Table.Briefing: Security

Pistorius’ Sahel-Wende + Sicherheitspolitischer Jahresrückblick

Liebe Leserin, lieber Leser,

rückgratloser Schmusekurs oder kluge Strategie? Diese Frage stellt sich nach dem Besuch von Boris Pistorius bei der Militärjunta in Niger, auch wenn der Verteidigungsminister selbst es “gut und richtig” findet, “nicht alle Brücken abgerissen” zu haben – trotz von der EU verhängter Sanktionen gegen die Generäle. In Niamey traf Pistorius Verteidigungsminister Salifou Modi  – und bot ihm Kooperationsprojekte, den Bau eines Militärkrankenhauses sowie die Ausbildung nigrischer Offiziere an. Ob Deutschland im Gegenzug den Lufttransportstützpunkt in Niamey weiter nutzen kann, bleibt unklar, schreibt Lucia Weiß.

Der Riegel autoritärer Regime, der sich von Guinea bis Sudan quer durch Afrika zieht, wurde durch den Putsch in Niger im Juli komplettiert. In unserem Jahresrückblick zeigen wir auf, wie dadurch der Rückzug der Bundeswehr aus der Minusma-Mission in Mali im Dezember beschleunigt wurde – und werfen einen Blick auf weitere Krisen, die die Sicherheitspolitik 2023 bestimmten.

Ans Herz legen möchte ich Ihnen den Text von Leonard Schulz. Darin beschreibt er, wie es der Hamas auf TikTok, Instagram und X gelungen ist, im medialen Kampf um die Deutungshoheit im Gazakrieg Israel immer einen Schritt voraus zu sein.

Wir halten Sie natürlich auch zwischen den Jahren über die aktuellen außen- und verteidigungspolitischen Entwicklungen auf dem Laufenden – mit unseren 100Headlines, dem täglichen News-Überblick für die Table.Media-Community.

Frohe Weihnachten wünscht Ihnen

Ihr
Markus Bickel
Bild von Markus  Bickel

Analyse

Besuch in Niger: Pistorius wendet sich den Putschisten zu

Knapp eine Woche vor Weihnachten hat der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) Bundeswehrsoldaten in Niger besucht. Pistorius war zuvor nach Litauen gereist, wo deutsche Soldaten im Rahmen der Nato-Vorneverteidigung stationiert sind. So weit, so traditionell, die Vorweihnachtsbesuche bei deutschen Truppen zählen zur festen Terminplanung deutscher Verteidigungsminister.

Deutschland will mit Putschregierung kooperieren

In Niger versuchte Pistorius die Zukunft der über 100 deutschen Soldaten auf dem Lufttransportstützpunkt nahe Niamey zu klären. Bevor die Junta die Macht übernahm, hatte es Pläne gegeben, den Stützpunkt zu erweitern, der auch für den Abzug der deutschen Soldaten von der UN-Mission in Mali (Minusma) vorgesehen war. Die nigrische Putschregierung hatte der Bundeswehr aber untersagt, über Niger abzuziehen. An der Grenze zu Mali steckt derweil ein deutscher Konvoi mit militärischem Material aus dem beendeten Mali-Einsatz in der Zollabfertigung fest.

Klarheit brachte der Besuch des deutschen Ministers allerdings nicht. Pistorius sagte lediglich, dass er signalisiert habe, “dass wir ein Interesse daran haben, den Stützpunkt zu halten” und: “Die nigrische Seite habe ich so verstanden, dass sie sich das auch sehr gut vorstellen kann.” Alles Weitere solle Anfang 2024 auf Arbeitsebene besprochen werden.

Bemerkenswerte außenpolitische Wende

Dass Pistorius am Dienstag anbot, Kooperationsprojekte weiterzuführen, ist eine bemerkenswerte Wende in der deutschen Außenpolitik: weg von der strikten Ablehnung nicht-ziviler Regierungen hin zu pragmatischer orientierten Zusammenarbeit. Dieser Kurswechsel ist eine Reaktion auf die volatile Lage in der Sahelzone, die in diesem Jahr von erheblichen Verschiebungen in Politik, internationaler Zusammenarbeit und Sicherheit geprägt war.

Ein Blick zurück: Im Juli stürzten Militärs in Niger die demokratisch gewählte Regierung von Präsident Bazoum. Damit reihte sich das Land in die Liste jener Länder im Sahel ein, in denen das Militär die Macht an sich genommen hat. Der Westen verlor damit seinen wichtigsten Partner in der Sahelzone, in der Russland an Einfluss gewinnt.

“Wir haben in diesem Jahr einen schnellen und bewusst herbeigeführten Verfall demokratischer Werte im zentralen Sahel erlebt. Alle waren schockiert, als der Putsch in Niger stattfand, auch wenn es einige Anzeichen vor Ort gab: Korruption und Unzufriedenheit in der Bevölkerung”, fasst Aneliese Bernard im Gespräch mit Table.Media das Jahr 2023 zusammen. Aneliese Bernard ist Leiterin der in Washington DC ansässigen Beratungsgruppe Strategic Stabilization Advisors. Zuvor war sie im US-Außenministerium tätig und arbeitete von 2017 bis 2019 in der US-Botschaft in Niamey.

Welle von Militärputschen

Seit 2020 schwappt eine Welle von Militärputschen über Westafrika bis in den Sudan, mit Gabun diesen August und Niger im Juli kamen zwei weitere dazu. Damit sind es neun Umstürze in der Region, je zwei in Mali (August 2020, Mai 2021) und Burkina Faso (Januar 2022, September 2022). Von Guinea am Atlantik (September 2021), über Mali, Burkina Faso, Niger, Gabun nach Tschad (April 2021) und bis in den Sudan (Oktober 2021) sind nun sieben Länder nicht mehr in ziviler Hand, sondern werden von Soldaten geführt.

Mehr als Zeichen eines Verfalls demokratischer Werte sind diese Putsche Ausdruck eines Zerfalls der staatlichen Strukturen in diesen Ländern. Die Armee ist häufig die einzige Organisation in den Ländern des Sahel, die noch in der Lage ist, diese Staaten zusammenzuhalten, da die zivile Verwaltung oft am Boden liegt, Beamte nicht mehr regelmäßig bezahlt werden und auf Korruption angewiesen sind, um ihre Familien zu ernähren. So sind diese Putsche, die diese Region in den vergangenen Jahren erlebt hat, oft auch ein Versuch der Militärs, die Staaten noch einigermaßen zusammenzuhalten.

Unerfüllte Versprechungen der Militärjuntas

Die Militärregierungen bemühen sich mehr oder minder um die Rückkehr zur demokratischen Ordnung. Gerade im zentralen Sahel scheint das dem immer gleichen Drehbuch zu folgen: Es gibt Versprechungen, einen nationalen Sicherheitsrat und Dialog mit der Zivilgesellschaft, umstrittene und mangelhaft inklusive Verfassungsreferenden wie in Mali und kürzlich im Tschad, schließlich oft die Verschiebung angesetzter Wahlen aufgrund von angeblichen Sicherheitsbedenken. So kündigte die Junta von Assimi Goïta, seit Mai 2021 Präsident von Mali, an, die Wahlen für Februar 2024 wegen “technischer Gründe etwas verschieben” zu müssen. Ein neues Datum gibt es bis jetzt nicht, und es scheinen auch keine Haushaltsmittel für die Durchführung von Wahlen eingeplant zu sein.

Frankreichs sicherheitspolitischer und Deutschlands entwicklungspolitischer Ansatz im Sahel scheinen beide gescheitert. Auch wenn Experten betonen, dass die Lage ohne das jeweilige Engagement für die Zivilbevölkerung viel früher noch schlimmer gewesen wäre – fest steht: Gut sieht es in den Sahelländern nicht aus. Vor allem die Bevölkerung leidet unter Hunger und zunehmender Gewalt in Mali, Burkina Faso und inzwischen auch in Niger.

Assimi Goïta ist ein Beispiel dafür, wie auch der sicherheitspolitische Ansatz gescheitert ist. Lange galt der 41 Jahre alte Militär als Hoffnungsträger der westlichen Sicherheitspolitik in der Region. Er wurde zunächst an der École militaire interarmes in Koulikoro in Mali ausgebildet und fiel dort in den Blick der westlichen Militärs. Er wurde daraufhin in Frankreich, den USA und Deutschland ausgebildet und wurde schließlich Oberst in einer Spezialeinheit zur Bekämpfung von Terroristen im Norden des Landes. Und obwohl er so vom Westen unterstützt wurde, war es gerade Goïta, der die Abwendung Malis vom Westen am heftigsten vorantrieb.

Die Ansätze des Westens sind gescheitert

Auch die USA haben mit ihrem kombinierten Ansatz aus Entwicklungs- und Sicherheitspolitik bisher nicht für langfristige Stabilität sorgen können. “Mit dem Putsch in Niger hat sich wirklich etwas verändert. Bis dahin verfolgte die US-Regierung den sogenannten 3D-Ansatz – das bedeutet, an guter Regierungsführung, Entwicklung und Sicherheit mit ihren Partnern zu arbeiten, auch wenn in Niger der Fokus auf Sicherheit stärker war. Im US-Außenministerium herrscht die Überzeugung, dass man die Dinge am besten auf diese Art angeht”, sagt die Analystin Aneliese Bernard.

Die USA haben den Putsch in Niger inzwischen zwar anerkannt, versuchen aber dennoch, business as usual zu suggerieren. “Offensichtlich sind sie dazu nicht wirklich in der Lage”, meint Bernard. “Ich nehme an, dass die USA hinter den Kulissen versuchen herauszufinden, was der nächste Schritt sein könnte.”

Das Jahr 2023 markiert auch die rigorose Abkehr der Sahelländer vom Westen, hin zu Russland:

Mali verwies die UN-Mission Minusma des Landes, nachdem Frankreich schon im vergangenen Sommer seine Truppen abziehen musste. Militärkooperationen mit Russland – was zum Teil auch die Präsenz von Wagner-Söldnern impliziert – wurden demonstrativ von Mali sowie auch von Burkina Faso und kürzlich Niger öffentlich zelebriert. Mit der Gründung des Dreierbündnisses, der Alliance des États de Sahel (AES) im Herbst trennten sich diese Länder demonstrativ von den Nachbarstaaten Mauretanien – das der EU verbunden ist – und dem immer noch Frankreich nahen Tschad. Die 2014 gegründete G5-Gruppe stellte Anfang Dezember ihre Auflösung in Aussicht, nur wenige Wochen nachdem die deutsche Entwicklungsministerin Svenja Schulze den Vorsitz übernommen hatte.

