die Feuerpause zwischen den israelischen Streitkräften und der Hisbollah hält nun schon 48 Stunden – ein erster Teilerfolg. Woran der Deal zerbrechen könnte, den die Biden-Administration noch kurz vor ihrem Ende eingefädelt hat, analysiert Markus Bickel.
Nach dem Regierungswechsel dürfte die US-Diplomatie rauer agieren. Und auf das, was auf Deutschland zukommt, seien einige hierzulande nicht vorbereitet, sagt der neue Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Thomas Kleine-Brockhoff, den wir Ihnen in den Heads vorstellen.
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk würde dem wohl zustimmen. Von Deutschland und insbesondere von Bundeskanzler Olaf Scholz sei er wegen der Zögerlichkeit bei der Ukraine-Unterstützung enttäuscht. Den Kanzler sehe er als “Buchhalter”, heißt es aus seinem Umfeld, der zwar von der Zeitenwende spricht, aber nicht viel tut. Die Teilnahme Tusks am Gipfel der skandinavischen und baltischen Staaten ist ein weiteres Indiz dafür, dass sich Polen von Deutschland ab- und einer neuen Allianz zuwendet.
Und damit eine gute Lektüre
Das Gipfeltreffen der fünf skandinavischen und drei baltischen Staaten – NB-8 genannt – war eine Premiere: Zu den Gesprächen über die Sicherheit im Ostseeraum und die langfristige Unterstützung der Ukraine, die am Mittwoch im schwedischen Harpsund stattfanden, wurde mit Donald Tusk zum ersten Mal in der NB-8-Geschichte auch ein polnischer Ministerpräsident eingeladen.
Der Pole nutzte das Forum, um in Anbetracht der russischen hybriden Kriegsführung gemeinsame Patrouillen in den baltischen Gewässern vorzuschlagen. “Es gibt Anzeichen dafür, dass die Russen zumindest an ernsthaften Sabotageaktivitäten in Polen beteiligt waren”, sagte Tusk. “Ich denke, es wird für uns alle besser sein, wenn wir die volle Kontrolle über unsere Hoheitsgewässer haben.” Sein Vorschlag stieß nach den Beschädigungen der Glasfaserkabel, mutmaßlich durch das chinesische Schiff “Yi Peng 3”, auf offene Ohren.
Die Einladung der nordischen Länder an den polnischen Ministerpräsidenten zeugt von der wachsenden Bedeutung Polens auf der internationalen Bühne. 35 Jahre nach der Wende wird das 37-Millionen-Einwohner-Land zu einem der wichtigsten außenpolitischen Spieler in Europa. Während Frankreich und Deutschland mit Regierungskrisen und wirtschaftlicher Stagnation zu kämpfen haben und international eine starke Führung vermissen lassen, stößt Polen in die Lücke vor und baut im Norden Europas neue Allianzen auf. Mit deren Hilfe könnte das Land, das am 1. Januar 2025 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, seine Agenda besser durchsetzen.
Die Annäherung an den Norden ist auch ein Ausdruck der Enttäuschung, die in Polen über Deutschland empfunden wird. Der zögerliche Kurs von Bundeskanzler Olaf Scholz bei der militärischen Unterstützung der Ukraine, die Unfähigkeit, die Ausgaben für die Sicherheit deutlich zu steigern und die Rüstungsproduktion anzukurbeln, stoßen auf Kritik und Unverständnis.
Nach dem Besuch von Kanzler Scholz in Polen im Sommer haben sich die Beziehungen weiter abgekühlt. Tusk habe lange gehofft, dass Scholz die “Größe der Herausforderungen” verstehe, die sich aus der russischen Aggression für Europa ergebe, heißt es im Umfeld des Ministerpräsidenten. Er sei aber auf einen Buchhalter getroffen, der von Zeitenwende spricht, aber nicht viel tut.
Zuletzt stichelte Tusk gegen Deutschland im Hinblick auf den Verteidigungshaushalt: Zwei Prozent des BIP für die Verteidigung seien für jedes Land zumutbar. Polen hat seine Ausgaben für die Sicherheit seit dem russischen Angriff auf die Ukraine auf 4,2 Prozent des BIP verdoppelt. Deutschland will dieses Jahr knapp die Zwei-Prozent-Marke erreichen.
Mit den baltischen und skandinavischen Ländern pflegt Polen ausgewogene Partnerschaften. Außerdem stimmen alle Länder der Region in den meisten politischen Fragen überein: Sie sehen Russland als existenzielle Bedrohung und wollen ihre Verteidigung und Sicherheit stärken. Sie treten für eine massive Einschränkung der Migration ein und sind – wie Finnland – bereit, das Asylrecht an ihren östlichen Grenzen außer Kraft zu setzen. Sie wollen unbedingt starke transatlantische Beziehungen aufrechterhalten, aber gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften verbessern.
Auch das Auseinanderdriften der drei Visegrad-Staaten Ungarn, Tschechien und der Slowakei, die lange Zeit Eckpfeiler der polnischen Regionalpolitik waren, zwingt Polen zum Nord-Nordost-Kurs. Seitdem sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán als engster Verbündeter Wladimir Putins entpuppte und der slowakische Regierungschef Robert Fico die Unterstützung der Ukraine einstellte, ist der Dialog verstummt.
Natürlich spielt auch die Innenpolitik bei dem Kurswechsel eine Rolle – im Mai 2025 wird in Polen ein Präsident gewählt. Der Kandidat der Bürgerkoalition muss gewinnen, wenn Tusk seine Reformen durchsetzen will. Tusk, der von den Nationalpopulisten als “Berlins Agent” beschimpft wird, möchte wenig Angriffsfläche bieten.
In den meisten Ländern der EU wird Polens Aufstieg gewürdigt. Nicht so in Deutschland, wo noch bis vor Kurzem über polnische Autodiebe gescherzt wurde und “polnische Wirtschaft” als Synonym von Chaos gebraucht wird. “Polen fühlt sich in Deutschland unterschätzt”, sagt Janusz Reiter, Polens Ex-Botschafter in Deutschland.
Tusk will Polen einen Einfluss sichern, der dem Land, seinem Wirtschaftspotenzial und seiner Größe gerecht wird. Seit der russischen Invasion ist Polen ein Frontstaat, über den fast die gesamte militärische und humanitäre Hilfe für die Ukraine läuft. Diese geopolitische Lage macht Warschau zu einem wichtigen, sogar unverzichtbaren Partner in Europa. In Skandinavien und im Baltikum hat man das längst verstanden, in Deutschland vergisst man es immer wieder: Zum Abschiedsbesuch von US-Präsident Joe Biden in Berlin hatte Kanzler Scholz die Regierungschefs von Großbritannien und Frankreich eingeladen – Tusk musste zu Hause bleiben.
Mehr als 48 Stunden hält die Feuerpause zwischen dem Libanon und den Israel Defense Forces (IDF) diesen Freitagmorgen schon. Zwar kam es in einer südlibanesischen Gemeinde am Donnerstag zu Beschuss durch israelische Kräfte, doch die Hisbollah feuerte keine Raketen oder Drohnen mehr Richtung Israel ab. Die Sorge, damit den unter Federführung der USA erreichten Waffenstillstand zunichtezumachen, scheint bei der Führung der massiv geschwächten Schiitenmiliz zu groß.
Drei Monate nach der Detonation von mehr als 3.000 Pagern führender Kader und mittlerer Koordinierungskräfte der Hisbollah im Libanon Anfang September ist die Strategie von Israels Armeeführung aufgegangen: Die von Iran als Kronjuwel ihrer antiwestlichen Milizenfront “Achse des Widerstands” hochgerüstete Hisbollah wurde in nur 100 Tagen so geschwächt wie nie seit ihrer Gründung vor 40 Jahren während des libanesischen Bürgerkriegs. Der Waffenstillstand war ihre letzte Option.
Spätestens mit der Eliminierung Hassan Nasrallahs, der die Organisation seit 1992 als Generalsekretär geführt hatte, ging auch dessen Kalkül nicht mehr auf, den Beschuss Israels erst einzustellen, wenn ein Waffenstillstand im Gaza erreicht sei. Bereits Mitte November signalisierte die Führung in Teheran den USA, dass sie zu einem Friedensschluss bereit sei.
