14 Sanktionspakete gegen Russland, wenig Wirkung. So lassen sich die Einschätzungen von vier ausgewiesenen Experten für die russische Wirtschaft zusammenfassen, die Viktor Funk gesammelt hat. Entstanden ist ein Überblick darüber, welche Sanktionen wirken und welche dem Westen sogar selbst schaden.
Im Kriegsfall kollabiert unser Gesundheitssystem. Das muss man aus den Aussagen von Christian Reuter, dem Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes im Gespräch mit Lisa-Martina Klein lesen. Und er macht der Bundespolitik schwere Vorwürfe: “Wir haben im Bevölkerungsschutz kein Erkenntnisproblem, wir haben ein politisches Umsetzungsproblem”, sagt er.
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Einfach weiter machen wie bisher – das bietet sich bei der Sanktionspolitik des Westens gegen Russland nicht an. Das wird aus den fachlichen Einschätzungen deutlich, die Table.Briefings eingeholt hat. Das Regime Wladimir Putins passt sich schnell an. Die russische Zentralbank hat am Donnerstag ihre Prognose bis 2027 veröffentlicht und geht von weiterem Wirtschaftswachstum aus: bis zu vier Prozent. Der Westen muss also nachjustieren und die eigenen Nachteile prüfen, das wird aus der Befragung von Forschenden und Interessensvertretern der deutschen Wirtschaft deutlich.
Michael Harms, Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft:
Alle Indikatoren deuten – bei aller Vorsicht vor den offiziellen Zahlen – auf weiterhin robustes Wachstum in Russland hin. Dazu tragen die hohen Staatsausgaben für den Krieg und die Rüstungsproduktion bei, aber auch der private Konsum, der durch steigende Reallöhne infolge der Arbeitskräfteknappheit und die hohen Soldzahlungen für das Militär angekurbelt wird. Dazu kommt der anhaltend große Exportüberschuss. Das alles hält die russische Kriegswirtschaft am Laufen. Westliche Analysten rechnen für 2024 erneut mit einem Wachstum von über drei Prozent. Ohne Folgen bleiben Krieg und Sanktionen aber nicht und dürften vor allem langfristig ihre Wirkung entfalten, weil sie den Zugang Russlands zu westlicher Technologie erschweren und verteuern.
Deutscher Spezialist für russische Wirtschaft in Moskau:
Angesichts sehr harter Sanktionen schlägt sich Russland seit mehr als zwei Jahren überraschend gut. Die Wirtschaft ist nicht eingebrochen, sondern wächst kräftig. Das feiern die russischen Staatsmedien euphorisch. Man hat im Westen unterschätzt, dass die russische Wirtschaft aus eigener Kraft wachsen kann, auch wenn ein beträchtlicher Teil des Wachstums sicher auf Kriegswirtschaft beruht. Und man hat wohl die Reaktion des Globalen Südens falsch eingeschätzt. Insgesamt hat die Anziehungs- und Durchsetzungskraft des Westens abgenommen. Ein gutes Beispiel dafür ist Saudi-Arabien; vor 30 Jahren hätte Washington auf Riad mehr Einfluss gehabt.
Alexandra Prokopenko, Wissenschaftlerin bei Carnegie Endowment for International Peace, Berlin:
Die russische Wirtschaft ist weiterhin überhitzt. Wir beobachten einen leichten Rückgang bei neuen Krediten, die Inflation ist zudem weiterhin sehr hoch trotz eines zweistelligen Leitzinses seit mehr als einem halben Jahr. Die Wirtschaft wird hauptsächlich durch Ausgaben für den Krieg und den Rüstungssektor gestützt, sowie durch Finanzsanktionen, so paradox es klingt. Die Sanktionen sperren das Kapital in Russland ein, und so arbeitet dieses Geld dann zugunsten der Wirtschaft im Land. Auch der Ölpreis hilft dem Staatsbudget bisher. Ich denke, im kommenden Jahr werden erhöhte Steuern den Staatshaushalt stützen.
Deutscher Spezialist in Moskau:
Internationale Zahlungen werden für Russland immer schwieriger. Wirkung entfalten auch die Sanktionen oder Sanktionsdrohungen gegen Drittstaaten, also exterritoriale Sanktionen, gegen die sich die EU ja lange gewehrt hatte, etwa beim Iran und Kuba. Ob der Druck auf zentralasiatische Staaten was bringt, da habe ich meine Zweifel. Sie liegen zwischen Russland und China und letztlich werden ihnen die Beziehungen zu diesen mächtigen Nachbarn wichtiger sein als die zum fernen Brüssel.
Michael Harms:
Kurzfristig haben die Sanktionen nicht die Wirkung gehabt, die sich manche erhofft haben, nämlich Russland empfindlich zu schwächen und zur Einstellung der Kampfhandlungen zu bewegen. Das hat eine Reihe von Gründen: Nur wenige Länder weltweit machen überhaupt bei den Sanktionen mit, Russland hat weiter einen hohen Leistungsbilanzüberschuss und finanzielle Reserven, es gibt eine geschickte makroökonomische Steuerung durch die Zentralbank und wie gesagt einen Wachstumsschub durch die Rüstungsproduktion und steigende Reallöhne. Wir sehen aber, dass insbesondere die Finanzsanktionen der USA gegen Drittstaaten wirken, weil sie die Finanzierung von Importen für Russland weiter erschweren und verteuern.
Janis Kluge, stellv. Leiter Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien, Stiftung Wissenschaft und Politik:
Am stärksten spürt Russland die Sanktionen beim Außenhandel. Technik-Importe sind teilweise nur noch schwer und sehr teuer zu bekommen. Russland kann beispielsweise seine großen Expansionspläne beim Flüssiggas nicht realisieren. Außerdem entgehen Russland trotz der Umleitung seiner Ölexporte in Drittstaaten viele Milliarden US-Dollar Exporteinnahmen im Jahr. Schließlich haben die russischen Exporteure und Importeure große Probleme bei der Abwicklung von Zahlungen mit dem Ausland, auch mit befreundeten Staaten wie China und auch in Währungen wie Yuan. Ausländische Investitionen in Russland gibt es kaum noch. Falsch eingeschätzt wurde die Wirksamkeit des Ölpreisdeckels. Dieses Instrument ist relativ komplex und deshalb schwer durchzusetzen, solange man nicht drastische Maßnahmen ergreifen will (die wiederum den Ölpreis ansteigen lassen könnten).
Alexandra Prokopenko:
Die Sanktionen wirken, indem sie die Kosten für die Wirtschaft in Russland erhöhen. Aber offensichtlich ist der Kreml bereit, dafür aufzukommen. Die Strafen sind nicht eindeutig schädigend und haben unterschiedliche Auswirkungen, wie beim eingeschlossenen Kapital in Russland gezeigt. Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass Brain Drain aus Russland und der Abfluss von Kapital für den Kreml viel schmerzhafter wären, als ein Teil der Finanzsanktionen. Deshalb sollten dafür Anreize geschaffen werden.
Janis Kluge:
Um eine stärkere Wirkung zu erreichen, müssten westliche Regierungen wieder bereit sein, Risiken beim Sanktionieren einzugehen, so wie es am Anfang der Vollinvasion der Fall war, als der Schock über den Krieg noch dominierte. Es gibt kleinere Lerneffekte beim Sanktionieren. So sind Sanktionen gegen Zwischenhändler oft nicht wirksam, weil die Unternehmen einfach an gleicher Stelle neu gegründet werden. Wirksamer ist es, bestimmte Personen, Adressen oder auch konkrete Schiffe und Flugzeuge zu sanktionieren, weil es dann keine leichte Umgehung gibt.
Deutscher Spezialist in Moskau:
Der Preisdeckel auf russisches Öl funktioniert nicht gut und ist zumindest in der vorläufigen Bilanz ein Eigentor für Europa, insbesondere für Deutschland. Denn Moskau verkauft sein Öl mit Rabatt an China und Indien. Russland hat weiterhin beträchtliche Einnahmen, unsere Konkurrenten haben billiges Öl und wir das Nachsehen, weil wir Öl teurer kaufen müssen.
Für einen Fehlschlag halte ich auch die Konstruktion der Sanktionen gegen die Oligarchen. Eigentlich müssten sie besser Magnaten heißen, denn nicht sie machen in Russland den Präsidenten, sondern der Präsident bestimmt, wer Magnat ist. Druck und Sanktionen des Westens auf sie, in der Hoffnung, dass sie sich gegen Putin erheben, führten zum Gegenteil. Die Magnaten stellten sich mehr als zuvor hinter Putin. Und sie tun nun das, wovon Putin zuvor vergeblich geträumt hatte: Sie bringen ihre Milliarden nach Russland und investieren sie im Land, mehr als 100 Milliarden Euro sind so nach Schätzungen von Experten schon nach Russland geflossen. Letztlich hat Brüssel Putin geholfen, dieses Geld nach Russland zurückzubringen.
Michael Harms:
Die deutsche Wirtschaft setzt die Sanktionen gegen Russland und Belarus akribisch um. Wir kritisieren nicht die Sanktionen an sich, sondern Ausgestaltung, Umsetzung und langwierige Genehmigungsverfahren. Wir würden uns eine bessere europäische Abstimmung der Sanktionen, die Beseitigung von widersprüchlichen Bestimmungen und eine schnellere Entscheidung der Behörden bei notwendigen Genehmigungen wünschen. Eine stärkere Konzentration auf kriegswichtige Güter würde zudem den Kontrollaufwand erleichtern.
Es geht hier ja nicht bloß um den Russland-Handel. Wir müssen aufpassen, dass wir durch unsere Sanktionsbürokratie nicht unseren Außenhandel insgesamt lahmlegen. Wir hören häufig, dass internationale Unternehmen in ihren Lieferketten deutsche Produkte ausschließen wollen (“German Free”), weil die Genehmigungswege zu lang sind und bei bestimmten Produkten zukünftige Sanktionen befürchtet werden.
Herr Reuter, in wenigen Jahren könnte es zu einem bewaffneten Konflikt zwischen der Nato und Russland kommen. Was sollte jetzt aus Sicht des DRK die Priorität der Politik sein, um vorbereitet zu sein?
Das ist kein Thema für die Zukunft. Bewaffnete Konflikte strahlen jetzt schon nach Deutschland aus, mehr als eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer sind innerhalb kürzester Zeit nach Deutschland geflohen. Der Bundeskanzler hat eine Zeitenwende im militärischen Bereich ausgerufen. Was zwingend hätte kommen müssen, wäre eine Zeitenwende für den Bevölkerungsschutz sowie in der zivilen Verteidigung, die sehe ich nicht. Wir haben im Bevölkerungsschutz kein Erkenntnisproblem, wir haben ein politisches Umsetzungsproblem. Wir fordern mindestens 0,5 Prozent des Bundeshaushalts für die Daseinsvorsorge, das sind etwa zwei Milliarden Euro.