Bundesregierung sucht Neuanfang ohne EU

Analystin Bernard hält den russischen Einfluss auf die AES für hoch. Die USA unterhalten in Niger eine riesige Drohnenbasis zur Aufklärung in ganz West- und Nordafrika. Doch nun sei die Situation sehr schwierig geworden. “Die USA arbeiten normalerweise mit ihren Partnern zusammen und teilen auch Geheimdienstinformationen. Sie werden jedoch zögern, wenn Zweifel bestehen, dass diese Informationen mit Feinden der USA wie Russland oder China geteilt werden könnten. Es scheint, dass Russland in Niger die Hintergrundkanal-Positionen ersetzt, nachdem Frankreich gegangen ist”, meint Bernard.

Zuletzt forderte Niger auch die von der Deutschen Katja Dominik geleitete Ausbildungsmission für Sicherheitskräfte, Eucap, zum Abzug auf. Umso überraschender ist vor diesem Hintergrund, dass der deutsche Verteidigungsminister Pistorius nun den Putschisten die Hand ausgestreckt hat. Er war der ranghöchste Vertreter eines EU-Landes, der Niger nach dem gewaltsamen Machtwechsel besuchte. Damit zeichnet sich auch eine Spaltung innerhalb der EU ab, die durch Frankreichs komplizierte Beziehung mit Westafrika blockiert ist.

  • Bundeswehr
  • EU
  • Gabun
  • Geopolitik
  • Putsch
  • Sahel
  • USA

Wie die Hamas soziale Medien für ihren Informationskrieg gegen Israel nutzt

Während uns die junge Frau auf TikTok durch die Kamera anschaut, schminkt sie sich ihr Gesicht in bunten Farben – dem Grün, Weiß und Rot der Flagge von Palästina. Im Hintergrund läuft die Melodie des bekannten Seemann-Liedes The Wellermann. Der Text ist jedoch ein anderer als im Original: Hier erzählt er die Gründungsgeschichte Israels aus palästinensischer Sicht, gespickt mit antisemitischen Erzählungsmythen. Am Ende ruft die Influencerin: “Steht auf der richtigen Seite der Geschichte” – gemeint ist natürlich die palästinensische.

Das antisemitische Schminkvideo könnte man als Netz-Klamauk abtun, doch TikTok hat sich zu einer zentralen Informationsquelle für junge Menschen weltweit entwickelt ­-­ und zu einem relevanten Schauplatz des Nahostkonfliktes.

Videos werden bewusst aus dem Kontext gerissen

Ein weiterer Clip zeigt mehrere Kampfjets, die in V-Formation in einen orangefarbenen Abendhimmel hinein fliegen, daneben steht: “Israel is about to rain down hellfire on Gaza”. Das Video wurde tausendfach als aktueller Beleg aus dem seit Oktober tobenden Gazakrieg geteilt. Doch die Sequenz stammt aus dem bekannten Videospiel Arma 3 – nur wissen das die wenigsten.

Das gilt ebenso für jenes auf X zirkulierende Video, das einen israelischen Soldaten zeigt, der auf einem palästinensischen Kind herumtrampelt. Auch dieses Video ist aus dem Kontext gerissen, es existiert bereits seit mindestens 2012 im Netz und stammt wahrscheinlich von einer Straßenperformance in Bangkok.

Shayan Sardirizadeh deckt solche Falschwahrheiten auf, indem er die Tiefen des Netzes durchkämmt. Er ist Teil des dieses Jahr gegründeten Faktenchecker-Teams der BBC. Seine Ergebnisse teilt er auch auf X. Er war es, der herausgefunden hat, dass die im Abendrot dahingleitende V-Formation keine Staffel israelischen Kampfjets war. Die meisten Videos, die er entlarvt, sind zwar echt, aber sie stammen aus anderen Zusammenhängen als denen, in denen sie erscheinen – aus dem Syrienkrieg etwa oder von Militärübungen anderer Länder. “Sie sind gar nicht im herkömmlichen Sinne gefälscht, aber die Art, wie sie gezeigt werden, verfälscht ihre Aussage“, sagt Sardirizadeh.

Wer gewinnt den Bilder-Krieg?

Desinformation gibt es auch auf der israelischen Seite. Zum Beispiel wird der palästinensischen Seite immer wieder vorgeworfen, Videos von israelischen Angriffen mit Schauspielern und Hilfsmitteln nachzustellen. Bereits 2005 entstand so das Kofferwort aus Palestine und Hollywood – “Pallywood“. Erst vor wenigen Tagen kursierte die falsche Behauptung im Netz, dass die Leiche eines palästinensischen Babys eine Puppe sei – Sardarizadeh deckte auch diesen Fall auf. Sogar die Jerusalem Post fiel auf die Falschmeldung rein, korrigierte den Fehler jedoch im Nachhinein.

Um eine tatsächliche Fakenews handelte es sich beim Foto eines Kleinkindes neben seiner toten Mutter: Der Junge hatte sechs Finger, das Foto wurde mit künstlicher Intelligenz hergestellt.

Medienwissenschaftlerin: “Die Zivilisten kämpfen online mit”

Solche Falschinformationen sind verführerisch, verstärken sie doch die ohnehin schon bestehende Meinung einer Mehrheit an Zuschauenden – und werden dann oft nicht mehr auf ihre Echtheit hin hinterfragt. Gemeinsam mit antisemitischen Meinungsvideos erzeugen sie eine Sogwirkung, in der kein Platz für Widersprüche bleibt. Die Medienwissenschaftlerin Mareike Meis vom Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht an der Universität Bochum sagt: “Die Zivilisten kämpfen quasi online mit.”

Aufnahmen dieser Art richteten sich explizit an ein westliches Publikum, das nicht vor Ort ist und deswegen für lokale Zivilisten offensichtliche Ungereimtheiten gar nicht erkennen würde. Meis sagt: “Sobald man sich auf den sozialen Medien bewegt, ist man auch automatisch involviert. Man kann sich dem gar nicht verschließen.” Mit jedem Klick, jedem View füttere man den Algorithmus.

Das Dilemma der verstörenden Bilder

Welche Auswirkungen die durch Desinformation aufgepeitschte Stimmung im Netz am Ende wirklich auf Gesellschaften hat, lässt sich schwer feststellen. Die Vielzahl an propalästinensischen Demonstrationen weltweit legt nahe, dass die Hamas derzeit im Infokrieg die Nase vorn hat. Das würde jedenfalls die relativ kurze Welle der Israel-Solidarität nach den brutalen Massakern am 7. Oktober erklären, die bereits vor der Bodenoffensive der Israel Defence Forces (IDF) sehr schnell in Kritik am militärischen Vorgehen gegen die Hamas umschwang.

Kurz nach dem Angriff der Hamas standen viele Medien vor einem Dilemma: Muss man die Bilder des Terrors zeigen, oder sind sie zu hart? Das Video der damals vermutlich schon toten Deutsch-Israelin Shani Louk neben Hamas-Kämpfern auf einem Pickuptruck und Aufnahmen des von der Hamas angegriffenen Supernova-Musikfestivals am Rande des Gazastreifens gehören zu den wenigen Aufnahmen, die einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurden.

Die Hamas besitzt die narrative Hoheit im Netz

Die aufgeheizte Stimmung im Netz und die Flut an Desinformationen hinterlassen einen kaum reparablen Schaden, denn sie vergiften das Klima, sodass kaum noch Gesprächskanäle offenbleiben. Eine legitime Kritik an den Kriegsparteien wird so immer schwieriger zu äußern.

“Israel wird sozusagen als der böse Goliath inklusive antijüdischer Klischees wahrgenommen, die palästinensische Bevölkerung als David”, analysiert Oliver Zöllner vom Institut für Digitale Ethik der Hochschule der Medien Stuttgart die aktuelle Stimmung in den sozialen Medien. In den Diskursen habe sich eine “Täter-Opfer-Umkehr” durchgesetzt. “Fast schon vergessen scheint die Tatsache, dass die Terrororganisation Hamas rund 1.200 Menschen brutal ermordet und mehr als 200 Zivilisten entführt hat. Hier hat ein Zivilisationsbruch stattgefunden – ein wirklich schwarzer Tag für die Menschheit.” Leonard Schulz

  • Hamas
  • Israel
  • Medien
  • Nahost

Ukraine, Nahost, Sudan und die Nationale Sicherheitsstrategie: das sicherheitspolitische Jahr im Überblick

Januar

Boris Pistorius wird neuer Verteidigungsminister. Nach der medial missglückten Silvesterrede von Christine Lambrecht holt Bundeskanzler Olaf Scholz den niedersächsischen Innenminister und erfahrenen Verwaltungsfachmann an die Spitze des Bundesverteidigungsministeriums. Einen Politiker im ständigen Krisenmodus hat Thomas Wiegold 2023 erlebt.

März

Nach monatelangem Zögern liefert Deutschland der Ukraine 18 Kampfpanzer vom Typ Leopard 2A6 aus Beständen der Bundeswehr. Die ukrainischen Besatzungen wurden zuvor an der Panzertruppenschule der Bundeswehr im niedersächsischen Munster an dem System ausgebildet.

Die EU verspricht der Ukraine die Lieferung von einer Million Artilleriegeschossen. Dafür stellt sie zwei Milliarden Euro aus der Europäischen Friedensfazilität zur Verfügung. Mit dem Geld sollen nicht nur die Herstellung und Lieferung von Granaten an die Ukraine, sondern auch die Nachbeschaffung von bereits abgegebener Munition finanziert werden. Stephan Israel beschreibt die Probleme, die das Beschaffungsvorhaben bis heute begleiten.

April

Im Sudan eskaliert der Machtkampf zwischen der Übergangsregierung von Armeechef Abdel Fattah Burhan und dem Kommandeur der paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF), Mohammed Hamdan Dagalo. Die Bundeswehr evakuiert mehr als 1000 Menschen aus der umkämpften Hauptstadt Khartum. Anders als die überstürzte Evakuierung aus der afghanischen Hauptstadt Kabul im September 2021 verläuft die Operation erfolgreich.

Juni

Die Bundesregierung veröffentlicht ihre erste Nationale Sicherheitsstrategie. Das Grundsatzpapier trägt den Titel “Integrierte Sicherheit für Deutschland” und fasst auf 74 Seiten Antworten auf die Herausforderungen an innere wie äußere Sicherheit der Bundesrepublik zusammen. Neben unklarer Regelung von Kompetenzen zwischen Bund, Ländern und unterschiedlichen Ministerien bleibt an vielen Stellen offen, wie die Umsetzung finanziert werden soll.