Nasrallahs Nachfolger Naim Qassem rückte bereits in seiner zweiten Rede als Generalsekretär davon ab – und ließ gegenüber dem US-Nahost-Vermittler Amos Hochstein signalisieren, dass die Hisbollah zu Verhandlungen über eine Feuerpause bereit sei. In Teheran erkannte der Oberste Führer Ali Khameni, dass sein Regime nach der Tötung der wichtigsten Köpfe der “Achse des Widerstands” diesen Sommer nicht mehr aus einer Position der Stärke heraus handeln kann: Neben Nasrallah traf es auch die Hamas-Führer Jahia Sinjar und Ismail Hanijeh. Letzteren in einem Gästehaus der Revolutionsgarden mitten in Teheran – ein weiteres Zeichen dafür, wie tief der israelische Auslandsgeheimdienst Mossad über Vorgänge im Innern des iranischen Sicherheitsapparats Bescheid wusste.
Die geheimdienstliche Penetration der Hisbollah durch den Mossad als wichtigster Stellvertreterarmee Irans in Nahost dürfte für die weitere Entwicklung entscheidend sein – auch Syriens Machthaber Baschar al-Assad geht davon aus, dass Israel über alle Vorgänge informiert ist. Dass Nasrallah schon im Frühjahr Hisbollah-Mitglieder dazu aufrief, ihre Handykommunikation einzustellen, weil diese nicht mehr sicher sei, war ein erster Warnruf. In der Folge gelang es Israel, fast die komplette Führung der Schiitenmiliz auszuschalten, auch die der Spezialeinheiten Radwan. Das Raketenarsenal der Hisbollah soll von 140.000 auf 70.000 reduziert worden sein seit dem Einmarsch der IDF Anfang Oktober.
Knapp drei Monate nach den Pager-Detonationen sind Dutzende Dörfer im Südlibanon zerstört. Die Kosten des Wiederaufbaus werden in die Milliarden gehen – und können anders als nach dem Zweiten Libanon-Krieg 2006 nicht mehr von Teheran finanziert werden, das nach zwei Jahrzehnten internationaler Sanktionen finanziell ausgezehrt ist. Die stille Hoffnung der Führung in Teheran noch nach dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, geostrategisch gestärkt aus einem weiteren Gaza-Krieg hervorzugehen, hat sich nicht erfüllt.
Im Gegenteil. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat viel freiere Hand als davor, gegen Militärstellungen im Iran selbst vorzugehen. Bei der letzten Attacke im Oktober gelang es bereits, die Flugverteidigung des Landes schwer zu treffen. Ob künftig auch Atomanlagen ins Visier genommen werden, wird sich wohl erst nach der Amtsübernahme US-Präsident Donald Trumps Anfang 2025 entscheiden.
Bis dahin soll auch das am Dienstagabend von US-Präsident Joe Biden verkündete Waffenstillstandsabkommen halten. Dessen Sollbruchstellen liegen auf der Hand: Tausende israelische Soldaten werden die besetzten Dörfer und Gemeinden im Südlibanon erst dann verlassen, wenn sie sichergestellt haben, dass die Hisbollah ihre Stellungen dort tatsächlich aufgegeben hat. Zugleich soll die libanesische Armee mit Tausenden Mann in die Gebiete südlich des Litani einrücken, die zurzeit noch von israelischen Soldaten kontrolliert werden.
Das ganze unter den Augen der UN-Interimstruppe für den Libanon (Unifil). Diese verfügt seit Verabschiedung von UN-Resolution 1701 nach Ende des Zweiten Libanon-Kriegs 2006 zwar über ein starkes Mandat und umfasst zurzeit mehr als 11.000 Soldaten. Doch angesichts der Stärke der Hisbollah hat sie dieses Mandat nicht durchsetzen können.
Sollte das im zweiten Anlauf, den die Feuerpause nun bietet, besser gelingen, könnte sich das auch positiv auf ein Gaza-Abkommen auswirken. Ein pessimistisches Szenario liefert der Blick zurück auf die bislang einzige Feuerpause seit dem 7. Oktober 2023: Die hielt nach der Freilassung 105 israelischer Geiseln gerade einmal acht Tage – und endete vor fast exakt einem Jahr am 1. Dezember.
Als Schweden am 18. November eine neue Auflage seiner Zivilschutz-Broschüre “Wenn Krise oder Krieg kommt” (“om krisen eller kriget kommer”) an die Bevölkerung verteilte, war die internationale Aufmerksamkeit groß. Das jüngste Nato-Mitglied zeige damit, wie ernst es die aktuelle Bedrohungslage nehme. Was außerhalb Schwedens den meisten nicht bewusst war: Die Vorbereitung auf die Selbsthilfe im Krisenfall ist für die schwedische Bevölkerung selbstverständlich. Doch erstmals seit Jahrzehnten wird auch der Kriegsfall wieder als reale Möglichkeit vorgesehen.
Vordergründig wird das schon beim Vergleich der vorangegangenen Ausgabe von “Wenn Krise oder Krieg kommt” aus dem Jahr 2018 mit der aktuellen Broschüre deutlich. Nicht nur, dass die Ausgabe 2024 mit 30 Seiten ein Drittel umfangreicher ist als die frühere Version: Der Inhalt, aber auch der Ton der Ansprache ist ein anderer.
“Im Kalten Krieg hatten wir eines der umfangreichsten Systeme der Totalverteidigung weltweit”, schildert Carl-Oskar Bohlin, der Minister für zivile Verteidigung im schwedischen Verteidigungsministerium, die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Nach dem Ende der Blockkonfrontation wurde es aufgegeben. An die Stelle der umfangreichen Verteidigung trat die Vorbereitung für Krisen in Friedenszeiten, zum Beispiel durch Naturereignisse. Doch spätestens seit der russischen Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022 änderte sich das – und Schweden trat nicht nur der Nato bei, sondern fuhr auch die Vorbereitung auf militärische Angriffe und einen Krieg wieder hoch.
“Da geht es vor allem um eine andere Kultur”, sagt Bohlin. Mit dem Katastrophenschutz in Krisenzeiten gehe es darum, das Individuum vor den Folgen dieser Katastrophe zu schützen. Doch sobald ein Krieg drohe oder beginne, gehe es um eine “existenzielle Bedrohung” – und damit “um die Aufgabe des Einzelnen, die Gesellschaft zu erhalten”.
Das lässt sich der schwedische Staat zwar auch einiges kosten. Neben einer Steigerung der militärischen Verteidigungsausgaben auf geplant 2,6 Prozent der Wirtschaftsleistung ist eine zusätzliche Ausgabe von 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die zivile Verteidigung geplant. Entscheidend sei aber nicht nur das Geld, sondern die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger. Die neue Ausgabe der Verteidigungsbroschüre, warnt Bohlin, sei deshalb nicht nur ein Ratgeber für Krisenzeiten mit Hinweisen auf Vorratshaltung und Verhalten bei Luftangriffen – sondern auch eine klare Aussage: “Was sind unsere Erwartungen an die Bürgerinnen und Bürger?”
Schwedens Regierung, daran lässt Bohlin keinen Zweifel, hat da klare Vorstellungen. “Werde nicht zu einer Belastung für die Gesellschaft. Erfülle deinen Beitrag zur totalen Verteidigung”, mahnt der Minister. Jedem einzelnen müsse klar sein: “Nicht du bist das Opfer. Die ganze Gesellschaft ist das Opfer, und du musst etwas tun.”
Diese Pflicht der Bevölkerung fand sich schon in den bisherigen Veröffentlichungen. Von 16 bis 70 Jahren “bist du Teil von Schwedens Totalverteidigung und verpflichtet, im Kriegsfall oder bei Kriegsgefahr Dienst zu leisten”, heißt es in den alten wie den neuen Broschüren. Die Verpflichtung, ob nun in den Streitkräften, als Teil der Zivilverteidigung oder in einer allgemeinen Dienstpflicht, wird allerdings in der aktuellen weltpolitischen Lage prominenter hervorgehoben.
Blaupause für die neuen Überlegungen sind dabei auch die Erfahrungen der Ukraine in den vergangenen knapp drei Jahren. Denn dort wurden und werden eben nicht nur Soldaten für die Front gebraucht, sondern auch zusätzliches Personal in vielen Bereichen des zivilen Lebens, sagt Bohlin. Das sei zum Beispiel der Fall bei Feuerwehr und Rettungsdiensten, die nicht nur viel mehr zu tun bekommen, sondern auch mit neuen Problemen wie dem Umgang mit Munition konfrontiert werden.
