Table.Briefing: Security

Nach Sinwar-Tötung Hoffnung auf Gaza ohne Hamas + Warum die USA wieder auf Atomwaffen setzen

Liebe Leserin, lieber Leser,

der mutmaßliche Tod des Hamas-Anführers Jahia Sinwar löste weltweit deutliche Reaktionen aus: Außenministerin Annalena Baerbock nannte ihn einen brutalen Mörder und Terroristen, US-Vizepräsidentin Kamala Harris sagte, die Gerechtigkeit hätte gesiegt. Gemeinsam ist ihnen wohl, was Nato-Generalsekretär Mark Rutte in wenigen Worten ausdrückte: “Ich werde ihn nicht vermissen.” Mehr zu den Hintergründen lesen Sie in den News.

Auch wegen der jüngsten Entwicklungen in Nahost steht Wolodymyr Selenskyj bei seinem am Donnerstag begonnenen Brüssel-Besuch weniger im Rampenlicht als bei vorherigen EU-Gipfeln. Da auch die Nato-Verteidigungsminister in der Stadt sind, schaukelt das die Erwartungen hoch. Welche konkreten Zusagen es wirklich für Selenskyj gab, hat meine Kollegin Wilhelmine Preußen aufgeschrieben.

Im Pentagon spricht man bereits vom “neuen nuklearen Zeitalter”. Nana Brinkhat mit der früheren Nato-Vizegeneralsekretärin Rose Gottemoeller gesprochen. Warum sie eine Anpassung der jetzigen US-Atomwaffenstrategie fordert, lesen Sie in ihrer Analyse.

Ihre
Lisa-Martina Klein
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Analyse

Atomwaffen: Warum die USA ihre Strategie überdenken

Der ehemalige US-amerikanische Präsident Barack Obama und der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew unterzeichneten 2010 den New Start-Vertrag, der 2026 ausläuft.

2009 in Prag hatte US-Präsident Barack Obama von einer Welt ohne Atomwaffen geschwärmt. Das Gegenteil ist momentan der Fall: Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat Russlands Präsident Wladimir Putin mehrfach mit einem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Erst im September kündigte er an, die russische Atomdoktrin zu ändern. Auch vor diesem Hintergrund gewinnt das jährlich stattfindende Nato-Manöver Steadfast Noon an Bedeutung. Seit Anfang der Woche wird die Verteidigung des Bündnisses mit Atomwaffen trainiert. Beteiligt sind 13 Nato-Mitglieder mit über 60 Flugzeugen.

Derweil wird in den USA verstärkt über eine atomare Aufrüstung diskutiert. Rose Gottemoeller, von 2016 bis 2019 stellvertretende Nato-Generalsekretärin, fordert eine Anpassung der jetzigen Atomwaffenstrategie: “Sollte es beispielsweise zu einer russischen Aggression gegen die Nato kommen, könnte China entscheiden, dass dies der richtige Zeitpunkt für eine Invasion in Taiwan ist”. Die Gefahr, dass “Russland und China in einer Konfliktsituation auf opportunistische Weise zusammenarbeiten”, hält Gottemoeller für real. Deshalb gebe es zwei Möglichkeiten: “Entweder bauen die USA ihre nuklearen Kapazitäten aus oder ändern die Struktur ihres Nukleararsenals.”

Gefahr eines atomaren Zweifrontenkriegs

Zu dieser Annahme kommt auch die vom US-Kongress eingesetzte Commission on the Strategic Posture of the United States, der die Ex-Diplomatin angehört. In ihrem Abschlussbericht spricht die Kongress-Kommission von der Gefahr eines atomaren Zweifrontenkriegs, dem die USA ausgesetzt sein könnten. Sie empfiehlt in ihrem Abschlussbericht eine Neujustierung der Atomwaffenstrategie. Wenn die USA und ihre Partner “nicht genügend konventionelle Streitkräfte einsetzen können, müsste die US-Strategie geändert werden, um den Einsatz von Atomwaffen zu verstärken”.

Im August sprach ein hoher Pentagon-Beamter von einem neuen “nuklearen Zeitalter”. Die USA müssten sich darauf vorbereiten, dass Atomstaaten wie Russland, China oder Nordkorea nicht an weiteren Abrüstungsgesprächen interessiert seien. Er kam darüber hinaus zu dem Schluss, dass “unsere Nuklearstreitkräfte in den kommenden Jahren durchaus unzureichend sein könnten”. Eine Studie des Center for Strategic and International Studies kommt zu einer ähnlichen Einschätzung: “Die heutigen Streitkräfte sind weder in ihrer Größe noch in ihrer Form dafür ausgelegt, zwei gleichzeitige oder aufeinanderfolgende Konflikte von höchster Bedeutung anzugehen, die aus opportunistischen Aggressionsszenarien resultieren.”

New Start-Vertrag läuft 2026 aus

Es wird also interessant sein, zu sehen, wie die nächste US-Regierung mit den Herausforderungen umgehen wird. Viel Zeit wird sie nicht haben. Im Februar 2026 läuft der New Start-Vertrag aus, das letzte formal noch bestehende Abrüstungsabkommen zwischen den USA und Russland. Er schreibt den Vertragsnationen vor, ihre nuklearen Sprengköpfe auf 1.500 zu beschränken. Momentan besitzen beide rund 90 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit. Anfang 2023 kündigte Präsident Putin an, den Vertrag auszusetzen. Schon seit 2020 finden keine gegenseitigen Inspektionen mehr statt. Das US-Außenministerium geht davon aus, dass China bis 2035 über 1.500 Atomsprengköpfe verfügen wird.

Kommt es also in der nächsten Legislaturperiode zu einer nuklearen Aufrüstung? Ex-Präsident Donald Trump hat sich bislang offen für eine Verstärkung des Atomwaffenarsenals gezeigt. Im “Projekt 2025”, einer Art Blaupause für eine republikanische Amtsübernahme, wird eine solche Aufrüstung sogar explizit gefordert. Nach seiner Wahl 2020 hatte US-Präsident Joe Biden noch angekündigt, die “Rolle von Atomwaffen zu reduzieren”. Mittlerweile aber hat sich bei den Demokraten die Erkenntnis durchgesetzt, dass der rasante Ausbau des chinesischen Nuklearpotenzials die USA vor neue Herausforderungen stellt. Man kann davon ausgehen, dass eine Präsidentin Kamala Harris den Einschätzungen der Kongress-Kommission nach einer Anpassung der Atomstrategie folgen wird.