Jewgenij Prigoschin, Chef des privaten, russischen Militärunternehmens Gruppe Wagner, wird nach einem “Marsch der Gerechtigkeit” nach Moskau von Wladimir Putin entmachtet. In den Monaten zuvor waren immer wieder Spannungen zwischen Prigoschin und dem Verteidigungsministerium öffentlich geworden; im August stirbt er bei einem Flugzeugabsturz. Viktor Funk über die Verwerfungen, die der Tod des Milizenführers in den russischen Eliten ausgelöst hat.

Juli

Claudia Plattner wird neue Präsidentin des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Die frühere IT-Managerin ist die erste Frau an der Spitze der Bonner Cybersicherheitsbehörde – und hat alle Hände voll zu tun, das BSI unabhängiger von politischer Steuerung zu machen, erläutert Falk Steiner in seiner Analyse.

September

24 Stunden nur braucht die Armee Aserbaidschans, um die armenische Enklave Bergkarabach einzunehmen – dann kapituliert die Regierung der selbst ernannten Republik Arzach. Bis Ende September sind fast alle der 120.000 Bewohner nach Armenien geflohen. Luis Moreno Ocampo, früherer Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, legt in einem viel beachteten Bericht dar, weshalb das Vorgehen aus seiner Sicht den Tatbestand eines Genozids erfülle.

Oktober

Der Überfall auf Dutzende israelische Gemeinden, Kibbuzim und Militärbasen durch die Terrororganisation Hamas am 7. Oktober ist der größte Massenmord an Juden seit dem Holocaust und mit mehr als 1200 Toten der tödlichste in der Geschichte Israels. Nach einer kurzen Feuerpause im November, bei der die Hamas 110 israelische Geiseln freiließ, geht der Krieg der Israel Defence Forces (IDF) unvermindert weiter – mit mehr als 19.000 Toten im Gazastreifen bis kurz vor Weihnachten.

Der Haushaltsausschuss des Bundestags stimmt dem Kauf des Flugabwehrsystems Arrow aus Israel zu. Die vier Milliarden Euro für das Waffensystem stammen aus dem Sondervermögen der Bundeswehr. Einer Umfrage des European Leadership Networks (Elnet) zufolge unterstützen zwei von drei Deutschen die Anschaffung von Arrow 3.

Dezember

Mitte Dezember kehrten die letzten Bundeswehr-Soldaten, die am UN-Einsatz in Mali (Minusma) teilgenommen haben, nach Deutschland zurück. Seit 2013 waren mehr als 1000 deutsche Soldaten an der UN-Mission sowie einer EU-Ausbildungsmission für malische Sicherheitskräfte beteiligt. Der Abzug markiert das vorläufige Ende von drei Jahrzehnten Auslandseinsätzen der Bundeswehr, die die Truppe mental wie praktisch verändert haben, resümiert Thomas Wiegold.

ccf, asc, mrb

  • BSI
  • Leopard 2 Panzer
  • Sicherheit
  • Sicherheitspolitik

News

Kiew will geflüchtete Ukrainer für die Front anwerben

Ukrainische Flüchtlinge in der EU.

Nicht nur Artillerie und Drohnen fehlen der ukrainischen Armee, es gibt auch personelle Probleme: Die Debatte über eine Mobilmachung von bis zu 500.000 zusätzlichen Soldaten, sowie die Überlegungen, im Ausland lebende ukrainische Männer für den Fronteinsatz heranzuziehen, zeigen, unter welchem Druck die Armeeführung steht. Diskussionen über nicht ausreichende Rotationen werden in der Ukraine seit Kriegsbeginn geführt, umfangreiche Reformen für Personalgewinnung sind bereits in Arbeit.

In Deutschland zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zum Ende November genau 197.072 ukrainische Männer im Alter zwischen 25 und 60 Jahren, EU-weit sind es Hunderttausende mehr. In dieser gesetzlich festgelegten Altersspanne können die Männer eingezogen werden. Das heißt: derzeit eigentlich in der Altersspanne 27 bis 60 Jahren. Die untere Altersgrenze soll zwar nach einem vom Parlament im März 2023 verabschiedeten Gesetz auf 25 Jahre sinken, um die Reserve auszubauen. Doch Präsident Wolodymyr Selenskyj hat das Gesetz noch nicht unterzeichnet. 

Jetzt plant das ukrainische Verteidigungsministerium, die im Ausland lebenden Ukrainer zum Einsatz “einzuladen”, wie Minister Rustem Umjerow es in einem Interview mit der Bild-Zeitung ausgedrückt hat. Selbst über Konsequenzen für diejenigen, die der “Einladung” nicht folgen, werde nachgedacht. Unklar ist, ob diese Pläne Selenskyj mitgetragen werden, er hatte sich eher zurückhaltend zu der Forderung des Militärs nach einer neuen, umfangreichen Mobilmachung geäußert.

Schutzstatus in Deutschland bis März 2025 verlängert

Sollte Kiew tatsächlich mit Nachdruck ukrainische Männer aus der EU zur Rückkehr und für den Kriegsdienst gewinnen wollen, wird das absehbar zu diplomatischen Problemen führen. Deutschland hat erst vor einem Monat die Sonderregelung für die ukrainischen Geflüchteten bis März 2025 verlängert. Von den bis Anfang Dezember registrierten 1,26 Millionen ukrainischen Flüchtlingen haben 1,03 Millionen den Schutzstatus.

Seit Kriegsbeginn engagieren sich zudem Menschenrechtsgruppen wie Connection und Amnesty International für Asylschutz von Männern aus Russland, Belarus und Ukraine, die nicht am Krieg teilnehmen wollen. Doch bisher ist Verweigerung des Kriegsdienstes nur in Ausnahmefällen Grund für eine Asylgewährung. vf  

  • Asyl
  • Asylpolitik
  • Migration
  • Russland
  • Ukraine
  • Ukraine-Krieg

Einsatz im Roten Meer: Deutschland sucht Schiff und Rechtsgrundlage

Wenn am Freitag die Fregatte “Hessen” zum Weihnachtsurlaub in Wilhelmshaven einläuft, weiß die Besatzung noch nicht, ob ihr nächster Auftrag sie vielleicht ins Rote Meer führt: Das Kriegsschiff, für die Luftverteidigung schwimmender Verbände ausgerüstet, ist eine der wenigen Optionen, die Deutschland für eine Beteiligung an einem Schutz von Handelsschiffen im Roten Meer hat.

Seit November haben die Huthi-Rebellen im Jemen zunehmend Frachter und Tanker auf dem Weg zum Suez-Kanal vor ihrer Küste mit Drohnen und Raketen angegriffen. Als Grund nannte die Organisation, die im jemenitischen Bürgerkrieg große Teile des Landes kontrolliert und vom Iran unterstützt wird, die Unterstützung der Hamas im Kampf gegen Israel.

Kriegsschiffe der USA, Großbritanniens und Frankreichs wehrten bereits mehrere dieser Luftangriffe auf Containerschiffe ab; künftig soll eine von den USA geführte multinationale Marine-Operation “Prosperity Guardian” (“Hüter des Wohlstands”) den Schutz sicherstellen. Denn aus Angst vor den Angriffen meiden zahlreiche Reedereien vorerst den Suez-Kanal, der eine der wichtigsten Handelsrouten der Welt ist.

In Deutschland, einem von Handelsströmen und Lieferketten abhängigen Land, besteht Bereitschaft zur Beteiligung an der US-Mission. Allerdings muss die Bundesregierung dafür eine Rechtsgrundlage und ein Schiff finden. Beides nicht so einfach: Von den Luftverteidigungs-Fregatten der Deutschen Marine sind derzeit zwei einsatzbereit, darunter die “Hessen”.

Die soll allerdings nach ihrer Weihnachtspause wieder in einen Nato-Einsatzverband zurückkehren. Für einen Auslandseinsatz mit möglicher Beteiligung an Kampfhandlungen ist zudem ein Mandat des Bundestages nötig – und die Grundlage in einem “System kollektiver Sicherheit”, zum Beispiel mit einem Beschluss des UN-Sicherheitsrats.

Die Europäische Union prüft unterdessen, ob die EU-Marinemission Atalanta am Horn von Afrika sich auch an dem Einsatz zum Schutz der Handelsschiffe beteiligen kann. Bis zum vergangenen Jahr war auch die Bundeswehr Teil dieser Mission, die 2008 zum Kampf gegen die Piraterie begonnen wurde, und könnte erneut unter EU-Flagge im Roten Meer aktiv werden. tw

  • Bundeswehr
  • Nahost

Gazakrieg: Verhandlungen über Waffenpause um Weihnachten

Drei Wochen nach Ende der Anfang Dezember ausgelaufenen Feuerpause zwischen Israel und der Hamas könnte es nach Heiligabend zu einer neuen Waffenruhe kommen. Darauf deuten Verhandlungen in Kairo zwischen dem politischen Führer der Terrororganisation, Ismail Hanijeh, und ägyptischen Geheimdienstvertretern hin. Zuvor war CIA-Direktor William Burns mit David Bernea vom israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad und dem Regierungschef Katars, Mohammed bin Abdulrahman al Thani, in Polen zusammengekommen.

Dem Vernehmen nach verlangt die Hamas eine zweiwöchige Feuerpause im Gegenzug für die Freilassung von 40 israelischen Geiseln, vornehmlich Frauen, Kindern und hilfsbedürftigen Senioren. 108 am 7. Oktober aus dem Süden Israels entführte Geiseln sollen sich noch in den Händen von Hamas und Islamischem Dschihad befinden. Am Donnerstag veröffentlichte die Hamas ein Papier, das “ein vollständiges Ende der Aggression” Israels zur Bedingung für eine Feuerpause machte; dabei handele es sich um “eine palästinensische nationale Entscheidung”, der sich auch andere Organisationen wie der Islamische Dschihad angeschlossen hätten.