Das schwedische Vorgehen wird zwar im Ausland am ehesten bemerkt. Aber alle nordischen Länder haben in jüngster Zeit ähnliche Vorbereitungen getroffen. Finnland, ebenfalls noch ein recht neues Nato-Mitglied und zudem mit einer langen Grenze zu Russland, veröffentlichte am 18. November eine Neufassung seiner Ratschläge zur “Vorbereitung auf Vorfälle und Krisen”. Dänemark und Norwegen hatten das bereits früher in diesem Jahr getan.
Von ähnlichen Ratgebern wie der entsprechenden deutschen Broschüre unterscheiden sich die Ratgeber der Nordeuropäer nicht nur dadurch, dass sie ausdrücklich die Kriegsgefahr oder hybride Aktionen und Desinformationskampagnen ansprechen. Die Broschüren oder Online-Produkte gibt es meist auch in mehreren Sprachen, zum Beispiel auf Arabisch oder Türkisch in Dänemark, auf Polnisch oder Somali in Schweden. In Deutschland gibt es den Ratgeber des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe außer auf Deutsch noch in Englisch und Französisch. Nach Angaben des Bundesamts ist eine Neuauflage geplant – dann auch in den meistgesprochenen Sprachen nach Deutsch und Englisch. “Das sind dann die Sprachen, in die auch die Warn-App NINA übersetzt: Türkisch, Arabisch, Russisch und Polnisch.”
Der frühere Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) und Ex-Außenminister Heiko Maas (SPD) haben am Mittwoch im Untersuchungsausschuss Afghanistan ihre Rollen beim chaotischen Abzug Deutschlands aus Afghanistan im Sommer 2021 im Wesentlichen verteidigt.
Im Rückblick hätte die Bundesregierung eine Abzugsentscheidung und viele andere Entscheidungen in diesem Zusammenhang früher treffen müssen, räumte Maas, der als einer der wichtigsten Zeugen gilt, ein. Informationen, die man heute habe, “standen uns aber nicht zur Verfügung”.
Maas bezog sich auf eine Einschätzung des Bundesnachrichtendiensts, nachdem die afghanische Regierung vor dem 11. September 2021 nicht zusammenbrechen werde. Diese Einschätzung vom 13. August 2021 habe sich als falsch herausgestellt, sagte er. Die Taliban hatten die Hauptstadt Kabul tatsächlich schon am 14./15. August 2021 nach einer Blitzoffensive praktisch ohne Gegenwehr eingenommen. Deutschland beteiligte sich an einem internationalen militärischen Evakuierungseinsatz. Es kam zu chaotischen Zuständen und gefährlichen Situationen rund um den Flughafen.
Der Ex-Minister führte das damalige Chaos im Wesentlichen auf die einseitige Abzugsentscheidung der Regierung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump zurück. Der frühere Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) zog ein insgesamt positives Fazit der Entwicklungsarbeit in Afghanistan. Trotz der “dramatischen Umstände des Abzugs” habe es keinen Toten unter den afghanischen Ortskräften der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gegeben. Die Abgeordneten sollen die Umstände der deutschen Evakuierung im August 2021 und die Entscheidungswege mit Blick auf die Aufnahme afghanischer Ortskräfte untersuchen. Kommende Woche will das Gremium mit der damaligen Kanzlerin Angela Merkel und ihrem Kanzleramtschef Helge Braun (beide CDU) die Befragungen abschließen. dpa
Im aktuellen geopolitischen Umfeld sollte der Schutz kritischer Infrastrukturen eigentlich ganz oben auf der Agenda von Regierungen stehen. Doch bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in diesem Bereich kommen die meisten EU-Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, nicht voran. Sie hätten die NIS-2-Richtlinie (Richtlinie 2022/2555) zur Netzwerksicherheit sowie die CER-Richtlinie (Richtlinie 2022/2557) über die analoge Resilienz kritischer Einrichtungen bis zum 17. Oktober vollständig in nationales Recht umsetzen müssen. In 26 Mitgliedstaaten ist das bei einer oder sogar beiden Richtlinien allerdings nicht geschehen.
An diese Staaten hat die EU-Kommission jetzt Aufforderungsschreiben geschickt und damit Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Deutschland ist in beiden Fällen betroffen. Sowohl zum NIS-2-Umsetzungsgesetz als auch zum KRITIS-Dachgesetz, das die CER-Richtlinie umsetzen soll, hat die Ampelkoalition vor ihrem Bruch keine Einigung gefunden.
Deutschland und die anderen Mitgliedstaaten haben nun zwei Monate Zeit, um zu antworten und die Richtlinien vollständig umzusetzen. Sollte das nicht passieren, kann die Kommission beschließen, mit Gründen versehene Stellungnahmen zu übermitteln. Wenn der Mitgliedstaat auch dann nicht reagiert oder die Verstöße nicht behebt, kann die Kommission den Fall vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bringen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Richtlinien noch vor den Neuwahlen in Deutschland umgesetzt werden, ist derzeit nicht sehr hoch. SPD und Grüne sind entweder auf die Unterstützung der FDP oder der Union angewiesen. Die Union hat bereits angedeutet, dass die Chancen auf Erfolg gering sind. In diesem Jahr stehen noch zwei Sitzungswochen an. vis/wp
Außenministerin Annalena Baerbock wird von Sonntag bis Dienstag nach Peking reisen. Wenn Baerbock am Montag zu den eintägigen Gesprächen in der chinesischen Hauptstadt eintrifft, wird ein Thema auf ihrer Agenda sehr weit oben stehen: der Krieg in der Ukraine. Und die Frage, wie Deutschland die chinesische Führung dazu bewegen könnte, ihre Unterstützung für Putin zurückzufahren. Doch wie könnte Außenministerin Baerbock Einfluss auf die chinesische Führung nehmen?
Ihre Verhandlungsposition ist alles andere als leicht. Zum einen, weil die Europäer – anders als die USA – ihr Vorgehen koordinieren müssen. Das erfordert komplizierte Absprachen. Zum anderen, weil sich die Bundesregierung selbst uneins ist, wie sie ihr wirtschaftliches Verhältnis zu China gestalten will. Im Werkzeugkasten der EU, aus dem sich Baerbock bedienen kann, liegt derzeit nur ein Werkzeug, sagt Alexander Gabuev, Direktor am Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin zu Table.Briefings: Sanktionen.
“Man könnte beispielsweise Sanktionen gegen chinesische Finanzdienstleister verhängen, die am Zahlungsverkehr von Dual Use Gütern verdienen”, so Gabuev. Für Baerbock wird es vermutlich die letzte Reise nach Peking als Mitglied der amtierenden Bundesregierung. Welche politischen Vertreter sie in Peking treffen wird, ist noch nicht bekannt. Unter Beobachtung stehen wird der Empfang Baerbocks in der Volksrepublik generell. Denn die Außenministerin wird in China als eher konfrontativ gesehen, auch nachdem sie Staatschef Xi Jinping als “Diktator” bezeichnet hatte. Vor welchen Herausforderungen Baerbock in Peking steht, lesen Sie in der Analyse im China.Table. ari/aiko
International Institute for Strategic Studies: Europe’s missile renaissance. Immer mehr europäische Staaten schließen sich dem European Long-Range Strike Approach-Programm an. Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat zu einer Renaissance bodengestützter ballistischer Raketen und Marschflugkörper geführt. Es bestehen jedoch große wirtschaftliche und technische Herausforderungen.
Kyjiwer Gespräche: Monitor Luftkrieg Ukraine – Analysen zum Schutz ukrainischer Städte und Infrastruktur. Die gestern gestartete Publikationsreihe “Monitor Luftkrieg Ukraine” soll Entscheidungsträgern monatlich datenbasierte Empfehlungen dazu geben, wie sie die Ukraine unterstützen können. Die aktuelle Ausgabe empfiehlt die Einschränkung der russischen Rüstungsproduktion, eine verstärkte Flugabwehr und die Ausschaltung russischer Logistikhubs.
The New York Times: A Year of War Transformed Hezbollah. Durch seine erfolgreichen Militärschläge in den vergangenen Monaten gelang es Israel, die Hisbollah zu schwächen. Nun besteht die Möglichkeit, dass der iranische Einfluss abnimmt. Am Ende ist die Hisbollah allerdings nicht, denn sie ist weiterhin tief in der libanesischen Gesellschaft verwurzelt.