Aber nochmal die Frage: Welche Prioritäten sollte die Politik setzen, was konkret sollte sie mit Haushaltsmitteln ausstatten?
Es fehlt an elementaren Dingen, um Menschen in Konflikten und in Krisen unterzubringen und ihnen Möglichkeiten zu geben, sich zu erholen. Es kann nicht der Anspruch der Bundesregierung sein, Menschen dauerhaft in leerstehenden Baumärkten unterzubringen. Wir haben nach den Erfahrungen mit der Flüchtlingsbewegung 2015/2016 ein mobiles Betreuungsmodul entwickelt. 5.000 Menschen können hier autark untergebracht und versorgt werden. Zehn dieser Module sollen beschafft werden, nur eines ist bisher vollfinanziert und zum Großteil beschafft, eines anfinanziert. Es fehlt auch die Vision für eine resiliente Bevölkerung. In der Krise müssen Menschen sich selbst und den Angehörigen helfen können, Stichwort Pflege-Unterstützungskräfte. Das sind Leute, die wir dann auch in einer Konfliktsituation einsetzen können. Wir haben in der Corona-Krise erlebt, wie blank die Gesellschaft ist, als Hunderttausende von osteuropäischen Pflegefachkräften nicht mehr nach Deutschland gekommen sind.
Was für Lösungsvorschläge macht das DRK?
Das DRK hat ein Programm entwickelt, um diese Pflege-Unterstützungskräfte auszubilden. Total wichtig, kostet wenig, ich rede da von 20 Millionen Euro. Die Bundesregierung hat das Geld nicht bewilligt, das ist ein gesamtgesellschaftlicher Skandal. Wir haben uns entschieden, die Ausbildung der Kräfte mit eigenen Mitteln zu beginnen, schlicht und ergreifend, weil wir nicht auf den Umsetzungswillen der Bundespolitik warten wollen.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach hatte gesagt, das Gesundheitswesen müsse auf mögliche militärische Konflikte vorbereitet werden. Setzt er bei der geplanten Krankenhausreform die richtigen Schwerpunkte?
Nein. Ich unterstelle dem Bundesgesundheitsminister, dass er eine klare Vorstellung davon hat, was er machen will, nämlich ein staatlich dominiertes Gesundheitssystem. Er will weniger, dafür spezialisierte Krankenhäuser, am liebsten in staatlicher Hand. Die Reform im Krankenhausbereich und im Rettungsdienst wird zu einer Verknappung von Ressourcen und Infrastruktur führen. Das reicht schon im Normalbetrieb der Bundesrepublik nicht aus und ist im Falle eines bewaffneten Konfliktes geradezu hanebüchen. Man muss sich ja nur die Bilder in der Ukraine anschauen, dann bezweifele ich – und dieses bezweifeln unterstreiche ich dick und fett -, dass unsere Krankenhauslandschaft auch nur ansatzweise für eine solche Krise ausgestattet ist.
Noch dazu, wenn man bedenkt, dass davon auszugehen ist, dass in einer Krise diese Infrastruktur Ziel von Sabotage werden könnte …
Angriffe auf die zivile und medizinische Infrastruktur sind ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und trotzdem passieren sie. Und je weniger Kliniken ich habe, desto anfälliger bin ich für so etwas. Je dezentraler die soziale Infrastruktur ist, desto resilienter bin ich. Auch darauf ist dieses Gesundheitssystem in keinster Weise vorbereitet.
Im Krieg wird das Bundeswehrpersonal in den Einsatz gehen. Das DRK und andere Organisationen sind rechtlich verpflichtet, den Sanitätsdienst der Bundeswehr zu unterstützen und diese personelle Lücke zu füllen. Und gleichzeitig die Zivilgesellschaft weiter zu versorgen. Wie soll das funktionieren?
Das ist genau die spannende Frage. Wir führen intensive, sehr gute Gespräche mit dem Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr, um das zu operationalisieren. Wie stellen wir etwa sicher, dass in einem solchen Konfliktfall Verwundete von nachgelagerten Rettungsstellen und Feldlazaretten nach Deutschland in entsprechende Kliniken und medizinische Versorgungseinrichtungen transportiert werden können? Wir nehmen unsere Verantwortung ernst, das Kommando Sanitätsdienst ebenso. Was fehlt ist die Bundespolitik, die verstehen muss, was gebraucht wird neben Panzern, Raketen, Flugzeugen, Drohnen.
Personal wird der Knackpunkt bleiben, was muss jetzt passieren gegen den herrschenden und absehbaren Personalmangel?
Wir brauchen gesetzliche Veränderungen. Das Deutsche Rote Kreuz mit seinen ehrenamtlichen Helfern ist aus dem Bevölkerungsschutz nicht wegzudenken. Und wir helfen auch dann, wenn man kein Geld damit verdient, anders als etwa private Krankenhausbetreiber. Aber diese Bundesregierung hat es bis heute nicht geschafft, die gleichen rechtlichen Rahmenbedingungen für die Helfer des DRK und den anderen anerkannten Hilfsorganisationen wie dem THW und den Freiwilligen Feuerwehren zu schaffen. Wir brauchen diese Helfergleichstellung. Aber wir müssen auch die Berufe im Gesundheitsbereich attraktiver machen, bessere Wertschätzung, bessere Arbeitszeiten, bessere Bezahlung. Vor allem müssen wir das Narrativ ändern: Arbeit im sozialen Sektor ist was Tolles, es ist schön, anderen Menschen zu helfen. Dazu gehört, dass auch die Politik anders über Pflege und Pflegeberufe redet.
Das Positionspapier des DRK kann hier abgerufen werden.
Nora Müller – Leiterin des Bereichs Internationale Politik bei der Körber-Stiftung
Nora Müller leitet bei der Körber-Stiftung seit 2015 den Bereich Internationale Politik. Zuvor war sie im Nahost-Referat des Auswärtigen Amts tätig. Beim Berliner Forum Außenpolitik bringt die Stiftung jährlich internationale Spitzenpolitikerinnen und -politiker mit renommierten Thinktankern zusammen. “Berlin Pulse” liefert ein wichtiges Stimmungsbild über die Einstellung der Deutschen und US-Amerikaner zu außenpolitischen Themen.
Ulf Laessing – Leiter des Regionalprogramms Sahel bei der Konrad-Adenauer-Stiftung
Der frühere Reuters-Journalist ist einer der wenigen wirklichen Sahel-Kenner im deutschsprachigen Raum. Durch seine sicherheitspolitische Expertise und seine Reisefreude innerhalb der Region war er beim Bundeswehr-Abzug aus Mali ein oft gefragter Gesprächspartner mit schnellen und fundierten Analysen.
Christina Krause – Leiterin der Abteilung Internationale Politik und Sicherheit bei der Konrad-Adenauer-Stiftung
Seit fast 20 Jahren steht Christina Krause in Diensten der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Die Expertise der Leiterin der Abteilung Internationale Politik und Sicherheit umfasst die sicherheitspolitischen Herausforderungen im Hinblick auf Europa und Migration. Vor ihrem Engagement bei der KAS war sie fünf Jahre beim Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen.
Alexey Yusupov – Leiter des Russlandprogramms bei der Friedrich-Ebert-Stiftung
Der Leiter des Russlandprogramms der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat ein tiefes Verständnis für die postsowjetische Region. Der in Moskau geborene Sohn eines Leningrader Juden und einer Kirgisin ist sowohl in Russland als auch unter russischen Exilanten gut vernetzt. Zuvor leitete er FES-Büros in Kasachstan, Afghanistan und Myanmar.
Philip Degenhardt – Leiter des Zentrums für internationalen Dialog und Zusammenarbeit bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Degenhardt leitet seit Dezember 2023 das Zentrum für internationalen Dialog und Zusammenarbeit bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Davor war er für das Regionalbüro der Stiftung in Hanoi zuständig. Die Stiftung deckt in der Zeitenwende den rüstungskritischen Standpunkt ab und damit ein weites Spektrum linker Stimmen in der sicherheitspolitischen Debatte.
Jan Philipp Albrecht – Vorstand bei der Heinrich-Böll-Stiftung
Die Zeitenwende war für die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung ähnlich prägend wie für die Grünen. Jan Philipp Albrecht, der bis 2022 Minister für die Energiewende in Schleswig-Holstein war und neun Jahre im EU-Parlament saß, stellt die Stiftung auf die neuen Herausforderungen ein. Als er mit 27 ins EU-Parlament zog, war er der jüngste deutsche Abgeordnete.
Antonie Katharina Nord – Leiterin der Abteilung Internationale Zusammenarbeit bei der Heinrich-Böll-Stiftung
Das Prinzip der feministischen Außenpolitik wird vor allem von der Heinrich-Böll-Stiftung (HBS) vorangetrieben. Nord ist für die internationale Arbeit der Stiftung zuständig und verantwortet die rund 30 Auslandsbüros. Als eine der ersten Stiftungen musste die HBS das Büro in Russland schließen. Die aufgebauten Netzwerke pflegt die Stiftung weiterhin.
Martin Schulz – Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung
Der Beinahe-Kanzler und Urgestein der deutschen Europapolitik leitet seit 2020 die Friedrich-Ebert-Stiftung. Schulz war fünf Jahre lang Präsident des Europaparlaments. Schulz ist als Erklärer gefragt, wenn es mal wieder darum geht, die sicherheitspolitische Richtung der SPD zu verstehen.
René Klaff – Leiter der internationalen Abteilung bei der Friedrich-Naumann-Stiftung
Klaff hat für die Friedrich-Naumann-Stiftung verschiedene Regionalbüros geleitet und umfassende Auslandserfahrung gesammelt – etwa in Kairo, Sofia, Amman oder Neu-Delhi. Für die Stiftung, die sich als Primärziel den Erhalt der Freiheit verordnet, nicht immer leichte Aufgaben.
Gerhard Wahlers – Leiter der Hauptabteilung Europäische und internationale Zusammenarbeit bei der Konrad-Adenauer-Stiftung
Unter Wahlers Führung ist die internationale Arbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung weiter ausgebaut worden. Mittlerweile unterhält die Stiftung über 100 Auslandsbüros und ist insbesondere bei Themen der Rüstungskooperationen hervorragend aufgestellt. Zusätzlich ist Wahlers stellvertretender Generalsekretär der Stiftung.