Alliierte von US-Nuklearaufrüstung betroffen

Momentan fahren die USA allerdings zweigleisig. Einerseits wird über eine Aufrüstung diskutiert, andererseits will man über eine Neuauflage oder Veränderung des “New Start”-Abkommens verhandeln. Diplomatin Gottemoeller, die bereits als US-Chefunterhändlerin den “New Start”-Vertrag ausgearbeitet hat, glaubt an ein “gegenseitiges Interesse”: “Wir haben über 50 Jahre Erfahrung mit Russland.” Vor allem das russische Militär habe kein Interesse an einer Eskalation: “Sie wollen nicht, dass die USA ihre Nuklearwaffen ausbauen”. Aus dieser Perspektive könnten Verhandlungen “sofort” wieder aufgenommen werden. Allerdings müsste Putin seine Forderungen an die USA und ihre Alliierten, jegliche Unterstützung der Ukraine einzustellen, fallen lassen. Dies sei momentan unrealistisch.

Eine neue US-Nuklearwaffen-Strategie wird auch die Alliierten betreffen. Derzeit sind nach Angaben der Federation of American Scientist (FAS) rund 100 US-Atomwaffen – von insgesamt geschätzten 3.700 – in sechs Stützpunkten in Europa stationiert, unter anderem auf dem deutschen Luftwaffenstützpunkt in Büchel. Sie werden laut Frankfurter Allgemeiner Sonntagszeitung derzeit systematisch erneuert. Ob ihre Anzahl verstärkt wird, darüber gibt es keine klaren Angaben. Allerdings geht Nato-Expertin Gottemoeller davon aus, dass die Nato-Verbündeten verstanden haben, was ein nuklearer Zweifrontenkrieg für die USA bedeuten würde: “Das wird Auswirkungen auf sie haben.”

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Wann der Bundestag Gesetze für Krise und Krieg aktivieren kann

Für außenpolitische Krisen bis hin zu einem Krieg hat die Bundesrepublik Deutschland gesetzliche Vorkehrungen getroffen: Bundeswehr und Zivilschutz, aber auch die Wirtschaft und am Ende jeder einzelne Bürger sind von Regelungen betroffen, die in einem solchen Fall gelten. Und das nicht erst dann, wenn es zu einem heißen Krieg kommt: “Mit dem umfassenden Einsatz hybrider Methoden und Mittel durch Russland steigt auch das Risiko, dass sich irgendwann die Frage eines Nato-Bündnisfalls stellen könnte”, warnte der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, erst in dieser Woche den Bundestag.

Der Bündnisfall in der Allianz, der Verteidigungsfall, der Spannungsfall oder der weitgehend unbekannte Zustimmungsfall, der aktuell in der Begründung des neuen Artikelgesetzes zur Einsatzbereitschaft der Bundeswehr genannt wird: Was bedeuten all diese Regelungen?

Die entsprechenden Bestimmungen kamen Ende der 1960er-Jahre mit der Notstandsverfassung ins Grundgesetz. Angewandt wurden sie, mit Ausnahme des Bündnisfalls nach den Angriffen vom 11. September 2001 in New York und Washington, bisher nie. “Deshalb gibt es auch nichts zur Praxis dieser Regelungen”, sagt der ehemalige Leiter der Rechtsabteilung im Verteidigungsministerium, Dieter Weingärtner. “Auch der Bündnisfall nach 9/11 wurde ausgerufen, ohne dass die entsprechenden innerstaatlichen Regelungen in Kraft gesetzt wurden.” Die juristische Literatur dazu findet sich in Kommentaren zum Grundgesetz – oder im Bericht des Rechtsausschusses aus dem Jahr 1968, mit dem die Artikel für Krise und Krieg ins Grundgesetz kamen.

• Der Verteidigungsfall

Bei einem bevorstehenden oder bereits begonnenen Krieg gegen Deutschland gilt die Bestimmung im Grundgesetz, die am offensichtlichsten ist: Wenn “das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht”, kann der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit diesen Verteidigungsfall feststellen, wie Artikel 115a der Verfassung festlegt. Dann treten mehr oder weniger automatisch die Notstandsgesetze in Kraft, die für diesen Fall vorgesehen sind – vom Übergang der Kommandogewalt über die Streitkräfte auf den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin bis zu Eingriffen des Bundes in die Landesverwaltungen. Aber auch der Zugriff des Staates auf die Wirtschaft oder die Arbeitsleistung einzelner Bürger wird möglich – und die ausgesetzte Wehrpflicht für Männer tritt automatisch wieder in Kraft.

• Der Spannungsfall

Komplizierter geregelt ist der sogenannte Spannungsfall: Den kann der Bundestag nach Artikel 80a des Grundgesetzes ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit feststellen. “Wann er eintritt, ist inhaltlich nicht definiert”, erläutert Weingärtner. Das Parlament habe da einen Spielraum – allerdings sei die vorherrschende juristische Meinung, dass dieser Fall “nur bei einer Krisenlage, die von außen kommt, anwendbar ist, nicht bei inneren Unruhen”. Der Spannungsfall stehe quasi als Vorstufe im Zusammenhang mit dem Verteidigungsfall und solle “der Herstellung einer erhöhten Verteidigungsbereitschaft dienen”. Wie im Verteidigungsfall geht es auch dabei um eine Bedrohung für das Bundesgebiet, und auch dabei werden zahlreiche Gesetzesbestimmungen anwendbar, die die Möglichkeiten des Staates ausweiten. Auch in diesem Fall wird die Wehrpflicht automatisch reaktiviert.

• Der Bündnisfall

Der Grundgesetzartikel 80a regelt auch den sogenannten Bündnisfall – und gibt dem Parlament wenig Mitspracherecht. Die Bestimmung sieht vor, dass Notstandsgesetze angewandt werden können, wenn ein Beschluss “von einem internationalen Organ im Rahmen eines Bündnisvertrages mit Zustimmung der Bundesregierung gefasst wird”. Die Anwendung dieser Gesetze kann allerdings vom Bundestag mit einfacher Mehrheit gestoppt werden.

Konkret bedeutet das, dass ein Beschluss des Nato-Rates, in dem die deutsche Regierung vertreten ist, zur Anwendung der kollektiven Verteidigung der Allianz diese Folgen haben kann. Der Bündnisfall, den die Nato mit Zustimmung der Bundesregierung nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 ausrief, wurde allerdings damals nur für den Einsatz der Bundeswehr zur Unterstützung der USA genutzt – nicht für die Anwendung von Notstandsgesetzen im Inland.