Tagesschau: Krieg im Sudan – “Die größte Vertreibungskrise weltweit”. Lange Zeit hofften die Sudanesen auf eine demokratische Entwicklung ihres Landes. Doch der 2023 ausgebrochene Krieg hat dazu geführt, dass elf Millionen Menschen auf der Flucht sind und es immer wieder zu brutalen ethnischen Säuberungen kommt. Darum, wie der Iran, Russland und Saudi-Arabien in den Krieg eingreifen, geht es in diesem Podcast.
Keith Kellogg, ehemaliger Generalleutnant der Armee, soll US-Sondergesandter für die Ukraine und Russland werden. Dies gab Donald Trump am Mittwoch über sein soziales Netzwerk Truth Social bekannt. “Gemeinsam werden wir Frieden durch Stärke sichern und Amerika und die Welt wieder sicher machen!”, schrieb der designierte US-Präsident.
Der 80-jährige Kellogg diente während Trumps erster Amtszeit als nationaler Sicherheitsberater und als Stabschef des Nationalen Sicherheitsrats. Er ist Ko-Vorsitzender des American First Policy Institute’s Center for American Security und einer der Autoren eines Politikbuchs, das eine konservative “America First”-Agenda für die neue Regierung vorsieht.
Eine “starke, auf Amerika ausgerichtete Führung” sei unverzichtbar für eine Beendigung des Krieges zwischen Russland und der Ukraine, sagte Kellogg. Im April dieses Jahres war er Mitverfasser eines Strategiepapiers, das fordert, die USA sollten sich auf einen Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung des Konflikts konzentrieren. ap/asc
Nicole Schilling schreibt Geschichte und die Bundeswehr mit ihr: Seit dem gestrigen Donnerstag ist die Medizinerin Generaloberstabsarzt und damit die erste Frau im Rang eines Drei-Sterne-Generals in der Geschichte der Bundeswehr. Schilling leitet sei Oktober die Abteilung Einsatzbereitschaft und Unterstützung Streitkräfte (EBU). Die 50-Jährige war unter anderem Vizepräsidentin des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr. Eine ihrer Aufgaben bestand darin, die Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr zu steigern. Schilling trat 1993 der Bundeswehr bei. Sie war in Afghanistan und in Bosnien-Herzegowina im Einsatz. vf
Es wird schlimmer kommen als beim ersten Mal. Wenn Thomas Kleine-Brockhoff das sagt, bleibt er ganz sachlich. Man lebe hier immer noch in einem “außenpolitischen Schlaraffenland”, auch nach der erneuten Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Und von dem kann man sicher sagen, dass er die Deutschen nicht leiden kann. Kleine-Brockhoff überrascht das nicht. Aber viele hier hätten “die Dimension des Veränderungswillens, den man schon in seinen ersten Personalbenennungen erkennt”, nicht verstanden.
Deutschland ist in seinen Augen zu einer “Status-quo-Macht geworden, welche die existierende Ordnung zementieren will”. Auch “Erhalten” kann natürlich eine Strategie sein. “Aber irgendwann, wenn sich die Verhältnisse grundlegend ändern, wird Erhalten zum Prokrastinieren. Und dann stellt man fest, dass man über all das Bewahren die Fähigkeit zur strategischen Innovation verloren hat.”
Dass strategisches Denken in den sicherheitspolitischen Debatten hierzulande vernachlässigt wird, stört Kleine-Brockhoff schon lange. Seine Ernennung zum Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im August dieses Jahres könnte man als Krönung seiner Karriere bezeichnen. Die älteste außenpolitische Institution Deutschlands – gegründet 1955 – hatte immer eine gewichtige Stimme. Ob sie immer noch “entscheidend prägt”, wie sie selbst von sich behauptet, kann man hinterfragen. Oder wie ihr neuer Chef trocken bemerkt: “Diese Organisation jetzt zu leiten, ist ein Auftrag zur Erneuerung.”
Dass die deutsche Bevölkerung den Status quo gar nicht verändern wolle, hält Kleine-Brockhoff für Unsinn. “Die Menschen wissen genau, was los ist.” Aktuelle Umfragen geben dem Strategen recht: 57 Prozent der Bevölkerung stimmen einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben zu. Nur in der Berliner Politikblase traue man der eigenen Bevölkerung nicht. “Wann seit der Zeitenwende-Rede hat es massiven Widerstand gegeben?” Selbst die Stationierung weitreichender US-Marschflugkörper in Deutschland löse “vor allem unter Parteifunktionären eine Debatte aus”. Man kann sich denken, wen er meint.
Als Kleine-Brockhoff in den USA an der renommierten Georgetown Universität in Washington studiert, ist er fasziniert von dem Land, in dem man alle seine Vorteile bestätigt, aber auch widerlegt findet. Zwölf Jahre wird er in den USA bleiben. Zuerst von 2001 bis 2007 als Leiter des Washingtoner Büros der Zeit. Dann als Mitglied des Leitungsteams des German Marshall Fund (GMF) in der US-Hauptstadt. Er wird später in Deutschland wieder zum GMF zurückkehren und von 2017 bis 2024 das Berliner Büro leiten.
Aber davor tut er etwas, das sich Journalisten genau überlegen müssen: die Seiten wechseln. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck macht ihn 2013 zum Chef seines Planungsstabs – die einflussreichste Position im Bundespräsidialamt nach dem Amtschef. Gauck, so wird er zitiert, gefalle die “amerikanische Grammatik des Denkens” seines Redenschreibers. Was Kleine-Brockhoff an seinem ehemaligen Chef bewundert: “Dass er ausspricht, was ist.” 2014 fordert Gauck vor der Münchner Sicherheitskonferenz ein stärkeres außenpolitisches Engagement Deutschlands und sagt diesen Satz: “Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein.” Wochenlang wurde darüber in deutschen Feuilletons debattiert, der Bundespräsident und sein Redenschreiber zum Teil heftig kritisiert. Zehn Jahre, bevor der Begriff “Kriegstüchtigkeit” populär wurde.
Aber jetzt bitte noch ein letztes Wort zu Donald Trump: “Hier zieht ein Anti-Westler ins Weiße Haus ein, der Europa nicht einen, sondern spalten will, der Europa sehr wohl Russland ausliefern könnte, statt es zu schützen. Warm anziehen, bitte!” Nana Brink
Künftige Historiker werden die Ära Merkel deutlich kritischer bewerten als die Zeitgenossen bei ihrer Amtsübergabe an ihren Nachfolger 2021. Dass bei der Sicherheits- und Verteidigungspolitik in den vergangenen drei Jahrzehnten Fehler gemacht wurden, bezweifelt kaum jemand mit heutigem Wissen.
Diese allein der Kanzlerin der Jahre 2005 bis 2021 anzulasten, wäre verfehlt. Die engen politischen und wirtschaftlichen Bande mit Russland reichen zurück in die Kanzlerschaft Gerhard Schröders, Stichwort “Moskau-Connection”. Die deutsche Wirtschaft hat von billiger Energie aus Russland profitiert und sich mit Nachdruck für die Fertigstellung von Nord Stream 2 starkgemacht.
Wie geht Angela Merkel in ihren in dieser Woche erschienenen Memoiren mit diesem komplexen Kapitel ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft um? Den Bruch mit Putin verortet sie in 2014, als dieser im persönlichen Gespräch die Präsenz russischer Truppen auf der Krim schlicht abstritt. Dennoch forcierte sie in den Folgejahren eine noch stärkere Energieabhängigkeit von Russland. Und bezeichnete diese als ein “rein wirtschaftliches Projekt”, wohl schon damals wider besseres Wissen. Dass selbst eine so folgenschwere Fehleinschätzung von Merkel in der Rückschau nicht als solche benannt wird, ist nicht nachvollziehbar.
Differenzierter verhält es sich mit dem von Merkel 2008 verhinderten Nato-Beitritt der Ukraine. Ihr Argument, eine Nato-Mitgliedschaft hätte aufgrund der russisch-ukrainischen Verquickungen im Militärischen eine Gefahr für die Nato dargestellt und sei obendrein von der Mehrzahl der Ukrainer abgelehnt worden, ist in der Rückschau sicherlich diskussionswürdig, aber nicht gänzlich von der Hand zu weisen.
Einsichtiger zeigt sich Merkel beim Thema der Verteidigungsausgaben, die während ihrer Amtszeit nie das 2014 vereinbarte Nato-Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichten. Aus heutiger Sicht sei selbst dieser Wert zu gering, weswegen man zügig die Drei-Prozent-Marke ins Auge fassen müsse. Florian Keisinger
die Feuerpause zwischen den israelischen Streitkräften und der Hisbollah hält nun schon 48 Stunden – ein erster Teilerfolg. Woran der Deal zerbrechen könnte, den die Biden-Administration noch kurz vor ihrem Ende eingefädelt hat, analysiert Markus Bickel.