Bei der militärischen Unterstützung der EU-Staaten für die Ukraine klafft eine Lücke zwischen Ankündigungen und tatsächlichen Lieferungen: Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba kritisierte beim Treffen der EU-Außenminister in Brüssel die langen Verzögerungen, insbesondere bei zugesagten Flugabwehrsystemen und Munitionslieferungen. Dies erschwere die Planung für die ukrainischen Streitkräfte erheblich.
EU-Außenbeauftragter Josep Borrell unterstützte Kulebas Aufruf und betonte die Dringlichkeit angesichts der massiven russischen Angriffe. Er drängte die Mitgliedstaaten, ihre Versprechen einzuhalten. Bislang hat Deutschland drei Patriot-Systeme geliefert, während andere Länder wie die Niederlande, Rumänien und Spanien noch im Verzug sind.
Borrell griff auch die Forderung des ukrainischen Außenministers auf, die Einschränkung bei der Nutzung von westlichen Waffen aufzuheben. Die Ukraine müsse die Waffen vollumfänglich im Rahmen des internationalen Rechts einsetzen können. Sonst seien die Waffen nutzlos. Allerdings haben neben den USA bisher nur Großbritannien und Frankreich Waffen mit entsprechender Reichweite der Ukraine zur Verfügung gestellt.
Außenministerin Annalena Baerbock bekräftigte die Zusage weiterer Flugabwehrsysteme bis Jahresende. Putin plane einen noch massiveren “Kältekrieg” gegen die Ukraine. Die Antwort der EU müsse ein neuer Schutzschirm sein.
Das Treffen behandelte auch den Nahostkonflikt. Borrell schlug Sanktionen gegen den israelischen Polizeiminister und den Finanzminister vor. Baerbock schloss eine deutsche Zustimmung zu Sanktionen gegen die beiden Minister nicht aus. Italien hat aber Ablehnung signalisiert, und Länder wie Österreich, Ungarn und Tschechien dürften sich gegen den Schritt stellen. Die Außenminister forderten zudem humanitäre Feuerpausen für Polio-Impfungen im Gazastreifen und diskutierten über verstärkte medizinische Hilfe für Zivilisten. sti
Ein ukrainischer F-16-Kampfjet ist US-Kreisen zufolge bei einem Absturz zerstört worden. Russischer Beschuss sei offenbar nicht die Ursache für den Crash gewesen, erfuhr die Nachrichtenagentur Reuters am Donnerstag von einem Vertreter des US-Verteidigungsapparats.
Ob es sich um einen Pilotenfehler oder technisches Versagen gehandelt habe, sei noch nicht geklärt. Die ukrainische Luftwaffe nahm zu dem Bericht zunächst nicht Stellung. Zuvor hatte das “Wall Street Journal” über den Vorfall berichtet, der sich bereits am Montag ereignet haben soll.
Russland hatte die Ukraine am Montag massiv mit Raketen und Drohnen angegriffen und am Dienstag einen weiteren Großangriff gestartet. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte am Dienstag erklärt, die F-16 seien bei der Abwehr des Angriffs vom Montag erfolgreich eingesetzt worden. Selenskyj hatte am 5. August bekanntgegeben, dass die Ukraine nun F-16 für Einsätze innerhalb des Landes nutze. Damit hatte er die lang erwartete Ankunft der in den USA hergestellten Kampfjets bestätigt.
Die Flugzeuge des US-Herstellers Lockheed Martin würden innerhalb der Ukraine genutzt, sagte Selenskyj bei einem Treffen mit Luftwaffenpiloten auf einem Flugplatz, dessen Ort auf ukrainischen Wunsch aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden soll. Die Ankunft der Jets stellt einen Meilenstein für die Ukraine dar, die ihre Lieferung lange gefordert hatte, um der russischen Luftüberlegenheit modernere Kampfflugzeuge entgegensetzen zu können. Russland hatte erklärt, die in den USA gebauten Maschinen abschießen zu wollen.
Die Ukraine habe noch nicht genug ausgebildete Piloten für die Flugzeuge und nicht genug F-16, sagte Selenskyj auf dem Rollfeld des Flugplatzes weiter. Die Ukraine erwarte aber weitere Lieferungen des Fliegers. Unter anderem die Niederlande hatten angekündigt, F-16 in die Ukraine schicken zu wollen. rtr
Der britische Premierminister Keir Starmer und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron haben am Donnerstag ihre Unterstützung für die Ukraine bekräftigt. Das sei essenziell, um “die Verteidigung und die Sicherheit des Landes wie auch des Kontinents” zu garantieren, verkündeten sie in einer gemeinsamen Erklärung.
Nachdem Starmer am Mittwoch Bundeskanzler Olaf Scholz zum Antritt besucht hatte, war er nach Paris weitergereist, um Macron zu treffen. Der deutsche und der britische Regierungschef hatten am Mittwoch angekündigt, ein neues bilaterales Abkommen Anfang 2025 auszuhandeln. Kern soll ein Verteidigungsabkommen sein.
Das Vereinigte Königreich und Deutschland sind finanziell die größten Unterstützer der Ukraine, Frankreich gehört zumindest verbal dazu.
Für Gesine Weber, Politikwissenschaftlerin am German Marshall Fund und am King’s College London, gebe es ein “Gelegenheitsfenster” für eine vertiefte Kooperation zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Auch wenn eine neue Regierung in Frankreich wackelig werde und in Deutschland ein Regierungswechsel im kommenden Jahr wahrscheinlich sei, hat Großbritannien mit Keir Starmer einen Premierminister, der Macron und Scholz “ideologisch relativ nah” stehe – und gemeinsame Herausforderungen sehe.
Das Sicherheitsabkommen, das Deutschland und Großbritannien schließen wollen, müsse man “auch unter dem E3-Kontext sehen”, sagt Weber. Die europäische E3-Gruppe aus Großbritannien, Frankreich und Deutschland hat sich im Rahmen der Verhandlungen zum iranischen Nuklearprogramm entwickelt.
Zwischen Großbritannien und Frankreich sorge der sicherheitspolitische Lancaster-House-Vertrag für stabile Beziehungen, die zweite Seite des Dreiecks zwischen Deutschland und Frankreich werde durch den Elysée-Vertrag und den Aachener Vertrag gehalten. Durch seine Besuche stärke Starmer auch die E3. “Die schwächste Seite dieses Dreiecks ist bisher die deutsch-britische Beziehung.” Zwischen Deutschland und Großbritannien passiere derzeit viel im informellen Rahmen, so Weber. bub
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) sucht offiziell nach Anlagenhersteller, Werften und Ingenieurbüros, die eine schwimmende Plattform Beseitigung von Munitionsaltlasten auf See entwickeln und bauen können. Damit soll Munition, die in und nach den Weltkriegen in der Nord- und Ostsee versenkt wurde, detektiert, geborgen und umweltgerecht entsorgt werden. Am gestrigen Donnerstag wurde das Vergabeverfahren gestartet, ab 2026 soll die Plattform im Einsatz sein.
Die Auftragsvergabe ist Teil des Sofortprogramms der Bundesregierung zur Bergung von Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee, das Umweltministerin Steffi Lemke im Februar vergangenen Jahres angekündigt hatte. 100 Millionen Euro will das BMUV dafür bereitstellen.
Als mögliche gemeinsame Bewerber für das Projekt brachten sich bereits Rheinmetall, German Naval Yards und die norwegische WilNor Governmental Services ins Spiel, wie die Fachzeitschrift “Europäische Sicherheit und Technik” (ESUT) im Januar berichtete. Mitbewerber wäre Thyssen Krupp Marine Systems (tkms), die laut ESUT für die Pilotanlage “eine Vorbereitungszeit von ca. zwei Jahren bis zur Aufnahme des Regelbetriebs” brauchen wird.
Bereits ab September sollen außerdem in einer dreimonatigen Pilotphase in der Lübecker Bucht Munitionsaltlasten geborgen werden, und dabei bestehende Technologien für die Detektion und Bergung von unterschiedlichen Munitions-Typen wie Granaten, Bomben und Minen getestet werden.
Lemke sagte bei einer Veranstaltung in Berlin: “Für unsere Meere stellen Munitionsaltlasten aus den Weltkriegen eine große Belastung dar. Je länger sie am Meeresboden nach und nach verfallen, desto größer wird die Gefahr für die Tiere und Pflanzen in Nord- und Ostsee.” Mithilfe der Industrieanlagen wolle Deutschland als erstes Land weltweit Munitionsaltlasten in industriellem Maßstab sicher und umweltgerecht aus dem Meer bergen und direkt auf See vernichten, sagte Lemke.
In der deutschen Nord- und Ostsee liegen noch rund 1,6 Millionen Tonnen Munition und 5.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe. Nicht detonierte Munition gefährdet den Schiffsverkehr, Fischerei, Tourismus sowie die Meeresumwelt und behindert Offshore-Installationen und Seekabel-Verlegungen.
Das Altlasten-Problem ist kein rein deutsches. Interesse am Pilotprojekt zeigen auch andere Länder, zum Beispiel die Ukraine. Lemke prognostizierte in den kommenden Jahren einen Wettlauf in der Branche, für den sich Deutschland nun rüste. asc/klm
Dass Washington China – und nicht Russland – als größte Sicherheitsbedrohung ansieht, ist kein Geheimnis. Wie wichtig ein Arrangement mit der Volksrepublik für Joe Biden noch auf den letzten Metern seiner Präsidentschaft ist, zeigt sich jetzt darin, dass er erstmals seinen Nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan nach Peking schickte, gleich für drei Tage. Das Ziel: die angespannten Beziehungen zu kontrollieren und eine Eskalation zu verhindern.
Kern der Reise Sullivans war das ausgedehnte Treffen mit Außenminister Wang Yi an einem See bei Peking am Dienstag und Mittwoch, das nach Ansicht mancher Beobachter sogar ein letztes Gipfeltreffen zwischen Biden und Chinas Staatschef Xi Jinping vorzubereiten versuchte. Gesprochen wurde unter anderem über die Wiederaufnahme des bilateralen Militärdialogs und Kooperation bei der KI-Sicherheit. Dennoch bleiben die üblichen Konfliktlinien, beispielsweise mit Blick auf das Südchinesische Meer, sichtbar.
