Table.Briefing: Security

Rheinmetall legt bei Munition vor + Högl fordert Wehrpflicht-Debatte im Bundestag

Liebe Leserin, lieber Leser,

72 Stunden vor dem Start der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) läuft die internationale Diplomatie auf Hochtouren. Polens neuer Ministerpräsident Donald Tusk besuchte am Montag Paris und Berlin, um im Schulterschluss mit Emmanuel Macron und Olaf Scholz Kräfte zu bündeln für eine eigenständige europäische Rüstungsproduktion – gegen die Bedrohung aus Russland. Zuvor hatte der Bundeskanzler im Rheinmetall-Werk in Unterlüß den ersten Spatenstich für eine neue Munitionsfabrik gesetzt. Wilhelmine Preußen war dabei.

Die Sorge vor einer Wiederwahl Donald Trumps macht nicht nur der europäischen Sicherheitsindustrie Beine. Nach dessen umstrittenen Äußerungen am Wochenende zeigen auch Außenpolitiker klare Kante – unter anderem Annalena Baerbock, die am Montag in Paris zum ersten Mal seit dem Wahlsieg der polnischen Regierung das Weimarer Dreieck mit ihren Kollegen Stéphane Séjourné und Radoslaw Sikorski wiederbelebte.

Genügend globaler Konfliktstoff bleibt der Münchner Sicherheitskonferenz, auf der sich ab Freitag mehr als 180 Regierungsvertreter im Hotel Bayerischer Hof versammeln. Der Security.Table wird mit sechs Kolleginnen und Kollegen vor Ort sein und von Donnerstag bis Sonntag täglich für Sie von der wichtigsten Zusammenkunft der sicherheitspolitischen Community berichten.  

Werfen Sie vorher noch einen Blick in den Standpunkt von Eva Högl. Die Wehrbeauftragte des Bundestags macht darin den Auftakt zu unserer Debattenreihe “Deutschland zu Diensten”. Es geht nicht zuletzt um die Antworten auf die Frage, ob eine Rückkehr zur Wehrpflicht oder ein allgemein verpflichtendes Dienstjahr einen Ausweg aus der Personalnot der Bundeswehr schaffen könnten.

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Markus Bickel
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Analyse

Scholz setzt bei Rheinmetall auf gesteigerte Munitionsproduktion

Olaf Scholz und Rheinmetall-CEO Armin Papperger im niedersächischen Unterlüß

“Wer Frieden will, der muss mögliche Aggressionen erfolgreich abschrecken”, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Montag im niedersäschsischen Unterlüß beim ersten Spatenstich für eine neue Munitionsfabrik im Beisein von Rheinmetall-CEO Armin Papperger. Scholz sprach von “Deutschlandtempo” und nutzte den Termin, um an die europäischen Partner zu appellieren, die militärische Unterstützung der Ukraine hochzufahren.

Einen Tag nach seiner Rückkehr aus den USA, wo der wahrscheinliche Präsidentschaftskandidat der Republikaner, Donald Trump, mit seinen jüngsten Bemerkungen zur Nato am Wochenende für Aufruhr gesorgt hatte, war Scholz die Dringlichkeit des Anliegens deutlich anzumerken. Es stand die Frage im Raum: Was passiert, wenn die USA die Ukraine und letztendlich Europa mit der Bündnisverteidigung an der Ostflanke der Nato alleine lassen.

Scholz fordert mehr Anstrengungen anderer EU-Staaten

Dass Deutschland derzeit der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine nach den USA ist, sei “kein Grund zur Prahlerei”, sondern “eher ein Grund zur Sorge”, sagte Scholz. Sowohl die Vereinigten Staaten wie andere europäischen Länder müssten noch mehr tun zur Unterstützung der Ukraine.

Vor allem wirtschaftsstarke Länder wie Frankreich und Italien, deren Beiträge weit hinter Deutschlands liegen, dürften das Ziel dieser Botschaft aus Unterlüß sein.

Unterstützung bekam der Kanzler aus Dänemark. Ministerpräsidentin Mette Frederiksen war neben Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius ebenfalls nach Unterlüß gekommen, wo sie einen Ausbau der dänischen Produktion ankündigte. Ob damit auch dänische Aufträge für Rheinmetall verbunden sind, blieb unklar.

Der ukrainische Bedarf an Artilleriemunition sei “überwältigend”, aber ein starkes Europa und eine starke Nato hätten die Mittel dem gerecht zu werden, betonte die dänische Regierungschefin.

Munitionsmangel an der Front

Knapp 300 Millionen Euro will Konzernchef Armin Papperger im niedersächsischen Unterlüß investieren. Ziel ist es, ab 2025 in der Lage zu sein, allein in Niedersachsen jährlich bis zu 200.000 Artilleriegranaten des westlichen Standardkalibers 155 herzustellen. Nach einer Bauzeit von rund zwölf Monaten strebt Papperger an, nach einem anfänglichen Anteil nationaler Wert­schöpfung in Höhe von fünfzig Prozent diesen im dritten Produktionsjahr auf hundert Prozent zu steigern. In Unterlüß solle so “ein weiteres europäisches Zentrum” zur Produktion von Artilleriemunition und anderer Effektoren entstehen, sagte Pappberger.

Kurzfristig ändert das an der prekären Munitionsversorgung der ukrainischen Soldaten an der Front jedoch wenig. So hat die EU bislang nur ein Drittel der eine Million Artilleriegeschosse geliefert, die der Ukraine bis Ende März versprochen wurden. Das Ausmaß des Munitionsmangels geht aus einer Analyse des Militärexperten Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) und des Publizisten und Datenanalysten Marcus Welsch hervor.

Demnach brauche die Ukraine für eine “minimale Verteidigung” gegen den russischen Aggressor mindestens 5000 Standardgeschosse pro Tag. Selbst wenn Europa und die USA ihren angekündigten Lieferungen nachkämen, würde man nur auf 3.600 Schuss pro Tag kommen.

Kiesewetter kritisiert Scholz-Besuch als “symbolisch und scheinheilig”

Roderich Kiesewetter, Außenpolitik-Experte der CDU, der gerade aus der Ukraine zurückgekehrt ist, bezeichnet den Besuch des Kanzlers in Unterlüß als “symbolisch und scheinheilig”; Serap Güler, ebenfalls von der CDU, stellte fest, dass der Industrie weiterhin “Planungssicherheit und langfristige Rahmenverträge” von der Bundesregierung fehlten.

Der ukrainische Botschafter Makeiev sagte gegenüber Table.Media: “Man muss bewaffnet werden, um eine bewaffnete Aggression zu bekämpfen”, das habe man in Deutschland nach zehn Jahren Krieg in Europa und nach zwei Jahren großangelegter russischer Invasion in die Ukraine begriffen.