Nach dem Regierungswechsel dürfte die US-Diplomatie rauer agieren. Und auf das, was auf Deutschland zukommt, seien einige hierzulande nicht vorbereitet, sagt der neue Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Thomas Kleine-Brockhoff, den wir Ihnen in den Heads vorstellen.
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk würde dem wohl zustimmen. Von Deutschland und insbesondere von Bundeskanzler Olaf Scholz sei er wegen der Zögerlichkeit bei der Ukraine-Unterstützung enttäuscht. Den Kanzler sehe er als “Buchhalter”, heißt es aus seinem Umfeld, der zwar von der Zeitenwende spricht, aber nicht viel tut. Die Teilnahme Tusks am Gipfel der skandinavischen und baltischen Staaten ist ein weiteres Indiz dafür, dass sich Polen von Deutschland ab- und einer neuen Allianz zuwendet.
Und damit eine gute Lektüre
Das Gipfeltreffen der fünf skandinavischen und drei baltischen Staaten – NB-8 genannt – war eine Premiere: Zu den Gesprächen über die Sicherheit im Ostseeraum und die langfristige Unterstützung der Ukraine, die am Mittwoch im schwedischen Harpsund stattfanden, wurde mit Donald Tusk zum ersten Mal in der NB-8-Geschichte auch ein polnischer Ministerpräsident eingeladen.
Der Pole nutzte das Forum, um in Anbetracht der russischen hybriden Kriegsführung gemeinsame Patrouillen in den baltischen Gewässern vorzuschlagen. “Es gibt Anzeichen dafür, dass die Russen zumindest an ernsthaften Sabotageaktivitäten in Polen beteiligt waren”, sagte Tusk. “Ich denke, es wird für uns alle besser sein, wenn wir die volle Kontrolle über unsere Hoheitsgewässer haben.” Sein Vorschlag stieß nach den Beschädigungen der Glasfaserkabel, mutmaßlich durch das chinesische Schiff “Yi Peng 3”, auf offene Ohren.
Die Einladung der nordischen Länder an den polnischen Ministerpräsidenten zeugt von der wachsenden Bedeutung Polens auf der internationalen Bühne. 35 Jahre nach der Wende wird das 37-Millionen-Einwohner-Land zu einem der wichtigsten außenpolitischen Spieler in Europa. Während Frankreich und Deutschland mit Regierungskrisen und wirtschaftlicher Stagnation zu kämpfen haben und international eine starke Führung vermissen lassen, stößt Polen in die Lücke vor und baut im Norden Europas neue Allianzen auf. Mit deren Hilfe könnte das Land, das am 1. Januar 2025 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, seine Agenda besser durchsetzen.
Die Annäherung an den Norden ist auch ein Ausdruck der Enttäuschung, die in Polen über Deutschland empfunden wird. Der zögerliche Kurs von Bundeskanzler Olaf Scholz bei der militärischen Unterstützung der Ukraine, die Unfähigkeit, die Ausgaben für die Sicherheit deutlich zu steigern und die Rüstungsproduktion anzukurbeln, stoßen auf Kritik und Unverständnis.
Nach dem Besuch von Kanzler Scholz in Polen im Sommer haben sich die Beziehungen weiter abgekühlt. Tusk habe lange gehofft, dass Scholz die “Größe der Herausforderungen” verstehe, die sich aus der russischen Aggression für Europa ergebe, heißt es im Umfeld des Ministerpräsidenten. Er sei aber auf einen Buchhalter getroffen, der von Zeitenwende spricht, aber nicht viel tut.
Zuletzt stichelte Tusk gegen Deutschland im Hinblick auf den Verteidigungshaushalt: Zwei Prozent des BIP für die Verteidigung seien für jedes Land zumutbar. Polen hat seine Ausgaben für die Sicherheit seit dem russischen Angriff auf die Ukraine auf 4,2 Prozent des BIP verdoppelt. Deutschland will dieses Jahr knapp die Zwei-Prozent-Marke erreichen.
Mit den baltischen und skandinavischen Ländern pflegt Polen ausgewogene Partnerschaften. Außerdem stimmen alle Länder der Region in den meisten politischen Fragen überein: Sie sehen Russland als existenzielle Bedrohung und wollen ihre Verteidigung und Sicherheit stärken. Sie treten für eine massive Einschränkung der Migration ein und sind – wie Finnland – bereit, das Asylrecht an ihren östlichen Grenzen außer Kraft zu setzen. Sie wollen unbedingt starke transatlantische Beziehungen aufrechterhalten, aber gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften verbessern.
Auch das Auseinanderdriften der drei Visegrad-Staaten Ungarn, Tschechien und der Slowakei, die lange Zeit Eckpfeiler der polnischen Regionalpolitik waren, zwingt Polen zum Nord-Nordost-Kurs. Seitdem sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán als engster Verbündeter Wladimir Putins entpuppte und der slowakische Regierungschef Robert Fico die Unterstützung der Ukraine einstellte, ist der Dialog verstummt.
Natürlich spielt auch die Innenpolitik bei dem Kurswechsel eine Rolle – im Mai 2025 wird in Polen ein Präsident gewählt. Der Kandidat der Bürgerkoalition muss gewinnen, wenn Tusk seine Reformen durchsetzen will. Tusk, der von den Nationalpopulisten als “Berlins Agent” beschimpft wird, möchte wenig Angriffsfläche bieten.
In den meisten Ländern der EU wird Polens Aufstieg gewürdigt. Nicht so in Deutschland, wo noch bis vor Kurzem über polnische Autodiebe gescherzt wurde und “polnische Wirtschaft” als Synonym von Chaos gebraucht wird. “Polen fühlt sich in Deutschland unterschätzt”, sagt Janusz Reiter, Polens Ex-Botschafter in Deutschland.
Tusk will Polen einen Einfluss sichern, der dem Land, seinem Wirtschaftspotenzial und seiner Größe gerecht wird. Seit der russischen Invasion ist Polen ein Frontstaat, über den fast die gesamte militärische und humanitäre Hilfe für die Ukraine läuft. Diese geopolitische Lage macht Warschau zu einem wichtigen, sogar unverzichtbaren Partner in Europa. In Skandinavien und im Baltikum hat man das längst verstanden, in Deutschland vergisst man es immer wieder: Zum Abschiedsbesuch von US-Präsident Joe Biden in Berlin hatte Kanzler Scholz die Regierungschefs von Großbritannien und Frankreich eingeladen – Tusk musste zu Hause bleiben.
Mehr als 48 Stunden hält die Feuerpause zwischen dem Libanon und den Israel Defense Forces (IDF) diesen Freitagmorgen schon. Zwar kam es in einer südlibanesischen Gemeinde am Donnerstag zu Beschuss durch israelische Kräfte, doch die Hisbollah feuerte keine Raketen oder Drohnen mehr Richtung Israel ab. Die Sorge, damit den unter Federführung der USA erreichten Waffenstillstand zunichtezumachen, scheint bei der Führung der massiv geschwächten Schiitenmiliz zu groß.
Drei Monate nach der Detonation von mehr als 3.000 Pagern führender Kader und mittlerer Koordinierungskräfte der Hisbollah im Libanon Anfang September ist die Strategie von Israels Armeeführung aufgegangen: Die von Iran als Kronjuwel ihrer antiwestlichen Milizenfront “Achse des Widerstands” hochgerüstete Hisbollah wurde in nur 100 Tagen so geschwächt wie nie seit ihrer Gründung vor 40 Jahren während des libanesischen Bürgerkriegs. Der Waffenstillstand war ihre letzte Option.
Spätestens mit der Eliminierung Hassan Nasrallahs, der die Organisation seit 1992 als Generalsekretär geführt hatte, ging auch dessen Kalkül nicht mehr auf, den Beschuss Israels erst einzustellen, wenn ein Waffenstillstand im Gaza erreicht sei. Bereits Mitte November signalisierte die Führung in Teheran den USA, dass sie zu einem Friedensschluss bereit sei.