Am Donnerstag kam Sullivan vor der Abreise dann noch mit General Zhang Youxia zusammen, der unter Staatschef Xi Jinping Vizevorsitzender der Zentralen Militärkommission ist. Solche Begegnungen sind äußerst selten. “Ihr Vorschlag, sich mit mir zu treffen, zeigt Ihre hohe Wertschätzung für den militärischen Sicherheitsbereich und die Beziehungen zwischen unseren beiden Armeen”, sagte denn auch General Zhang. Sullivan betonte, dass er das Treffen “angesichts der Weltlage” und der Notwendigkeit, die Beziehungen zwischen den USA und China “verantwortungsvoll” zu gestalten, für “sehr wichtig” halte.
Auch hier blieben die Themen altbekannt. Sullivan sprach unter anderem Bedenken Washingtons über Chinas Unterstützung für Russlands Rüstungsindustrie und die Bemühungen um eine Feuerpause im Gaza-Krieg an. Zudem betonte er die Wichtigkeit von Frieden und Stabilität an der Taiwanstraße. Zhang forderte chinesischen Angaben zufolge hingegen, dass die USA Waffenlieferungen an Taiwan und die Verbreitung von – aus chinesischer Sicht – falschen Darstellungen über die demokratische Inselrepublik einstellen sollten. Ob es in Nuancen eine Annäherung gab, ist nicht bekannt. Aber gerade der Militärdialog darf in der angespannten Lage in Fernost als ein Fortschritt gesehen werden. ck
The New Yorker: The Haditha Massacre Photos That the Military Didn’t Want the World to See. Am 19. November 2005 tötete eine Gruppe von US-Marines 24 Zivilisten in Haditha, Irak. Jahrelang versuchte das Militär, Fotos davon der Öffentlichkeit vorzuenthalten. The New Yorker veröffentlicht die sehr harten, erschreckenden Bilder nun und schreibt zudem darüber, wie Fotos den Blick der Öffentlichkeit auf Kriegsverbrechen prägen.
Zeitschrift für Politikwissenschaft: Die Zeitenwende aus der Sicht der Politikwissenschaft. Trotz zweieinhalb Jahren Zeitenwende, habe Deutschland bisher keine umfassende strategische Neuausrichtung realisiert und sei weiterhin stark an die USA gebunden, kritisiert Politikwissenschaftlerin Annegret Bendiek. Als Gründe nennt sie institutionelle Politikverflechtungs- und idealistische Politikverpflichtungsfallen.
Spiegel: “Afrika wird zum Spielplatz der Rivalität zwischen der Nato und Russland”. Mithilfe russischer Truppen will die Militärregierung Burkina Fasos den islamistischen Terror im Land besiegen. Dennoch starben am Samstag bei einem Anschlag rund 200 Menschen. Der Experte und Politikberater Bakary Sambe spricht im Interview über die aktuelle Lage im Land, sowie die Rolle von Desinformation, Postkolonialismus, Russland und der Nato.
Stiftung Wissenschaft und Politik: Die Logik deutscher Chinapolitik in der Zeitenwende. In der deutschen Chinapolitik sei bis jetzt keine Zeitenwende erkennbar. “Ein übergeordnetes und langfristiges Ziel für die deutsch-chinesischen Beziehungen fehlt”, mahnt Asienwissenschaftlerin Nadine Godehardt und beschreibt, wie Institutionen und Verwaltung sich auf zukünftige Herausforderungen im Umgang mit chinesischen Akteuren vorbereiten können.
Foreign Affairs: Why Whataboutism Works – In International Politics, It Pays to Point Fingers. “Whataboutism” ist als Praxis primär verschrien. Dieser Artikel präsentiert dagegen eine Untersuchung, die besagt, dass “Whataboutism” in außenpolitischen Debatten durchaus ein wirkungsvolles Instrument sein kann. Der Text beschreibt, wann das der Fall ist, welche Rolle das Internet dabei spielt und was das besonders für die USA bedeutet.
US-Präsident Joe Biden hat 2023 die Lieferung von Streumunition in die Ukraine verfügt. Verteidigungsminister Boris Pistorius hält sich mit Kritik an den USA zurück und lässt die Lagerung von US-Streumunition auf deutschem Boden geschehen. Vor 14 Jahren trat die Oslo-Konvention in Kraft, die Einsatz, Herstellung, Lagerung und Weitergabe von Streumunition verbietet und genaue Regeln zur Umsetzung aufstellt.
Streumunition wurde seitdem deutlich weniger eingesetzt, allerdings scheint sich dieser Trend in den aktuellen Konflikten umzukehren. Im Ukrainekrieg setzte Russland diese Waffen von Anfang an massiv ein, und auch die ukrainische Armee verwendet sie, insbesondere seitdem sie von den USA mit Streumunition aus deren Beständen beliefert werden. Ein aktueller Bericht der ARD-Sendung “Panorama” legt nahe, dass diese Lieferungen sogar aus US-Depots auf deutschem Boden erfolgen. Schließlich hat nun Litauen als erster Vertragsstaat der Konvention das Abkommen verlassen, mit Verweis auf die aktuelle Sicherheitslage.
Deutschland, das bislang mit überzeugender Diplomatie und Fördermitteln die Umsetzung der Konvention unterstützt hatte, sollte deswegen gerade jetzt die Verpflichtungen dieses Abkommens verteidigen.
Wir alle kennen die schrecklichen Bilder der Vergangenheit. Im Kosovo, dann in Afghanistan und schließlich auch im Irak hat unter anderem die US-Armee große Mengen Streumunition eingesetzt – mit verheerenden Folgen. Nicht nur trafen diese Waffen durch ihre Streuwirkung mit rund 90 Prozent fast nur unschuldige Zivilist*innen, sondern sie hinterließen auch bis zu 40 Prozent Blindgänger. Diese explosiven Kriegsreste wiederum können zu einer jahrzehntelangen Bedrohung werden. Sie werden immer wieder besonders Kindern zum Verhängnis.
Am 13. November 2003 gründeten wir in Den Haag die internationale Kampagne gegen Streumunition, die Cluster Munition Coalition. Drei Jahre später, als Streumunition der israelischen Armee wieder zahlreiche zivile Opfer im Libanonkrieg forderte, lud die norwegische Regierung zu einer ersten Konferenz über ein Verbot dieser Waffen ein. Wir begleiteten die Verhandlungen über eineinhalb Jahre mit Erfahrungsberichten, Kampagnenevents, Medienarbeit – und wir unterstützten eine Gruppe betroffener Menschen aus verschiedensten Ländern, die “Ban Advocats”, die ihre persönlichen Erfahrungen in die Konferenzen einbrachten.
Unvergesslich bleibt für mich die Begegnung mit dem Teenager Phonghsavath aus Laos, das im Vietnamkrieg von Millionen amerikanischer Streubomben getroffen worden war. Ein Freund schenkte ihm eine kleine Kugel, die er am Straßenrand gefunden hatte, und die in der Hand des 16-Jährigen explodierte. Er verlor beide Hände und sein Augenlicht. Trotz dieses grausamen Schicksals fand er die Kraft, zum Botschafter gegen Streumunition zu werden.
Während des Verhandlungsprozesses über ein Verbot von Streumunition gab es Bedenken von militärischer Seite. Diese Waffen seien aus militärischen Gründen unverzichtbar. Doch schließlich setzte sich die Erkenntnis durch, dass die humanitären Folgen den militärischen Nutzen deutlich überwiegen.
Die Einsätze gingen seit 2010 deutlich zurück. Mit dem Inkrafttreten am 1. August 2010 der Oslo-Konvention begann dann eine Erfolgsgeschichte: 1,5 Millionen Streumunitionen mit 180 Millionen Submunitionen wurden aus Armeebeständen vernichtet, große Flächen verseuchtes Land von den Resten von Streumunition befreit. Die vorbildlichen Regelungen der Konvention zur Opferhilfe führten zur Unterstützung vieler betroffener Menschen.
Bis heute ist die Vertragsstaatengemeinschaft auf 112 Staaten angewachsen. Und der größte Erfolg: Die Einsätze gingen zunächst deutlich zurück. Wie schon Anti-Personenminen wurden Streubomben über die Unterzeichner hinaus für die überwiegende Zahl der Staaten zum Tabu. Selbst die USA setzten sie seither nur noch einmal 2009 im Jemen ein.
Dass Einsätze von Streumunition wieder zunehmen, ist höchst alarmierend. Und gerade in der aktuellen Sicherheitslage sollte denjenigen, die die humanitären Werte betonen und sich auf das Völkerrecht berufen, klar sein: Es ist heute wichtiger denn je, die Errungenschaften multilateraler Abkommen zu stärken. Die humanitären Folgen von Streumunition sind unverändert dramatisch. Deshalb haben so viele Staaten, Organisationen und die Zivilgesellschaft zusammen diese lebensrettende Konvention erkämpft – und müssen heute alles dafür tun, um sie zu erhalten und zu stärken.
Dr. Eva Maria Fischer ist Leiterin der politischen Abteilung von Handicap International Deutschland.
Wer in der verteidigungspolitischen Berichterstattung über den tagesaktuellen Tellerrand von Einzelplan 14, 25-Millionen-Euro-Vorlagen oder der Vergabeverordnung Verteidigung und Sicherheit (VSVgV) hinausblicken will, dem sei dieser schmale, dicht geschriebene Band des Leiters der Dozentur für Militärökonomie der Militärakademie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ) empfohlen.
Historisch leitet Marcus Matthias Keupp her, wie sich die Privatarmeen feudaler Herrscher über die Jahrhunderte hin zu jenen planwirtschaftlich organisierten militärischen Verbänden entwickelten, wie sie moderne Armeen heute darstellen, mit – Spoiler – wenig Spielraum für Reformen.
Das gelte unabhängig davon, in welchem politische System eine Armee finanziert werden müsse, so der Autor in seiner institutionenökonomischen Analyse: “Ob Monarchie, Diktatur oder Demokratie – wer das Militär als Teil der Staatsverwaltung auffasst und zentralistisch führt, gibt ihm einen planwirtschaftlichen Rahmen.” Das führe dazu, dass es allein politischen Entscheidungen unterliege, wie hoch das Militärbudget Jahr für Jahr ausfalle, nicht ökonomischen wie im privaten Sektor.
Die dort geltenden Leistungskriterien seien bei der Ausstattung von Armeen deshalb nicht anwendbar. Die Folgen dieser Abhängigkeit sind nicht nur bei den immer wiederkehrenden Debatten über die mangelnde Ausstattung der Bundeswehr, sondern auch bei den Schwierigkeiten anderer Staaten, das Zweiprozentziel der Nato zu erreichen, zu beobachten: “strukturelle Ineffizienz”. mrb
Marcus Matthias Keupp: Militärökonomie. Springer Gabler, Wiesbaden (2019), 146 Seiten.
