Männer und Frauen mehr Asylanträge als 2022. Dies dürfte unmittelbar mit der Mobilmachung in Russland zu tun haben.

Auf Anfrage teilte eine Bamf-Sprecherin mit, dass Deserteure, “die sich an Putins Krieg nicht beteiligen wollen, in Deutschland Asyl beantragen können. Sie erhalten im Regelfall internationalen Schutz.” Wie viele Deserteure solche Anträge gestellt haben, sei jedoch noch nicht ermittelt worden.

Auch die deutsche NGO Connection, die Kriegsdienstverweigerer unterstützt, kennt keinen Asylfall eines desertierten Russen in Deutschland, sagt deren Sprecher Rudi Friedrich. Dagegen erhalte die Organisation “fast täglich Anfragen, weil Asylanträge von russischen Militärdienstentziehern abgelehnt wurden. In der Regel wird in den Bescheiden darauf verwiesen, dass eine Einberufung nicht ,beachtlich wahrscheinlich’ sei”, erläutert Friedrich. “Das halten wir angesichts einer willkürlich und mittels Razzien durchgeführten Mobilisierung, insbesondere im Herbst letzten Jahres, für grob fahrlässig.”

Laut der Bamf-Sprecherin “dauert die Prüfung der Entscheidungspraxis durch das Bamf zu russischen Kriegsdienstverweigerern noch an und soll möglichst zeitnah abgeschlossen werden”. Im vergangenen Jahr rückte Russland auf Platz zehn der wichtigsten Herkunftsländer von Schutzsuchenden in Deutschland auf, wie aus dem neuen Jahresbericht für 2022 hervorgeht. vf

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Sudan: Machtkampf zwischen Generälen eskaliert

Bei schweren Kämpfen zwischen Einheiten der beiden mächtigsten Generäle des Sudans sind bis Dienstagmorgen mehr als hundert Zivilisten getötet worden. Soldaten von Armeechef Abdel Fattah al-Burhan lieferten sich am Montag in verschiedenen Landesteilen den dritten Tag in Folge Gefechte mit Kämpfern des mächtigsten Milizenführers des Landes, Mohammed Hamdan Dagalo, der die Rapid Support Forces (RSF) kommandiert. Großbritannien und die Vereinigten Staaten forderten am Montag ein sofortiges Ende der Kämpfe und eine Rückkehr zu Gesprächen über eine Zivilregierung. 

Beide Konfliktseiten behaupteten am Montag, Kontrolle über die Hauptstadt Khartum erlangt zu haben. Dort kommandieren Burhan wie Dagalo, die 2021 gemeinsam an die Spitze des seitdem regierenden Souveränen Rats gelangt waren, jeweils Zehntausende rivalisierende Einheiten. Dagalo, formal Stellvertreter Burhans, widersetzt sich der Eingliederung seiner Rapid Support Forces (RSF) in die reguläre, von Burhan geführte Armee. Trotz internationaler Forderungen, die Feindseligkeiten zu beenden, hielt der RSF-Oberkommandierende am Montag an seinem Machtanspruch fest. Die Armee setzte Artillerie, Kampfflugzeuge und Panzer ein.

Kämpfe an der Grenze zum Tschad

Der UN-Sondergesandte der Vereinten Nationen für den Sudan, der Deutsche Volker Perthes, forderte die Konfliktparteien am Wochenende zum Einlenken auf. Bereits zuvor setzte das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) seinen Einsatz im Sudan aus, nachdem drei WFP-Mitarbeiter am Wochenende nahe der Grenze zum Tschad getötet worden waren. Auch in der Hafenstadt Port Sudan kam es am Montag zu Kämpfen.

Sudan liegt an der Schnittstelle zwischen Nahem Osten und Subsahara-Afrika, was zu einer intensiven Krisendiplomatie geführt hat, regional angeführt von Afrikanischer Union (AU) und Saudi-Arabien. Außenminister Farhan bin Faisal forderte die beiden rivalisierenden Generäle in Telefonaten auf, “alle Arten militärischer Eskalation” einzustellen.

Israel und Russland involviert

Durch die Präsenz von Söldnern der Gruppe Wagner ist auch Russland in den seit dem Sturz des früheren Präsidenten Omar al-Baschir 2019 und dessen Überstellung an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zwei Jahre später anhaltenden Machtkampf im Sudan involviert. Israel nahm 2020 Beziehungen mit dem damaligen sudanesischen Militärrat auf und wollte eigentlich bis Jahresende ein Friedensabkommen mit Machthaber Burhan schließen.

Am Wochenende nahmen Einheiten der Rapid Support Forces nördlich der Hauptstadt Khartoum zudem mehrere ägyptische Soldaten fest. Das Regime von Militärmachthaber Abdel Fattah al-Sisi in Kairo unterstützt den Vorsitzenden des Souveränen Rats, Burhan, in dem Konflikt. mrb

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Presseschau

The Jamestown – Potential for Conflict Growing in Russian Society: Die Überschrift ist ein wenig irreführend, denn trotz wachsender gesellschaftlicher Probleme in Russland sind die Konflikte bisher nicht sichtbar. Aber der Text liefert eine sehr gute Übersicht dieser Probleme und damit auch Hinweise darauf, welche Werkzeuge der Westen im Umgang mit Russland stärker nutzen sollte.