Nasrallahs Nachfolger Naim Qassem rückte bereits in seiner zweiten Rede als Generalsekretär davon ab – und ließ gegenüber dem US-Nahost-Vermittler Amos Hochstein signalisieren, dass die Hisbollah zu Verhandlungen über eine Feuerpause bereit sei. In Teheran erkannte der Oberste Führer Ali Khameni, dass sein Regime nach der Tötung der wichtigsten Köpfe der “Achse des Widerstands” diesen Sommer nicht mehr aus einer Position der Stärke heraus handeln kann: Neben Nasrallah traf es auch die Hamas-Führer Jahia Sinjar und Ismail Hanijeh. Letzteren in einem Gästehaus der Revolutionsgarden mitten in Teheran – ein weiteres Zeichen dafür, wie tief der israelische Auslandsgeheimdienst Mossad über Vorgänge im Innern des iranischen Sicherheitsapparats Bescheid wusste.
Die geheimdienstliche Penetration der Hisbollah durch den Mossad als wichtigster Stellvertreterarmee Irans in Nahost dürfte für die weitere Entwicklung entscheidend sein – auch Syriens Machthaber Baschar al-Assad geht davon aus, dass Israel über alle Vorgänge informiert ist. Dass Nasrallah schon im Frühjahr Hisbollah-Mitglieder dazu aufrief, ihre Handykommunikation einzustellen, weil diese nicht mehr sicher sei, war ein erster Warnruf. In der Folge gelang es Israel, fast die komplette Führung der Schiitenmiliz auszuschalten, auch die der Spezialeinheiten Radwan. Das Raketenarsenal der Hisbollah soll von 140.000 auf 70.000 reduziert worden sein seit dem Einmarsch der IDF Anfang Oktober.
Knapp drei Monate nach den Pager-Detonationen sind Dutzende Dörfer im Südlibanon zerstört. Die Kosten des Wiederaufbaus werden in die Milliarden gehen – und können anders als nach dem Zweiten Libanon-Krieg 2006 nicht mehr von Teheran finanziert werden, das nach zwei Jahrzehnten internationaler Sanktionen finanziell ausgezehrt ist. Die stille Hoffnung der Führung in Teheran noch nach dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, geostrategisch gestärkt aus einem weiteren Gaza-Krieg hervorzugehen, hat sich nicht erfüllt.
Im Gegenteil. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat viel freiere Hand als davor, gegen Militärstellungen im Iran selbst vorzugehen. Bei der letzten Attacke im Oktober gelang es bereits, die Flugverteidigung des Landes schwer zu treffen. Ob künftig auch Atomanlagen ins Visier genommen werden, wird sich wohl erst nach der Amtsübernahme US-Präsident Donald Trumps Anfang 2025 entscheiden.
Bis dahin soll auch das am Dienstagabend von US-Präsident Joe Biden verkündete Waffenstillstandsabkommen halten. Dessen Sollbruchstellen liegen auf der Hand: Tausende israelische Soldaten werden die besetzten Dörfer und Gemeinden im Südlibanon erst dann verlassen, wenn sie sichergestellt haben, dass die Hisbollah ihre Stellungen dort tatsächlich aufgegeben hat. Zugleich soll die libanesische Armee mit Tausenden Mann in die Gebiete südlich des Litani einrücken, die zurzeit noch von israelischen Soldaten kontrolliert werden.
Das ganze unter den Augen der UN-Interimstruppe für den Libanon (Unifil). Diese verfügt seit Verabschiedung von UN-Resolution 1701 nach Ende des Zweiten Libanon-Kriegs 2006 zwar über ein starkes Mandat und umfasst zurzeit mehr als 11.000 Soldaten. Doch angesichts der Stärke der Hisbollah hat sie dieses Mandat nicht durchsetzen können.
Sollte das im zweiten Anlauf, den die Feuerpause nun bietet, besser gelingen, könnte sich das auch positiv auf ein Gaza-Abkommen auswirken. Ein pessimistisches Szenario liefert der Blick zurück auf die bislang einzige Feuerpause seit dem 7. Oktober 2023: Die hielt nach der Freilassung 105 israelischer Geiseln gerade einmal acht Tage – und endete vor fast exakt einem Jahr am 1. Dezember.
Als Schweden am 18. November eine neue Auflage seiner Zivilschutz-Broschüre “Wenn Krise oder Krieg kommt” (“om krisen eller kriget kommer”) an die Bevölkerung verteilte, war die internationale Aufmerksamkeit groß. Das jüngste Nato-Mitglied zeige damit, wie ernst es die aktuelle Bedrohungslage nehme. Was außerhalb Schwedens den meisten nicht bewusst war: Die Vorbereitung auf die Selbsthilfe im Krisenfall ist für die schwedische Bevölkerung selbstverständlich. Doch erstmals seit Jahrzehnten wird auch der Kriegsfall wieder als reale Möglichkeit vorgesehen.
Vordergründig wird das schon beim Vergleich der vorangegangenen Ausgabe von “Wenn Krise oder Krieg kommt” aus dem Jahr 2018 mit der aktuellen Broschüre deutlich. Nicht nur, dass die Ausgabe 2024 mit 30 Seiten ein Drittel umfangreicher ist als die frühere Version: Der Inhalt, aber auch der Ton der Ansprache ist ein anderer.
“Im Kalten Krieg hatten wir eines der umfangreichsten Systeme der Totalverteidigung weltweit”, schildert Carl-Oskar Bohlin, der Minister für zivile Verteidigung im schwedischen Verteidigungsministerium, die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Nach dem Ende der Blockkonfrontation wurde es aufgegeben. An die Stelle der umfangreichen Verteidigung trat die Vorbereitung für Krisen in Friedenszeiten, zum Beispiel durch Naturereignisse. Doch spätestens seit der russischen Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022 änderte sich das – und Schweden trat nicht nur der Nato bei, sondern fuhr auch die Vorbereitung auf militärische Angriffe und einen Krieg wieder hoch.
“Da geht es vor allem um eine andere Kultur”, sagt Bohlin. Mit dem Katastrophenschutz in Krisenzeiten gehe es darum, das Individuum vor den Folgen dieser Katastrophe zu schützen. Doch sobald ein Krieg drohe oder beginne, gehe es um eine “existenzielle Bedrohung” – und damit “um die Aufgabe des Einzelnen, die Gesellschaft zu erhalten”.
Das lässt sich der schwedische Staat zwar auch einiges kosten. Neben einer Steigerung der militärischen Verteidigungsausgaben auf geplant 2,6 Prozent der Wirtschaftsleistung ist eine zusätzliche Ausgabe von 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die zivile Verteidigung geplant. Entscheidend sei aber nicht nur das Geld, sondern die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger. Die neue Ausgabe der Verteidigungsbroschüre, warnt Bohlin, sei deshalb nicht nur ein Ratgeber für Krisenzeiten mit Hinweisen auf Vorratshaltung und Verhalten bei Luftangriffen – sondern auch eine klare Aussage: “Was sind unsere Erwartungen an die Bürgerinnen und Bürger?”
Schwedens Regierung, daran lässt Bohlin keinen Zweifel, hat da klare Vorstellungen. “Werde nicht zu einer Belastung für die Gesellschaft. Erfülle deinen Beitrag zur totalen Verteidigung”, mahnt der Minister. Jedem einzelnen müsse klar sein: “Nicht du bist das Opfer. Die ganze Gesellschaft ist das Opfer, und du musst etwas tun.”
Diese Pflicht der Bevölkerung fand sich schon in den bisherigen Veröffentlichungen. Von 16 bis 70 Jahren “bist du Teil von Schwedens Totalverteidigung und verpflichtet, im Kriegsfall oder bei Kriegsgefahr Dienst zu leisten”, heißt es in den alten wie den neuen Broschüren. Die Verpflichtung, ob nun in den Streitkräften, als Teil der Zivilverteidigung oder in einer allgemeinen Dienstpflicht, wird allerdings in der aktuellen weltpolitischen Lage prominenter hervorgehoben.
Blaupause für die neuen Überlegungen sind dabei auch die Erfahrungen der Ukraine in den vergangenen knapp drei Jahren. Denn dort wurden und werden eben nicht nur Soldaten für die Front gebraucht, sondern auch zusätzliches Personal in vielen Bereichen des zivilen Lebens, sagt Bohlin. Das sei zum Beispiel der Fall bei Feuerwehr und Rettungsdiensten, die nicht nur viel mehr zu tun bekommen, sondern auch mit neuen Problemen wie dem Umgang mit Munition konfrontiert werden.