Als die Regelung 1968 in die Verfassung kam, zielte sie nur auf die Nato. Die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft kannte noch nicht die gegenseitigen, auch militärischen Beistandspflichten wie inzwischen die EU. Aktuell dürfte ein EU-Beschluss allerdings die gleichen Auswirkungen haben, zumal der Bundestags-Rechtsausschuss schon 1968 vorhersah: “Zu denken wäre jedoch nicht nur an Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Nato, sondern auch in etwaigen ähnlichen Verteidigungsbündnissen der Zukunft.”

• Der Zustimmungsfall

Öffentlich weitgehend unbekannt ist der sogenannte Zustimmungsfall, der auch im Grundgesetz zwar definiert, nicht aber als solcher benannt wird. “Der Zustimmungsfall wird auch als kleiner Spannungsfall bezeichnet und richtet sich auf eine außenpolitische Krisenlage”, erläutert Weingärtner. Nach dem Grundgesetzartikel 80a kann der Bundestag mit einfacher Mehrheit einzelne Bestimmungen der Notstandsgesetze in Kraft setzen – allerdings nicht Arbeitsverpflichtungen für die Zivilbevölkerung, für die eine Zweidrittelmehrheit nötig ist. Dagegen reicht für Bestimmungen zum Beispiel des Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetzes die einfache Mehrheit aus, einschließlich der darin vorgesehen Anordnung von Behörden, den Aufenthaltsort nicht zu verlassen. Auch das Verkehrssicherstellungsgesetz mit Regelungen, “um die für Zwecke der Verteidigung erforderlichen lebenswichtigen Verkehrsleistungen, insbesondere zur Versorgung der Zivilbevölkerung und der Streitkräfte, sicherzustellen”, könnte so angewandt werden.

Gerade der Zustimmungsfall, sagt der Jurist Weingärtner, gelte zwar schon seit Jahrzehnten. Aber dass er jetzt in Gesetzestexten, wenn auch nur in der Begründung, ausdrücklich erwähnt wird, zeige, “dass der Staat alle Stufen auf der Klaviatur ernst nimmt und nutzen möchte”. Denn alle diese Vorbereitungen auf den Ernstfall seien zugleich “Instrumente der Außenpolitik”.

  • Bundeswehr
  • Nato
  • Verteidigung
  • Wehrpflicht
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News

Nach Sinwar-Tötung: Wie USA und Frankreich für Feuerpause und Geiseldeal werben

54 Wochen nach dem Terrorüberfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 ist deren langjähriger Militärchef Yahia Sinwar am Mittwoch von israelischen Soldaten im Süden des Gazastreifens vor einem Haus tot aufgefunden worden. Das berichtet die New York Times unter Berufung auf Quellen in den Israeli Defense Forces (IDF).

Sinwar war nach der Tötung von Hamas-Chef Ismail Hanijeh in Teheran im Juli als dessen Nachfolger an die Spitze der Islamistenorganisation gerückt. Sie ist der palästinensische Ableger der vor hundert Jahren in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft.

US-Präsident Joe Biden kündigte ein baldiges Telefonat mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu an, “um den Weg für die Heimkehr der Geiseln zu ihren Familien zu erörtern und diesen Krieg, der so viel Leid über unschuldige Menschen gebracht hat, ein für alle Mal zu beenden“. Im September hatte Israel bei einem der massivsten Militärschläge der Kriegsgeschichte Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah getötet. Die Hisbollah bildet neben der Hamas, den jemenitischen Huthi-Rebellen und irakischen Schiitenmilizen die sogenannte Achse des Widerstands, die staatlicherseits von Syrien und Iran unterstützt wird.

Das Weiße Haus zitierte Präsident Biden am Donnerstag mit den Worten, dass “nun die Möglichkeit für einen ‘Tag danach’ im Gazastreifen ohne die Hamas an der Macht und für eine politische Lösung, die Israelis und Palästinensern gleichermaßen eine bessere Zukunft bietet”, bestehe. “Yahya Sinwar war ein unüberwindliches Hindernis für die Erreichung all dieser Ziele. Dieses Hindernis besteht nun nicht mehr. Aber es liegt noch viel Arbeit vor uns”, so Biden. Frankreichs Außenminister Jean-Noel Barrot sagte, es werde nun ein neues Kapitel aufgeschlagen, das zum Frieden führen müsse. Eine Stellungnahme der Hamas selbst lag bis Mitternacht nicht vor. mrb

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Selenskyj in Brüssel: Wie Nato und EU die Ukraine hinhalten

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am Donnerstag seinen “Siegesplan” beim EU-Gipfel und beim Nato-Verteidigungsministertreffen in Brüssel vorgestellt, Erfolge erzielte er dabei kaum. Er mahnte die Verbündeten noch einmal zu mehr Unterstützung, allen voran die USA und Deutschland.

Er hoffe, dass die USA “entschlossener sein werden”, sagte Selenskyj auf einer Pressekonferenz im Anschluss an sein Treffen mit den europäischen Staats- und Regierungschefs am Donnerstagvormittag. “Das ist sehr wichtig für uns”, betonte er. Es sollte in Brüssel darum gehen, offene Fragen der Verbündeten zu dem Plan zu beantworten, den Selenskyj am Mittwoch im ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, erstmalig öffentlich vorgestellt hatte.

Im Zentrum des Plans, bestehend aus fünf Punkten und drei geheimen Anhängen, steht die bedingungslose Einladung in die Nato. Selenskyj verwies darauf, wie viele Waffensysteme aus Nato-Ländern schon in der Ukraine im Einsatz seien, wie eng die Zusammenarbeit sei. Es wäre falsch, die Ukraine politisch außerhalb der Allianz zu lassen, wenn sie praktisch bereits weitgehend integriert sei. Vor allem die Nato-Führungsmacht USA und Deutschland lehnen das nach wie vor aus Angst vor einer Eskalation ab.

Selenskyj kritisiert Scholz für Ablehnung von Taurus-Lieferung

Selenskyjs Plan sieht außerdem vor, die Erlaubnis zu erhalten, russische Ziele mit westlichen weitreichenden Waffen anzugreifen. Die USA, Frankreich und Großbritannien haben Marschflugkörper und Raketen geliefert, die auch militärische Ziele im russischen Hinterland erreichen können. Die Freigabe, das auch zu tun, scheitert aber derzeit vor allem am Veto der amerikanischen Regierung.