Blankspot – Armenia’s new reality: When nobody is watching the borders slowly move closer: Wieder gelang es aserbaidschanischen Truppen vergangene Woche, die Grenze zwischen Aserbaidschan und Armenien ein klein wenig weiter gen Westen zu verschieben und somit wieder ein Stückchen mehr von Armeniens Staatsgebiet zu besetzen.

Foreign Affairs – Kagame’s Revenge (Paywall): Dass Ruanda die M23-Rebellen im Ostkongo finanziell unterstützt, war ein offenes Geheimnis, bis ein UN-Report das im Dezember 2022 belegte. Der Longread erklärt die Hintergründe des Konflikts im Osten der Demokratischen Republik Kongo, wer von wem profitiert und welche Interessen europäische Länder wie das Vereinigte Königreich und Frankreich in Zentralafrika haben. Ruandas Präsident Paul Kagame hat gute Drähte nach Europa.

The Washington Post – He’s from a military family – and allegedly leaked U.S. secrets: Das “gemeinsame Interesse an Glock-Handfeuerwaffen und Katholizismus” habe sie zu Freunden gemacht, sagt ein junger Mann, mit dem die Washington Post über Jack Teixeira gesprochen hat. Teixeira soll sensible Militär-Daten geleakt haben. Das Porträt über den 21-Jährigen verrät etwas darüber, wie junge Einzelgänger zu einer Gefahr für die nationale Sicherheit werden können und über welches Netzwerk der junge, unerfahrene Mitarbeiter Zugriff auf die hochsensiblen Daten hatte.

Podcast: Agentengesetz in Georgien – Demokratie am Scheideweg: Die georgische Regierung hat das “Agenten-Gesetz”, das die Arbeit von NGOs erheblich beeinträchtigt hätte, nach Massenprotesten gestoppt. Allerdings hängen mittlerweile Plakate von NGO-Mitarbeitern in U-Bahn-Stationen, um sie öffentlich zu diffamieren. Thomas Franke berichtet aus Georgien und liefert einen Eindruck, wie die Stimmung in Tiflis ist. Der NGO-Sektor sei in Georgien stärker geworden, sagt eine Aktivistin. 19 Minuten.

Empfehlungen aus der SZ

So wappnet sich der Geheimdienst gegen Spione: Der BND will das Risiko von Spionage im deutschen Geheimdienstapparat minimieren – und verschärft die Sicherheitsvorkehrungen. Das vielleicht gravierendste Problem ist damit allerdings noch nicht angegangen. Mehr.

Wie eine Chat-Gruppe Lauterbachs Entführung plante: Es gab schon einige, die die Bundesrepublik in Flammen sehen wollten. Aber die Männer und Frauen, die monatelang auf Telegram die Entführung von Karl Lauterbach planten, hätten offenbar auch kein Problem damit gehabt, wenn dabei Menschen sterben. Chats aus einer toxischen Parallelwelt. Mehr.

  • Bundesnachrichtendienst

Security.Table Redaktion

SECURITY.TABLE REDAKTION

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    Liebe Leserin, lieber Leser,

    mit vielen Learnings im Gepäck kommt Boris Pistorius von seiner Afrika-Reise zurück, seiner ersten als Verteidigungsminister. Das wohl deutlichste: der erhobene Zeigefinger, und damit auch die betont werteorientierte Außenpolitik der Deutschen, kommt nicht gut an in Mali. Dass die Regierung in Bamako der Bundeswehr zuletzt das Leben schwer gemacht hat, liegt auch daran, dass die Kommunikation der Deutschen “wenig angepasst” war, wie Horand Knaup in seiner Analyse nach der Reise schreibt.

    Zehn Jahre – solange hat die Debatte um die Bewaffnung von Drohnen gedauert. Bei der Antwort auf die Frage, worüber Künstliche Intelligenz (KI) in Waffensystemen selbständig entscheiden darf, hat Deutschland keinesfalls so viel Zeit. Die Entwicklungen schreiten rasant voran, zum einen bei der KI selbst, zum anderen bei Waffensystemen wie dem Future Combat Air System, das sich bereits jetzt zu wesentlichen Teilen auf KI stützt. Eine breite Debatte, wie ethische Normen bei der Steuerung weitgehend autonomer Waffensysteme gewahrt werden können, fordern deshalb Fachleute und Politiker, wie Nana Brink schreibt.

    Für kriegstaugliche Männer in Russland wird es immer schwieriger, sich der Wehrpflicht zu entziehen. Zum 17. Geburtstag erhalten sie die Vorladung vor das “wojenkomat”, das Militärregistrierbüro, nun auch digital. Ab dem Tag dürfen sie nicht mehr ins Ausland ausreisen. Lesen Sie in der Analyse von Viktor Funk, warum für viele der Männer die NGO “Bewegung der Verweigerer” von Elena Popowa die letzte Rettung ist.