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Putin findet immer neue Schlupflöcher im EU-Sanktionsregime

Der russische Präsident Wladimir Putin leitet am 12. Februar per Videoübertragung aus dem Moskauer Kreml ein Treffen zu Wirtschaftsfragen

Zwei Jahre nach Russlands Vollinvasion in die Ukraine und nach zwölf Sanktionspaketen westlicher Staaten gegen Russland kann Moskau noch immer sein Staatsbudget füllen und den Krieg finanzieren. Öl- und Gasverkäufe spielen dabei eine zentrale Rolle. Obwohl die Einnahmen unter den staatlichen Planungen liegen, zeigen sie dennoch, dass Russland erfolgreich die 60-Dollar-Preisgrenze umgeht, die im Dezember 2022 für russisches Öl eingeführt wurde.

“Insgesamt hat das Jahr 2022 Russland geholfen, sich vorzubereiten und einen riesigen Gewinn im Energiehandel zu erzielen”, erläutert Alexandra Prokopenko im Interview mit Table.Media. Die ehemalige Mitarbeiterin der russischen Zentralbank hat Moskau direkt nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine verlassen. Heute forscht sie am Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin. Dass Russland weiterhin solide Einnahmen aus dem Export von Öl generiert, liege daran, dass “es offensichtlich ein großes Problem gibt, Sanktionen durchzusetzen, und zwar sowohl durch die EU wie durch die USA. Im Ölhandel sieht man das besonders gut”, sagt Prokopenko.

Der Krieg selbst ist für Russland ein Garant, dass der Weltmarktpreis für Öl vergleichsweise hoch bleibt. Seit Januar 2022 – kurz vor der Vollinvasion – bis heute, liegt der Ölpreis über dem Vorkriegsniveau. Der Jahresdurchschnittspreis der Vergleichssorte Brent lag 2021 bei 70,86 US-Dollar; 2022 stieg er auf 100,93 und fiel 2023 auf 82,49 US-Dollar.

Die am 5. Dezember 2022 eingeführte Preisobergrenze von 60 US-Dollar für russisches Öl kann Moskau bisher durchbrechen. Indien und China, die größten Abnehmer für russisches Öl, aber auch Golfstaaten kaufen es offenbar zu höheren Preisen, die aber immer noch unter dem Weltmarktpreis liegen – “win-win” für Verkäufer und Käufer. Verarbeiten indische Raffinerien russisches Öl zu Diesel und exportieren ihn, gilt das als indisches Produkt. Auch die Türkei spielt beim Umschlag des russischen Öls eine so wichtige wie zwielichtige Rolle. Laut Financial Times gelangt das Öl sogar in die EU: nach Griechenland, in die Niederlande und nach Belgien.   

Für das Budget werden 70 US-Dollar pro Barrel angenommen

Jeder Dollar über 60 US-Dollar ist für Russland ein Vorteil. Diese Geschäfte dank direkter Pipelines nach China und der Schattenflotte laufen so erfolgreich, dass Russland ganz öffentlich die Budgetplanungen für die kommenden Jahre mit 70 US-Dollar angesetzt hat.

Die Einnahmen aus Öl sind die Achillesferse der Kriegsfinanzierung. “Damit es wirklich wehtut, muss der Preis deutlich niedriger sein, unter 60 Dollar. Mit 70 Dollar pro Barrel wird Russland das Jahr gut durchstehen”, sagt die Analystin Prokopenko. (Das ausführliche Interview lesen Sie hier.)

Schon bei der Ausarbeitung des 12. Sanktionspaketes war es den EU-Staaten nicht gelungen, den Verkauf von Tankern an Russland zu unterbinden, die für die Umgehung der Ölpreisgrenze genutzt werden. Zum zweiten Jahrestag der russischen Vollinvasion bereitet die EU das 13. Paket vor. Es wird eher einzelne Personen, Diplomaten in Russland betreffen als Branchen. Viel bleibt der EU und den USA auch nicht mehr übrig, das russische Uran vielleicht – aber da sind die Importe in die EU 2022 und 2023 sogar gestiegen.

Brüssel ist besonders über die Türkei verärgert

Sanktionen durchsetzen – das wird die nächste große Aufgabe des Westens sein. In der EU dafür diplomatisch zuständig ist David O’Sullivan. Der 70-Jährige ist viel in Zentralasien unterwegs, wo er eindringlich dafür wirbt, die Re-Exporte nach Russland einzuschränken. Aus EU-Kreisen in Brüssel heißt es, einige Staaten wie Armenien, Georgien und auch Serbien kooperierten und würden die Re-Exporte nach Russland inzwischen stark beschränken.

Weniger zufrieden sei man aber mit Kirgistan, Usbekistan und Kasachstan. Da wachse zwar die Sensibilisierung, “aber sie haben noch insgesamt wenige konkrete Schritte unternommen”. Noch deutlicher fällt das Urteil über Ankara aus: “Die Türkei hat unseren Forderungen zugehört und auch einen gewissen Kooperationswillen gezeigt, aber der Warenfluss [nach Russland] bleibt Besorgnis erregend.” Warum das Thema Durchsetzung erst jetzt in den Vordergrund rückt, obwohl schon seit 2014 klar ist, dass und wie Russland die Sanktionen umgeht, wäre durchaus eine politische Diskussion wert.

Staaten in Zentralasien gewinnen diplomatisch an Gewicht

Die EU versucht, insbesondere die ehemaligen Sowjetrepubliken mit Investitionen, Investitionsversprechen und der Aussicht auf engere Handelsbeziehungen zu locken. So umgarnt von Russland, der EU – und auch China – bietet die Situation den Staaten Möglichkeiten, für sich selbst etwas herauszuholen, welche sie vor dem Krieg nicht hatten. Strafen oder Sanktionen gegen sie würden eventuell schaden, das weiß natürlich auch Russland. Die Staaten in Zentralasien profitieren also nicht nur wirtschaftlich derzeit, sondern erhöhen auch ihr diplomatisches Gewicht.

Ob Russland ökonomisch stärker oder schwächer unter Druck gerät, entscheiden mehrere Faktoren:

  • Indien reduziert derzeit seine Ölkäufe von Russland. Setzt sich der Trend fort, muss Russland aufgrund sinkender Nachfrage anderen Abnehmern noch höhere Rabatte gewähren und wird dadurch weniger einnehmen;
  • wenn zentralasiatische Staaten die Re-Exporte weiter einschränken, verteuert das viele Konsumgüter in Russland, die Inflation würde wieder steigen;
  • gelingt es dem Westen, die Sanktionsschlupflöcher zu schließen, treibt auch das die Kosten etwa für Raketen- und Waffenherstellung hoch.

“Die Durchsetzung der Sanktionen ist ein Katz- und Maus-Spiel. Von außen betrachtet mag es sinnlos erscheinen, immer wieder neue Umgehungswege abzustellen, nur damit russische Unternehmen sich wieder neue suchen. Aber es ist wichtig, dieses Spiel zu spielen und der Umgehung immer neue Steine in den Weg zu legen”, betont Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). “Dazu wird die Gesetzgebung immer wieder angepasst werden müssen, es braucht einen ständigen Dialog und auch Druck auf Umgehungsstaaten, und es braucht eine bessere Ausstattung für die Behörden, die die Umgehung aufdecken und bestrafen sollen.”