Bundeskanzler Olaf Scholz bekräftigte in Brüssel ebenfalls noch einmal seine Ablehnung. Der ukrainische Präsident betonte jedoch, dass die Position des Bundeskanzlers derzeit nicht relevant sei, weil Deutschland den entsprechenden Marschflugkörper Taurus erst gar nicht geliefert habe. “Er kann uns nicht empfehlen, anzugreifen oder nicht anzugreifen, denn er hat nie etwas geliefert”, so Selenskyj. wp

  • EU-Gipfel
  • Nato
  • Ukraine
  • Verteidigungspolitik

Syrien-Krieg: Warum Meloni und Schallenberg auf Gespräche mit Assad drängen

Pläne einzelner EU-Staaten, die Beziehungen zu Syriens Machthaber Baschar al-Assad zu normalisieren, stoßen auf Widerstand im Land selbst. Der stellvertretende Außenbeauftragte der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Fanar al-Kait Hussain, warnte gegenüber Table.Briefings davor, eine Verständigung mit Assad anzustreben, ehe ein interner syrischer Dialog über die Zukunft des Landes begonnen habe. “Es wird weiterhin in vier Landesteilen gekämpft, wir brauchen zunächst einen Waffenstillstand”, sagte er. In Brüssel beraten die EU-Staats- und Regierungschefs noch diesen Freitag unter anderem über eine Wiederaufnahme der 2011 suspendierten diplomatischen Beziehungen mit Syrien.

Sieben EU-Staaten, angeführt von Italien und Österreich, hatten im Juli darauf gedrängt, die Beziehungen zum Assad-Regime zu normalisieren, um so die Rückführung nach Europa geflohener Syrerinnen und Syrer zu ermöglichen. Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg und die italienische Premierministerin Giorgia Meloni argumentieren, dass Europa nicht die Last von 1,2 Millionen hierher gelangter Syrer tragen könne und dass deshalb Gespräche mit dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher in Damaskus beginnen müssten.

Al-Kait Hussain, der der multiethnisch regierten, kurdisch dominierten Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens angehört, verwies auf den demokratischen Charakter seiner Region als Vorbild für einen Versöhnungs- und Wiederaufbauprozess nach Ende des Krieges, dem seit 2012 mehr als 500.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Die sieben syrischen Kantone an der Grenze zur Türkei sind immer wieder Ziel türkischer und syrischer Luftangriffe. Militärisch verteidigt wird das selbst verwaltete, auch als Rojava bezeichnete Gebiet von den Syrian Democratic Forces (SDF).

Die SDF werden von den USA unterstützt, vom Nato-Mitglied Türkei aber bekämpft, weil sie angeführt werden vom syrischen Arm der international als Terrororganisation geächteten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), den Volksverteidigungseinheiten YPG. mrb

  • Geflüchtete
  • Libanon
  • Syrien

Was Leonardo und Rheinmetall sich vom neuen Joint Venture erhoffen

Der verteidigungspolitische Sprecher der FDP, Alexander Müller, begrüßt das Joint Venture, das Rheinmetall und der italienische Panzerbauer Leonardo diese Woche eingegangen sind. Die Kooperation belebe den Wettbewerb, sagte Müller zu Table.Briefings. Außerdem sei die Zusammenarbeit in der europäischen Rüstungsindustrie “ein wichtiger Schritt für eine effiziente europäische industrielle Basis“, sagte Müller.

Die Unterzeichnung dürfte nicht überall auf Zustimmung gestoßen sein. Das Joint Venture ist auch eine Ansage an den anderen Branchenriesen, der deutsch-französischen Holding KNDS. Eine tiefergehende Kooperation von KNDS, die Nexter und Krauss-Maffei Wegmann vereint, mit Leonardo war in diesem Jahr gescheitert.

Die CEOs von Rheinmetall und Leonardo, Armin Papperger und Roberto Cingolani, hatten diese Woche ein entsprechendes Abkommen in Rom unterzeichnet. Die beiden Konzerne sollen sich zu gleichen Teilen an Leonardo Rheinmetall Military Vehicles (LRMV) beteiligen, 60 Prozent der Aktivitäten werden in Italien durchgeführt, die operative Zentrale kommt nach La Spezia in Ligurien. Das betreffe vor allem Endmontage, Auslieferungsaktivitäten und logistische Unterstützung, teilten die Konzerne mit.

Rheinmetall und Leonardo hoffen auf 23 Milliarden Euro

Die ersten Großaufträge hat das Unternehmen bereits in Aussicht. Italien will in den kommenden Jahren 23 Milliarden Euro für gepanzerte Fahrzeuge ausgeben. Rheinmetall und Leonardo hoffen, über 1.000 gepanzerte Kampfsysteme auf Basis des Panther von Rheinmetall und auf Basis des Schützenpanzers Lynx an Italien zu verkaufen. Einen Absatzmarkt erhofft man sich auch über Italien hinaus. Die EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten und der Nähe zu Russland und Ländern des Nahen Ostens biete einen Markt für Landesverteidigung, sagte Cingolani.

Die Produktionspläne sind allerdings ambitioniert. In zwei Jahren wollen Rheinmetall und Leonardo die ersten Schützenpanzer liefern können und in drei Jahren die ersten Kampfpanzer. Bei der Rüstungsmesse Eurosatory hatte Rheinmetall den Panther KF51-U als Brücke zum Main Ground Combat System (MGCS) präsentiert.

Papperger dementierte, dass die neue Panzerkooperation den Erfolg von MGCS gefährde. “Die Idee vom Main Ground Combat System ist, dass wir etwa 2040 bereit sind”, sagte Papperger. KNDS hatte bei der Eurosatory mit dem Leopard 2 A-RC 3.0 seine Vision gezeigt. Rheinmetall teilt sich mit KNDS die lukrativen Aufträge bei der Entwicklung des deutsch-französischen MGCS-Panzerprojekts. Ein Interesse am MGCS mitzuwirken hatte Leonardo auch schon bei der Eurosatory gezeigt. bub

  • Leopard 2 Panzer
  • MGCS
  • Naher Osten
  • Rheinmetall
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Must-Reads

Bloomberg: Why Europe Is Unprepared to Defend Itself. Die europäischen Nato-Mitglieder müssen sich darauf einstellen, ohne die Hilfe der USA einen Landkrieg gegen Russland zu führen, so das Plädoyer dieses Texts. Doch nicht nur die Feuerkraft der USA würde den Europäern in so einem Fall fehlen, es gebe auch kein Wissen, wie man groß angelegte Militäroperationen durchführt.

Wall Street Journal: Scale of Chinese Spying Overwhelms Western Governments. Chinas Hackerprogramm ist größer als das aller anderen großen Länder zusammen: Die Zahl der von Peking unterstützten Hacker, die im Westen Unternehmen und staatliche Stellen angreifen, liegt 50-mal höher als die der Cyberabwehr-Mitarbeiter des FBI.