    Ihre
    Lisa-Martina Klein
    Bild von Lisa-Martina  Klein

    Analyse

    Europäischer Druck hilft in der Sahelzone wenig

    Verteidigungsminister Pistorius in Mali
    Minister Pistorius bei der Truppe in Mali: Die Bundeswehr ist dort Teil der gefährlichen UN-Mission Minusma.

    Der Bundesverteidigungsminister hatte die Schlagzeilen deutscher Blätter im Hinterkopf, als er am vergangenen Donnerstag in Mali eintraf. “Schikanen gegen die Bundeswehr in Mali” oder “Mali setzt voll auf den Kreml”. Schlagzeilen, die das Bild eines Putschistenregimes skizzieren, das vom Westen nichts mehr wissen will und sich Wladimir Putin unterworfen hat. Das den Truppen der Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen (Minusma), den 12.000 Männern und Frauen unter UN-Mandat, vor allem mit Schikanen begegnet. Das froh ist, sich erst des französischen Kontingents und dann auch der Deutschen entledigt zu haben.

    Die Eindrücke, die Boris Pistorius und Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze mit nach Hause genommen haben, waren dann doch ein bisschen differenzierter. Erst bat Staatspräsident Assimi Goïta – was ursprünglich nicht geplant war – um ein Gespräch mit den beiden, und offensichtlich ließ der Oberst wenig Zweifel daran, dass er die Zusammenarbeit mit den Deutschen gerne fortsetzen würde. “Er hat das Signal verstanden, dass wir zu zweit gekommen sind”, berichtete Pistorius später. Und: “Freude über unseren Abzug habe ich in keinem der Gespräche vernommen.”

    Aber erst einmal bleibt es dabei: Die deutschen Soldaten werden Mali und insbesondere den Standort Gao in den nächsten zwölf Monaten verlassen. Sie werden den allergrößten Teil ihres Materials in rund 1.500 Seecontainern nach Niamey im Niger schaffen und von dort aus nach Hause fliegen. Kein westliches Land wird dann Minusma noch unterstützen. Wie es überhaupt mit dem Mandat weiter geht, ist offen.

    Minusma alles andere als eine Erfolgsgeschichte

    Klar ist: Die malische Regierung hat es den Deutschen nicht leicht gemacht. Sie hat Überflüge verboten, Anträge unbearbeitet liegen gelassen, sie hat seit vergangenem Herbst Drohnenflüge untersagt. Und ohne Luftüberwachung sind die deutschen Soldaten – wie andere auch – für Terrorgruppen ein leichtes Ziel. Denn man muss wissen: Die Minusma-Mission ist eine der gefährlichsten in der UN-Geschichte. Weit über 200 Blauhelme sind seit ihrem Beginn 2013 ums Leben gekommen.

    Nicht nur deshalb ist das Unternehmen Minusma alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Stabilisieren konnte es Mali nicht. Im Gegenteil, der Schrecken der Dschihadisten und Kriminellen dehnte sich immer weiter aus. Demokratie und Wahlen sind den Menschen in Mali wichtig, vielleicht auch ihren Regenten – noch wichtiger ist ihnen aber Sicherheit. Und ein Ende des Terrors. Und deshalb könnten sich auch die versprochenen Wahlen noch hinziehen.

    Warum aber die Zusammenarbeit mit den Russen? Weil Minusma versagt habe, heißt es bei der malischen Regierung. Auch dass als Leiter der Einheit erst ein Mann aus dem Tschad, später dann aus Mauretanien ernannt wurden, habe die Mission und die Einheimischen nicht wirklich zusammen gebracht. Außerdem habe niemand die Waffen und Unterstützung liefern wollen, die es im Kampf gegen die Terroristen und Banden brauche. Auch und vor allem die Europäer nicht. Deshalb die Hinwendung zu Moskau. Wo ohnehin einige der Generäle ihre Ausbildung durchlaufen haben. Wer ums Überleben kämpfe, greife nach jedem Strohhalm, ließen die Obristen ihre deutschen Gäste wissen.

    Im Schulterschluss mit Frankreich? In Afrika wenig zielführend

    Zwei weitere Erkenntnisse nahm Pistorius mit nach Hause: Die Franzosen sind ob ihrer angeblichen Arroganz, der vermeintlich rücksichtslosen Verfolgung eigener Interessen und ihres selbstherrlichen Auftretens in Westafrika geradezu verhasst – und in Mali ganz besonders. Zwar sind die Franzosen aus Gao abgezogen, aber im Minusma-Stab sitzen ihre Offiziere immer noch. Was bei den Einheimischen tiefes Misstrauen auslöst. Lange haben die Deutschen versucht, sich trotz nicht immer kongruenter Interessen einigermaßen mit Frankreich abzustimmen. In Westafrika ist das derzeit eher kontraproduktiv.