USA machen Druck, um Flächenbrand zu verhindern

Auch die verstärkte Lieferung von Hilfsgütern in den Gazastreifen zählt zu den Forderungen der Terrororganisation, die den Krieg am 7. Oktober mit Massakern an mehr als 1.200 Israelis und der Entführung von rund 200 Menschen aus dem Süden des Landes begann. Seitdem sind auf palästinensischer Seite fast 20.000 Menschen getötet worden, mehr als 1,8 Millionen der 2,3 Millionen Einwohner sind nach Angaben der Vereinten Nationen innerhalb des Gazastreifens vertrieben worden. Zuletzt hatte die US-Regierung Präsident Joe Bidens den Druck auf die israelische Regierung erhöht, ihr militärisches Vorgehen im Gazastreifen zurückzufahren.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte nach einem Treffen mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Galant, dass dadurch auch das Risiko einer Ausweitung des Konflikts auf andere Krisenherde in Nahost verhindert werden könne. Seit Beginn des Gazakriegs haben proiranische Milizen US-Stellungen im Irak und Syrien mehr als hundertmal angegriffen; die mit Teheran verbündeten Huthi-Rebellen im Iran haben mehr als hundert Raketen und Drohnen Richtung Israel gefeuert. Wegen Kämpfen zwischen den Israel Defence Forces (IDF) und der libanesischen Hisbollah haben Zehntausende Menschen beiderseits der Grenze ihre Wohnungen und Häuser verlassen. mrb

  • Gaza-Krieg
  • Israel
  • Katar
  • Nahost

Bundeswehr stellt neues Logistikbataillon im Landkreis Bautzen auf

Die Bundeswehr stationiert im Landkreis Bautzen in Sachsen ein neu aufgestelltes Logistikbataillon. Das teilte das Verteidigungsministerium (BMVg) gestern mit. Mit der Neuaufstellung des Logistikbataillon 471 sollen 800 Dienstposten entstehen, davon 700 Soldatinnen und Soldaten. Die neue Kaserne solle in der Gemeinde Bernsdorf-Straßgräbchen errichtet werden und einen Standortübungsplatz und eine Standortschießanlage erhalten. Dazu bedürfe es allerdings “weiterer intensiver Vorarbeiten”, erklärt das BMVg.

Eine Bundeswehreinheit in Sachsen zu stationieren, war Teil einer Einigung zwischen Bund und Ländern zum Kohleausstieg im Januar 2020 gewesen, die das BMVg und der Freistaat Sachsen im März 2021 in einer gemeinsamen Erklärung bekräftigt hatten. Zur Auswahl standen verschiedene Standorte in Sachsen. Für die Region hat die Stationierung eine große wirtschaftliche Bedeutung, wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer sagte: “Dies schafft und sichert direkt und indirekt viele Arbeitsplätze und bringt weitere Kaufkraft in die Region.” Der Verband soll für eine Übergangszeit zunächst in Camp Fallingbostel-Oerbke am Standort Osterheide in Niedersachsen untergebracht werden. bub

  • Bundeswehr

Presseschau

The New York Times: China Quietly Rebuilds Secretive Base for Nuclear Tests. Seit Jahren äußern US-Regierungsberichte vage Bedenken über den chinesischen Militärstützpunkt Lop Nur. Nun zeigen aktuelle Satellitenbilder, dass die Basis über neu gebohrte Bohrlöcher verfügt – ein Hinweis darauf, dass China eine Wiederaufnahme von Atomtests in Betracht zieht, weiß Nuklarexperte Tong Zhao.

Brookings: France responds to the Israel-Gaza crisis. Zu einem Zeitpunkt, an dem Frankreichs Nahost-Politik von der jüdischen und muslimischen Bevölkerung besonders kritisch beäugt wird, übt sich Macron innen- wie außenpolitisch in einem Balanceakt. Dieser spiegele die gesamteuropäische Zerrissenheit wider, urteilt die Außenpolitik-Experten Tara Varma.

Reuters: Ukraine’s citizen army struggles with a hidden enemy: combat stress. Nach fast zwei Jahren Krieg wächst die Zahl der Soldaten und Soldatinnen in der Ukraine, die traumatisiert oder psychisch stark belastet sind. Ein Netzwerk aus Freiwilligen hilft den Betroffenen. Eine vollständige Genesung ist unter den aktuellen Umständen aber nicht möglich – nach jeder kurzen Pause geht es wieder an die Front.

Greenpeace-Studie: Flug ins Ungewisse – Die teure Odysse des Future Combat Air Systems. Das deutsch-französisch-spanische Flugsystemprojekt FCAS soll laut Untersuchung der Informationsstelle Militarisierung, von der die Studie verfasst wurde, bis zum Ende des Nutzungszeitraums in den 2070er Jahren 1,1 bis 2 Billionen Euro kosten. Allein für den Unterhalt würden jährlich zwischen 24,4 Milliarden und 42,1 Milliarden Euro fällig. Es gibt auch einen detaillierten Überblick, wie sich die Ausgaben für das Projekt verteilen.

Heads

Daniel Benjamin – Kühler Stratege mit großer Liebe zu Deutschland

Daniel Benjamin ist Präsident der American Academy im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf.

Der Hausherr empfängt in der Bibliothek der American Academy. Bücherregale an den hohen Wänden, mittendrin ein großer Tisch, schwere Leuchter in den Ecken. Daniel Benjamin, seit 2020 Präsident der American Academy in Berlin, ist kein Freund von amerikanischem Small Talk. Er erzählt einem nicht seine Lebensgeschichte und sagt auch nicht, wie “wonderful” Deutschland ist. Er wartet erst einmal ab.

Und lehnt sich zurück. Es gibt Wasser und Kekse, fast kunstvoll drapiert auf einem silbernen Tablett. Er rührt sie nicht an. Fokussiert sein Gegenüber lieber, und wählt seine Worte mit Bedacht. Natürlich geht es erst einmal um die American Academy, jene unabhängige, private Forschungs- und Kulturinstitution, die sich seit fast dreißig Jahren den deutsch-amerikanischen Beziehungen widmet. Und über die der Spiegel einmal schrieb, sie sei “das weltweit wichtigste Zentrum für das amerikanische intellektuelle Leben außerhalb der USA”, gegründet unter anderem von Henry Kissinger und Richard von Weizsäcker.

“Starke Gefühle” für Deutschland

Dementsprechend ambitioniert sind die Stipendiaten, die hier, wie Benjamin selbst 2004, ein Jahr in der herrschaftlichen Villa am Wannsee residieren und sich ganz ihren Forschungen oder Künsten hingeben dürfen. Die Liste liest sich wie ein Who’s Who der amerikanischen Geistes-Elite: Anne Applebaum, George Packer, Jeffrey Eugenides, Julianne Smith, Daniel Ziblatt und viele mehr. Und – natürlich zählt sich der Oxford-Absolvent Benjamin dazu. Würde er sagen, er habe alle Bücher in dieser Bibliothek gelesen, man glaubte es ihm sofort.

Sein “Crashkurs” in Sachen Deutschland liegt allerdings schon 33 Jahre zurück. Als junger Journalist für die Times und das Wall Street Journal berichtet er über die Wende und lernt: “Nirgendwo in Europa ist so viel Geschichte.” Er ist fasziniert vom wiedervereinten Deutschland und entwickelt – da lächelt er fast – “starke Gefühle” für das Land, das ihn immer wieder überrascht. Und das er seinen Landsleuten erklären muss. Übrigens bis heute.

Amerikanische Präsidentschaftswahl möglicher Wendepunkt

Zum Beispiel die “deutsche Bescheidenheit”. Das sagt der 62-Jährige gern auf Deutsch und erklärt, ganz der kühle politische Stratege, wie sehr viele Verbündete von dieser vermeintlichen Tugend genervt sind. Deutschland sei das wichtigste Land in Europa und da erwarte man zu Recht mehr Führung, auch militärische Führung. Die Deutschen hätten ein “Talent das zu tun, was notwendig ist und das immer zehn Minuten zu spät”.

Die “Zeitenwende” jedoch sei ein immenser Fortschritt. Ob sie auch nachhaltig sei? Da greift der Präsident der American Academy doch lieber zu diplomatischem Vokabular. “Gesellschaftlich anerkannt” sei sie, und dies müsse sich nun eben auch in militärischer Stärke auszeichnen. Denn – und da wird er plötzlich sehr strikt: Die Europäer, und besonders die Deutschen, müssten sich mehr mit dem Gedanken beschäftigen, dass der nächste Präsident der Vereinigten Staaten Donald Trump heißen könnte. Was unter anderem bedeuten könnte: Die USA verlassen die Nato.

Europa ohne Einfluss im Nahen Osten

Überhaupt werde bis zu den Präsidentschaftswahlen 2024 wenig passieren, was die Europäer freut. Russlands Präsident Putin werde nicht verhandeln und auch das – noch immer nicht vom Kongress freigegebene – 61 Milliarden Dollar Paket für die Ukraine werde das letzte sein bis zu den Wahlen. Nach diesem Satz macht er eine Pause.

Was seine geopolitische Analyse betrifft, erweist sich Benjamin als Realist durch und durch. Natürlich einer mit amerikanischer Brille. Auf die Frage, welchen Einfluss Deutschland oder überhaupt die Europäer auf die Geschehnisse im Nahen Osten hätten, fällt seine Antwort denkbar kurz aus: keinen. “Niemand hat den Einfluss, den die USA haben, niemand.” Nur sie könnten die israelische Politik beeinflussen.

Zwei-Staaten-Lösung “unabdingbar”

Wie sie aussehen müsste, dazu hat der Publizist, dessen Essays in der New York Times oder in The Atlantic erscheinen, eine dezidierte Meinung. Die Regierung von Benjamin Netanjahu sei “desaströs” für jede mögliche Friedenslösung. “Die Biden-Administration muss ihren Einfluss nutzen, um Israel zu helfen, eine neue Führung zu finden.” Präsident Joe Biden sei “to the tips of his fingers” ein Unterstützer des israelischen Staates und genau deshalb müsse er jetzt agieren. Übrigens auch zu seinem eigenen Vorteil. Wie letzte Umfragen zeigen, sieht besonders die junge demokratische Wählerschaft Bidens unbedingte Solidarität mit Israel kritisch.

Benjamin, der früher Reden für Präsident Clinton schrieb und von 2009 bis 2012 als Koordinator für Anti-Terrorismus im US-Außenministerium tätig war, hält eine Zwei-Staaten-Lösung übrigens für unabdingbar. “Eine Ideologie wie die von Hamas kann man nicht einfach ausradieren.”

Über sein Jüdischsein verliert Benjamin nicht viele Worte. Fast erscheint es so, als sei es ihm unangenehm, darauf angesprochen zu werden. Nur so viel sagt er: “Zumindest im Hinblick auf die physische Sicherheit dürften Juden in Deutschland mittlerweile sicherer sein als in den USA, wie die Statistiken zeigen.” Aber: “Ich bin ein Optimist, in einer pessimistischen Weise”, sagt er noch zu guter Letzt, nimmt dann doch einen Keks und lächelt plötzlich sogar ein wenig. “Aber das sind Amerikaner immer.” Nana Brink

  • Geopolitik
  • USA

Security.Table Redaktion

SECURITY.TABLE REDAKTION

Licenses:
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    rückgratloser Schmusekurs oder kluge Strategie? Diese Frage stellt sich nach dem Besuch von Boris Pistorius bei der Militärjunta in Niger, auch wenn der Verteidigungsminister selbst es “gut und richtig” findet, “nicht alle Brücken abgerissen” zu haben – trotz von der EU verhängter Sanktionen gegen die Generäle. In Niamey traf Pistorius Verteidigungsminister Salifou Modi  – und bot ihm Kooperationsprojekte, den Bau eines Militärkrankenhauses sowie die Ausbildung nigrischer Offiziere an. Ob Deutschland im Gegenzug den Lufttransportstützpunkt in Niamey weiter nutzen kann, bleibt unklar, schreibt Lucia Weiß.