Federation of American Scientists: Nato Tactical Nuclear Weapons Exercise And Base Upgrades. 60 Flugzeuge aus 13 Ländern und 2.000 Soldaten nehmen an den diesjährigen taktischen Atomwaffenübungen “Steadfast Noon” der Nato teil. Die Übung wird von Belgien und den Niederlanden ausgerichtet und konzentriert sich auf Flugmanöver über der Nordsee und den umliegenden Staaten.

Sipri: Military Entrenchment in Mali and Niger – Praetorianism in Retrospect. Das Militär im Sudan und in Mali ist untrennbar mit der Politik verbunden. Der Wunsch nach Souveränität sicherte den Offizieren die Unterstützung der Bevölkerung. Unter dem Vorwand, den Terrorismus zu bekämpfen, schränkten sie schließlich Freiheitsrechte ein.

Foreign Policy: Will Moldova’s Election Finally Loosen Russia’s Grip? In der Republik Moldau finden am Sonntag die Präsidentschaftswahl und ein EU-Referendum statt. Es gibt zahlreiche Beweise, dass Russland versucht, mit Druck, Bestechungen und illegaler Parteifinanzierung auf den Ausgang der Wahl Einfluss zu nehmen.

Standpunkt

Wehrpflicht für alle? – Die Rolle von Frauen in der Landesverteidigung

Von Markus Grübel
Markus Grübel, Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in Deutschland eine intensive Debatte um die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht beziehungsweise die Einführung einer anderen Form der Dienstpflicht ausgelöst. Er verdeutlicht auch, dass Frieden und Sicherheit in Europa nicht selbstverständlich sind. Deutschland muss fähig sein, sich und seine Bündnispartner zu verteidigen. Dafür braucht die Bundeswehr neben ausreichend Material auch genügend geeignetes Personal, was über eine Wehr- beziehungsweise Dienstpflicht sichergestellt werden könnte.

Die Truppe braucht pro Jahr 30.000 bis 40.000 junge Menschen, die ihren Grundwehrdienst ableisten und dann der Reserve zur Verfügung stehen. Eine Dienstpflicht nach schwedischem Modell, bei dem alle Männer und Frauen – gemustert und die besten ausgesucht werden, wäre der richtige Weg. Auf Freiwilligkeit zu setzen, reicht nicht. Verteidigungsminister Boris Pistorius hatte sich positiv zum schwedischen Modell geäußert. Der im Juni von ihm vorgestellte Plan bleibt aber weit hinter den Erwartungen zurück.

Es geht um die Gleichberechtigung

Pistorius’ Vorschlag verpflichtet nur Männer, den Fragebogen zur Erfassung der Wehrfähigen auszufüllen und sich nach Aufforderung einer Musterung zu unterziehen. Frauen können dies freiwillig tun. So wird die Bundeswehr weder ihren Personalmangel beheben können, noch verteidigungsfähig oder kriegstüchtig werden. Deutschland braucht den Beitrag der Frauen.

Die Frage, ob eine Dienstpflicht auch für Frauen gelten sollte, stellt sich nicht nur im Zusammenhang mit der Personallage in der Bundeswehr. Es geht um Gleichberechtigung. Laut Absatz 4 des Artikels 12a Grundgesetz dürfen Frauen im Verteidigungsfall bei Bedarf zum Dienst in militärischen Lazaretten, aber auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.

Abgesehen vom Sanitäts- und Militärmusikdienst, wozu sie schon seit langem Zugang haben, dürfen Frauen seit 2001 freiwillig in der Bundeswehr in kämpfenden Truppenverbänden dienen. Die Soldatinnen haben längst bewiesen, dass sie fähig sind, unser Land zu verteidigen. Warum sollten sie nicht zum Wehrdienst verpflichtet werden können?

Artikel 12a verstärkt antiquierte Rollenbilder

Artikel 12a Grundgesetz ist in den 1950er Jahren entstanden und spiegelt das damalige Rollenverständnis wider, das mit unserer heutigen Vorstellung von Gleichberechtigung nicht vereinbar ist: Frauen mit Schwesternhäubchen versorgen und pflegen zur Unterstützung der Ärzte – die damals natürlich auch Männer waren – die im Kampf verwundeten männlichen Soldaten.

Dieses Bild ist antiquiert, Artikel 12a Grundgesetz sollte an die heutige Realität angepasst werden, damit auch Frauen zur Verteidigung unseres Landes beitragen können. Natürlich muss im Verteidigungsfall die Hilfe im Lazarett gesichert sein. Diese Aufgabe kann auch von Männern wahrgenommen werden. Gleichberechtigung geht in beide Richtungen.

Maßgeblich für die Geschlechtszuordnung ist der Eintrag beim Standesamt, was dann eine Rolle spielt, wenn die Geschlechtsidentität, also das subjektive Empfinden, nicht mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmt. Auch ist es nicht möglich, sich als Mann im Falle eines Spannungs- oder Verteidigungsfalls durch entsprechende Änderung des Geschlechtseintrags der Wehrpflicht zu entziehen. Laut Paragraph 9 Selbstbestimmungsgesetz bleibt ab zwei Monaten vor Feststellung des Spannungs- oder Verteidigungsfalls die Zuordnung einer Person zum männlichen Geschlecht bestehen, selbst wenn eine Änderung erklärt wird.

Die Hürde einer Grundgesetzänderung ist hoch. Dafür ist eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich. Mit politischem Willen ist das möglich.

Markus Grübel ist seit 2002 für die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag (Wahlkreis Esslingen) und ist Mitglied im Verteidigungsausschuss. Von 2018 bis 2021 war er Beauftragter der Bundesregierung für die weltweite Religionsfreiheit und zuvor von 2013 bis 2018 Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung.

  • Boris Pistorius
  • Bundesrat
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  • Wehrpflicht

Nachtisch

Um junge Menschen anzusprechen und für das Thema Bundeswehr zu begeistern, setzt nach der Nato auch die Bundeswehr auf das Medium Graphic Novel. Das Zentrum Innere Führung hat den Comic “Ben dient Deutschland” veröffentlicht, geschrieben und gezeichnet von Marineoffizier und Comicautor Tom Fiedler.

Er spielt im Spätsommer 2014, Protagonist Ben Schneider ist 19, gerade fertig mit der Schule und beschließt Soldat zu werden, weil er “keinen Bock auf einen Schreibtischjob” hat. Die Geschichte folgt ihm durch seine ersten Monate bei der Luftwaffe: Sie zeigt seine Eingewöhnung, wie er neue Freunde findet, aber auch Streitereien innerhalb der Truppe oder moralische Diskussionen mit seiner pazifistischen Schwester.