    Derart in die Defensive geraten, versucht Emmanuel Macron gegenzusteuern. Im Juni lädt er in Paris zu einem Frankreich-China-Afrikagipfel. Vordergründig soll es um Klimafragen gehen. In Wahrheit ist es der fast schon verzweifelte Versuch, verlorenen Boden auf dem Nachbarkontinent zurückzuerobern.

    Werteorientierte Außenpolitik kommt nicht gut an

    Zugleich ist das Image von Bundeswehr und deutscher Entwicklungszusammenarbeit in Mali immer noch positiv. Mehr noch: Goïta und seine Mitstreiter würden die Deutschen mit Soldaten und Entwicklungsprojekten gerne im Land behalten. Unabhängig von Franzosen und Minusma. Das transportierten die Gastgeber durchaus glaubwürdig. Und möglicherweise dürfen auch die Drohnen in Kürze schon wieder aufsteigen.

    Offensichtlich wurde aber, und das nicht zum ersten Mal: Auch die Attitüde der Deutschen gegenüber den Ländern des Südens ist ausbaufähig. Politischer Druck bringt gar nichts. Der erhobene Zeigefinger, und das gilt auch für eine betont werteorientierte Außenpolitik, kommt nicht gut an. Und es hilft auch nicht weiter, wie geschehen, die malischen Gastgeber streng zu befragen, warum sie im UN-Sicherheitsrat Wladimir Putin unterstützt haben.

    Das betrifft auch die Bundeswehr. Dass die deutschen Überwachungsdrohnen in Gao nicht mehr fliegen durften und kaum noch Überflugrechte gab, hatte viel mit der Überforderung der malischen Administration zu tun, mitunter offenbar aber auch mit kulturellen Unterschieden. Oder anders: Mit der bisweilen wenig angepassten Kommunikation auf Minusma-Seite. Deutsche Soldaten waren daran offenbar nicht immer unbeteiligt.

    Die nationale Souveränität ist unverhandelbar geworden

    Die Länder des Globalen Südens mögen noch so arm sein, noch so unfähig, ihre Bevölkerung zu ernähren oder zu schützen, noch so unzulänglich in ihren Strukturen; aber die nationale Souveränität ist ihnen unverhandelbar geworden. In Brasilien genauso wie in Indien – oder in Mali.

    In den sozialen Medien kursiert seit kurzem ein schon älteres Video von Norbert Lammert als Vorsitzendem der Konrad-Adenauer-Stiftung, der dem namibischen Präsidenten Hage Geingob die chinesische Präsenz in seinem Land vorhält. Der Präsident reagiert schnell und entschieden: “Was reden Sie da? Wir brauchen Ihnen nicht leidzutun. Die Chinesen behandeln uns nicht wie ihr Deutschen …”

    Boris Pistorius sprach zum ersten Mal seit Amtsbeginn in Afrika als Verteidigungsminister vor. Und so war der Besuch in Niamey und Bamako vor allem eine Lernerfahrung: Die nationale Souveränität ist den Ländern des Südens ein hohes Gut. Und entweder es gelingt den Ländern des Nordens, dieses neue Selbstbewusstsein in ihre Überlegungen und Entscheidungen einzubeziehen – oder sie verlieren den Zugang.

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    KI in Waffensystemen: “Deutschland darf Entwicklung nicht verschlafen”

    Selten ist so viel über Künstliche Intelligenz (KI) gesprochen worden, wie in den vergangenen Wochen. In einem Offenen Brief forderten kürzlich rund 1000 Experten, unter ihnen Elon Musk, eine Entwicklungspause. Diese sollte genutzt werden, um ein Regelwerk für den Einsatz von KI zu schaffen.

    Meist diskutiertes Beispiel ist das generative KI-System GPT-4, das eigenständig Fragen beantworten und Texte formulieren kann. Bislang findet in Deutschland jedoch keine breite Debatte darüber statt, was KI der dritten Generation für die Entwicklung von Waffensystemen bedeuten kann.

    Frank Sauer, der an der Bundeswehruniversität München zum Einsatz von KI im Militär forscht, erklärt gegenüber Table.Media: “Wir müssen in Deutschland endlich eine ergebnisorientierte Diskussion führen.” Anders als in den USA oder Frankreich, die längst KI-Strategien für Waffensysteme vorgelegt haben, gibt es in Deutschland keine kohärente Vorgehensweise.

    Für den Verteidigungs-Experten der FDP, Marcus Faber, wäre eine Debatte über KI in Waffensystemen im Parlament “sinnvoll, ähnlich wie wir sie über die Bewaffnung von Drohnen geführt haben, zum Beispiel im Rahmen einer Anhörung im Verteidigungsausschuss”.

    Keine Zeit für zehnjährige Debatte

    Viel Zeit bleibt angesichts der rasanten Entwicklung auf dem Gebiet der KI nicht. Politikwissenschaftler Sauer warnt: “Die Debatte über die Bewaffnung von Drohnen hat zehn Jahre gedauert. Diese Zeit haben wir nicht.” Mit der Entwicklung des Future Combat Air System (FCAS), dem größten europäischen Rüstungsprojekt mit deutscher und französischer Beteiligung, wird die Frage nach der Rolle von KI in den Waffensystemen der Zukunft virulent.