14 Sanktionspakete gegen Russland, wenig Wirkung. So lassen sich die Einschätzungen von vier ausgewiesenen Experten für die russische Wirtschaft zusammenfassen, die Viktor Funk gesammelt hat. Entstanden ist ein Überblick darüber, welche Sanktionen wirken und welche dem Westen sogar selbst schaden.
Im Kriegsfall kollabiert unser Gesundheitssystem. Das muss man aus den Aussagen von Christian Reuter, dem Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes im Gespräch mit Lisa-Martina Klein lesen. Und er macht der Bundespolitik schwere Vorwürfe: “Wir haben im Bevölkerungsschutz kein Erkenntnisproblem, wir haben ein politisches Umsetzungsproblem”, sagt er.
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Einfach weiter machen wie bisher – das bietet sich bei der Sanktionspolitik des Westens gegen Russland nicht an. Das wird aus den fachlichen Einschätzungen deutlich, die Table.Briefings eingeholt hat. Das Regime Wladimir Putins passt sich schnell an. Die russische Zentralbank hat am Donnerstag ihre Prognose bis 2027 veröffentlicht und geht von weiterem Wirtschaftswachstum aus: bis zu vier Prozent. Der Westen muss also nachjustieren und die eigenen Nachteile prüfen, das wird aus der Befragung von Forschenden und Interessensvertretern der deutschen Wirtschaft deutlich.
Michael Harms, Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft:
Alle Indikatoren deuten – bei aller Vorsicht vor den offiziellen Zahlen – auf weiterhin robustes Wachstum in Russland hin. Dazu tragen die hohen Staatsausgaben für den Krieg und die Rüstungsproduktion bei, aber auch der private Konsum, der durch steigende Reallöhne infolge der Arbeitskräfteknappheit und die hohen Soldzahlungen für das Militär angekurbelt wird. Dazu kommt der anhaltend große Exportüberschuss. Das alles hält die russische Kriegswirtschaft am Laufen. Westliche Analysten rechnen für 2024 erneut mit einem Wachstum von über drei Prozent. Ohne Folgen bleiben Krieg und Sanktionen aber nicht und dürften vor allem langfristig ihre Wirkung entfalten, weil sie den Zugang Russlands zu westlicher Technologie erschweren und verteuern.
Deutscher Spezialist für russische Wirtschaft in Moskau:
Angesichts sehr harter Sanktionen schlägt sich Russland seit mehr als zwei Jahren überraschend gut. Die Wirtschaft ist nicht eingebrochen, sondern wächst kräftig. Das feiern die russischen Staatsmedien euphorisch. Man hat im Westen unterschätzt, dass die russische Wirtschaft aus eigener Kraft wachsen kann, auch wenn ein beträchtlicher Teil des Wachstums sicher auf Kriegswirtschaft beruht. Und man hat wohl die Reaktion des Globalen Südens falsch eingeschätzt. Insgesamt hat die Anziehungs- und Durchsetzungskraft des Westens abgenommen. Ein gutes Beispiel dafür ist Saudi-Arabien; vor 30 Jahren hätte Washington auf Riad mehr Einfluss gehabt.
Alexandra Prokopenko, Wissenschaftlerin bei Carnegie Endowment for International Peace, Berlin:
Die russische Wirtschaft ist weiterhin überhitzt. Wir beobachten einen leichten Rückgang bei neuen Krediten, die Inflation ist zudem weiterhin sehr hoch trotz eines zweistelligen Leitzinses seit mehr als einem halben Jahr. Die Wirtschaft wird hauptsächlich durch Ausgaben für den Krieg und den Rüstungssektor gestützt, sowie durch Finanzsanktionen, so paradox es klingt. Die Sanktionen sperren das Kapital in Russland ein, und so arbeitet dieses Geld dann zugunsten der Wirtschaft im Land. Auch der Ölpreis hilft dem Staatsbudget bisher. Ich denke, im kommenden Jahr werden erhöhte Steuern den Staatshaushalt stützen.
Deutscher Spezialist in Moskau:
Internationale Zahlungen werden für Russland immer schwieriger. Wirkung entfalten auch die Sanktionen oder Sanktionsdrohungen gegen Drittstaaten, also exterritoriale Sanktionen, gegen die sich die EU ja lange gewehrt hatte, etwa beim Iran und Kuba. Ob der Druck auf zentralasiatische Staaten was bringt, da habe ich meine Zweifel. Sie liegen zwischen Russland und China und letztlich werden ihnen die Beziehungen zu diesen mächtigen Nachbarn wichtiger sein als die zum fernen Brüssel.
Michael Harms:
Kurzfristig haben die Sanktionen nicht die Wirkung gehabt, die sich manche erhofft haben, nämlich Russland empfindlich zu schwächen und zur Einstellung der Kampfhandlungen zu bewegen. Das hat eine Reihe von Gründen: Nur wenige Länder weltweit machen überhaupt bei den Sanktionen mit, Russland hat weiter einen hohen Leistungsbilanzüberschuss und finanzielle Reserven, es gibt eine geschickte makroökonomische Steuerung durch die Zentralbank und wie gesagt einen Wachstumsschub durch die Rüstungsproduktion und steigende Reallöhne. Wir sehen aber, dass insbesondere die Finanzsanktionen der USA gegen Drittstaaten wirken, weil sie die Finanzierung von Importen für Russland weiter erschweren und verteuern.
Janis Kluge, stellv. Leiter Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien, Stiftung Wissenschaft und Politik:
Am stärksten spürt Russland die Sanktionen beim Außenhandel. Technik-Importe sind teilweise nur noch schwer und sehr teuer zu bekommen. Russland kann beispielsweise seine großen Expansionspläne beim Flüssiggas nicht realisieren. Außerdem entgehen Russland trotz der Umleitung seiner Ölexporte in Drittstaaten viele Milliarden US-Dollar Exporteinnahmen im Jahr. Schließlich haben die russischen Exporteure und Importeure große Probleme bei der Abwicklung von Zahlungen mit dem Ausland, auch mit befreundeten Staaten wie China und auch in Währungen wie Yuan. Ausländische Investitionen in Russland gibt es kaum noch. Falsch eingeschätzt wurde die Wirksamkeit des Ölpreisdeckels. Dieses Instrument ist relativ komplex und deshalb schwer durchzusetzen, solange man nicht drastische Maßnahmen ergreifen will (die wiederum den Ölpreis ansteigen lassen könnten).
Alexandra Prokopenko:
Die Sanktionen wirken, indem sie die Kosten für die Wirtschaft in Russland erhöhen. Aber offensichtlich ist der Kreml bereit, dafür aufzukommen. Die Strafen sind nicht eindeutig schädigend und haben unterschiedliche Auswirkungen, wie beim eingeschlossenen Kapital in Russland gezeigt. Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass Brain Drain aus Russland und der Abfluss von Kapital für den Kreml viel schmerzhafter wären, als ein Teil der Finanzsanktionen. Deshalb sollten dafür Anreize geschaffen werden.
Janis Kluge:
Um eine stärkere Wirkung zu erreichen, müssten westliche Regierungen wieder bereit sein, Risiken beim Sanktionieren einzugehen, so wie es am Anfang der Vollinvasion der Fall war, als der Schock über den Krieg noch dominierte. Es gibt kleinere Lerneffekte beim Sanktionieren. So sind Sanktionen gegen Zwischenhändler oft nicht wirksam, weil die Unternehmen einfach an gleicher Stelle neu gegründet werden. Wirksamer ist es, bestimmte Personen, Adressen oder auch konkrete Schiffe und Flugzeuge zu sanktionieren, weil es dann keine leichte Umgehung gibt.
Deutscher Spezialist in Moskau:
Der Preisdeckel auf russisches Öl funktioniert nicht gut und ist zumindest in der vorläufigen Bilanz ein Eigentor für Europa, insbesondere für Deutschland. Denn Moskau verkauft sein Öl mit Rabatt an China und Indien. Russland hat weiterhin beträchtliche Einnahmen, unsere Konkurrenten haben billiges Öl und wir das Nachsehen, weil wir Öl teurer kaufen müssen.
Für einen Fehlschlag halte ich auch die Konstruktion der Sanktionen gegen die Oligarchen. Eigentlich müssten sie besser Magnaten heißen, denn nicht sie machen in Russland den Präsidenten, sondern der Präsident bestimmt, wer Magnat ist. Druck und Sanktionen des Westens auf sie, in der Hoffnung, dass sie sich gegen Putin erheben, führten zum Gegenteil. Die Magnaten stellten sich mehr als zuvor hinter Putin. Und sie tun nun das, wovon Putin zuvor vergeblich geträumt hatte: Sie bringen ihre Milliarden nach Russland und investieren sie im Land, mehr als 100 Milliarden Euro sind so nach Schätzungen von Experten schon nach Russland geflossen. Letztlich hat Brüssel Putin geholfen, dieses Geld nach Russland zurückzubringen.
Michael Harms:
Die deutsche Wirtschaft setzt die Sanktionen gegen Russland und Belarus akribisch um. Wir kritisieren nicht die Sanktionen an sich, sondern Ausgestaltung, Umsetzung und langwierige Genehmigungsverfahren. Wir würden uns eine bessere europäische Abstimmung der Sanktionen, die Beseitigung von widersprüchlichen Bestimmungen und eine schnellere Entscheidung der Behörden bei notwendigen Genehmigungen wünschen. Eine stärkere Konzentration auf kriegswichtige Güter würde zudem den Kontrollaufwand erleichtern.
Es geht hier ja nicht bloß um den Russland-Handel. Wir müssen aufpassen, dass wir durch unsere Sanktionsbürokratie nicht unseren Außenhandel insgesamt lahmlegen. Wir hören häufig, dass internationale Unternehmen in ihren Lieferketten deutsche Produkte ausschließen wollen (“German Free”), weil die Genehmigungswege zu lang sind und bei bestimmten Produkten zukünftige Sanktionen befürchtet werden.
Herr Reuter, in wenigen Jahren könnte es zu einem bewaffneten Konflikt zwischen der Nato und Russland kommen. Was sollte jetzt aus Sicht des DRK die Priorität der Politik sein, um vorbereitet zu sein?
Das ist kein Thema für die Zukunft. Bewaffnete Konflikte strahlen jetzt schon nach Deutschland aus, mehr als eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer sind innerhalb kürzester Zeit nach Deutschland geflohen. Der Bundeskanzler hat eine Zeitenwende im militärischen Bereich ausgerufen. Was zwingend hätte kommen müssen, wäre eine Zeitenwende für den Bevölkerungsschutz sowie in der zivilen Verteidigung, die sehe ich nicht. Wir haben im Bevölkerungsschutz kein Erkenntnisproblem, wir haben ein politisches Umsetzungsproblem. Wir fordern mindestens 0,5 Prozent des Bundeshaushalts für die Daseinsvorsorge, das sind etwa zwei Milliarden Euro.