Zudem beleuchtet der 124-seitige Comic, wie die deutsche Vergangenheit die heutige Arbeit der Bundeswehr prägt, und erläutert Begriffe und Konzepte wie das humanitäre Völkerrecht, die Charta der Vereinten Nationen oder den Unterschied zwischen Landes- und Bündnisverteidigung. Und er stellt Bezüge zur aktuellen Geopolitik her, mit besonderem Blick auf Russlands Annexion der Krim und den darauffolgenden Krieg.

Die Graphic Novel will mehr als nur Jugendliche anwerben, sie versucht, den Alltag eines jungen Soldaten realistisch darzustellen. Bisweilen wirkt es etwas pathetisch, bisweilen genau passend. Besonders zum Ende hin: Der Epilog zeigt, dass Ben im Februar 2022 schließlich Teil der Nato-Beistandsinitiative enhanced Forward Presence (eFP) der Battlegroup Litauen wird – und dass die russische Bedrohung, nicht nur für ihn, realer und näher denn je ist. asc

Zentrum Innere Führung: Tom Fiedler – Ben dient Deutschland (als PDF verfügbar).

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Security.Table Redaktion

SECURITY.TABLE REDAKTION

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    der mutmaßliche Tod des Hamas-Anführers Jahia Sinwar löste weltweit deutliche Reaktionen aus: Außenministerin Annalena Baerbock nannte ihn einen brutalen Mörder und Terroristen, US-Vizepräsidentin Kamala Harris sagte, die Gerechtigkeit hätte gesiegt. Gemeinsam ist ihnen wohl, was Nato-Generalsekretär Mark Rutte in wenigen Worten ausdrückte: “Ich werde ihn nicht vermissen.” Mehr zu den Hintergründen lesen Sie in den News.

    Auch wegen der jüngsten Entwicklungen in Nahost steht Wolodymyr Selenskyj bei seinem am Donnerstag begonnenen Brüssel-Besuch weniger im Rampenlicht als bei vorherigen EU-Gipfeln. Da auch die Nato-Verteidigungsminister in der Stadt sind, schaukelt das die Erwartungen hoch. Welche konkreten Zusagen es wirklich für Selenskyj gab, hat meine Kollegin Wilhelmine Preußen aufgeschrieben.

    Im Pentagon spricht man bereits vom “neuen nuklearen Zeitalter”. Nana Brinkhat mit der früheren Nato-Vizegeneralsekretärin Rose Gottemoeller gesprochen. Warum sie eine Anpassung der jetzigen US-Atomwaffenstrategie fordert, lesen Sie in ihrer Analyse.

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    Lisa-Martina Klein
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    Analyse

    Atomwaffen: Warum die USA ihre Strategie überdenken

    Der ehemalige US-amerikanische Präsident Barack Obama und der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew unterzeichneten 2010 den New Start-Vertrag, der 2026 ausläuft.

    2009 in Prag hatte US-Präsident Barack Obama von einer Welt ohne Atomwaffen geschwärmt. Das Gegenteil ist momentan der Fall: Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat Russlands Präsident Wladimir Putin mehrfach mit einem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Erst im September kündigte er an, die russische Atomdoktrin zu ändern. Auch vor diesem Hintergrund gewinnt das jährlich stattfindende Nato-Manöver Steadfast Noon an Bedeutung. Seit Anfang der Woche wird die Verteidigung des Bündnisses mit Atomwaffen trainiert. Beteiligt sind 13 Nato-Mitglieder mit über 60 Flugzeugen.

    Derweil wird in den USA verstärkt über eine atomare Aufrüstung diskutiert. Rose Gottemoeller, von 2016 bis 2019 stellvertretende Nato-Generalsekretärin, fordert eine Anpassung der jetzigen Atomwaffenstrategie: “Sollte es beispielsweise zu einer russischen Aggression gegen die Nato kommen, könnte China entscheiden, dass dies der richtige Zeitpunkt für eine Invasion in Taiwan ist”. Die Gefahr, dass “Russland und China in einer Konfliktsituation auf opportunistische Weise zusammenarbeiten”, hält Gottemoeller für real. Deshalb gebe es zwei Möglichkeiten: “Entweder bauen die USA ihre nuklearen Kapazitäten aus oder ändern die Struktur ihres Nukleararsenals.”

    Gefahr eines atomaren Zweifrontenkriegs

    Zu dieser Annahme kommt auch die vom US-Kongress eingesetzte Commission on the Strategic Posture of the United States, der die Ex-Diplomatin angehört. In ihrem Abschlussbericht spricht die Kongress-Kommission von der Gefahr eines atomaren Zweifrontenkriegs, dem die USA ausgesetzt sein könnten. Sie empfiehlt in ihrem Abschlussbericht eine Neujustierung der Atomwaffenstrategie. Wenn die USA und ihre Partner “nicht genügend konventionelle Streitkräfte einsetzen können, müsste die US-Strategie geändert werden, um den Einsatz von Atomwaffen zu verstärken”.

    Im August sprach ein hoher Pentagon-Beamter von einem neuen “nuklearen Zeitalter”. Die USA müssten sich darauf vorbereiten, dass Atomstaaten wie Russland, China oder Nordkorea nicht an weiteren Abrüstungsgesprächen interessiert seien. Er kam darüber hinaus zu dem Schluss, dass “unsere Nuklearstreitkräfte in den kommenden Jahren durchaus unzureichend sein könnten”. Eine Studie des Center for Strategic and International Studies kommt zu einer ähnlichen Einschätzung: “Die heutigen Streitkräfte sind weder in ihrer Größe noch in ihrer Form dafür ausgelegt, zwei gleichzeitige oder aufeinanderfolgende Konflikte von höchster Bedeutung anzugehen, die aus opportunistischen Aggressionsszenarien resultieren.”

    New Start-Vertrag läuft 2026 aus

    Es wird also interessant sein, zu sehen, wie die nächste US-Regierung mit den Herausforderungen umgehen wird. Viel Zeit wird sie nicht haben. Im Februar 2026 läuft der New Start-Vertrag aus, das letzte formal noch bestehende Abrüstungsabkommen zwischen den USA und Russland. Er schreibt den Vertragsnationen vor, ihre nuklearen Sprengköpfe auf 1.500 zu beschränken. Momentan besitzen beide rund 90 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit. Anfang 2023 kündigte Präsident Putin an, den Vertrag auszusetzen. Schon seit 2020 finden keine gegenseitigen Inspektionen mehr statt. Das US-Außenministerium geht davon aus, dass China bis 2035 über 1.500 Atomsprengköpfe verfügen wird.