    Autonome Waffensysteme (AWS) – und damit der Einsatz von KI – sind längst Bestandteil moderner Armeen, auch der Bundeswehr. Ohne “Autonomie in Waffensystemen”, so der wissenschaftlich korrekte Begriff, würde das Flugabwehrraketensystem Patriot oder das Waffenleitsystem der Fregatte 125 nicht funktionieren. Die AWS übernehmen in Maschinengeschwindigkeit sowohl Zielerfassung wie Verteidigung. Noch allerdings entscheidet ein Mensch, wann und in welchem Umfang die AWS eingesetzt werden.

    Rolle des Menschen im Vordergrund

    Das könnte sich ändern, wenn KI die “meaningful human control” übernimmt. Die umgangssprachlich als “Killerroboter” bezeichneten AWS gelten als die Schreckgespenster künftiger Schlachtfelder. In dem Science-Fiction-Video “Slaughterbots” aus dem Jahre 2017 führt ein Schwarm autonomer und vernetzter Drohnen Angriffe auf Studenten und Politiker aus. Der Videoclip, den Kritiker von AWS produziert haben, bündelt die Ängste vor Waffen, die sich jeder menschlichen Kontrolle entziehen.

    Die Diskussion über die Existenz solcher Waffensysteme hält Militärexperte Sauer für nicht zielführend: “Die zentrale Frage lautet vielmehr, insbesondere mit Blick auf das Ausführen der kritischen Funktion der Zielauswahl und -bekämpfung: Wer oder was – Mensch oder Maschine – übernimmt was, wann und wo? Kurz: Der Fokus muss weg von Waffenkategorien und hin zur Rolle des Menschen.”

    Keine nationale Strategie

    Bislang gibt es in Deutschland keine offizielle Strategie, die eine nationale Position im Umgang mit AWS definieren würde. Im Koalitionsvertrag heißt es lediglich: “Letale autonome Waffensysteme, die der Verfügung des Menschen entzogen sind, lehnen wir ab.”

    Auch in der Bundeswehr gibt es kein umfassendes, verbindliches Papier, das die Beziehung Mensch-Maschine definiert. Das Amt für Heeresführung hat 2019 das Konzeptpapier “Künstliche Intelligenz in den Landstreitkräften” herausgegeben. Darin steht: “Der Mensch muss die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod behalten. Es gilt das Prinzip wirksamer menschlicher Kontrolle.” Was daraus resultiert, ist jedoch unklar.

    Deutschland muss KI-Strategie entwickeln

    Dabei erfordert zum Beispiel die Entwicklung eines so hochkomplexes “system of systems” wie FCAS dringend klare Anforderungsprofile. Zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergonomie hat Airbus Defence and Space, einer der Partner von FCAS, eine AG Technikverantwortung gegründet.

    Ihr gehören, neben Industrie und Bundeswehr, vor allem Mitglieder der Zivilgesellschaft wie Theologen und Politikwissenschaftlerinnen an. Sie diskutieren die Frage: Wie kann KI ethischen Normen gerecht werden? Eine Frage, die auch die Politik beantworten müsste.

    Experten wie Sauer von der Bundeswehruniversität fordern schon lange eine KI-Strategie: “Als größtes europäisches Land mit steigenden Militärausgaben sollte Deutschland im Sinne der Mitgestaltung der regulatorischen Landschaft bei AWS aktiver und selbstbewusster werden.” In Frankreich beispielsweise hat eine Ethikkommission Leitlinien für das Verteidigungsministerium entwickelt.

    Der CDU-Sicherheitspolitiker Markus Grübel, Mitglied des Verteidigungsausschusses, sieht dabei die Politik in der Pflicht: “Vielleicht gelingt es uns anders als bei der zehnjährigen Diskussion über die Bewaffnung von Drohnen, dass wir eine rationale Debatte führen können und nicht wieder eine Entwicklung verschlafen.”

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    Wie Russland den Nachschub an Soldaten für den Krieg organisiert

    Kurz nach seinem Überfall auf die Ukraine hatte Präsident Wladimir Putin den Aufbau einer digitalen Datenbank mit Wehrpflichtigen angeordnet. Dann wurde die Sollzahl von Soldatinnen und Soldaten erhöht. Vergangene Woche nun beschloss die Duma mehrere Gesetze, die die staatliche Kontrolle über alle kriegstauglichen Männer massiv ausweiten.