Kurzfristig sind aber keine nennenswerten Folgen zu erwarten, ist sich Alexandra Prokopenko sicher, dafür habe Russland zu gut vorgesorgt: “Es gibt keinen Grund für Optimismus für den Westen. Im Gegenteil, ich würde eher sagen, dass dieses Jahr sehr schwierig wird. Aus ökonomischer Sicht ist keine Krise in Russland in diesem Jahr zu erwarten. Wenn etwas passiert, dann wird das etwas anderes sein.”

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News

Heusgen hofft auf Annäherung in Nahostkonflikt in München

Christoph Heusgen bei der Vorstellung der MSC 2024.

UN-Generalsekretär António Guterres wird am Freitag die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) eröffnen. MSC-Chef Christoph Heusgen sagte am Montag in Berlin, dass die Welt ohne die Vereinten Nationen “nicht überleben” könne und bezeichnete die 60. Sicherheitskonferenz als “diverseste aller Zeiten”: Von 250 Sprecherinnen und Sprechern seien die Hälfte Frauen, 70 kämen aus Staaten des sogenannten Globalen Südens.

Heusgen äußerte die Hoffnung, dass Israels Präsident Izchak Herzog und der palästinensische Ministerpräsident Mohammad Shtayyeh am Rande der Konferenz zusammenkommen könnten. Um Fortschritte bei der Freilassung von mehr als hundert israelischen Geiseln in den Händen der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen zu erreichen, wird auch der Regierungschef Katars, Mohammed bin Abdulrahman Al Thani, nach München reisen. Heusgen betonte seine Hoffnung auf eine diplomatische Lösung nicht nur des Nahostkonflikts “auf der Grundlage der Stärke des Rechts”.

Allerdings ist auch dem MSC-Vorsitzenden klar: “Es gab kaum eine Periode, in der es so viele Konflikte zur gleichen Zeit gegeben hat wie derzeit” – und der Klimawandel komme als Herausforderung noch hinzu. Symbolisch soll deshalb der Sohn des israelischen Dirigenten Daniel Barenboim, Michael Barenboim, mit einem Streichquartett aus Israelis, einem Palästinenser und einem Ägypter noch vor der Rede des UN-Generalsekretärs ein Zeichen setzen “gegen Gewalt und für Versöhnung”.

Neben dem Krieg in Nahost wird der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und damit verbunden auch der Zusammenhalt der Nato das Münchner Treffen bestimmen. Auch wenn noch offen sei, ob der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj komme, hoffe er auf starke Unterstützung der Ukraine, sagte Heusgen. Der russische Präsident Wladimir Putin habe “das Kalkül, dass wir Weicheier sind – ich hoffe darauf, dass genau das gegenteilige Signal von München ausgeht”. Der MSC-Vorsitzende ließ offen, ob möglicherweise am Rande der Konferenz ein Sicherheitsabkommen zwischen Deutschland und der Ukraine unterzeichnet wird, wie es beispielsweise Großbritannien bereits getan hat. Eine solche Veranstaltung sei denkbar.

Die erneuten verbalen Angriffe des frühen US-Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten Donald Trump auf die westliche Allianz seien inhaltlich nichts Neues, betonte Heusgen. Das stehe in der Logik seiner Aussagen seit Jahren, und “er hat das auf die ihm eigene Art noch mal betont”. Dennoch werde die Zukunft der Nato im Hinblick auf die US-Präsidentenwahl im Herbst “natürlich ein Thema auf der MSC sein”. Die europäischen Bündnismitglieder müssten zwar zur Kenntnis nehmen, was Trump sage, das sei aber kein Grund, nicht an einer Stärkung der Allianz zu arbeiten. tw/mrb

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Weimarer Dreieck setzt auf Rüstungskooperation

Der neue polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat sich am Montag bei Treffen mit Emmanuel Macron in Paris und Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin für eine stärkere europäische Rüstungskooperation und Munitionsproduktion ausgesprochen. “Polens Sicherheit ist auch unsere Sicherheit”, sagte Scholz nach dem Treffen der beiden in Berlin. Er verwies darauf, dass Polen mittlerweile rund vier Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgebe. Die Selbstverpflichtung der Nato-Staaten liegt bei zwei Prozent, die Deutschland laut Scholz in diesem Jahr “und für alle Zeit” einhält.

Tusks Besuche bei Polens wichtigsten westlichen Partnern in der EU signalisieren eine baldige Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks auf Ebene der Regierungschefs. Der lose Dreierbund wurde 1991 gegründet mit der Integration Polens in Europäische Union und Nato als Ziel sowie einer Stärkung der Europäischen Union insgesamt.

Zum ersten Mal seit dem Amtsantritt ihrer französischen und polnischen Kollegen, Stéphane Séjourné und Radoslaw Sikorski, kam Außenministerin Annalena Baerbock am Montag in La Celle-Saint-Cloud bei Paris mit den beiden zusammen. Auch bei ihrem Gespräch ging es um mehre europäische Anstrengungen zur Unterstützung der Ukraine. “Unsere Stärke liegt gerade darin, dass wir in Frankreich, Polen und Deutschland auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf unser Europa schauen”, so Baerbock. “Der Zusammenhalt Europas ist unsere Lebensversicherung gerade in Zeiten, in denen Russland die europäische Friedensordnung unter Beschuss nimmt.” Reuters

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Wieder aufgelebte Debatte: Sollte Deutschland zurück zur Wehrpflicht?

“Es war ein Fehler, die Wehrpflicht auszusetzen”, sagte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius Ende Januar 2023 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Am 24. März 2011 hatte der Deutsche Bundestag darüber entschieden. Die Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP stimmten gemeinsam mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für das Wehrrechtsänderungsgesetz.

Seit dem 1. Juli 2011 muss sich keiner der Millionen junger Männer in Friedenszeiten mehr die Frage stellen, ob er Grundwehrdienst oder Wehrersatzdienst leisten will. Stattdessen erhielten Männer und Frauen gleichermaßen die Möglichkeit, einen freiwilligen Wehrdienst (FWD) zu leisten.

Die deutschen Männer wurden jedoch nicht gänzlich von der Pflicht zum Dienst an der Waffe befreit. Im Spannungs- oder Verteidigungsfall gilt nach Paragraf 2 des Wehrpflichtgesetzes (WPflG) weiterhin die Wehrpflicht. Sie ist also nur ausgesetzt.

Laut dem damaligen Verteidigungsminister Thomas de Maizière war die Aussetzung ein zentrales Element “auf dem Weg zur Neuausrichtung der Bundeswehr”, der grundlegenden Reform der Bundeswehr hin zu einer Armee im Einsatz. Man brauche keine personalstarken, sondern professionelle und flexible Streitkräfte, so de Maiziére damals. Die Wehrpflicht sei sicherheitspolitisch nicht mehr zu rechtfertigen gewesen.

Wehrpflicht gegen Personalmangel?

Die Zeiten haben sich geändert. Bis 2031 will die Bundeswehr auf rund 203.000 Soldatinnen und Soldaten anwachsen. Allein mit Zeitsoldaten und freiwillig Wehrdienstleistenden ist dieses Ziel wohl kaum erreichbar. Statt der ursprünglich geplanten 15.000 haben sich in den letzten zehn Jahren durchschnittlich nur 8.700 junge Menschen pro Jahr für einen Freiwilligen Wehrdienst gemeldet. Schafft eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht Abhilfe?