Das schwedische Vorgehen wird zwar im Ausland am ehesten bemerkt. Aber alle nordischen Länder haben in jüngster Zeit ähnliche Vorbereitungen getroffen. Finnland, ebenfalls noch ein recht neues Nato-Mitglied und zudem mit einer langen Grenze zu Russland, veröffentlichte am 18. November eine Neufassung seiner Ratschläge zur “Vorbereitung auf Vorfälle und Krisen”. Dänemark und Norwegen hatten das bereits früher in diesem Jahr getan.
Von ähnlichen Ratgebern wie der entsprechenden deutschen Broschüre unterscheiden sich die Ratgeber der Nordeuropäer nicht nur dadurch, dass sie ausdrücklich die Kriegsgefahr oder hybride Aktionen und Desinformationskampagnen ansprechen. Die Broschüren oder Online-Produkte gibt es meist auch in mehreren Sprachen, zum Beispiel auf Arabisch oder Türkisch in Dänemark, auf Polnisch oder Somali in Schweden. In Deutschland gibt es den Ratgeber des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe außer auf Deutsch noch in Englisch und Französisch. Nach Angaben des Bundesamts ist eine Neuauflage geplant – dann auch in den meistgesprochenen Sprachen nach Deutsch und Englisch. “Das sind dann die Sprachen, in die auch die Warn-App NINA übersetzt: Türkisch, Arabisch, Russisch und Polnisch.”
Der frühere Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) und Ex-Außenminister Heiko Maas (SPD) haben am Mittwoch im Untersuchungsausschuss Afghanistan ihre Rollen beim chaotischen Abzug Deutschlands aus Afghanistan im Sommer 2021 im Wesentlichen verteidigt.
Im Rückblick hätte die Bundesregierung eine Abzugsentscheidung und viele andere Entscheidungen in diesem Zusammenhang früher treffen müssen, räumte Maas, der als einer der wichtigsten Zeugen gilt, ein. Informationen, die man heute habe, “standen uns aber nicht zur Verfügung”.
Maas bezog sich auf eine Einschätzung des Bundesnachrichtendiensts, nachdem die afghanische Regierung vor dem 11. September 2021 nicht zusammenbrechen werde. Diese Einschätzung vom 13. August 2021 habe sich als falsch herausgestellt, sagte er. Die Taliban hatten die Hauptstadt Kabul tatsächlich schon am 14./15. August 2021 nach einer Blitzoffensive praktisch ohne Gegenwehr eingenommen. Deutschland beteiligte sich an einem internationalen militärischen Evakuierungseinsatz. Es kam zu chaotischen Zuständen und gefährlichen Situationen rund um den Flughafen.
Der Ex-Minister führte das damalige Chaos im Wesentlichen auf die einseitige Abzugsentscheidung der Regierung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump zurück. Der frühere Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) zog ein insgesamt positives Fazit der Entwicklungsarbeit in Afghanistan. Trotz der “dramatischen Umstände des Abzugs” habe es keinen Toten unter den afghanischen Ortskräften der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gegeben. Die Abgeordneten sollen die Umstände der deutschen Evakuierung im August 2021 und die Entscheidungswege mit Blick auf die Aufnahme afghanischer Ortskräfte untersuchen. Kommende Woche will das Gremium mit der damaligen Kanzlerin Angela Merkel und ihrem Kanzleramtschef Helge Braun (beide CDU) die Befragungen abschließen. dpa
Im aktuellen geopolitischen Umfeld sollte der Schutz kritischer Infrastrukturen eigentlich ganz oben auf der Agenda von Regierungen stehen. Doch bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in diesem Bereich kommen die meisten EU-Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, nicht voran. Sie hätten die NIS-2-Richtlinie (Richtlinie 2022/2555) zur Netzwerksicherheit sowie die CER-Richtlinie (Richtlinie 2022/2557) über die analoge Resilienz kritischer Einrichtungen bis zum 17. Oktober vollständig in nationales Recht umsetzen müssen. In 26 Mitgliedstaaten ist das bei einer oder sogar beiden Richtlinien allerdings nicht geschehen.
An diese Staaten hat die EU-Kommission jetzt Aufforderungsschreiben geschickt und damit Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Deutschland ist in beiden Fällen betroffen. Sowohl zum NIS-2-Umsetzungsgesetz als auch zum KRITIS-Dachgesetz, das die CER-Richtlinie umsetzen soll, hat die Ampelkoalition vor ihrem Bruch keine Einigung gefunden.
Deutschland und die anderen Mitgliedstaaten haben nun zwei Monate Zeit, um zu antworten und die Richtlinien vollständig umzusetzen. Sollte das nicht passieren, kann die Kommission beschließen, mit Gründen versehene Stellungnahmen zu übermitteln. Wenn der Mitgliedstaat auch dann nicht reagiert oder die Verstöße nicht behebt, kann die Kommission den Fall vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bringen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Richtlinien noch vor den Neuwahlen in Deutschland umgesetzt werden, ist derzeit nicht sehr hoch. SPD und Grüne sind entweder auf die Unterstützung der FDP oder der Union angewiesen. Die Union hat bereits angedeutet, dass die Chancen auf Erfolg gering sind. In diesem Jahr stehen noch zwei Sitzungswochen an. vis/wp
Außenministerin Annalena Baerbock wird von Sonntag bis Dienstag nach Peking reisen. Wenn Baerbock am Montag zu den eintägigen Gesprächen in der chinesischen Hauptstadt eintrifft, wird ein Thema auf ihrer Agenda sehr weit oben stehen: der Krieg in der Ukraine. Und die Frage, wie Deutschland die chinesische Führung dazu bewegen könnte, ihre Unterstützung für Putin zurückzufahren. Doch wie könnte Außenministerin Baerbock Einfluss auf die chinesische Führung nehmen?
Ihre Verhandlungsposition ist alles andere als leicht. Zum einen, weil die Europäer – anders als die USA – ihr Vorgehen koordinieren müssen. Das erfordert komplizierte Absprachen. Zum anderen, weil sich die Bundesregierung selbst uneins ist, wie sie ihr wirtschaftliches Verhältnis zu China gestalten will. Im Werkzeugkasten der EU, aus dem sich Baerbock bedienen kann, liegt derzeit nur ein Werkzeug, sagt Alexander Gabuev, Direktor am Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin zu Table.Briefings: Sanktionen.
“Man könnte beispielsweise Sanktionen gegen chinesische Finanzdienstleister verhängen, die am Zahlungsverkehr von Dual Use Gütern verdienen”, so Gabuev. Für Baerbock wird es vermutlich die letzte Reise nach Peking als Mitglied der amtierenden Bundesregierung. Welche politischen Vertreter sie in Peking treffen wird, ist noch nicht bekannt. Unter Beobachtung stehen wird der Empfang Baerbocks in der Volksrepublik generell. Denn die Außenministerin wird in China als eher konfrontativ gesehen, auch nachdem sie Staatschef Xi Jinping als “Diktator” bezeichnet hatte. Vor welchen Herausforderungen Baerbock in Peking steht, lesen Sie in der Analyse im China.Table. ari/aiko
International Institute for Strategic Studies: Europe’s missile renaissance. Immer mehr europäische Staaten schließen sich dem European Long-Range Strike Approach-Programm an. Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat zu einer Renaissance bodengestützter ballistischer Raketen und Marschflugkörper geführt. Es bestehen jedoch große wirtschaftliche und technische Herausforderungen.
Kyjiwer Gespräche: Monitor Luftkrieg Ukraine – Analysen zum Schutz ukrainischer Städte und Infrastruktur. Die gestern gestartete Publikationsreihe “Monitor Luftkrieg Ukraine” soll Entscheidungsträgern monatlich datenbasierte Empfehlungen dazu geben, wie sie die Ukraine unterstützen können. Die aktuelle Ausgabe empfiehlt die Einschränkung der russischen Rüstungsproduktion, eine verstärkte Flugabwehr und die Ausschaltung russischer Logistikhubs.
The New York Times: A Year of War Transformed Hezbollah. Durch seine erfolgreichen Militärschläge in den vergangenen Monaten gelang es Israel, die Hisbollah zu schwächen. Nun besteht die Möglichkeit, dass der iranische Einfluss abnimmt. Am Ende ist die Hisbollah allerdings nicht, denn sie ist weiterhin tief in der libanesischen Gesellschaft verwurzelt.