    Der Riegel autoritärer Regime, der sich von Guinea bis Sudan quer durch Afrika zieht, wurde durch den Putsch in Niger im Juli komplettiert. In unserem Jahresrückblick zeigen wir auf, wie dadurch der Rückzug der Bundeswehr aus der Minusma-Mission in Mali im Dezember beschleunigt wurde – und werfen einen Blick auf weitere Krisen, die die Sicherheitspolitik 2023 bestimmten.

    Ans Herz legen möchte ich Ihnen den Text von Leonard Schulz. Darin beschreibt er, wie es der Hamas auf TikTok, Instagram und X gelungen ist, im medialen Kampf um die Deutungshoheit im Gazakrieg Israel immer einen Schritt voraus zu sein.

    Wir halten Sie natürlich auch zwischen den Jahren über die aktuellen außen- und verteidigungspolitischen Entwicklungen auf dem Laufenden – mit unseren 100Headlines, dem täglichen News-Überblick für die Table.Media-Community.

    Frohe Weihnachten wünscht Ihnen

    Ihr
    Markus Bickel
    Bild von Markus  Bickel

    Analyse

    Besuch in Niger: Pistorius wendet sich den Putschisten zu

    Knapp eine Woche vor Weihnachten hat der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) Bundeswehrsoldaten in Niger besucht. Pistorius war zuvor nach Litauen gereist, wo deutsche Soldaten im Rahmen der Nato-Vorneverteidigung stationiert sind. So weit, so traditionell, die Vorweihnachtsbesuche bei deutschen Truppen zählen zur festen Terminplanung deutscher Verteidigungsminister.

    Deutschland will mit Putschregierung kooperieren

    In Niger versuchte Pistorius die Zukunft der über 100 deutschen Soldaten auf dem Lufttransportstützpunkt nahe Niamey zu klären. Bevor die Junta die Macht übernahm, hatte es Pläne gegeben, den Stützpunkt zu erweitern, der auch für den Abzug der deutschen Soldaten von der UN-Mission in Mali (Minusma) vorgesehen war. Die nigrische Putschregierung hatte der Bundeswehr aber untersagt, über Niger abzuziehen. An der Grenze zu Mali steckt derweil ein deutscher Konvoi mit militärischem Material aus dem beendeten Mali-Einsatz in der Zollabfertigung fest.

    Klarheit brachte der Besuch des deutschen Ministers allerdings nicht. Pistorius sagte lediglich, dass er signalisiert habe, “dass wir ein Interesse daran haben, den Stützpunkt zu halten” und: “Die nigrische Seite habe ich so verstanden, dass sie sich das auch sehr gut vorstellen kann.” Alles Weitere solle Anfang 2024 auf Arbeitsebene besprochen werden.

    Bemerkenswerte außenpolitische Wende

    Dass Pistorius am Dienstag anbot, Kooperationsprojekte weiterzuführen, ist eine bemerkenswerte Wende in der deutschen Außenpolitik: weg von der strikten Ablehnung nicht-ziviler Regierungen hin zu pragmatischer orientierten Zusammenarbeit. Dieser Kurswechsel ist eine Reaktion auf die volatile Lage in der Sahelzone, die in diesem Jahr von erheblichen Verschiebungen in Politik, internationaler Zusammenarbeit und Sicherheit geprägt war.

    Ein Blick zurück: Im Juli stürzten Militärs in Niger die demokratisch gewählte Regierung von Präsident Bazoum. Damit reihte sich das Land in die Liste jener Länder im Sahel ein, in denen das Militär die Macht an sich genommen hat. Der Westen verlor damit seinen wichtigsten Partner in der Sahelzone, in der Russland an Einfluss gewinnt.

    “Wir haben in diesem Jahr einen schnellen und bewusst herbeigeführten Verfall demokratischer Werte im zentralen Sahel erlebt. Alle waren schockiert, als der Putsch in Niger stattfand, auch wenn es einige Anzeichen vor Ort gab: Korruption und Unzufriedenheit in der Bevölkerung”, fasst Aneliese Bernard im Gespräch mit Table.Media das Jahr 2023 zusammen. Aneliese Bernard ist Leiterin der in Washington DC ansässigen Beratungsgruppe Strategic Stabilization Advisors. Zuvor war sie im US-Außenministerium tätig und arbeitete von 2017 bis 2019 in der US-Botschaft in Niamey.

    Welle von Militärputschen

    Seit 2020 schwappt eine Welle von Militärputschen über Westafrika bis in den Sudan, mit Gabun diesen August und Niger im Juli kamen zwei weitere dazu. Damit sind es neun Umstürze in der Region, je zwei in Mali (August 2020, Mai 2021) und Burkina Faso (Januar 2022, September 2022). Von Guinea am Atlantik (September 2021), über Mali, Burkina Faso, Niger, Gabun nach Tschad (April 2021) und bis in den Sudan (Oktober 2021) sind nun sieben Länder nicht mehr in ziviler Hand, sondern werden von Soldaten geführt.

    Mehr als Zeichen eines Verfalls demokratischer Werte sind diese Putsche Ausdruck eines Zerfalls der staatlichen Strukturen in diesen Ländern. Die Armee ist häufig die einzige Organisation in den Ländern des Sahel, die noch in der Lage ist, diese Staaten zusammenzuhalten, da die zivile Verwaltung oft am Boden liegt, Beamte nicht mehr regelmäßig bezahlt werden und auf Korruption angewiesen sind, um ihre Familien zu ernähren. So sind diese Putsche, die diese Region in den vergangenen Jahren erlebt hat, oft auch ein Versuch der Militärs, die Staaten noch einigermaßen zusammenzuhalten.

    Unerfüllte Versprechungen der Militärjuntas

    Die Militärregierungen bemühen sich mehr oder minder um die Rückkehr zur demokratischen Ordnung. Gerade im zentralen Sahel scheint das dem immer gleichen Drehbuch zu folgen: Es gibt Versprechungen, einen nationalen Sicherheitsrat und Dialog mit der Zivilgesellschaft, umstrittene und mangelhaft inklusive Verfassungsreferenden wie in Mali und kürzlich im Tschad, schließlich oft die Verschiebung angesetzter Wahlen aufgrund von angeblichen Sicherheitsbedenken. So kündigte die Junta von Assimi Goïta, seit Mai 2021 Präsident von Mali, an, die Wahlen für Februar 2024 wegen “technischer Gründe etwas verschieben” zu müssen. Ein neues Datum gibt es bis jetzt nicht, und es scheinen auch keine Haushaltsmittel für die Durchführung von Wahlen eingeplant zu sein.

    Frankreichs sicherheitspolitischer und Deutschlands entwicklungspolitischer Ansatz im Sahel scheinen beide gescheitert. Auch wenn Experten betonen, dass die Lage ohne das jeweilige Engagement für die Zivilbevölkerung viel früher noch schlimmer gewesen wäre – fest steht: Gut sieht es in den Sahelländern nicht aus. Vor allem die Bevölkerung leidet unter Hunger und zunehmender Gewalt in Mali, Burkina Faso und inzwischen auch in Niger.

    Assimi Goïta ist ein Beispiel dafür, wie auch der sicherheitspolitische Ansatz gescheitert ist. Lange galt der 41 Jahre alte Militär als Hoffnungsträger der westlichen Sicherheitspolitik in der Region. Er wurde zunächst an der École militaire interarmes in Koulikoro in Mali ausgebildet und fiel dort in den Blick der westlichen Militärs. Er wurde daraufhin in Frankreich, den USA und Deutschland ausgebildet und wurde schließlich Oberst in einer Spezialeinheit zur Bekämpfung von Terroristen im Norden des Landes. Und obwohl er so vom Westen unterstützt wurde, war es gerade Goïta, der die Abwendung Malis vom Westen am heftigsten vorantrieb.

    Die Ansätze des Westens sind gescheitert

    Auch die USA haben mit ihrem kombinierten Ansatz aus Entwicklungs- und Sicherheitspolitik bisher nicht für langfristige Stabilität sorgen können. “Mit dem Putsch in Niger hat sich wirklich etwas verändert. Bis dahin verfolgte die US-Regierung den sogenannten 3D-Ansatz – das bedeutet, an guter Regierungsführung, Entwicklung und Sicherheit mit ihren Partnern zu arbeiten, auch wenn in Niger der Fokus auf Sicherheit stärker war. Im US-Außenministerium herrscht die Überzeugung, dass man die Dinge am besten auf diese Art angeht”, sagt die Analystin Aneliese Bernard.

    Die USA haben den Putsch in Niger inzwischen zwar anerkannt, versuchen aber dennoch, business as usual zu suggerieren. “Offensichtlich sind sie dazu nicht wirklich in der Lage”, meint Bernard. “Ich nehme an, dass die USA hinter den Kulissen versuchen herauszufinden, was der nächste Schritt sein könnte.”

    Das Jahr 2023 markiert auch die rigorose Abkehr der Sahelländer vom Westen, hin zu Russland:

    Mali verwies die UN-Mission Minusma des Landes, nachdem Frankreich schon im vergangenen Sommer seine Truppen abziehen musste. Militärkooperationen mit Russland – was zum Teil auch die Präsenz von Wagner-Söldnern impliziert – wurden demonstrativ von Mali sowie auch von Burkina Faso und kürzlich Niger öffentlich zelebriert. Mit der Gründung des Dreierbündnisses, der Alliance des États de Sahel (AES) im Herbst trennten sich diese Länder demonstrativ von den Nachbarstaaten Mauretanien – das der EU verbunden ist – und dem immer noch Frankreich nahen Tschad. Die 2014 gegründete G5-Gruppe stellte Anfang Dezember ihre Auflösung in Aussicht, nur wenige Wochen nachdem die deutsche Entwicklungsministerin Svenja Schulze den Vorsitz übernommen hatte.