    Konkret:

    • Dauerhaft soll die Zahl der Soldatinnen und Soldaten in der russischen Armee auf 1,5 Millionen anwachsen – rund 500.000 mehr als zu Beginn des Krieges
    • Alle Wehrpflichtigen werden künftig in einer Datenbank erfasst, im Alter von 17 Jahren bekommen alle Männer eine Vorladung vor das Militärregistrierbüro (wojenkomat)
    • Vorladungen sollen nun auch digital über ein staatliches Dienstleistungsportal zugesandt werden und müssen nicht mehr persönlich angenommen werden
    • Ausreisen aus Russland nach einer Vorladung sind untersagt
    • Zusätzlich entsteht eine neue Datenbank mit allen Wehrdienstpflichtigen und Reservisten

    “Das Ziel dieses Gesetzes ist klar: Die Männer sollen sich in den Militärregistrierungsbüros melden”, sagt Elena Popowa. Sie koordiniert die Arbeit der Organisation “Bewegung der Verweigerer”. Sie berät Wehrpflichtige oder auch aktive Soldaten, die aus Gewissensgründen nicht dienen können oder aus dem Dienst ausscheiden wollen. Im Gespräch mit Table.Media berichtet sie, dass das Telefon nicht stillstehe, seit die neuen Gesetze verabschiedet worden seien. “Es ist nicht ganz so schlimm wie bei der Mobilmachung im vergangenen Herbst, aber es sind mehrere Hundert Anrufe am Tag.”

    “Wenn ihr könnt, reist sofort aus”

    Dabei hatte Putins Regime mit viel Propaganda und auch inoffiziellen Verboten an linientreue Medien, über Mobilmachungen zu berichten, die Bevölkerung nach der großen Ausreisewelle Hunderttausender junger Menschen im vergangenen Jahr wieder beruhigt. Das ist nun wieder vorbei.

    In aller Deutlichkeit fasst der russische Schriftsteller Dmitri Gluchowski seine Sorgen zusammen: “Das ist ein Gesetz über das Recht des Staates, mit einer Mail jeden Beliebigen zum Tode zu verurteilen, ohne Recht auf Widerspruch. (…) Wenn ihr könnt, reist sofort aus.”

    Genau das – das Ausreisen – soll aber das neue Gesetz verhindern. Es sieht zudem Strafen für diejenigen vor, die die Vorladungen ignorieren. Russland braucht menschliche Ressourcen für seinen Krieg. Die Zahl der Getöteten oder schwer Verwundeten ist unbekannt, westliche Geheimdienste gehen aber von insgesamt mehr als 220.000 aus. Weder die Rekrutierung in den Gefängnissen, noch die verstärkte Werbekampagne für Zeitsoldaten reichen aus.

    Zahl der Wehrpflichtigen im Frühling ist größer als im Vorjahr

    Wie viele Armeeangehörige Russland für den Krieg tatsächlich mobilisiert hat, ist unklar. Nach offiziellen Angaben verfügte Russland über knapp eine Million Soldaten und Soldatinnen vor dem Krieg, deren Zahl soll nun auf mehr als 1,5 Millionen steigen.

    Im vergangenen Herbst wurden 120.000 Wehrpflichtige eingezogen. Seit dem ersten April und bis Mitte Juli sollen weitere 147.000 zum regulären Wehrpflichtdienst eingezogen werden – mehr als im vergangenen Frühling. Nach der Grundausbildung in den ersten Monaten, versuchen die Vorgesetzten, die jungen Männer als Zeitsoldaten anzuwerben. Dann können sie an die Front. Der Vorschlag des Verteidigungsministers Sergej Schoigu, zusätzlich die Zahl der Reservisten auf 350.000 zu erhöhen, ist aber offenbar erstmal vom Tisch.

    Die Gesamtstärke der russischen Truppe in der Ukraine ist unbekannt. Unmittelbar vor dem 24. Februar 2022 sollen 190.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine gestanden haben, hinzu kommen die im besetzten Donbass, auf der Krim und in Belarus. Im vergangenen Herbst mobilisierte Russland für den euphemistisch als “Sondermilitäroperation” bezeichneten Krieg rund 300.000.

    Die neuen Gesetze sollen den stetigen Zufluss an neuen Soldaten sichern, ohne offiziell eine neue Mobilmachung im großen Stil auszurufen. Sie hatte nicht nur Hunderttausende ins Ausland getrieben, sondern auch Kritik aus der Wirtschaft laut werden lassen. Der russische Arbeitsmarkt hatte schon vor dem Krieg Personalprobleme.

    Kein Widerstand in der Bevölkerung zu erwarten

    Die aktuelle Reform der Vorladungen sei aber keine direkte Folge des Krieges, sondern gehe auf Pläne von 2018 zurück, sagt eine weitere Expertin einer anderen, kritischen NGO, die Wehrpflichtige berät. Die Expertin möchte ihren Namen und den Namen der Organisation nicht öffentlich nennen. “Wir werden auch so schon verfolgt”, erläutert sie. Ihrer Meinung nach sei es für die Betroffenen nun wichtig, sich über ihre Rechte zu informieren. Häufig nutzten die Behörden das Unwissen aus. Ein wichtiger und durch die Verfassung garantierter Ausweg sei etwa das Recht auf einen alternativen Dienst.

    Als Putin im vergangenen September die “begrenzte Mobilmachung” ausrief, kam es zu kleineren Protesten. Neuen öffentlichen Widerstand erwartet Elena Popowa von der “Bewegung der Verweigerer” nicht. “Nein, es wird keine Proteste geben”, sagte sie. “Die Menschen sind verängstigt.”