Boris Pistorius hat die Debatte darüber entfacht. In einer mehrteiligen Serie werden wir sie mit Vertreterinnen und Vertreten aus Politik und Zivilgesellschaft auf Table.Media weiterführen. Sachlich, erkenntnisreich und hinter die Grenzen Deutschlands blickend. Den Auftakt macht Eva Högl, die als Wehrbeauftragte die Probleme der Soldatinnen und Soldaten kennt.

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Presseschau

Zeit: “Wir sollten bis an die Zähne bewaffnet sein!” Es brauche ein wertebasiertes Denken in den internationalen Beziehungen, dessen ist sich der Politikwissenschaftler Benjamin Tallis sicher. Im Interview spricht er darüber, was Deutschland vom Baltikum lernen kann und welchen Preis ein realistisches Verteidigen der Demokratie hat.

Zeit: Sieben unbequeme Erkenntnisse zu Israel und der Hamas. Nahost-Expertin Kristin Helberg beschreibt in diesem Artikel, inwiefern die “Achse des Widerstands” mehr als Terror kann, warum Netanjahu den Krisenmodus braucht, um an der Macht zu bleiben und wieso die Zweistaatenlösung keine Zukunft hat.

11KM: UN-Hilfswerk in Gaza – nach dem Terror, vor der Katastrophe. Das Palästinenser-Hilfswerk UNRWA steht vor der Pleite – und einzelne UN-Beschäftigte unter Terrorverdacht. Im Tagesschau-Podcast erzählt Nah-Ost-Korrespondent Christian Wagner über “eine Organisation, die keiner liebt, die viele brauchen und die ein Problem lösen soll, dessen Teil sie ist”.

War on the Rocks: Automation Does Not Lead to Leaner Land Forces. Dieser Text räumt mit dem Fehlglauben auf, eine Automatisierung im Sicherheitsbereich mache diesen weniger personalintensiv. Im Gegenteil: Die Einführung von Robotern und autonomen Systemen führt dazu, dass sowohl die Anzahl der erforderlichen Personen als auch die Vielfalt der benötigten Fähigkeiten zunimmt.

Le monde diplomatique: Verkabelter Ozean. Westliche Geheimdienste sehen eine Gefährdung der Datenübertragungskabel im Roten Meer durch die jemenitischen Huthi. Das Kabelnetz ist zu einem zentralen geopolitischen Faktor geworden. Dieser Archivartikel aus dem Jahr 2021 schlüsselt die Geopolitik der Datenströme auf und beleuchtet ihre sicherheitspolitische Relevanz.

Standpunkt

Eva Högl: Debatte über Wehrpflicht gehört in den Bundestag

Die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl, möchte mehr Anreize für freiwillige Dienste schaffen.

Die aktuelle Diskussion um eine mögliche Reaktivierung der Wehrpflicht und ein Gesellschaftsjahr greift in drei Aspekten oftmals zu kurz und läuft dadurch ins Leere. Leider.

  • Kurzschluss Nr. 1: Niemand möchte die alte Wehrpflicht zurück. Niemand möchte die Kreiswehrersatzämter wiederbeleben, alle jungen Männer mustern und einziehen. Darauf wäre die Bundeswehr nicht im Ansatz vorbereitet. Dafür fehlt es an Stuben, Material und Ausbildungspersonal. Und noch viel wichtiger: Das wäre auch militärstrategisch überhaupt nicht geboten.
    Es geht bei der Debatte um neue Modelle und Konzepte, wie zum Beispiel das schwedische Modell. In Schweden werden alle jungen Menschen in den Blick genommen – Frauen wie Männer. Es werden jedoch nicht alle gemustert, geschweige denn eingezogen, sondern diejenigen, die geeignet sind und die wollen. Es gibt somit ein großes Moment an Freiwilligkeit.
  • Kurzschluss Nr. 2: Es geht bei der Diskussion nicht allein um die Bundeswehr und darum, mehr Menschen für die Bundeswehr zu gewinnen. Es geht hier viel grundsätzlicher um die Frage, was jede und jeder für unsere Gesellschaft tun kann – und tun sollte. Ich bin überzeugt, dass sich jede und jeder eine Zeitlang für unsere Gesellschaft engagieren sollte.
    Solch ein Engagement wäre bei der Bundeswehr denkbar, aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Soziales, Kultur und Umwelt. Das würde jedem und jeder Einzelnen guttun, es würde Horizonte erweitern, Perspektiven öffnen, Verantwortung stärken. Und es würde unserer Gesellschaft guttun, den Zusammenhalt stärken und das Miteinander fördern.
    In solch ein Gesellschaftsjahr könnte eine Wehrpflicht nach schwedischem Vorbild eingebettet werden. Mit Blick auf Bundeswehr und Gesellschaft hätte das einen besonderen Charme: Wenn alle jungen Menschen ein Mal Post von der Bundeswehr bekommen, dann würde sich jede und jeder aktiv mit der Bundeswehr auseinandersetzen. Dann wäre die Bundeswehr allgegenwärtig, was sie fest in der Mitte unserer Gesellschaft verankern würde. Genau so sollte es sein für eine Parlamentsarmee. Sie lebt von gesellschaftlichem Interesse, von gegenseitigem Austausch, von Anerkennung und Wertschätzung.
  • Kurzschluss Nr. 3: Bevor eine Pflicht eingeführt wird, könnten die Wege der Freiwilligkeit ausgebaut werden. Einem Gesellschaftsjahr mit neuer Wehrpflicht könnte man sich vom Grundsatz “so viel Freiwilligkeit wie möglich, so viel Pflicht wie nötig” zunächst annähern.
    Es gibt bereits viele Angebote, sich für die Gesellschaft zu engagieren. Bundesfreiwilligendienst, Freiwilliges Ökologisches Jahr, Freiwilliger Wehrdienst und einige mehr. Die Rahmenbedingungen dieser Angebote sind nicht so, wie sie sein könnten oder gar sollten. Hier sind längst nicht alle Mittel ausgeschöpft, um diese Angebote attraktiver zu machen und damit mehr freiwilliges Engagement für unsere Gesellschaft zu fördern.

Diese drei Aspekte finden aktuell zu wenig Berücksichtigung. Eine ernsthafte und offene Auseinandersetzung mit konkreten Ideen und Konzepten und den dahinter liegenden grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Fragen kommt kaum in Gang. Im Gegenteil: Bisher wird jegliche Diskussion nahezu reflexhaft verworfen, noch ehe sie so richtig begonnen hat. Das ist sehr schade.

Helfen könnten neue Impulse – und neue Wege. So fände ich es sehr spannend, einen Bürgerrat im Deutschen Bundestag mit dem Thema zu befassen. Er könnte all die oben skizzierten Fragen und Aspekte in der gebotenen Sachlichkeit und Ausführlichkeit diskutieren, fern jeglicher parteipolitischen Präferenzen und Grenzen. Er könnte auch jene Menschen aufnehmen und einbinden, die unmittelbar betroffen wären.
Das Thema gehört in den Bundestag und in die Mitte unserer Gesellschaft. Ein Bürgerrat verbindet beides vortrefflich. Er ist wie geschaffen dafür und könnte Bewegung in die Debatte bringen.