    Kommt es also in der nächsten Legislaturperiode zu einer nuklearen Aufrüstung? Ex-Präsident Donald Trump hat sich bislang offen für eine Verstärkung des Atomwaffenarsenals gezeigt. Im “Projekt 2025”, einer Art Blaupause für eine republikanische Amtsübernahme, wird eine solche Aufrüstung sogar explizit gefordert. Nach seiner Wahl 2020 hatte US-Präsident Joe Biden noch angekündigt, die “Rolle von Atomwaffen zu reduzieren”. Mittlerweile aber hat sich bei den Demokraten die Erkenntnis durchgesetzt, dass der rasante Ausbau des chinesischen Nuklearpotenzials die USA vor neue Herausforderungen stellt. Man kann davon ausgehen, dass eine Präsidentin Kamala Harris den Einschätzungen der Kongress-Kommission nach einer Anpassung der Atomstrategie folgen wird.

    Alliierte von US-Nuklearaufrüstung betroffen

    Momentan fahren die USA allerdings zweigleisig. Einerseits wird über eine Aufrüstung diskutiert, andererseits will man über eine Neuauflage oder Veränderung des “New Start”-Abkommens verhandeln. Diplomatin Gottemoeller, die bereits als US-Chefunterhändlerin den “New Start”-Vertrag ausgearbeitet hat, glaubt an ein “gegenseitiges Interesse”: “Wir haben über 50 Jahre Erfahrung mit Russland.” Vor allem das russische Militär habe kein Interesse an einer Eskalation: “Sie wollen nicht, dass die USA ihre Nuklearwaffen ausbauen”. Aus dieser Perspektive könnten Verhandlungen “sofort” wieder aufgenommen werden. Allerdings müsste Putin seine Forderungen an die USA und ihre Alliierten, jegliche Unterstützung der Ukraine einzustellen, fallen lassen. Dies sei momentan unrealistisch.

    Eine neue US-Nuklearwaffen-Strategie wird auch die Alliierten betreffen. Derzeit sind nach Angaben der Federation of American Scientist (FAS) rund 100 US-Atomwaffen – von insgesamt geschätzten 3.700 – in sechs Stützpunkten in Europa stationiert, unter anderem auf dem deutschen Luftwaffenstützpunkt in Büchel. Sie werden laut Frankfurter Allgemeiner Sonntagszeitung derzeit systematisch erneuert. Ob ihre Anzahl verstärkt wird, darüber gibt es keine klaren Angaben. Allerdings geht Nato-Expertin Gottemoeller davon aus, dass die Nato-Verbündeten verstanden haben, was ein nuklearer Zweifrontenkrieg für die USA bedeuten würde: “Das wird Auswirkungen auf sie haben.”

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    Wann der Bundestag Gesetze für Krise und Krieg aktivieren kann

    Für außenpolitische Krisen bis hin zu einem Krieg hat die Bundesrepublik Deutschland gesetzliche Vorkehrungen getroffen: Bundeswehr und Zivilschutz, aber auch die Wirtschaft und am Ende jeder einzelne Bürger sind von Regelungen betroffen, die in einem solchen Fall gelten. Und das nicht erst dann, wenn es zu einem heißen Krieg kommt: “Mit dem umfassenden Einsatz hybrider Methoden und Mittel durch Russland steigt auch das Risiko, dass sich irgendwann die Frage eines Nato-Bündnisfalls stellen könnte”, warnte der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, erst in dieser Woche den Bundestag.

    Der Bündnisfall in der Allianz, der Verteidigungsfall, der Spannungsfall oder der weitgehend unbekannte Zustimmungsfall, der aktuell in der Begründung des neuen Artikelgesetzes zur Einsatzbereitschaft der Bundeswehr genannt wird: Was bedeuten all diese Regelungen?

    Die entsprechenden Bestimmungen kamen Ende der 1960er-Jahre mit der Notstandsverfassung ins Grundgesetz. Angewandt wurden sie, mit Ausnahme des Bündnisfalls nach den Angriffen vom 11. September 2001 in New York und Washington, bisher nie. “Deshalb gibt es auch nichts zur Praxis dieser Regelungen”, sagt der ehemalige Leiter der Rechtsabteilung im Verteidigungsministerium, Dieter Weingärtner. “Auch der Bündnisfall nach 9/11 wurde ausgerufen, ohne dass die entsprechenden innerstaatlichen Regelungen in Kraft gesetzt wurden.” Die juristische Literatur dazu findet sich in Kommentaren zum Grundgesetz – oder im Bericht des Rechtsausschusses aus dem Jahr 1968, mit dem die Artikel für Krise und Krieg ins Grundgesetz kamen.

    • Der Verteidigungsfall

    Bei einem bevorstehenden oder bereits begonnenen Krieg gegen Deutschland gilt die Bestimmung im Grundgesetz, die am offensichtlichsten ist: Wenn “das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht”, kann der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit diesen Verteidigungsfall feststellen, wie Artikel 115a der Verfassung festlegt. Dann treten mehr oder weniger automatisch die Notstandsgesetze in Kraft, die für diesen Fall vorgesehen sind – vom Übergang der Kommandogewalt über die Streitkräfte auf den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin bis zu Eingriffen des Bundes in die Landesverwaltungen. Aber auch der Zugriff des Staates auf die Wirtschaft oder die Arbeitsleistung einzelner Bürger wird möglich – und die ausgesetzte Wehrpflicht für Männer tritt automatisch wieder in Kraft.

    • Der Spannungsfall

    Komplizierter geregelt ist der sogenannte Spannungsfall: Den kann der Bundestag nach Artikel 80a des Grundgesetzes ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit feststellen. “Wann er eintritt, ist inhaltlich nicht definiert”, erläutert Weingärtner. Das Parlament habe da einen Spielraum – allerdings sei die vorherrschende juristische Meinung, dass dieser Fall “nur bei einer Krisenlage, die von außen kommt, anwendbar ist, nicht bei inneren Unruhen”. Der Spannungsfall stehe quasi als Vorstufe im Zusammenhang mit dem Verteidigungsfall und solle “der Herstellung einer erhöhten Verteidigungsbereitschaft dienen”. Wie im Verteidigungsfall geht es auch dabei um eine Bedrohung für das Bundesgebiet, und auch dabei werden zahlreiche Gesetzesbestimmungen anwendbar, die die Möglichkeiten des Staates ausweiten. Auch in diesem Fall wird die Wehrpflicht automatisch reaktiviert.

    • Der Bündnisfall

    Der Grundgesetzartikel 80a regelt auch den sogenannten Bündnisfall – und gibt dem Parlament wenig Mitspracherecht. Die Bestimmung sieht vor, dass Notstandsgesetze angewandt werden können, wenn ein Beschluss “von einem internationalen Organ im Rahmen eines Bündnisvertrages mit Zustimmung der Bundesregierung gefasst wird”. Die Anwendung dieser Gesetze kann allerdings vom Bundestag mit einfacher Mehrheit gestoppt werden.