    Bundesregierung sucht Neuanfang ohne EU

    Analystin Bernard hält den russischen Einfluss auf die AES für hoch. Die USA unterhalten in Niger eine riesige Drohnenbasis zur Aufklärung in ganz West- und Nordafrika. Doch nun sei die Situation sehr schwierig geworden. “Die USA arbeiten normalerweise mit ihren Partnern zusammen und teilen auch Geheimdienstinformationen. Sie werden jedoch zögern, wenn Zweifel bestehen, dass diese Informationen mit Feinden der USA wie Russland oder China geteilt werden könnten. Es scheint, dass Russland in Niger die Hintergrundkanal-Positionen ersetzt, nachdem Frankreich gegangen ist”, meint Bernard.

    Zuletzt forderte Niger auch die von der Deutschen Katja Dominik geleitete Ausbildungsmission für Sicherheitskräfte, Eucap, zum Abzug auf. Umso überraschender ist vor diesem Hintergrund, dass der deutsche Verteidigungsminister Pistorius nun den Putschisten die Hand ausgestreckt hat. Er war der ranghöchste Vertreter eines EU-Landes, der Niger nach dem gewaltsamen Machtwechsel besuchte. Damit zeichnet sich auch eine Spaltung innerhalb der EU ab, die durch Frankreichs komplizierte Beziehung mit Westafrika blockiert ist.

    • Bundeswehr
    • EU
    • Gabun
    • Geopolitik
    • Putsch
    • Sahel
    • USA

    Wie die Hamas soziale Medien für ihren Informationskrieg gegen Israel nutzt

    Während uns die junge Frau auf TikTok durch die Kamera anschaut, schminkt sie sich ihr Gesicht in bunten Farben – dem Grün, Weiß und Rot der Flagge von Palästina. Im Hintergrund läuft die Melodie des bekannten Seemann-Liedes The Wellermann. Der Text ist jedoch ein anderer als im Original: Hier erzählt er die Gründungsgeschichte Israels aus palästinensischer Sicht, gespickt mit antisemitischen Erzählungsmythen. Am Ende ruft die Influencerin: “Steht auf der richtigen Seite der Geschichte” – gemeint ist natürlich die palästinensische.

    Das antisemitische Schminkvideo könnte man als Netz-Klamauk abtun, doch TikTok hat sich zu einer zentralen Informationsquelle für junge Menschen weltweit entwickelt ­-­ und zu einem relevanten Schauplatz des Nahostkonfliktes.

    Videos werden bewusst aus dem Kontext gerissen

    Ein weiterer Clip zeigt mehrere Kampfjets, die in V-Formation in einen orangefarbenen Abendhimmel hinein fliegen, daneben steht: “Israel is about to rain down hellfire on Gaza”. Das Video wurde tausendfach als aktueller Beleg aus dem seit Oktober tobenden Gazakrieg geteilt. Doch die Sequenz stammt aus dem bekannten Videospiel Arma 3 – nur wissen das die wenigsten.

    Das gilt ebenso für jenes auf X zirkulierende Video, das einen israelischen Soldaten zeigt, der auf einem palästinensischen Kind herumtrampelt. Auch dieses Video ist aus dem Kontext gerissen, es existiert bereits seit mindestens 2012 im Netz und stammt wahrscheinlich von einer Straßenperformance in Bangkok.

    Shayan Sardirizadeh deckt solche Falschwahrheiten auf, indem er die Tiefen des Netzes durchkämmt. Er ist Teil des dieses Jahr gegründeten Faktenchecker-Teams der BBC. Seine Ergebnisse teilt er auch auf X. Er war es, der herausgefunden hat, dass die im Abendrot dahingleitende V-Formation keine Staffel israelischen Kampfjets war. Die meisten Videos, die er entlarvt, sind zwar echt, aber sie stammen aus anderen Zusammenhängen als denen, in denen sie erscheinen – aus dem Syrienkrieg etwa oder von Militärübungen anderer Länder. “Sie sind gar nicht im herkömmlichen Sinne gefälscht, aber die Art, wie sie gezeigt werden, verfälscht ihre Aussage“, sagt Sardirizadeh.

    Wer gewinnt den Bilder-Krieg?

    Desinformation gibt es auch auf der israelischen Seite. Zum Beispiel wird der palästinensischen Seite immer wieder vorgeworfen, Videos von israelischen Angriffen mit Schauspielern und Hilfsmitteln nachzustellen. Bereits 2005 entstand so das Kofferwort aus Palestine und Hollywood – “Pallywood“. Erst vor wenigen Tagen kursierte die falsche Behauptung im Netz, dass die Leiche eines palästinensischen Babys eine Puppe sei – Sardarizadeh deckte auch diesen Fall auf. Sogar die Jerusalem Post fiel auf die Falschmeldung rein, korrigierte den Fehler jedoch im Nachhinein.

    Um eine tatsächliche Fakenews handelte es sich beim Foto eines Kleinkindes neben seiner toten Mutter: Der Junge hatte sechs Finger, das Foto wurde mit künstlicher Intelligenz hergestellt.

    Medienwissenschaftlerin: “Die Zivilisten kämpfen online mit”

    Solche Falschinformationen sind verführerisch, verstärken sie doch die ohnehin schon bestehende Meinung einer Mehrheit an Zuschauenden – und werden dann oft nicht mehr auf ihre Echtheit hin hinterfragt. Gemeinsam mit antisemitischen Meinungsvideos erzeugen sie eine Sogwirkung, in der kein Platz für Widersprüche bleibt. Die Medienwissenschaftlerin Mareike Meis vom Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht an der Universität Bochum sagt: “Die Zivilisten kämpfen quasi online mit.”

    Aufnahmen dieser Art richteten sich explizit an ein westliches Publikum, das nicht vor Ort ist und deswegen für lokale Zivilisten offensichtliche Ungereimtheiten gar nicht erkennen würde. Meis sagt: “Sobald man sich auf den sozialen Medien bewegt, ist man auch automatisch involviert. Man kann sich dem gar nicht verschließen.” Mit jedem Klick, jedem View füttere man den Algorithmus.

    Das Dilemma der verstörenden Bilder

    Welche Auswirkungen die durch Desinformation aufgepeitschte Stimmung im Netz am Ende wirklich auf Gesellschaften hat, lässt sich schwer feststellen. Die Vielzahl an propalästinensischen Demonstrationen weltweit legt nahe, dass die Hamas derzeit im Infokrieg die Nase vorn hat. Das würde jedenfalls die relativ kurze Welle der Israel-Solidarität nach den brutalen Massakern am 7. Oktober erklären, die bereits vor der Bodenoffensive der Israel Defence Forces (IDF) sehr schnell in Kritik am militärischen Vorgehen gegen die Hamas umschwang.

    Kurz nach dem Angriff der Hamas standen viele Medien vor einem Dilemma: Muss man die Bilder des Terrors zeigen, oder sind sie zu hart? Das Video der damals vermutlich schon toten Deutsch-Israelin Shani Louk neben Hamas-Kämpfern auf einem Pickuptruck und Aufnahmen des von der Hamas angegriffenen Supernova-Musikfestivals am Rande des Gazastreifens gehören zu den wenigen Aufnahmen, die einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurden.

    Die Hamas besitzt die narrative Hoheit im Netz

    Die aufgeheizte Stimmung im Netz und die Flut an Desinformationen hinterlassen einen kaum reparablen Schaden, denn sie vergiften das Klima, sodass kaum noch Gesprächskanäle offenbleiben. Eine legitime Kritik an den Kriegsparteien wird so immer schwieriger zu äußern.

    “Israel wird sozusagen als der böse Goliath inklusive antijüdischer Klischees wahrgenommen, die palästinensische Bevölkerung als David”, analysiert Oliver Zöllner vom Institut für Digitale Ethik der Hochschule der Medien Stuttgart die aktuelle Stimmung in den sozialen Medien. In den Diskursen habe sich eine “Täter-Opfer-Umkehr” durchgesetzt. “Fast schon vergessen scheint die Tatsache, dass die Terrororganisation Hamas rund 1.200 Menschen brutal ermordet und mehr als 200 Zivilisten entführt hat. Hier hat ein Zivilisationsbruch stattgefunden – ein wirklich schwarzer Tag für die Menschheit.” Leonard Schulz

    • Hamas
    • Israel
    • Medien
    • Nahost

    Ukraine, Nahost, Sudan und die Nationale Sicherheitsstrategie: das sicherheitspolitische Jahr im Überblick

    Januar

    Boris Pistorius wird neuer Verteidigungsminister. Nach der medial missglückten Silvesterrede von Christine Lambrecht holt Bundeskanzler Olaf Scholz den niedersächsischen Innenminister und erfahrenen Verwaltungsfachmann an die Spitze des Bundesverteidigungsministeriums. Einen Politiker im ständigen Krisenmodus hat Thomas Wiegold 2023 erlebt.

    März

    Nach monatelangem Zögern liefert Deutschland der Ukraine 18 Kampfpanzer vom Typ Leopard 2A6 aus Beständen der Bundeswehr. Die ukrainischen Besatzungen wurden zuvor an der Panzertruppenschule der Bundeswehr im niedersächsischen Munster an dem System ausgebildet.

    Die EU verspricht der Ukraine die Lieferung von einer Million Artilleriegeschossen. Dafür stellt sie zwei Milliarden Euro aus der Europäischen Friedensfazilität zur Verfügung. Mit dem Geld sollen nicht nur die Herstellung und Lieferung von Granaten an die Ukraine, sondern auch die Nachbeschaffung von bereits abgegebener Munition finanziert werden. Stephan Israel beschreibt die Probleme, die das Beschaffungsvorhaben bis heute begleiten.

    April

    Im Sudan eskaliert der Machtkampf zwischen der Übergangsregierung von Armeechef Abdel Fattah Burhan und dem Kommandeur der paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF), Mohammed Hamdan Dagalo. Die Bundeswehr evakuiert mehr als 1000 Menschen aus der umkämpften Hauptstadt Khartum. Anders als die überstürzte Evakuierung aus der afghanischen Hauptstadt Kabul im September 2021 verläuft die Operation erfolgreich.

    Juni

    Die Bundesregierung veröffentlicht ihre erste Nationale Sicherheitsstrategie. Das Grundsatzpapier trägt den Titel “Integrierte Sicherheit für Deutschland” und fasst auf 74 Seiten Antworten auf die Herausforderungen an innere wie äußere Sicherheit der Bundesrepublik zusammen. Neben unklarer Regelung von Kompetenzen zwischen Bund, Ländern und unterschiedlichen Ministerien bleibt an vielen Stellen offen, wie die Umsetzung finanziert werden soll.

    Jewgenij Prigoschin, Chef des privaten, russischen Militärunternehmens Gruppe Wagner, wird nach einem “Marsch der Gerechtigkeit” nach Moskau von Wladimir Putin entmachtet. In den Monaten zuvor waren immer wieder Spannungen zwischen Prigoschin und dem Verteidigungsministerium öffentlich geworden; im August stirbt er bei einem Flugzeugabsturz. Viktor Funk über die Verwerfungen, die der Tod des Milizenführers in den russischen Eliten ausgelöst hat.