Eva Högl, SPD, ist Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags.

  • Bundeswehr
  • Bürgerrat
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Security.Table Redaktion

SECURITY.TABLE REDAKTION

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    Die Sorge vor einer Wiederwahl Donald Trumps macht nicht nur der europäischen Sicherheitsindustrie Beine. Nach dessen umstrittenen Äußerungen am Wochenende zeigen auch Außenpolitiker klare Kante – unter anderem Annalena Baerbock, die am Montag in Paris zum ersten Mal seit dem Wahlsieg der polnischen Regierung das Weimarer Dreieck mit ihren Kollegen Stéphane Séjourné und Radoslaw Sikorski wiederbelebte.

    Genügend globaler Konfliktstoff bleibt der Münchner Sicherheitskonferenz, auf der sich ab Freitag mehr als 180 Regierungsvertreter im Hotel Bayerischer Hof versammeln. Der Security.Table wird mit sechs Kolleginnen und Kollegen vor Ort sein und von Donnerstag bis Sonntag täglich für Sie von der wichtigsten Zusammenkunft der sicherheitspolitischen Community berichten.  

    Werfen Sie vorher noch einen Blick in den Standpunkt von Eva Högl. Die Wehrbeauftragte des Bundestags macht darin den Auftakt zu unserer Debattenreihe “Deutschland zu Diensten”. Es geht nicht zuletzt um die Antworten auf die Frage, ob eine Rückkehr zur Wehrpflicht oder ein allgemein verpflichtendes Dienstjahr einen Ausweg aus der Personalnot der Bundeswehr schaffen könnten.

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    Scholz setzt bei Rheinmetall auf gesteigerte Munitionsproduktion

    Olaf Scholz und Rheinmetall-CEO Armin Papperger im niedersächischen Unterlüß

    “Wer Frieden will, der muss mögliche Aggressionen erfolgreich abschrecken”, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Montag im niedersäschsischen Unterlüß beim ersten Spatenstich für eine neue Munitionsfabrik im Beisein von Rheinmetall-CEO Armin Papperger. Scholz sprach von “Deutschlandtempo” und nutzte den Termin, um an die europäischen Partner zu appellieren, die militärische Unterstützung der Ukraine hochzufahren.

    Einen Tag nach seiner Rückkehr aus den USA, wo der wahrscheinliche Präsidentschaftskandidat der Republikaner, Donald Trump, mit seinen jüngsten Bemerkungen zur Nato am Wochenende für Aufruhr gesorgt hatte, war Scholz die Dringlichkeit des Anliegens deutlich anzumerken. Es stand die Frage im Raum: Was passiert, wenn die USA die Ukraine und letztendlich Europa mit der Bündnisverteidigung an der Ostflanke der Nato alleine lassen.

    Scholz fordert mehr Anstrengungen anderer EU-Staaten

    Dass Deutschland derzeit der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine nach den USA ist, sei “kein Grund zur Prahlerei”, sondern “eher ein Grund zur Sorge”, sagte Scholz. Sowohl die Vereinigten Staaten wie andere europäischen Länder müssten noch mehr tun zur Unterstützung der Ukraine.

    Vor allem wirtschaftsstarke Länder wie Frankreich und Italien, deren Beiträge weit hinter Deutschlands liegen, dürften das Ziel dieser Botschaft aus Unterlüß sein.

    Unterstützung bekam der Kanzler aus Dänemark. Ministerpräsidentin Mette Frederiksen war neben Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius ebenfalls nach Unterlüß gekommen, wo sie einen Ausbau der dänischen Produktion ankündigte. Ob damit auch dänische Aufträge für Rheinmetall verbunden sind, blieb unklar.

    Der ukrainische Bedarf an Artilleriemunition sei “überwältigend”, aber ein starkes Europa und eine starke Nato hätten die Mittel dem gerecht zu werden, betonte die dänische Regierungschefin.

    Munitionsmangel an der Front

    Knapp 300 Millionen Euro will Konzernchef Armin Papperger im niedersächsischen Unterlüß investieren. Ziel ist es, ab 2025 in der Lage zu sein, allein in Niedersachsen jährlich bis zu 200.000 Artilleriegranaten des westlichen Standardkalibers 155 herzustellen. Nach einer Bauzeit von rund zwölf Monaten strebt Papperger an, nach einem anfänglichen Anteil nationaler Wert­schöpfung in Höhe von fünfzig Prozent diesen im dritten Produktionsjahr auf hundert Prozent zu steigern. In Unterlüß solle so “ein weiteres europäisches Zentrum” zur Produktion von Artilleriemunition und anderer Effektoren entstehen, sagte Pappberger.

    Kurzfristig ändert das an der prekären Munitionsversorgung der ukrainischen Soldaten an der Front jedoch wenig. So hat die EU bislang nur ein Drittel der eine Million Artilleriegeschosse geliefert, die der Ukraine bis Ende März versprochen wurden. Das Ausmaß des Munitionsmangels geht aus einer Analyse des Militärexperten Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) und des Publizisten und Datenanalysten Marcus Welsch hervor.

    Demnach brauche die Ukraine für eine “minimale Verteidigung” gegen den russischen Aggressor mindestens 5000 Standardgeschosse pro Tag. Selbst wenn Europa und die USA ihren angekündigten Lieferungen nachkämen, würde man nur auf 3.600 Schuss pro Tag kommen.

    Kiesewetter kritisiert Scholz-Besuch als “symbolisch und scheinheilig”

    Roderich Kiesewetter, Außenpolitik-Experte der CDU, der gerade aus der Ukraine zurückgekehrt ist, bezeichnet den Besuch des Kanzlers in Unterlüß als “symbolisch und scheinheilig”; Serap Güler, ebenfalls von der CDU, stellte fest, dass der Industrie weiterhin “Planungssicherheit und langfristige Rahmenverträge” von der Bundesregierung fehlten.

    Der ukrainische Botschafter Makeiev sagte gegenüber Table.Media: “Man muss bewaffnet werden, um eine bewaffnete Aggression zu bekämpfen”, das habe man in Deutschland nach zehn Jahren Krieg in Europa und nach zwei Jahren großangelegter russischer Invasion in die Ukraine begriffen.

    • Münchner Sicherheitskonferenz 2024
    • Munition
    • Olaf Scholz
    • Rüstung
    • Ukraine
    • Verteidigungspolitik
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    Putin findet immer neue Schlupflöcher im EU-Sanktionsregime

    Der russische Präsident Wladimir Putin leitet am 12. Februar per Videoübertragung aus dem Moskauer Kreml ein Treffen zu Wirtschaftsfragen

    Zwei Jahre nach Russlands Vollinvasion in die Ukraine und nach zwölf Sanktionspaketen westlicher Staaten gegen Russland kann Moskau noch immer sein Staatsbudget füllen und den Krieg finanzieren. Öl- und Gasverkäufe spielen dabei eine zentrale Rolle. Obwohl die Einnahmen unter den staatlichen Planungen liegen, zeigen sie dennoch, dass Russland erfolgreich die 60-Dollar-Preisgrenze umgeht, die im Dezember 2022 für russisches Öl eingeführt wurde.