Tagesschau: Krieg im Sudan – “Die größte Vertreibungskrise weltweit”. Lange Zeit hofften die Sudanesen auf eine demokratische Entwicklung ihres Landes. Doch der 2023 ausgebrochene Krieg hat dazu geführt, dass elf Millionen Menschen auf der Flucht sind und es immer wieder zu brutalen ethnischen Säuberungen kommt. Darum, wie der Iran, Russland und Saudi-Arabien in den Krieg eingreifen, geht es in diesem Podcast.
Keith Kellogg, ehemaliger Generalleutnant der Armee, soll US-Sondergesandter für die Ukraine und Russland werden. Dies gab Donald Trump am Mittwoch über sein soziales Netzwerk Truth Social bekannt. “Gemeinsam werden wir Frieden durch Stärke sichern und Amerika und die Welt wieder sicher machen!”, schrieb der designierte US-Präsident.
Der 80-jährige Kellogg diente während Trumps erster Amtszeit als nationaler Sicherheitsberater und als Stabschef des Nationalen Sicherheitsrats. Er ist Ko-Vorsitzender des American First Policy Institute’s Center for American Security und einer der Autoren eines Politikbuchs, das eine konservative “America First”-Agenda für die neue Regierung vorsieht.
Eine “starke, auf Amerika ausgerichtete Führung” sei unverzichtbar für eine Beendigung des Krieges zwischen Russland und der Ukraine, sagte Kellogg. Im April dieses Jahres war er Mitverfasser eines Strategiepapiers, das fordert, die USA sollten sich auf einen Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung des Konflikts konzentrieren. ap/asc
Nicole Schilling schreibt Geschichte und die Bundeswehr mit ihr: Seit dem gestrigen Donnerstag ist die Medizinerin Generaloberstabsarzt und damit die erste Frau im Rang eines Drei-Sterne-Generals in der Geschichte der Bundeswehr. Schilling leitet sei Oktober die Abteilung Einsatzbereitschaft und Unterstützung Streitkräfte (EBU). Die 50-Jährige war unter anderem Vizepräsidentin des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr. Eine ihrer Aufgaben bestand darin, die Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr zu steigern. Schilling trat 1993 der Bundeswehr bei. Sie war in Afghanistan und in Bosnien-Herzegowina im Einsatz. vf
Es wird schlimmer kommen als beim ersten Mal. Wenn Thomas Kleine-Brockhoff das sagt, bleibt er ganz sachlich. Man lebe hier immer noch in einem “außenpolitischen Schlaraffenland”, auch nach der erneuten Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Und von dem kann man sicher sagen, dass er die Deutschen nicht leiden kann. Kleine-Brockhoff überrascht das nicht. Aber viele hier hätten “die Dimension des Veränderungswillens, den man schon in seinen ersten Personalbenennungen erkennt”, nicht verstanden.
Deutschland ist in seinen Augen zu einer “Status-quo-Macht geworden, welche die existierende Ordnung zementieren will”. Auch “Erhalten” kann natürlich eine Strategie sein. “Aber irgendwann, wenn sich die Verhältnisse grundlegend ändern, wird Erhalten zum Prokrastinieren. Und dann stellt man fest, dass man über all das Bewahren die Fähigkeit zur strategischen Innovation verloren hat.”
Dass strategisches Denken in den sicherheitspolitischen Debatten hierzulande vernachlässigt wird, stört Kleine-Brockhoff schon lange. Seine Ernennung zum Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im August dieses Jahres könnte man als Krönung seiner Karriere bezeichnen. Die älteste außenpolitische Institution Deutschlands – gegründet 1955 – hatte immer eine gewichtige Stimme. Ob sie immer noch “entscheidend prägt”, wie sie selbst von sich behauptet, kann man hinterfragen. Oder wie ihr neuer Chef trocken bemerkt: “Diese Organisation jetzt zu leiten, ist ein Auftrag zur Erneuerung.”
Dass die deutsche Bevölkerung den Status quo gar nicht verändern wolle, hält Kleine-Brockhoff für Unsinn. “Die Menschen wissen genau, was los ist.” Aktuelle Umfragen geben dem Strategen recht: 57 Prozent der Bevölkerung stimmen einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben zu. Nur in der Berliner Politikblase traue man der eigenen Bevölkerung nicht. “Wann seit der Zeitenwende-Rede hat es massiven Widerstand gegeben?” Selbst die Stationierung weitreichender US-Marschflugkörper in Deutschland löse “vor allem unter Parteifunktionären eine Debatte aus”. Man kann sich denken, wen er meint.
Als Kleine-Brockhoff in den USA an der renommierten Georgetown Universität in Washington studiert, ist er fasziniert von dem Land, in dem man alle seine Vorteile bestätigt, aber auch widerlegt findet. Zwölf Jahre wird er in den USA bleiben. Zuerst von 2001 bis 2007 als Leiter des Washingtoner Büros der Zeit. Dann als Mitglied des Leitungsteams des German Marshall Fund (GMF) in der US-Hauptstadt. Er wird später in Deutschland wieder zum GMF zurückkehren und von 2017 bis 2024 das Berliner Büro leiten.
Aber davor tut er etwas, das sich Journalisten genau überlegen müssen: die Seiten wechseln. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck macht ihn 2013 zum Chef seines Planungsstabs – die einflussreichste Position im Bundespräsidialamt nach dem Amtschef. Gauck, so wird er zitiert, gefalle die “amerikanische Grammatik des Denkens” seines Redenschreibers. Was Kleine-Brockhoff an seinem ehemaligen Chef bewundert: “Dass er ausspricht, was ist.” 2014 fordert Gauck vor der Münchner Sicherheitskonferenz ein stärkeres außenpolitisches Engagement Deutschlands und sagt diesen Satz: “Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein.” Wochenlang wurde darüber in deutschen Feuilletons debattiert, der Bundespräsident und sein Redenschreiber zum Teil heftig kritisiert. Zehn Jahre, bevor der Begriff “Kriegstüchtigkeit” populär wurde.
Aber jetzt bitte noch ein letztes Wort zu Donald Trump: “Hier zieht ein Anti-Westler ins Weiße Haus ein, der Europa nicht einen, sondern spalten will, der Europa sehr wohl Russland ausliefern könnte, statt es zu schützen. Warm anziehen, bitte!” Nana Brink
Künftige Historiker werden die Ära Merkel deutlich kritischer bewerten als die Zeitgenossen bei ihrer Amtsübergabe an ihren Nachfolger 2021. Dass bei der Sicherheits- und Verteidigungspolitik in den vergangenen drei Jahrzehnten Fehler gemacht wurden, bezweifelt kaum jemand mit heutigem Wissen.
Diese allein der Kanzlerin der Jahre 2005 bis 2021 anzulasten, wäre verfehlt. Die engen politischen und wirtschaftlichen Bande mit Russland reichen zurück in die Kanzlerschaft Gerhard Schröders, Stichwort “Moskau-Connection”. Die deutsche Wirtschaft hat von billiger Energie aus Russland profitiert und sich mit Nachdruck für die Fertigstellung von Nord Stream 2 starkgemacht.
Wie geht Angela Merkel in ihren in dieser Woche erschienenen Memoiren mit diesem komplexen Kapitel ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft um? Den Bruch mit Putin verortet sie in 2014, als dieser im persönlichen Gespräch die Präsenz russischer Truppen auf der Krim schlicht abstritt. Dennoch forcierte sie in den Folgejahren eine noch stärkere Energieabhängigkeit von Russland. Und bezeichnete diese als ein “rein wirtschaftliches Projekt”, wohl schon damals wider besseres Wissen. Dass selbst eine so folgenschwere Fehleinschätzung von Merkel in der Rückschau nicht als solche benannt wird, ist nicht nachvollziehbar.
Differenzierter verhält es sich mit dem von Merkel 2008 verhinderten Nato-Beitritt der Ukraine. Ihr Argument, eine Nato-Mitgliedschaft hätte aufgrund der russisch-ukrainischen Verquickungen im Militärischen eine Gefahr für die Nato dargestellt und sei obendrein von der Mehrzahl der Ukrainer abgelehnt worden, ist in der Rückschau sicherlich diskussionswürdig, aber nicht gänzlich von der Hand zu weisen.
Einsichtiger zeigt sich Merkel beim Thema der Verteidigungsausgaben, die während ihrer Amtszeit nie das 2014 vereinbarte Nato-Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichten. Aus heutiger Sicht sei selbst dieser Wert zu gering, weswegen man zügig die Drei-Prozent-Marke ins Auge fassen müsse. Florian Keisinger