    Juli

    Claudia Plattner wird neue Präsidentin des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Die frühere IT-Managerin ist die erste Frau an der Spitze der Bonner Cybersicherheitsbehörde – und hat alle Hände voll zu tun, das BSI unabhängiger von politischer Steuerung zu machen, erläutert Falk Steiner in seiner Analyse.

    September

    24 Stunden nur braucht die Armee Aserbaidschans, um die armenische Enklave Bergkarabach einzunehmen – dann kapituliert die Regierung der selbst ernannten Republik Arzach. Bis Ende September sind fast alle der 120.000 Bewohner nach Armenien geflohen. Luis Moreno Ocampo, früherer Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, legt in einem viel beachteten Bericht dar, weshalb das Vorgehen aus seiner Sicht den Tatbestand eines Genozids erfülle.

    Oktober

    Der Überfall auf Dutzende israelische Gemeinden, Kibbuzim und Militärbasen durch die Terrororganisation Hamas am 7. Oktober ist der größte Massenmord an Juden seit dem Holocaust und mit mehr als 1200 Toten der tödlichste in der Geschichte Israels. Nach einer kurzen Feuerpause im November, bei der die Hamas 110 israelische Geiseln freiließ, geht der Krieg der Israel Defence Forces (IDF) unvermindert weiter – mit mehr als 19.000 Toten im Gazastreifen bis kurz vor Weihnachten.

    Der Haushaltsausschuss des Bundestags stimmt dem Kauf des Flugabwehrsystems Arrow aus Israel zu. Die vier Milliarden Euro für das Waffensystem stammen aus dem Sondervermögen der Bundeswehr. Einer Umfrage des European Leadership Networks (Elnet) zufolge unterstützen zwei von drei Deutschen die Anschaffung von Arrow 3.

    Dezember

    Mitte Dezember kehrten die letzten Bundeswehr-Soldaten, die am UN-Einsatz in Mali (Minusma) teilgenommen haben, nach Deutschland zurück. Seit 2013 waren mehr als 1000 deutsche Soldaten an der UN-Mission sowie einer EU-Ausbildungsmission für malische Sicherheitskräfte beteiligt. Der Abzug markiert das vorläufige Ende von drei Jahrzehnten Auslandseinsätzen der Bundeswehr, die die Truppe mental wie praktisch verändert haben, resümiert Thomas Wiegold.

    ccf, asc, mrb

    • BSI
    • Leopard 2 Panzer
    • Sicherheit
    • Sicherheitspolitik

    News

    Kiew will geflüchtete Ukrainer für die Front anwerben

    Ukrainische Flüchtlinge in der EU.

    Nicht nur Artillerie und Drohnen fehlen der ukrainischen Armee, es gibt auch personelle Probleme: Die Debatte über eine Mobilmachung von bis zu 500.000 zusätzlichen Soldaten, sowie die Überlegungen, im Ausland lebende ukrainische Männer für den Fronteinsatz heranzuziehen, zeigen, unter welchem Druck die Armeeführung steht. Diskussionen über nicht ausreichende Rotationen werden in der Ukraine seit Kriegsbeginn geführt, umfangreiche Reformen für Personalgewinnung sind bereits in Arbeit.

    In Deutschland zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zum Ende November genau 197.072 ukrainische Männer im Alter zwischen 25 und 60 Jahren, EU-weit sind es Hunderttausende mehr. In dieser gesetzlich festgelegten Altersspanne können die Männer eingezogen werden. Das heißt: derzeit eigentlich in der Altersspanne 27 bis 60 Jahren. Die untere Altersgrenze soll zwar nach einem vom Parlament im März 2023 verabschiedeten Gesetz auf 25 Jahre sinken, um die Reserve auszubauen. Doch Präsident Wolodymyr Selenskyj hat das Gesetz noch nicht unterzeichnet. 

    Jetzt plant das ukrainische Verteidigungsministerium, die im Ausland lebenden Ukrainer zum Einsatz “einzuladen”, wie Minister Rustem Umjerow es in einem Interview mit der Bild-Zeitung ausgedrückt hat. Selbst über Konsequenzen für diejenigen, die der “Einladung” nicht folgen, werde nachgedacht. Unklar ist, ob diese Pläne Selenskyj mitgetragen werden, er hatte sich eher zurückhaltend zu der Forderung des Militärs nach einer neuen, umfangreichen Mobilmachung geäußert.

    Schutzstatus in Deutschland bis März 2025 verlängert

    Sollte Kiew tatsächlich mit Nachdruck ukrainische Männer aus der EU zur Rückkehr und für den Kriegsdienst gewinnen wollen, wird das absehbar zu diplomatischen Problemen führen. Deutschland hat erst vor einem Monat die Sonderregelung für die ukrainischen Geflüchteten bis März 2025 verlängert. Von den bis Anfang Dezember registrierten 1,26 Millionen ukrainischen Flüchtlingen haben 1,03 Millionen den Schutzstatus.

    Seit Kriegsbeginn engagieren sich zudem Menschenrechtsgruppen wie Connection und Amnesty International für Asylschutz von Männern aus Russland, Belarus und Ukraine, die nicht am Krieg teilnehmen wollen. Doch bisher ist Verweigerung des Kriegsdienstes nur in Ausnahmefällen Grund für eine Asylgewährung. vf  

    • Asyl
    • Asylpolitik
    • Migration
    • Russland
    • Ukraine
    • Ukraine-Krieg

    Einsatz im Roten Meer: Deutschland sucht Schiff und Rechtsgrundlage

    Wenn am Freitag die Fregatte “Hessen” zum Weihnachtsurlaub in Wilhelmshaven einläuft, weiß die Besatzung noch nicht, ob ihr nächster Auftrag sie vielleicht ins Rote Meer führt: Das Kriegsschiff, für die Luftverteidigung schwimmender Verbände ausgerüstet, ist eine der wenigen Optionen, die Deutschland für eine Beteiligung an einem Schutz von Handelsschiffen im Roten Meer hat.

    Seit November haben die Huthi-Rebellen im Jemen zunehmend Frachter und Tanker auf dem Weg zum Suez-Kanal vor ihrer Küste mit Drohnen und Raketen angegriffen. Als Grund nannte die Organisation, die im jemenitischen Bürgerkrieg große Teile des Landes kontrolliert und vom Iran unterstützt wird, die Unterstützung der Hamas im Kampf gegen Israel.

    Kriegsschiffe der USA, Großbritanniens und Frankreichs wehrten bereits mehrere dieser Luftangriffe auf Containerschiffe ab; künftig soll eine von den USA geführte multinationale Marine-Operation “Prosperity Guardian” (“Hüter des Wohlstands”) den Schutz sicherstellen. Denn aus Angst vor den Angriffen meiden zahlreiche Reedereien vorerst den Suez-Kanal, der eine der wichtigsten Handelsrouten der Welt ist.

    In Deutschland, einem von Handelsströmen und Lieferketten abhängigen Land, besteht Bereitschaft zur Beteiligung an der US-Mission. Allerdings muss die Bundesregierung dafür eine Rechtsgrundlage und ein Schiff finden. Beides nicht so einfach: Von den Luftverteidigungs-Fregatten der Deutschen Marine sind derzeit zwei einsatzbereit, darunter die “Hessen”.

    Die soll allerdings nach ihrer Weihnachtspause wieder in einen Nato-Einsatzverband zurückkehren. Für einen Auslandseinsatz mit möglicher Beteiligung an Kampfhandlungen ist zudem ein Mandat des Bundestages nötig – und die Grundlage in einem “System kollektiver Sicherheit”, zum Beispiel mit einem Beschluss des UN-Sicherheitsrats.

    Die Europäische Union prüft unterdessen, ob die EU-Marinemission Atalanta am Horn von Afrika sich auch an dem Einsatz zum Schutz der Handelsschiffe beteiligen kann. Bis zum vergangenen Jahr war auch die Bundeswehr Teil dieser Mission, die 2008 zum Kampf gegen die Piraterie begonnen wurde, und könnte erneut unter EU-Flagge im Roten Meer aktiv werden. tw

    • Bundeswehr
    • Nahost

    Gazakrieg: Verhandlungen über Waffenpause um Weihnachten

    Drei Wochen nach Ende der Anfang Dezember ausgelaufenen Feuerpause zwischen Israel und der Hamas könnte es nach Heiligabend zu einer neuen Waffenruhe kommen. Darauf deuten Verhandlungen in Kairo zwischen dem politischen Führer der Terrororganisation, Ismail Hanijeh, und ägyptischen Geheimdienstvertretern hin. Zuvor war CIA-Direktor William Burns mit David Bernea vom israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad und dem Regierungschef Katars, Mohammed bin Abdulrahman al Thani, in Polen zusammengekommen.

    Dem Vernehmen nach verlangt die Hamas eine zweiwöchige Feuerpause im Gegenzug für die Freilassung von 40 israelischen Geiseln, vornehmlich Frauen, Kindern und hilfsbedürftigen Senioren. 108 am 7. Oktober aus dem Süden Israels entführte Geiseln sollen sich noch in den Händen von Hamas und Islamischem Dschihad befinden. Am Donnerstag veröffentlichte die Hamas ein Papier, das “ein vollständiges Ende der Aggression” Israels zur Bedingung für eine Feuerpause machte; dabei handele es sich um “eine palästinensische nationale Entscheidung”, der sich auch andere Organisationen wie der Islamische Dschihad angeschlossen hätten.

    USA machen Druck, um Flächenbrand zu verhindern

    Auch die verstärkte Lieferung von Hilfsgütern in den Gazastreifen zählt zu den Forderungen der Terrororganisation, die den Krieg am 7. Oktober mit Massakern an mehr als 1.200 Israelis und der Entführung von rund 200 Menschen aus dem Süden des Landes begann. Seitdem sind auf palästinensischer Seite fast 20.000 Menschen getötet worden, mehr als 1,8 Millionen der 2,3 Millionen Einwohner sind nach Angaben der Vereinten Nationen innerhalb des Gazastreifens vertrieben worden. Zuletzt hatte die US-Regierung Präsident Joe Bidens den Druck auf die israelische Regierung erhöht, ihr militärisches Vorgehen im Gazastreifen zurückzufahren.