Aber nochmal die Frage: Welche Prioritäten sollte die Politik setzen, was konkret sollte sie mit Haushaltsmitteln ausstatten?
Es fehlt an elementaren Dingen, um Menschen in Konflikten und in Krisen unterzubringen und ihnen Möglichkeiten zu geben, sich zu erholen. Es kann nicht der Anspruch der Bundesregierung sein, Menschen dauerhaft in leerstehenden Baumärkten unterzubringen. Wir haben nach den Erfahrungen mit der Flüchtlingsbewegung 2015/2016 ein mobiles Betreuungsmodul entwickelt. 5.000 Menschen können hier autark untergebracht und versorgt werden. Zehn dieser Module sollen beschafft werden, nur eines ist bisher vollfinanziert und zum Großteil beschafft, eines anfinanziert. Es fehlt auch die Vision für eine resiliente Bevölkerung. In der Krise müssen Menschen sich selbst und den Angehörigen helfen können, Stichwort Pflege-Unterstützungskräfte. Das sind Leute, die wir dann auch in einer Konfliktsituation einsetzen können. Wir haben in der Corona-Krise erlebt, wie blank die Gesellschaft ist, als Hunderttausende von osteuropäischen Pflegefachkräften nicht mehr nach Deutschland gekommen sind.
Was für Lösungsvorschläge macht das DRK?
Das DRK hat ein Programm entwickelt, um diese Pflege-Unterstützungskräfte auszubilden. Total wichtig, kostet wenig, ich rede da von 20 Millionen Euro. Die Bundesregierung hat das Geld nicht bewilligt, das ist ein gesamtgesellschaftlicher Skandal. Wir haben uns entschieden, die Ausbildung der Kräfte mit eigenen Mitteln zu beginnen, schlicht und ergreifend, weil wir nicht auf den Umsetzungswillen der Bundespolitik warten wollen.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach hatte gesagt, das Gesundheitswesen müsse auf mögliche militärische Konflikte vorbereitet werden. Setzt er bei der geplanten Krankenhausreform die richtigen Schwerpunkte?
Nein. Ich unterstelle dem Bundesgesundheitsminister, dass er eine klare Vorstellung davon hat, was er machen will, nämlich ein staatlich dominiertes Gesundheitssystem. Er will weniger, dafür spezialisierte Krankenhäuser, am liebsten in staatlicher Hand. Die Reform im Krankenhausbereich und im Rettungsdienst wird zu einer Verknappung von Ressourcen und Infrastruktur führen. Das reicht schon im Normalbetrieb der Bundesrepublik nicht aus und ist im Falle eines bewaffneten Konfliktes geradezu hanebüchen. Man muss sich ja nur die Bilder in der Ukraine anschauen, dann bezweifele ich – und dieses bezweifeln unterstreiche ich dick und fett -, dass unsere Krankenhauslandschaft auch nur ansatzweise für eine solche Krise ausgestattet ist.
Noch dazu, wenn man bedenkt, dass davon auszugehen ist, dass in einer Krise diese Infrastruktur Ziel von Sabotage werden könnte …
Angriffe auf die zivile und medizinische Infrastruktur sind ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und trotzdem passieren sie. Und je weniger Kliniken ich habe, desto anfälliger bin ich für so etwas. Je dezentraler die soziale Infrastruktur ist, desto resilienter bin ich. Auch darauf ist dieses Gesundheitssystem in keinster Weise vorbereitet.
Im Krieg wird das Bundeswehrpersonal in den Einsatz gehen. Das DRK und andere Organisationen sind rechtlich verpflichtet, den Sanitätsdienst der Bundeswehr zu unterstützen und diese personelle Lücke zu füllen. Und gleichzeitig die Zivilgesellschaft weiter zu versorgen. Wie soll das funktionieren?
Das ist genau die spannende Frage. Wir führen intensive, sehr gute Gespräche mit dem Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr, um das zu operationalisieren. Wie stellen wir etwa sicher, dass in einem solchen Konfliktfall Verwundete von nachgelagerten Rettungsstellen und Feldlazaretten nach Deutschland in entsprechende Kliniken und medizinische Versorgungseinrichtungen transportiert werden können? Wir nehmen unsere Verantwortung ernst, das Kommando Sanitätsdienst ebenso. Was fehlt ist die Bundespolitik, die verstehen muss, was gebraucht wird neben Panzern, Raketen, Flugzeugen, Drohnen.
Personal wird der Knackpunkt bleiben, was muss jetzt passieren gegen den herrschenden und absehbaren Personalmangel?
Wir brauchen gesetzliche Veränderungen. Das Deutsche Rote Kreuz mit seinen ehrenamtlichen Helfern ist aus dem Bevölkerungsschutz nicht wegzudenken. Und wir helfen auch dann, wenn man kein Geld damit verdient, anders als etwa private Krankenhausbetreiber. Aber diese Bundesregierung hat es bis heute nicht geschafft, die gleichen rechtlichen Rahmenbedingungen für die Helfer des DRK und den anderen anerkannten Hilfsorganisationen wie dem THW und den Freiwilligen Feuerwehren zu schaffen. Wir brauchen diese Helfergleichstellung. Aber wir müssen auch die Berufe im Gesundheitsbereich attraktiver machen, bessere Wertschätzung, bessere Arbeitszeiten, bessere Bezahlung. Vor allem müssen wir das Narrativ ändern: Arbeit im sozialen Sektor ist was Tolles, es ist schön, anderen Menschen zu helfen. Dazu gehört, dass auch die Politik anders über Pflege und Pflegeberufe redet.
Das Positionspapier des DRK kann hier abgerufen werden.
Nora Müller – Leiterin des Bereichs Internationale Politik bei der Körber-Stiftung
Nora Müller leitet bei der Körber-Stiftung seit 2015 den Bereich Internationale Politik. Zuvor war sie im Nahost-Referat des Auswärtigen Amts tätig. Beim Berliner Forum Außenpolitik bringt die Stiftung jährlich internationale Spitzenpolitikerinnen und -politiker mit renommierten Thinktankern zusammen. “Berlin Pulse” liefert ein wichtiges Stimmungsbild über die Einstellung der Deutschen und US-Amerikaner zu außenpolitischen Themen.
Ulf Laessing – Leiter des Regionalprogramms Sahel bei der Konrad-Adenauer-Stiftung
Der frühere Reuters-Journalist ist einer der wenigen wirklichen Sahel-Kenner im deutschsprachigen Raum. Durch seine sicherheitspolitische Expertise und seine Reisefreude innerhalb der Region war er beim Bundeswehr-Abzug aus Mali ein oft gefragter Gesprächspartner mit schnellen und fundierten Analysen.
Christina Krause – Leiterin der Abteilung Internationale Politik und Sicherheit bei der Konrad-Adenauer-Stiftung
Seit fast 20 Jahren steht Christina Krause in Diensten der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Die Expertise der Leiterin der Abteilung Internationale Politik und Sicherheit umfasst die sicherheitspolitischen Herausforderungen im Hinblick auf Europa und Migration. Vor ihrem Engagement bei der KAS war sie fünf Jahre beim Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen.
Alexey Yusupov – Leiter des Russlandprogramms bei der Friedrich-Ebert-Stiftung
Der Leiter des Russlandprogramms der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat ein tiefes Verständnis für die postsowjetische Region. Der in Moskau geborene Sohn eines Leningrader Juden und einer Kirgisin ist sowohl in Russland als auch unter russischen Exilanten gut vernetzt. Zuvor leitete er FES-Büros in Kasachstan, Afghanistan und Myanmar.
Philip Degenhardt – Leiter des Zentrums für internationalen Dialog und Zusammenarbeit bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Degenhardt leitet seit Dezember 2023 das Zentrum für internationalen Dialog und Zusammenarbeit bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Davor war er für das Regionalbüro der Stiftung in Hanoi zuständig. Die Stiftung deckt in der Zeitenwende den rüstungskritischen Standpunkt ab und damit ein weites Spektrum linker Stimmen in der sicherheitspolitischen Debatte.
Jan Philipp Albrecht – Vorstand bei der Heinrich-Böll-Stiftung
Die Zeitenwende war für die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung ähnlich prägend wie für die Grünen. Jan Philipp Albrecht, der bis 2022 Minister für die Energiewende in Schleswig-Holstein war und neun Jahre im EU-Parlament saß, stellt die Stiftung auf die neuen Herausforderungen ein. Als er mit 27 ins EU-Parlament zog, war er der jüngste deutsche Abgeordnete.
Antonie Katharina Nord – Leiterin der Abteilung Internationale Zusammenarbeit bei der Heinrich-Böll-Stiftung
Das Prinzip der feministischen Außenpolitik wird vor allem von der Heinrich-Böll-Stiftung (HBS) vorangetrieben. Nord ist für die internationale Arbeit der Stiftung zuständig und verantwortet die rund 30 Auslandsbüros. Als eine der ersten Stiftungen musste die HBS das Büro in Russland schließen. Die aufgebauten Netzwerke pflegt die Stiftung weiterhin.
Martin Schulz – Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung
Der Beinahe-Kanzler und Urgestein der deutschen Europapolitik leitet seit 2020 die Friedrich-Ebert-Stiftung. Schulz war fünf Jahre lang Präsident des Europaparlaments. Schulz ist als Erklärer gefragt, wenn es mal wieder darum geht, die sicherheitspolitische Richtung der SPD zu verstehen.
René Klaff – Leiter der internationalen Abteilung bei der Friedrich-Naumann-Stiftung
Klaff hat für die Friedrich-Naumann-Stiftung verschiedene Regionalbüros geleitet und umfassende Auslandserfahrung gesammelt – etwa in Kairo, Sofia, Amman oder Neu-Delhi. Für die Stiftung, die sich als Primärziel den Erhalt der Freiheit verordnet, nicht immer leichte Aufgaben.
Gerhard Wahlers – Leiter der Hauptabteilung Europäische und internationale Zusammenarbeit bei der Konrad-Adenauer-Stiftung
Unter Wahlers Führung ist die internationale Arbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung weiter ausgebaut worden. Mittlerweile unterhält die Stiftung über 100 Auslandsbüros und ist insbesondere bei Themen der Rüstungskooperationen hervorragend aufgestellt. Zusätzlich ist Wahlers stellvertretender Generalsekretär der Stiftung.