    Dass das Regime zumindest offiziell keine neue Mobilmachung ausruft, zeigt wohl die Sorge vor einer neuen größeren Auswanderung. Zudem folgten die neuen Gesetze einem einfachen Kalkül, erläutert der russische Journalist Dmitrij Kolesew: “Sehr wahrscheinlich rechnet man damit, dass die Hörigsten den Vorladungen folgen. Und selbst wenn nur 30 Prozent von denen kommen, die die Vorladungen bekommen – das reicht für eine neue Mobilmachung. Man sollte also nicht Teil dieser 30 Prozent sein.”

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    Mehr Asylanträge von Männern aus Russland

    Die Zahl der Asylanträge russischer Staatsbürger in Deutschland steigt stark: Es kommen insgesamt mehr Männer, und auch der Anteil der Altersgruppe 19 bis 30 Jahre steigt. Männer dieses Alters werden derzeit in Russland verstärkt für den Krieg gegen die Ukraine eingezogen.

    Aus den neuen Daten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), die Table.Media vorliegen, geht hervor, dass die Zahl der Erstanträge bis Ende des Jahres um ein Vielfaches höher ausfallen könnte als im vergangenen Jahr. Haben im Jahr 2022 insgesamt 2851 Frauen und Männer aus Russland hier einen Asylantrag gestellt, so sind es bis Ende März 2023 bereits 2381 gewesen. Das sind 83 Prozent des gesamten vergangenen Jahres. Auffällig ist, dass der Anteil der Männer deutlich zunimmt.

    Schon jetzt mehr Anträge bei 19-bis 30-Jährigen als 2022

    Betrug der Anteil der Männer 2022 noch 59 Prozent, so waren es in den ersten drei Monaten dieses Jahres bereits 64 Prozent. Schon jetzt gab es in der Gruppe der 19- bis 30-jährigen russischen Männer und Frauen mehr Asylanträge als 2022. Dies dürfte unmittelbar mit der Mobilmachung in Russland zu tun haben.

    Auf Anfrage teilte eine Bamf-Sprecherin mit, dass Deserteure, “die sich an Putins Krieg nicht beteiligen wollen, in Deutschland Asyl beantragen können. Sie erhalten im Regelfall internationalen Schutz.” Wie viele Deserteure solche Anträge gestellt haben, sei jedoch noch nicht ermittelt worden.

    Auch die deutsche NGO Connection, die Kriegsdienstverweigerer unterstützt, kennt keinen Asylfall eines desertierten Russen in Deutschland, sagt deren Sprecher Rudi Friedrich. Dagegen erhalte die Organisation “fast täglich Anfragen, weil Asylanträge von russischen Militärdienstentziehern abgelehnt wurden. In der Regel wird in den Bescheiden darauf verwiesen, dass eine Einberufung nicht ,beachtlich wahrscheinlich’ sei”, erläutert Friedrich. “Das halten wir angesichts einer willkürlich und mittels Razzien durchgeführten Mobilisierung, insbesondere im Herbst letzten Jahres, für grob fahrlässig.”

    Laut der Bamf-Sprecherin “dauert die Prüfung der Entscheidungspraxis durch das Bamf zu russischen Kriegsdienstverweigerern noch an und soll möglichst zeitnah abgeschlossen werden”. Im vergangenen Jahr rückte Russland auf Platz zehn der wichtigsten Herkunftsländer von Schutzsuchenden in Deutschland auf, wie aus dem neuen Jahresbericht für 2022 hervorgeht. vf

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    Sudan: Machtkampf zwischen Generälen eskaliert

    Bei schweren Kämpfen zwischen Einheiten der beiden mächtigsten Generäle des Sudans sind bis Dienstagmorgen mehr als hundert Zivilisten getötet worden. Soldaten von Armeechef Abdel Fattah al-Burhan lieferten sich am Montag in verschiedenen Landesteilen den dritten Tag in Folge Gefechte mit Kämpfern des mächtigsten Milizenführers des Landes, Mohammed Hamdan Dagalo, der die Rapid Support Forces (RSF) kommandiert. Großbritannien und die Vereinigten Staaten forderten am Montag ein sofortiges Ende der Kämpfe und eine Rückkehr zu Gesprächen über eine Zivilregierung. 

    Beide Konfliktseiten behaupteten am Montag, Kontrolle über die Hauptstadt Khartum erlangt zu haben. Dort kommandieren Burhan wie Dagalo, die 2021 gemeinsam an die Spitze des seitdem regierenden Souveränen Rats gelangt waren, jeweils Zehntausende rivalisierende Einheiten. Dagalo, formal Stellvertreter Burhans, widersetzt sich der Eingliederung seiner Rapid Support Forces (RSF) in die reguläre, von Burhan geführte Armee. Trotz internationaler Forderungen, die Feindseligkeiten zu beenden, hielt der RSF-Oberkommandierende am Montag an seinem Machtanspruch fest. Die Armee setzte Artillerie, Kampfflugzeuge und Panzer ein.