    US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte nach einem Treffen mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Galant, dass dadurch auch das Risiko einer Ausweitung des Konflikts auf andere Krisenherde in Nahost verhindert werden könne. Seit Beginn des Gazakriegs haben proiranische Milizen US-Stellungen im Irak und Syrien mehr als hundertmal angegriffen; die mit Teheran verbündeten Huthi-Rebellen im Iran haben mehr als hundert Raketen und Drohnen Richtung Israel gefeuert. Wegen Kämpfen zwischen den Israel Defence Forces (IDF) und der libanesischen Hisbollah haben Zehntausende Menschen beiderseits der Grenze ihre Wohnungen und Häuser verlassen. mrb

    • Gaza-Krieg
    • Israel
    • Katar
    • Nahost

    Bundeswehr stellt neues Logistikbataillon im Landkreis Bautzen auf

    Die Bundeswehr stationiert im Landkreis Bautzen in Sachsen ein neu aufgestelltes Logistikbataillon. Das teilte das Verteidigungsministerium (BMVg) gestern mit. Mit der Neuaufstellung des Logistikbataillon 471 sollen 800 Dienstposten entstehen, davon 700 Soldatinnen und Soldaten. Die neue Kaserne solle in der Gemeinde Bernsdorf-Straßgräbchen errichtet werden und einen Standortübungsplatz und eine Standortschießanlage erhalten. Dazu bedürfe es allerdings “weiterer intensiver Vorarbeiten”, erklärt das BMVg.

    Eine Bundeswehreinheit in Sachsen zu stationieren, war Teil einer Einigung zwischen Bund und Ländern zum Kohleausstieg im Januar 2020 gewesen, die das BMVg und der Freistaat Sachsen im März 2021 in einer gemeinsamen Erklärung bekräftigt hatten. Zur Auswahl standen verschiedene Standorte in Sachsen. Für die Region hat die Stationierung eine große wirtschaftliche Bedeutung, wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer sagte: “Dies schafft und sichert direkt und indirekt viele Arbeitsplätze und bringt weitere Kaufkraft in die Region.” Der Verband soll für eine Übergangszeit zunächst in Camp Fallingbostel-Oerbke am Standort Osterheide in Niedersachsen untergebracht werden. bub

    • Bundeswehr

    Presseschau

    The New York Times: China Quietly Rebuilds Secretive Base for Nuclear Tests. Seit Jahren äußern US-Regierungsberichte vage Bedenken über den chinesischen Militärstützpunkt Lop Nur. Nun zeigen aktuelle Satellitenbilder, dass die Basis über neu gebohrte Bohrlöcher verfügt – ein Hinweis darauf, dass China eine Wiederaufnahme von Atomtests in Betracht zieht, weiß Nuklarexperte Tong Zhao.

    Brookings: France responds to the Israel-Gaza crisis. Zu einem Zeitpunkt, an dem Frankreichs Nahost-Politik von der jüdischen und muslimischen Bevölkerung besonders kritisch beäugt wird, übt sich Macron innen- wie außenpolitisch in einem Balanceakt. Dieser spiegele die gesamteuropäische Zerrissenheit wider, urteilt die Außenpolitik-Experten Tara Varma.

    Reuters: Ukraine’s citizen army struggles with a hidden enemy: combat stress. Nach fast zwei Jahren Krieg wächst die Zahl der Soldaten und Soldatinnen in der Ukraine, die traumatisiert oder psychisch stark belastet sind. Ein Netzwerk aus Freiwilligen hilft den Betroffenen. Eine vollständige Genesung ist unter den aktuellen Umständen aber nicht möglich – nach jeder kurzen Pause geht es wieder an die Front.

    Greenpeace-Studie: Flug ins Ungewisse – Die teure Odysse des Future Combat Air Systems. Das deutsch-französisch-spanische Flugsystemprojekt FCAS soll laut Untersuchung der Informationsstelle Militarisierung, von der die Studie verfasst wurde, bis zum Ende des Nutzungszeitraums in den 2070er Jahren 1,1 bis 2 Billionen Euro kosten. Allein für den Unterhalt würden jährlich zwischen 24,4 Milliarden und 42,1 Milliarden Euro fällig. Es gibt auch einen detaillierten Überblick, wie sich die Ausgaben für das Projekt verteilen.

    Heads

    Daniel Benjamin – Kühler Stratege mit großer Liebe zu Deutschland

    Daniel Benjamin ist Präsident der American Academy im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf.

    Der Hausherr empfängt in der Bibliothek der American Academy. Bücherregale an den hohen Wänden, mittendrin ein großer Tisch, schwere Leuchter in den Ecken. Daniel Benjamin, seit 2020 Präsident der American Academy in Berlin, ist kein Freund von amerikanischem Small Talk. Er erzählt einem nicht seine Lebensgeschichte und sagt auch nicht, wie “wonderful” Deutschland ist. Er wartet erst einmal ab.

    Und lehnt sich zurück. Es gibt Wasser und Kekse, fast kunstvoll drapiert auf einem silbernen Tablett. Er rührt sie nicht an. Fokussiert sein Gegenüber lieber, und wählt seine Worte mit Bedacht. Natürlich geht es erst einmal um die American Academy, jene unabhängige, private Forschungs- und Kulturinstitution, die sich seit fast dreißig Jahren den deutsch-amerikanischen Beziehungen widmet. Und über die der Spiegel einmal schrieb, sie sei “das weltweit wichtigste Zentrum für das amerikanische intellektuelle Leben außerhalb der USA”, gegründet unter anderem von Henry Kissinger und Richard von Weizsäcker.

    “Starke Gefühle” für Deutschland

    Dementsprechend ambitioniert sind die Stipendiaten, die hier, wie Benjamin selbst 2004, ein Jahr in der herrschaftlichen Villa am Wannsee residieren und sich ganz ihren Forschungen oder Künsten hingeben dürfen. Die Liste liest sich wie ein Who’s Who der amerikanischen Geistes-Elite: Anne Applebaum, George Packer, Jeffrey Eugenides, Julianne Smith, Daniel Ziblatt und viele mehr. Und – natürlich zählt sich der Oxford-Absolvent Benjamin dazu. Würde er sagen, er habe alle Bücher in dieser Bibliothek gelesen, man glaubte es ihm sofort.

    Sein “Crashkurs” in Sachen Deutschland liegt allerdings schon 33 Jahre zurück. Als junger Journalist für die Times und das Wall Street Journal berichtet er über die Wende und lernt: “Nirgendwo in Europa ist so viel Geschichte.” Er ist fasziniert vom wiedervereinten Deutschland und entwickelt – da lächelt er fast – “starke Gefühle” für das Land, das ihn immer wieder überrascht. Und das er seinen Landsleuten erklären muss. Übrigens bis heute.

    Amerikanische Präsidentschaftswahl möglicher Wendepunkt

    Zum Beispiel die “deutsche Bescheidenheit”. Das sagt der 62-Jährige gern auf Deutsch und erklärt, ganz der kühle politische Stratege, wie sehr viele Verbündete von dieser vermeintlichen Tugend genervt sind. Deutschland sei das wichtigste Land in Europa und da erwarte man zu Recht mehr Führung, auch militärische Führung. Die Deutschen hätten ein “Talent das zu tun, was notwendig ist und das immer zehn Minuten zu spät”.

    Die “Zeitenwende” jedoch sei ein immenser Fortschritt. Ob sie auch nachhaltig sei? Da greift der Präsident der American Academy doch lieber zu diplomatischem Vokabular. “Gesellschaftlich anerkannt” sei sie, und dies müsse sich nun eben auch in militärischer Stärke auszeichnen. Denn – und da wird er plötzlich sehr strikt: Die Europäer, und besonders die Deutschen, müssten sich mehr mit dem Gedanken beschäftigen, dass der nächste Präsident der Vereinigten Staaten Donald Trump heißen könnte. Was unter anderem bedeuten könnte: Die USA verlassen die Nato.

    Europa ohne Einfluss im Nahen Osten

    Überhaupt werde bis zu den Präsidentschaftswahlen 2024 wenig passieren, was die Europäer freut. Russlands Präsident Putin werde nicht verhandeln und auch das – noch immer nicht vom Kongress freigegebene – 61 Milliarden Dollar Paket für die Ukraine werde das letzte sein bis zu den Wahlen. Nach diesem Satz macht er eine Pause.

    Was seine geopolitische Analyse betrifft, erweist sich Benjamin als Realist durch und durch. Natürlich einer mit amerikanischer Brille. Auf die Frage, welchen Einfluss Deutschland oder überhaupt die Europäer auf die Geschehnisse im Nahen Osten hätten, fällt seine Antwort denkbar kurz aus: keinen. “Niemand hat den Einfluss, den die USA haben, niemand.” Nur sie könnten die israelische Politik beeinflussen.

    Zwei-Staaten-Lösung “unabdingbar”

    Wie sie aussehen müsste, dazu hat der Publizist, dessen Essays in der New York Times oder in The Atlantic erscheinen, eine dezidierte Meinung. Die Regierung von Benjamin Netanjahu sei “desaströs” für jede mögliche Friedenslösung. “Die Biden-Administration muss ihren Einfluss nutzen, um Israel zu helfen, eine neue Führung zu finden.” Präsident Joe Biden sei “to the tips of his fingers” ein Unterstützer des israelischen Staates und genau deshalb müsse er jetzt agieren. Übrigens auch zu seinem eigenen Vorteil. Wie letzte Umfragen zeigen, sieht besonders die junge demokratische Wählerschaft Bidens unbedingte Solidarität mit Israel kritisch.

    Benjamin, der früher Reden für Präsident Clinton schrieb und von 2009 bis 2012 als Koordinator für Anti-Terrorismus im US-Außenministerium tätig war, hält eine Zwei-Staaten-Lösung übrigens für unabdingbar. “Eine Ideologie wie die von Hamas kann man nicht einfach ausradieren.”

    Über sein Jüdischsein verliert Benjamin nicht viele Worte. Fast erscheint es so, als sei es ihm unangenehm, darauf angesprochen zu werden. Nur so viel sagt er: “Zumindest im Hinblick auf die physische Sicherheit dürften Juden in Deutschland mittlerweile sicherer sein als in den USA, wie die Statistiken zeigen.” Aber: “Ich bin ein Optimist, in einer pessimistischen Weise”, sagt er noch zu guter Letzt, nimmt dann doch einen Keks und lächelt plötzlich sogar ein wenig. “Aber das sind Amerikaner immer.” Nana Brink

    • Geopolitik
    • USA

    Security.Table Redaktion

    SECURITY.TABLE REDAKTION

    Licenses:

      Jetzt kostenlos anmelden und sofort weiterlesen

      Keine Bankdaten. Keine automatische Verlängerung.

      Sie haben bereits das Table.Briefing Abonnement?

      Anmelden und weiterlesen