Bei der militärischen Unterstützung der EU-Staaten für die Ukraine klafft eine Lücke zwischen Ankündigungen und tatsächlichen Lieferungen: Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba kritisierte beim Treffen der EU-Außenminister in Brüssel die langen Verzögerungen, insbesondere bei zugesagten Flugabwehrsystemen und Munitionslieferungen. Dies erschwere die Planung für die ukrainischen Streitkräfte erheblich.
EU-Außenbeauftragter Josep Borrell unterstützte Kulebas Aufruf und betonte die Dringlichkeit angesichts der massiven russischen Angriffe. Er drängte die Mitgliedstaaten, ihre Versprechen einzuhalten. Bislang hat Deutschland drei Patriot-Systeme geliefert, während andere Länder wie die Niederlande, Rumänien und Spanien noch im Verzug sind.
Borrell griff auch die Forderung des ukrainischen Außenministers auf, die Einschränkung bei der Nutzung von westlichen Waffen aufzuheben. Die Ukraine müsse die Waffen vollumfänglich im Rahmen des internationalen Rechts einsetzen können. Sonst seien die Waffen nutzlos. Allerdings haben neben den USA bisher nur Großbritannien und Frankreich Waffen mit entsprechender Reichweite der Ukraine zur Verfügung gestellt.
Außenministerin Annalena Baerbock bekräftigte die Zusage weiterer Flugabwehrsysteme bis Jahresende. Putin plane einen noch massiveren “Kältekrieg” gegen die Ukraine. Die Antwort der EU müsse ein neuer Schutzschirm sein.
Das Treffen behandelte auch den Nahostkonflikt. Borrell schlug Sanktionen gegen den israelischen Polizeiminister und den Finanzminister vor. Baerbock schloss eine deutsche Zustimmung zu Sanktionen gegen die beiden Minister nicht aus. Italien hat aber Ablehnung signalisiert, und Länder wie Österreich, Ungarn und Tschechien dürften sich gegen den Schritt stellen. Die Außenminister forderten zudem humanitäre Feuerpausen für Polio-Impfungen im Gazastreifen und diskutierten über verstärkte medizinische Hilfe für Zivilisten. sti
Ein ukrainischer F-16-Kampfjet ist US-Kreisen zufolge bei einem Absturz zerstört worden. Russischer Beschuss sei offenbar nicht die Ursache für den Crash gewesen, erfuhr die Nachrichtenagentur Reuters am Donnerstag von einem Vertreter des US-Verteidigungsapparats.
Ob es sich um einen Pilotenfehler oder technisches Versagen gehandelt habe, sei noch nicht geklärt. Die ukrainische Luftwaffe nahm zu dem Bericht zunächst nicht Stellung. Zuvor hatte das “Wall Street Journal” über den Vorfall berichtet, der sich bereits am Montag ereignet haben soll.
Russland hatte die Ukraine am Montag massiv mit Raketen und Drohnen angegriffen und am Dienstag einen weiteren Großangriff gestartet. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte am Dienstag erklärt, die F-16 seien bei der Abwehr des Angriffs vom Montag erfolgreich eingesetzt worden. Selenskyj hatte am 5. August bekanntgegeben, dass die Ukraine nun F-16 für Einsätze innerhalb des Landes nutze. Damit hatte er die lang erwartete Ankunft der in den USA hergestellten Kampfjets bestätigt.
Die Flugzeuge des US-Herstellers Lockheed Martin würden innerhalb der Ukraine genutzt, sagte Selenskyj bei einem Treffen mit Luftwaffenpiloten auf einem Flugplatz, dessen Ort auf ukrainischen Wunsch aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden soll. Die Ankunft der Jets stellt einen Meilenstein für die Ukraine dar, die ihre Lieferung lange gefordert hatte, um der russischen Luftüberlegenheit modernere Kampfflugzeuge entgegensetzen zu können. Russland hatte erklärt, die in den USA gebauten Maschinen abschießen zu wollen.
Die Ukraine habe noch nicht genug ausgebildete Piloten für die Flugzeuge und nicht genug F-16, sagte Selenskyj auf dem Rollfeld des Flugplatzes weiter. Die Ukraine erwarte aber weitere Lieferungen des Fliegers. Unter anderem die Niederlande hatten angekündigt, F-16 in die Ukraine schicken zu wollen. rtr
Der britische Premierminister Keir Starmer und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron haben am Donnerstag ihre Unterstützung für die Ukraine bekräftigt. Das sei essenziell, um “die Verteidigung und die Sicherheit des Landes wie auch des Kontinents” zu garantieren, verkündeten sie in einer gemeinsamen Erklärung.
Nachdem Starmer am Mittwoch Bundeskanzler Olaf Scholz zum Antritt besucht hatte, war er nach Paris weitergereist, um Macron zu treffen. Der deutsche und der britische Regierungschef hatten am Mittwoch angekündigt, ein neues bilaterales Abkommen Anfang 2025 auszuhandeln. Kern soll ein Verteidigungsabkommen sein.
Das Vereinigte Königreich und Deutschland sind finanziell die größten Unterstützer der Ukraine, Frankreich gehört zumindest verbal dazu.
Für Gesine Weber, Politikwissenschaftlerin am German Marshall Fund und am King’s College London, gebe es ein “Gelegenheitsfenster” für eine vertiefte Kooperation zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Auch wenn eine neue Regierung in Frankreich wackelig werde und in Deutschland ein Regierungswechsel im kommenden Jahr wahrscheinlich sei, hat Großbritannien mit Keir Starmer einen Premierminister, der Macron und Scholz “ideologisch relativ nah” stehe – und gemeinsame Herausforderungen sehe.
Das Sicherheitsabkommen, das Deutschland und Großbritannien schließen wollen, müsse man “auch unter dem E3-Kontext sehen”, sagt Weber. Die europäische E3-Gruppe aus Großbritannien, Frankreich und Deutschland hat sich im Rahmen der Verhandlungen zum iranischen Nuklearprogramm entwickelt.
Zwischen Großbritannien und Frankreich sorge der sicherheitspolitische Lancaster-House-Vertrag für stabile Beziehungen, die zweite Seite des Dreiecks zwischen Deutschland und Frankreich werde durch den Elysée-Vertrag und den Aachener Vertrag gehalten. Durch seine Besuche stärke Starmer auch die E3. “Die schwächste Seite dieses Dreiecks ist bisher die deutsch-britische Beziehung.” Zwischen Deutschland und Großbritannien passiere derzeit viel im informellen Rahmen, so Weber. bub
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) sucht offiziell nach Anlagenhersteller, Werften und Ingenieurbüros, die eine schwimmende Plattform Beseitigung von Munitionsaltlasten auf See entwickeln und bauen können. Damit soll Munition, die in und nach den Weltkriegen in der Nord- und Ostsee versenkt wurde, detektiert, geborgen und umweltgerecht entsorgt werden. Am gestrigen Donnerstag wurde das Vergabeverfahren gestartet, ab 2026 soll die Plattform im Einsatz sein.
Die Auftragsvergabe ist Teil des Sofortprogramms der Bundesregierung zur Bergung von Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee, das Umweltministerin Steffi Lemke im Februar vergangenen Jahres angekündigt hatte. 100 Millionen Euro will das BMUV dafür bereitstellen.
Als mögliche gemeinsame Bewerber für das Projekt brachten sich bereits Rheinmetall, German Naval Yards und die norwegische WilNor Governmental Services ins Spiel, wie die Fachzeitschrift “Europäische Sicherheit und Technik” (ESUT) im Januar berichtete. Mitbewerber wäre Thyssen Krupp Marine Systems (tkms), die laut ESUT für die Pilotanlage “eine Vorbereitungszeit von ca. zwei Jahren bis zur Aufnahme des Regelbetriebs” brauchen wird.
Bereits ab September sollen außerdem in einer dreimonatigen Pilotphase in der Lübecker Bucht Munitionsaltlasten geborgen werden, und dabei bestehende Technologien für die Detektion und Bergung von unterschiedlichen Munitions-Typen wie Granaten, Bomben und Minen getestet werden.
Lemke sagte bei einer Veranstaltung in Berlin: “Für unsere Meere stellen Munitionsaltlasten aus den Weltkriegen eine große Belastung dar. Je länger sie am Meeresboden nach und nach verfallen, desto größer wird die Gefahr für die Tiere und Pflanzen in Nord- und Ostsee.” Mithilfe der Industrieanlagen wolle Deutschland als erstes Land weltweit Munitionsaltlasten in industriellem Maßstab sicher und umweltgerecht aus dem Meer bergen und direkt auf See vernichten, sagte Lemke.
In der deutschen Nord- und Ostsee liegen noch rund 1,6 Millionen Tonnen Munition und 5.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe. Nicht detonierte Munition gefährdet den Schiffsverkehr, Fischerei, Tourismus sowie die Meeresumwelt und behindert Offshore-Installationen und Seekabel-Verlegungen.
Das Altlasten-Problem ist kein rein deutsches. Interesse am Pilotprojekt zeigen auch andere Länder, zum Beispiel die Ukraine. Lemke prognostizierte in den kommenden Jahren einen Wettlauf in der Branche, für den sich Deutschland nun rüste. asc/klm
Dass Washington China – und nicht Russland – als größte Sicherheitsbedrohung ansieht, ist kein Geheimnis. Wie wichtig ein Arrangement mit der Volksrepublik für Joe Biden noch auf den letzten Metern seiner Präsidentschaft ist, zeigt sich jetzt darin, dass er erstmals seinen Nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan nach Peking schickte, gleich für drei Tage. Das Ziel: die angespannten Beziehungen zu kontrollieren und eine Eskalation zu verhindern.
Kern der Reise Sullivans war das ausgedehnte Treffen mit Außenminister Wang Yi an einem See bei Peking am Dienstag und Mittwoch, das nach Ansicht mancher Beobachter sogar ein letztes Gipfeltreffen zwischen Biden und Chinas Staatschef Xi Jinping vorzubereiten versuchte. Gesprochen wurde unter anderem über die Wiederaufnahme des bilateralen Militärdialogs und Kooperation bei der KI-Sicherheit. Dennoch bleiben die üblichen Konfliktlinien, beispielsweise mit Blick auf das Südchinesische Meer, sichtbar.