    “Insgesamt hat das Jahr 2022 Russland geholfen, sich vorzubereiten und einen riesigen Gewinn im Energiehandel zu erzielen”, erläutert Alexandra Prokopenko im Interview mit Table.Media. Die ehemalige Mitarbeiterin der russischen Zentralbank hat Moskau direkt nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine verlassen. Heute forscht sie am Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin. Dass Russland weiterhin solide Einnahmen aus dem Export von Öl generiert, liege daran, dass “es offensichtlich ein großes Problem gibt, Sanktionen durchzusetzen, und zwar sowohl durch die EU wie durch die USA. Im Ölhandel sieht man das besonders gut”, sagt Prokopenko.

    Der Krieg selbst ist für Russland ein Garant, dass der Weltmarktpreis für Öl vergleichsweise hoch bleibt. Seit Januar 2022 – kurz vor der Vollinvasion – bis heute, liegt der Ölpreis über dem Vorkriegsniveau. Der Jahresdurchschnittspreis der Vergleichssorte Brent lag 2021 bei 70,86 US-Dollar; 2022 stieg er auf 100,93 und fiel 2023 auf 82,49 US-Dollar.

    Die am 5. Dezember 2022 eingeführte Preisobergrenze von 60 US-Dollar für russisches Öl kann Moskau bisher durchbrechen. Indien und China, die größten Abnehmer für russisches Öl, aber auch Golfstaaten kaufen es offenbar zu höheren Preisen, die aber immer noch unter dem Weltmarktpreis liegen – “win-win” für Verkäufer und Käufer. Verarbeiten indische Raffinerien russisches Öl zu Diesel und exportieren ihn, gilt das als indisches Produkt. Auch die Türkei spielt beim Umschlag des russischen Öls eine so wichtige wie zwielichtige Rolle. Laut Financial Times gelangt das Öl sogar in die EU: nach Griechenland, in die Niederlande und nach Belgien.   

    Für das Budget werden 70 US-Dollar pro Barrel angenommen

    Jeder Dollar über 60 US-Dollar ist für Russland ein Vorteil. Diese Geschäfte dank direkter Pipelines nach China und der Schattenflotte laufen so erfolgreich, dass Russland ganz öffentlich die Budgetplanungen für die kommenden Jahre mit 70 US-Dollar angesetzt hat.

    Die Einnahmen aus Öl sind die Achillesferse der Kriegsfinanzierung. “Damit es wirklich wehtut, muss der Preis deutlich niedriger sein, unter 60 Dollar. Mit 70 Dollar pro Barrel wird Russland das Jahr gut durchstehen”, sagt die Analystin Prokopenko. (Das ausführliche Interview lesen Sie hier.)

    Schon bei der Ausarbeitung des 12. Sanktionspaketes war es den EU-Staaten nicht gelungen, den Verkauf von Tankern an Russland zu unterbinden, die für die Umgehung der Ölpreisgrenze genutzt werden. Zum zweiten Jahrestag der russischen Vollinvasion bereitet die EU das 13. Paket vor. Es wird eher einzelne Personen, Diplomaten in Russland betreffen als Branchen. Viel bleibt der EU und den USA auch nicht mehr übrig, das russische Uran vielleicht – aber da sind die Importe in die EU 2022 und 2023 sogar gestiegen.

    Brüssel ist besonders über die Türkei verärgert

    Sanktionen durchsetzen – das wird die nächste große Aufgabe des Westens sein. In der EU dafür diplomatisch zuständig ist David O’Sullivan. Der 70-Jährige ist viel in Zentralasien unterwegs, wo er eindringlich dafür wirbt, die Re-Exporte nach Russland einzuschränken. Aus EU-Kreisen in Brüssel heißt es, einige Staaten wie Armenien, Georgien und auch Serbien kooperierten und würden die Re-Exporte nach Russland inzwischen stark beschränken.

    Weniger zufrieden sei man aber mit Kirgistan, Usbekistan und Kasachstan. Da wachse zwar die Sensibilisierung, “aber sie haben noch insgesamt wenige konkrete Schritte unternommen”. Noch deutlicher fällt das Urteil über Ankara aus: “Die Türkei hat unseren Forderungen zugehört und auch einen gewissen Kooperationswillen gezeigt, aber der Warenfluss [nach Russland] bleibt Besorgnis erregend.” Warum das Thema Durchsetzung erst jetzt in den Vordergrund rückt, obwohl schon seit 2014 klar ist, dass und wie Russland die Sanktionen umgeht, wäre durchaus eine politische Diskussion wert.

    Staaten in Zentralasien gewinnen diplomatisch an Gewicht

    Die EU versucht, insbesondere die ehemaligen Sowjetrepubliken mit Investitionen, Investitionsversprechen und der Aussicht auf engere Handelsbeziehungen zu locken. So umgarnt von Russland, der EU – und auch China – bietet die Situation den Staaten Möglichkeiten, für sich selbst etwas herauszuholen, welche sie vor dem Krieg nicht hatten. Strafen oder Sanktionen gegen sie würden eventuell schaden, das weiß natürlich auch Russland. Die Staaten in Zentralasien profitieren also nicht nur wirtschaftlich derzeit, sondern erhöhen auch ihr diplomatisches Gewicht.

    Ob Russland ökonomisch stärker oder schwächer unter Druck gerät, entscheiden mehrere Faktoren:

    • Indien reduziert derzeit seine Ölkäufe von Russland. Setzt sich der Trend fort, muss Russland aufgrund sinkender Nachfrage anderen Abnehmern noch höhere Rabatte gewähren und wird dadurch weniger einnehmen;
    • wenn zentralasiatische Staaten die Re-Exporte weiter einschränken, verteuert das viele Konsumgüter in Russland, die Inflation würde wieder steigen;
    • gelingt es dem Westen, die Sanktionsschlupflöcher zu schließen, treibt auch das die Kosten etwa für Raketen- und Waffenherstellung hoch.

    “Die Durchsetzung der Sanktionen ist ein Katz- und Maus-Spiel. Von außen betrachtet mag es sinnlos erscheinen, immer wieder neue Umgehungswege abzustellen, nur damit russische Unternehmen sich wieder neue suchen. Aber es ist wichtig, dieses Spiel zu spielen und der Umgehung immer neue Steine in den Weg zu legen”, betont Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). “Dazu wird die Gesetzgebung immer wieder angepasst werden müssen, es braucht einen ständigen Dialog und auch Druck auf Umgehungsstaaten, und es braucht eine bessere Ausstattung für die Behörden, die die Umgehung aufdecken und bestrafen sollen.”

    Kurzfristig sind aber keine nennenswerten Folgen zu erwarten, ist sich Alexandra Prokopenko sicher, dafür habe Russland zu gut vorgesorgt: “Es gibt keinen Grund für Optimismus für den Westen. Im Gegenteil, ich würde eher sagen, dass dieses Jahr sehr schwierig wird. Aus ökonomischer Sicht ist keine Krise in Russland in diesem Jahr zu erwarten. Wenn etwas passiert, dann wird das etwas anderes sein.”