    Kämpfe an der Grenze zum Tschad

    Der UN-Sondergesandte der Vereinten Nationen für den Sudan, der Deutsche Volker Perthes, forderte die Konfliktparteien am Wochenende zum Einlenken auf. Bereits zuvor setzte das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) seinen Einsatz im Sudan aus, nachdem drei WFP-Mitarbeiter am Wochenende nahe der Grenze zum Tschad getötet worden waren. Auch in der Hafenstadt Port Sudan kam es am Montag zu Kämpfen.

    Sudan liegt an der Schnittstelle zwischen Nahem Osten und Subsahara-Afrika, was zu einer intensiven Krisendiplomatie geführt hat, regional angeführt von Afrikanischer Union (AU) und Saudi-Arabien. Außenminister Farhan bin Faisal forderte die beiden rivalisierenden Generäle in Telefonaten auf, “alle Arten militärischer Eskalation” einzustellen.

    Israel und Russland involviert

    Durch die Präsenz von Söldnern der Gruppe Wagner ist auch Russland in den seit dem Sturz des früheren Präsidenten Omar al-Baschir 2019 und dessen Überstellung an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zwei Jahre später anhaltenden Machtkampf im Sudan involviert. Israel nahm 2020 Beziehungen mit dem damaligen sudanesischen Militärrat auf und wollte eigentlich bis Jahresende ein Friedensabkommen mit Machthaber Burhan schließen.

    Am Wochenende nahmen Einheiten der Rapid Support Forces nördlich der Hauptstadt Khartoum zudem mehrere ägyptische Soldaten fest. Das Regime von Militärmachthaber Abdel Fattah al-Sisi in Kairo unterstützt den Vorsitzenden des Souveränen Rats, Burhan, in dem Konflikt. mrb

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    Presseschau

    The Jamestown – Potential for Conflict Growing in Russian Society: Die Überschrift ist ein wenig irreführend, denn trotz wachsender gesellschaftlicher Probleme in Russland sind die Konflikte bisher nicht sichtbar. Aber der Text liefert eine sehr gute Übersicht dieser Probleme und damit auch Hinweise darauf, welche Werkzeuge der Westen im Umgang mit Russland stärker nutzen sollte.

    Blankspot – Armenia’s new reality: When nobody is watching the borders slowly move closer: Wieder gelang es aserbaidschanischen Truppen vergangene Woche, die Grenze zwischen Aserbaidschan und Armenien ein klein wenig weiter gen Westen zu verschieben und somit wieder ein Stückchen mehr von Armeniens Staatsgebiet zu besetzen.

    Foreign Affairs – Kagame’s Revenge (Paywall): Dass Ruanda die M23-Rebellen im Ostkongo finanziell unterstützt, war ein offenes Geheimnis, bis ein UN-Report das im Dezember 2022 belegte. Der Longread erklärt die Hintergründe des Konflikts im Osten der Demokratischen Republik Kongo, wer von wem profitiert und welche Interessen europäische Länder wie das Vereinigte Königreich und Frankreich in Zentralafrika haben. Ruandas Präsident Paul Kagame hat gute Drähte nach Europa.

    The Washington Post – He’s from a military family – and allegedly leaked U.S. secrets: Das “gemeinsame Interesse an Glock-Handfeuerwaffen und Katholizismus” habe sie zu Freunden gemacht, sagt ein junger Mann, mit dem die Washington Post über Jack Teixeira gesprochen hat. Teixeira soll sensible Militär-Daten geleakt haben. Das Porträt über den 21-Jährigen verrät etwas darüber, wie junge Einzelgänger zu einer Gefahr für die nationale Sicherheit werden können und über welches Netzwerk der junge, unerfahrene Mitarbeiter Zugriff auf die hochsensiblen Daten hatte.

    Podcast: Agentengesetz in Georgien – Demokratie am Scheideweg: Die georgische Regierung hat das “Agenten-Gesetz”, das die Arbeit von NGOs erheblich beeinträchtigt hätte, nach Massenprotesten gestoppt. Allerdings hängen mittlerweile Plakate von NGO-Mitarbeitern in U-Bahn-Stationen, um sie öffentlich zu diffamieren. Thomas Franke berichtet aus Georgien und liefert einen Eindruck, wie die Stimmung in Tiflis ist. Der NGO-Sektor sei in Georgien stärker geworden, sagt eine Aktivistin. 19 Minuten.

    Empfehlungen aus der SZ

    So wappnet sich der Geheimdienst gegen Spione: Der BND will das Risiko von Spionage im deutschen Geheimdienstapparat minimieren – und verschärft die Sicherheitsvorkehrungen. Das vielleicht gravierendste Problem ist damit allerdings noch nicht angegangen. Mehr.

    Wie eine Chat-Gruppe Lauterbachs Entführung plante: Es gab schon einige, die die Bundesrepublik in Flammen sehen wollten. Aber die Männer und Frauen, die monatelang auf Telegram die Entführung von Karl Lauterbach planten, hätten offenbar auch kein Problem damit gehabt, wenn dabei Menschen sterben. Chats aus einer toxischen Parallelwelt. Mehr.

    • Bundesnachrichtendienst

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