Am Donnerstag kam Sullivan vor der Abreise dann noch mit General Zhang Youxia zusammen, der unter Staatschef Xi Jinping Vizevorsitzender der Zentralen Militärkommission ist. Solche Begegnungen sind äußerst selten. “Ihr Vorschlag, sich mit mir zu treffen, zeigt Ihre hohe Wertschätzung für den militärischen Sicherheitsbereich und die Beziehungen zwischen unseren beiden Armeen”, sagte denn auch General Zhang. Sullivan betonte, dass er das Treffen “angesichts der Weltlage” und der Notwendigkeit, die Beziehungen zwischen den USA und China “verantwortungsvoll” zu gestalten, für “sehr wichtig” halte.
Auch hier blieben die Themen altbekannt. Sullivan sprach unter anderem Bedenken Washingtons über Chinas Unterstützung für Russlands Rüstungsindustrie und die Bemühungen um eine Feuerpause im Gaza-Krieg an. Zudem betonte er die Wichtigkeit von Frieden und Stabilität an der Taiwanstraße. Zhang forderte chinesischen Angaben zufolge hingegen, dass die USA Waffenlieferungen an Taiwan und die Verbreitung von – aus chinesischer Sicht – falschen Darstellungen über die demokratische Inselrepublik einstellen sollten. Ob es in Nuancen eine Annäherung gab, ist nicht bekannt. Aber gerade der Militärdialog darf in der angespannten Lage in Fernost als ein Fortschritt gesehen werden. ck
The New Yorker: The Haditha Massacre Photos That the Military Didn’t Want the World to See. Am 19. November 2005 tötete eine Gruppe von US-Marines 24 Zivilisten in Haditha, Irak. Jahrelang versuchte das Militär, Fotos davon der Öffentlichkeit vorzuenthalten. The New Yorker veröffentlicht die sehr harten, erschreckenden Bilder nun und schreibt zudem darüber, wie Fotos den Blick der Öffentlichkeit auf Kriegsverbrechen prägen.
Zeitschrift für Politikwissenschaft: Die Zeitenwende aus der Sicht der Politikwissenschaft. Trotz zweieinhalb Jahren Zeitenwende, habe Deutschland bisher keine umfassende strategische Neuausrichtung realisiert und sei weiterhin stark an die USA gebunden, kritisiert Politikwissenschaftlerin Annegret Bendiek. Als Gründe nennt sie institutionelle Politikverflechtungs- und idealistische Politikverpflichtungsfallen.
Spiegel: “Afrika wird zum Spielplatz der Rivalität zwischen der Nato und Russland”. Mithilfe russischer Truppen will die Militärregierung Burkina Fasos den islamistischen Terror im Land besiegen. Dennoch starben am Samstag bei einem Anschlag rund 200 Menschen. Der Experte und Politikberater Bakary Sambe spricht im Interview über die aktuelle Lage im Land, sowie die Rolle von Desinformation, Postkolonialismus, Russland und der Nato.
Stiftung Wissenschaft und Politik: Die Logik deutscher Chinapolitik in der Zeitenwende. In der deutschen Chinapolitik sei bis jetzt keine Zeitenwende erkennbar. “Ein übergeordnetes und langfristiges Ziel für die deutsch-chinesischen Beziehungen fehlt”, mahnt Asienwissenschaftlerin Nadine Godehardt und beschreibt, wie Institutionen und Verwaltung sich auf zukünftige Herausforderungen im Umgang mit chinesischen Akteuren vorbereiten können.
Foreign Affairs: Why Whataboutism Works – In International Politics, It Pays to Point Fingers. “Whataboutism” ist als Praxis primär verschrien. Dieser Artikel präsentiert dagegen eine Untersuchung, die besagt, dass “Whataboutism” in außenpolitischen Debatten durchaus ein wirkungsvolles Instrument sein kann. Der Text beschreibt, wann das der Fall ist, welche Rolle das Internet dabei spielt und was das besonders für die USA bedeutet.
US-Präsident Joe Biden hat 2023 die Lieferung von Streumunition in die Ukraine verfügt. Verteidigungsminister Boris Pistorius hält sich mit Kritik an den USA zurück und lässt die Lagerung von US-Streumunition auf deutschem Boden geschehen. Vor 14 Jahren trat die Oslo-Konvention in Kraft, die Einsatz, Herstellung, Lagerung und Weitergabe von Streumunition verbietet und genaue Regeln zur Umsetzung aufstellt.
Streumunition wurde seitdem deutlich weniger eingesetzt, allerdings scheint sich dieser Trend in den aktuellen Konflikten umzukehren. Im Ukrainekrieg setzte Russland diese Waffen von Anfang an massiv ein, und auch die ukrainische Armee verwendet sie, insbesondere seitdem sie von den USA mit Streumunition aus deren Beständen beliefert werden. Ein aktueller Bericht der ARD-Sendung “Panorama” legt nahe, dass diese Lieferungen sogar aus US-Depots auf deutschem Boden erfolgen. Schließlich hat nun Litauen als erster Vertragsstaat der Konvention das Abkommen verlassen, mit Verweis auf die aktuelle Sicherheitslage.
Deutschland, das bislang mit überzeugender Diplomatie und Fördermitteln die Umsetzung der Konvention unterstützt hatte, sollte deswegen gerade jetzt die Verpflichtungen dieses Abkommens verteidigen.
Wir alle kennen die schrecklichen Bilder der Vergangenheit. Im Kosovo, dann in Afghanistan und schließlich auch im Irak hat unter anderem die US-Armee große Mengen Streumunition eingesetzt – mit verheerenden Folgen. Nicht nur trafen diese Waffen durch ihre Streuwirkung mit rund 90 Prozent fast nur unschuldige Zivilist*innen, sondern sie hinterließen auch bis zu 40 Prozent Blindgänger. Diese explosiven Kriegsreste wiederum können zu einer jahrzehntelangen Bedrohung werden. Sie werden immer wieder besonders Kindern zum Verhängnis.
Am 13. November 2003 gründeten wir in Den Haag die internationale Kampagne gegen Streumunition, die Cluster Munition Coalition. Drei Jahre später, als Streumunition der israelischen Armee wieder zahlreiche zivile Opfer im Libanonkrieg forderte, lud die norwegische Regierung zu einer ersten Konferenz über ein Verbot dieser Waffen ein. Wir begleiteten die Verhandlungen über eineinhalb Jahre mit Erfahrungsberichten, Kampagnenevents, Medienarbeit – und wir unterstützten eine Gruppe betroffener Menschen aus verschiedensten Ländern, die “Ban Advocats”, die ihre persönlichen Erfahrungen in die Konferenzen einbrachten.
Unvergesslich bleibt für mich die Begegnung mit dem Teenager Phonghsavath aus Laos, das im Vietnamkrieg von Millionen amerikanischer Streubomben getroffen worden war. Ein Freund schenkte ihm eine kleine Kugel, die er am Straßenrand gefunden hatte, und die in der Hand des 16-Jährigen explodierte. Er verlor beide Hände und sein Augenlicht. Trotz dieses grausamen Schicksals fand er die Kraft, zum Botschafter gegen Streumunition zu werden.
Während des Verhandlungsprozesses über ein Verbot von Streumunition gab es Bedenken von militärischer Seite. Diese Waffen seien aus militärischen Gründen unverzichtbar. Doch schließlich setzte sich die Erkenntnis durch, dass die humanitären Folgen den militärischen Nutzen deutlich überwiegen.
Die Einsätze gingen seit 2010 deutlich zurück. Mit dem Inkrafttreten am 1. August 2010 der Oslo-Konvention begann dann eine Erfolgsgeschichte: 1,5 Millionen Streumunitionen mit 180 Millionen Submunitionen wurden aus Armeebeständen vernichtet, große Flächen verseuchtes Land von den Resten von Streumunition befreit. Die vorbildlichen Regelungen der Konvention zur Opferhilfe führten zur Unterstützung vieler betroffener Menschen.
Bis heute ist die Vertragsstaatengemeinschaft auf 112 Staaten angewachsen. Und der größte Erfolg: Die Einsätze gingen zunächst deutlich zurück. Wie schon Anti-Personenminen wurden Streubomben über die Unterzeichner hinaus für die überwiegende Zahl der Staaten zum Tabu. Selbst die USA setzten sie seither nur noch einmal 2009 im Jemen ein.
Dass Einsätze von Streumunition wieder zunehmen, ist höchst alarmierend. Und gerade in der aktuellen Sicherheitslage sollte denjenigen, die die humanitären Werte betonen und sich auf das Völkerrecht berufen, klar sein: Es ist heute wichtiger denn je, die Errungenschaften multilateraler Abkommen zu stärken. Die humanitären Folgen von Streumunition sind unverändert dramatisch. Deshalb haben so viele Staaten, Organisationen und die Zivilgesellschaft zusammen diese lebensrettende Konvention erkämpft – und müssen heute alles dafür tun, um sie zu erhalten und zu stärken.
Dr. Eva Maria Fischer ist Leiterin der politischen Abteilung von Handicap International Deutschland.
Wer in der verteidigungspolitischen Berichterstattung über den tagesaktuellen Tellerrand von Einzelplan 14, 25-Millionen-Euro-Vorlagen oder der Vergabeverordnung Verteidigung und Sicherheit (VSVgV) hinausblicken will, dem sei dieser schmale, dicht geschriebene Band des Leiters der Dozentur für Militärökonomie der Militärakademie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ) empfohlen.
Historisch leitet Marcus Matthias Keupp her, wie sich die Privatarmeen feudaler Herrscher über die Jahrhunderte hin zu jenen planwirtschaftlich organisierten militärischen Verbänden entwickelten, wie sie moderne Armeen heute darstellen, mit – Spoiler – wenig Spielraum für Reformen.
Das gelte unabhängig davon, in welchem politische System eine Armee finanziert werden müsse, so der Autor in seiner institutionenökonomischen Analyse: “Ob Monarchie, Diktatur oder Demokratie – wer das Militär als Teil der Staatsverwaltung auffasst und zentralistisch führt, gibt ihm einen planwirtschaftlichen Rahmen.” Das führe dazu, dass es allein politischen Entscheidungen unterliege, wie hoch das Militärbudget Jahr für Jahr ausfalle, nicht ökonomischen wie im privaten Sektor.
Die dort geltenden Leistungskriterien seien bei der Ausstattung von Armeen deshalb nicht anwendbar. Die Folgen dieser Abhängigkeit sind nicht nur bei den immer wiederkehrenden Debatten über die mangelnde Ausstattung der Bundeswehr, sondern auch bei den Schwierigkeiten anderer Staaten, das Zweiprozentziel der Nato zu erreichen, zu beobachten: “strukturelle Ineffizienz”. mrb
Marcus Matthias Keupp: Militärökonomie. Springer Gabler, Wiesbaden (2019), 146 Seiten.