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    Heusgen hofft auf Annäherung in Nahostkonflikt in München

    Christoph Heusgen bei der Vorstellung der MSC 2024.

    UN-Generalsekretär António Guterres wird am Freitag die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) eröffnen. MSC-Chef Christoph Heusgen sagte am Montag in Berlin, dass die Welt ohne die Vereinten Nationen “nicht überleben” könne und bezeichnete die 60. Sicherheitskonferenz als “diverseste aller Zeiten”: Von 250 Sprecherinnen und Sprechern seien die Hälfte Frauen, 70 kämen aus Staaten des sogenannten Globalen Südens.

    Heusgen äußerte die Hoffnung, dass Israels Präsident Izchak Herzog und der palästinensische Ministerpräsident Mohammad Shtayyeh am Rande der Konferenz zusammenkommen könnten. Um Fortschritte bei der Freilassung von mehr als hundert israelischen Geiseln in den Händen der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen zu erreichen, wird auch der Regierungschef Katars, Mohammed bin Abdulrahman Al Thani, nach München reisen. Heusgen betonte seine Hoffnung auf eine diplomatische Lösung nicht nur des Nahostkonflikts “auf der Grundlage der Stärke des Rechts”.

    Allerdings ist auch dem MSC-Vorsitzenden klar: “Es gab kaum eine Periode, in der es so viele Konflikte zur gleichen Zeit gegeben hat wie derzeit” – und der Klimawandel komme als Herausforderung noch hinzu. Symbolisch soll deshalb der Sohn des israelischen Dirigenten Daniel Barenboim, Michael Barenboim, mit einem Streichquartett aus Israelis, einem Palästinenser und einem Ägypter noch vor der Rede des UN-Generalsekretärs ein Zeichen setzen “gegen Gewalt und für Versöhnung”.

    Neben dem Krieg in Nahost wird der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und damit verbunden auch der Zusammenhalt der Nato das Münchner Treffen bestimmen. Auch wenn noch offen sei, ob der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj komme, hoffe er auf starke Unterstützung der Ukraine, sagte Heusgen. Der russische Präsident Wladimir Putin habe “das Kalkül, dass wir Weicheier sind – ich hoffe darauf, dass genau das gegenteilige Signal von München ausgeht”. Der MSC-Vorsitzende ließ offen, ob möglicherweise am Rande der Konferenz ein Sicherheitsabkommen zwischen Deutschland und der Ukraine unterzeichnet wird, wie es beispielsweise Großbritannien bereits getan hat. Eine solche Veranstaltung sei denkbar.

    Die erneuten verbalen Angriffe des frühen US-Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten Donald Trump auf die westliche Allianz seien inhaltlich nichts Neues, betonte Heusgen. Das stehe in der Logik seiner Aussagen seit Jahren, und “er hat das auf die ihm eigene Art noch mal betont”. Dennoch werde die Zukunft der Nato im Hinblick auf die US-Präsidentenwahl im Herbst “natürlich ein Thema auf der MSC sein”. Die europäischen Bündnismitglieder müssten zwar zur Kenntnis nehmen, was Trump sage, das sei aber kein Grund, nicht an einer Stärkung der Allianz zu arbeiten. tw/mrb

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    Weimarer Dreieck setzt auf Rüstungskooperation

    Der neue polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat sich am Montag bei Treffen mit Emmanuel Macron in Paris und Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin für eine stärkere europäische Rüstungskooperation und Munitionsproduktion ausgesprochen. “Polens Sicherheit ist auch unsere Sicherheit”, sagte Scholz nach dem Treffen der beiden in Berlin. Er verwies darauf, dass Polen mittlerweile rund vier Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgebe. Die Selbstverpflichtung der Nato-Staaten liegt bei zwei Prozent, die Deutschland laut Scholz in diesem Jahr “und für alle Zeit” einhält.

    Tusks Besuche bei Polens wichtigsten westlichen Partnern in der EU signalisieren eine baldige Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks auf Ebene der Regierungschefs. Der lose Dreierbund wurde 1991 gegründet mit der Integration Polens in Europäische Union und Nato als Ziel sowie einer Stärkung der Europäischen Union insgesamt.

    Zum ersten Mal seit dem Amtsantritt ihrer französischen und polnischen Kollegen, Stéphane Séjourné und Radoslaw Sikorski, kam Außenministerin Annalena Baerbock am Montag in La Celle-Saint-Cloud bei Paris mit den beiden zusammen. Auch bei ihrem Gespräch ging es um mehre europäische Anstrengungen zur Unterstützung der Ukraine. “Unsere Stärke liegt gerade darin, dass wir in Frankreich, Polen und Deutschland auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf unser Europa schauen”, so Baerbock. “Der Zusammenhalt Europas ist unsere Lebensversicherung gerade in Zeiten, in denen Russland die europäische Friedensordnung unter Beschuss nimmt.” Reuters

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    Wieder aufgelebte Debatte: Sollte Deutschland zurück zur Wehrpflicht?

    “Es war ein Fehler, die Wehrpflicht auszusetzen”, sagte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius Ende Januar 2023 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Am 24. März 2011 hatte der Deutsche Bundestag darüber entschieden. Die Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP stimmten gemeinsam mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für das Wehrrechtsänderungsgesetz.

    Seit dem 1. Juli 2011 muss sich keiner der Millionen junger Männer in Friedenszeiten mehr die Frage stellen, ob er Grundwehrdienst oder Wehrersatzdienst leisten will. Stattdessen erhielten Männer und Frauen gleichermaßen die Möglichkeit, einen freiwilligen Wehrdienst (FWD) zu leisten.

    Die deutschen Männer wurden jedoch nicht gänzlich von der Pflicht zum Dienst an der Waffe befreit. Im Spannungs- oder Verteidigungsfall gilt nach Paragraf 2 des Wehrpflichtgesetzes (WPflG) weiterhin die Wehrpflicht. Sie ist also nur ausgesetzt.

    Laut dem damaligen Verteidigungsminister Thomas de Maizière war die Aussetzung ein zentrales Element “auf dem Weg zur Neuausrichtung der Bundeswehr”, der grundlegenden Reform der Bundeswehr hin zu einer Armee im Einsatz. Man brauche keine personalstarken, sondern professionelle und flexible Streitkräfte, so de Maiziére damals. Die Wehrpflicht sei sicherheitspolitisch nicht mehr zu rechtfertigen gewesen.

    Wehrpflicht gegen Personalmangel?

    Die Zeiten haben sich geändert. Bis 2031 will die Bundeswehr auf rund 203.000 Soldatinnen und Soldaten anwachsen. Allein mit Zeitsoldaten und freiwillig Wehrdienstleistenden ist dieses Ziel wohl kaum erreichbar. Statt der ursprünglich geplanten 15.000 haben sich in den letzten zehn Jahren durchschnittlich nur 8.700 junge Menschen pro Jahr für einen Freiwilligen Wehrdienst gemeldet. Schafft eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht Abhilfe?

    Boris Pistorius hat die Debatte darüber entfacht. In einer mehrteiligen Serie werden wir sie mit Vertreterinnen und Vertreten aus Politik und Zivilgesellschaft auf Table.Media weiterführen. Sachlich, erkenntnisreich und hinter die Grenzen Deutschlands blickend. Den Auftakt macht Eva Högl, die als Wehrbeauftragte die Probleme der Soldatinnen und Soldaten kennt.

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    Presseschau

    Zeit: “Wir sollten bis an die Zähne bewaffnet sein!” Es brauche ein wertebasiertes Denken in den internationalen Beziehungen, dessen ist sich der Politikwissenschaftler Benjamin Tallis sicher. Im Interview spricht er darüber, was Deutschland vom Baltikum lernen kann und welchen Preis ein realistisches Verteidigen der Demokratie hat.

    Zeit: Sieben unbequeme Erkenntnisse zu Israel und der Hamas. Nahost-Expertin Kristin Helberg beschreibt in diesem Artikel, inwiefern die “Achse des Widerstands” mehr als Terror kann, warum Netanjahu den Krisenmodus braucht, um an der Macht zu bleiben und wieso die Zweistaatenlösung keine Zukunft hat.

    11KM: UN-Hilfswerk in Gaza – nach dem Terror, vor der Katastrophe. Das Palästinenser-Hilfswerk UNRWA steht vor der Pleite – und einzelne UN-Beschäftigte unter Terrorverdacht. Im Tagesschau-Podcast erzählt Nah-Ost-Korrespondent Christian Wagner über “eine Organisation, die keiner liebt, die viele brauchen und die ein Problem lösen soll, dessen Teil sie ist”.

    War on the Rocks: Automation Does Not Lead to Leaner Land Forces. Dieser Text räumt mit dem Fehlglauben auf, eine Automatisierung im Sicherheitsbereich mache diesen weniger personalintensiv. Im Gegenteil: Die Einführung von Robotern und autonomen Systemen führt dazu, dass sowohl die Anzahl der erforderlichen Personen als auch die Vielfalt der benötigten Fähigkeiten zunimmt.

    Le monde diplomatique: Verkabelter Ozean. Westliche Geheimdienste sehen eine Gefährdung der Datenübertragungskabel im Roten Meer durch die jemenitischen Huthi. Das Kabelnetz ist zu einem zentralen geopolitischen Faktor geworden. Dieser Archivartikel aus dem Jahr 2021 schlüsselt die Geopolitik der Datenströme auf und beleuchtet ihre sicherheitspolitische Relevanz.

    Standpunkt

    Eva Högl: Debatte über Wehrpflicht gehört in den Bundestag

    Die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl, möchte mehr Anreize für freiwillige Dienste schaffen.

    Die aktuelle Diskussion um eine mögliche Reaktivierung der Wehrpflicht und ein Gesellschaftsjahr greift in drei Aspekten oftmals zu kurz und läuft dadurch ins Leere. Leider.

    • Kurzschluss Nr. 1: Niemand möchte die alte Wehrpflicht zurück. Niemand möchte die Kreiswehrersatzämter wiederbeleben, alle jungen Männer mustern und einziehen. Darauf wäre die Bundeswehr nicht im Ansatz vorbereitet. Dafür fehlt es an Stuben, Material und Ausbildungspersonal. Und noch viel wichtiger: Das wäre auch militärstrategisch überhaupt nicht geboten.
      Es geht bei der Debatte um neue Modelle und Konzepte, wie zum Beispiel das schwedische Modell. In Schweden werden alle jungen Menschen in den Blick genommen – Frauen wie Männer. Es werden jedoch nicht alle gemustert, geschweige denn eingezogen, sondern diejenigen, die geeignet sind und die wollen. Es gibt somit ein großes Moment an Freiwilligkeit.
    • Kurzschluss Nr. 2: Es geht bei der Diskussion nicht allein um die Bundeswehr und darum, mehr Menschen für die Bundeswehr zu gewinnen. Es geht hier viel grundsätzlicher um die Frage, was jede und jeder für unsere Gesellschaft tun kann – und tun sollte. Ich bin überzeugt, dass sich jede und jeder eine Zeitlang für unsere Gesellschaft engagieren sollte.
      Solch ein Engagement wäre bei der Bundeswehr denkbar, aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Soziales, Kultur und Umwelt. Das würde jedem und jeder Einzelnen guttun, es würde Horizonte erweitern, Perspektiven öffnen, Verantwortung stärken. Und es würde unserer Gesellschaft guttun, den Zusammenhalt stärken und das Miteinander fördern.
      In solch ein Gesellschaftsjahr könnte eine Wehrpflicht nach schwedischem Vorbild eingebettet werden. Mit Blick auf Bundeswehr und Gesellschaft hätte das einen besonderen Charme: Wenn alle jungen Menschen ein Mal Post von der Bundeswehr bekommen, dann würde sich jede und jeder aktiv mit der Bundeswehr auseinandersetzen. Dann wäre die Bundeswehr allgegenwärtig, was sie fest in der Mitte unserer Gesellschaft verankern würde. Genau so sollte es sein für eine Parlamentsarmee. Sie lebt von gesellschaftlichem Interesse, von gegenseitigem Austausch, von Anerkennung und Wertschätzung.
    • Kurzschluss Nr. 3: Bevor eine Pflicht eingeführt wird, könnten die Wege der Freiwilligkeit ausgebaut werden. Einem Gesellschaftsjahr mit neuer Wehrpflicht könnte man sich vom Grundsatz “so viel Freiwilligkeit wie möglich, so viel Pflicht wie nötig” zunächst annähern.
      Es gibt bereits viele Angebote, sich für die Gesellschaft zu engagieren. Bundesfreiwilligendienst, Freiwilliges Ökologisches Jahr, Freiwilliger Wehrdienst und einige mehr. Die Rahmenbedingungen dieser Angebote sind nicht so, wie sie sein könnten oder gar sollten. Hier sind längst nicht alle Mittel ausgeschöpft, um diese Angebote attraktiver zu machen und damit mehr freiwilliges Engagement für unsere Gesellschaft zu fördern.

    Diese drei Aspekte finden aktuell zu wenig Berücksichtigung. Eine ernsthafte und offene Auseinandersetzung mit konkreten Ideen und Konzepten und den dahinter liegenden grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Fragen kommt kaum in Gang. Im Gegenteil: Bisher wird jegliche Diskussion nahezu reflexhaft verworfen, noch ehe sie so richtig begonnen hat. Das ist sehr schade.

    Helfen könnten neue Impulse – und neue Wege. So fände ich es sehr spannend, einen Bürgerrat im Deutschen Bundestag mit dem Thema zu befassen. Er könnte all die oben skizzierten Fragen und Aspekte in der gebotenen Sachlichkeit und Ausführlichkeit diskutieren, fern jeglicher parteipolitischen Präferenzen und Grenzen. Er könnte auch jene Menschen aufnehmen und einbinden, die unmittelbar betroffen wären.
    Das Thema gehört in den Bundestag und in die Mitte unserer Gesellschaft. Ein Bürgerrat verbindet beides vortrefflich. Er ist wie geschaffen dafür und könnte Bewegung in die Debatte bringen.

    Eva Högl, SPD, ist Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags.

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    Security.Table Redaktion

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