    Konkret bedeutet das, dass ein Beschluss des Nato-Rates, in dem die deutsche Regierung vertreten ist, zur Anwendung der kollektiven Verteidigung der Allianz diese Folgen haben kann. Der Bündnisfall, den die Nato mit Zustimmung der Bundesregierung nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 ausrief, wurde allerdings damals nur für den Einsatz der Bundeswehr zur Unterstützung der USA genutzt – nicht für die Anwendung von Notstandsgesetzen im Inland.

    Als die Regelung 1968 in die Verfassung kam, zielte sie nur auf die Nato. Die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft kannte noch nicht die gegenseitigen, auch militärischen Beistandspflichten wie inzwischen die EU. Aktuell dürfte ein EU-Beschluss allerdings die gleichen Auswirkungen haben, zumal der Bundestags-Rechtsausschuss schon 1968 vorhersah: “Zu denken wäre jedoch nicht nur an Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Nato, sondern auch in etwaigen ähnlichen Verteidigungsbündnissen der Zukunft.”

    • Der Zustimmungsfall

    Öffentlich weitgehend unbekannt ist der sogenannte Zustimmungsfall, der auch im Grundgesetz zwar definiert, nicht aber als solcher benannt wird. “Der Zustimmungsfall wird auch als kleiner Spannungsfall bezeichnet und richtet sich auf eine außenpolitische Krisenlage”, erläutert Weingärtner. Nach dem Grundgesetzartikel 80a kann der Bundestag mit einfacher Mehrheit einzelne Bestimmungen der Notstandsgesetze in Kraft setzen – allerdings nicht Arbeitsverpflichtungen für die Zivilbevölkerung, für die eine Zweidrittelmehrheit nötig ist. Dagegen reicht für Bestimmungen zum Beispiel des Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetzes die einfache Mehrheit aus, einschließlich der darin vorgesehen Anordnung von Behörden, den Aufenthaltsort nicht zu verlassen. Auch das Verkehrssicherstellungsgesetz mit Regelungen, “um die für Zwecke der Verteidigung erforderlichen lebenswichtigen Verkehrsleistungen, insbesondere zur Versorgung der Zivilbevölkerung und der Streitkräfte, sicherzustellen”, könnte so angewandt werden.

    Gerade der Zustimmungsfall, sagt der Jurist Weingärtner, gelte zwar schon seit Jahrzehnten. Aber dass er jetzt in Gesetzestexten, wenn auch nur in der Begründung, ausdrücklich erwähnt wird, zeige, “dass der Staat alle Stufen auf der Klaviatur ernst nimmt und nutzen möchte”. Denn alle diese Vorbereitungen auf den Ernstfall seien zugleich “Instrumente der Außenpolitik”.

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    Nach Sinwar-Tötung: Wie USA und Frankreich für Feuerpause und Geiseldeal werben

    54 Wochen nach dem Terrorüberfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 ist deren langjähriger Militärchef Yahia Sinwar am Mittwoch von israelischen Soldaten im Süden des Gazastreifens vor einem Haus tot aufgefunden worden. Das berichtet die New York Times unter Berufung auf Quellen in den Israeli Defense Forces (IDF).

    Sinwar war nach der Tötung von Hamas-Chef Ismail Hanijeh in Teheran im Juli als dessen Nachfolger an die Spitze der Islamistenorganisation gerückt. Sie ist der palästinensische Ableger der vor hundert Jahren in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft.

    US-Präsident Joe Biden kündigte ein baldiges Telefonat mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu an, “um den Weg für die Heimkehr der Geiseln zu ihren Familien zu erörtern und diesen Krieg, der so viel Leid über unschuldige Menschen gebracht hat, ein für alle Mal zu beenden“. Im September hatte Israel bei einem der massivsten Militärschläge der Kriegsgeschichte Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah getötet. Die Hisbollah bildet neben der Hamas, den jemenitischen Huthi-Rebellen und irakischen Schiitenmilizen die sogenannte Achse des Widerstands, die staatlicherseits von Syrien und Iran unterstützt wird.

    Das Weiße Haus zitierte Präsident Biden am Donnerstag mit den Worten, dass “nun die Möglichkeit für einen ‘Tag danach’ im Gazastreifen ohne die Hamas an der Macht und für eine politische Lösung, die Israelis und Palästinensern gleichermaßen eine bessere Zukunft bietet”, bestehe. “Yahya Sinwar war ein unüberwindliches Hindernis für die Erreichung all dieser Ziele. Dieses Hindernis besteht nun nicht mehr. Aber es liegt noch viel Arbeit vor uns”, so Biden. Frankreichs Außenminister Jean-Noel Barrot sagte, es werde nun ein neues Kapitel aufgeschlagen, das zum Frieden führen müsse. Eine Stellungnahme der Hamas selbst lag bis Mitternacht nicht vor. mrb

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    Selenskyj in Brüssel: Wie Nato und EU die Ukraine hinhalten

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am Donnerstag seinen “Siegesplan” beim EU-Gipfel und beim Nato-Verteidigungsministertreffen in Brüssel vorgestellt, Erfolge erzielte er dabei kaum. Er mahnte die Verbündeten noch einmal zu mehr Unterstützung, allen voran die USA und Deutschland.

    Er hoffe, dass die USA “entschlossener sein werden”, sagte Selenskyj auf einer Pressekonferenz im Anschluss an sein Treffen mit den europäischen Staats- und Regierungschefs am Donnerstagvormittag. “Das ist sehr wichtig für uns”, betonte er. Es sollte in Brüssel darum gehen, offene Fragen der Verbündeten zu dem Plan zu beantworten, den Selenskyj am Mittwoch im ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, erstmalig öffentlich vorgestellt hatte.

    Im Zentrum des Plans, bestehend aus fünf Punkten und drei geheimen Anhängen, steht die bedingungslose Einladung in die Nato. Selenskyj verwies darauf, wie viele Waffensysteme aus Nato-Ländern schon in der Ukraine im Einsatz seien, wie eng die Zusammenarbeit sei. Es wäre falsch, die Ukraine politisch außerhalb der Allianz zu lassen, wenn sie praktisch bereits weitgehend integriert sei. Vor allem die Nato-Führungsmacht USA und Deutschland lehnen das nach wie vor aus Angst vor einer Eskalation ab.

    Selenskyj kritisiert Scholz für Ablehnung von Taurus-Lieferung

    Selenskyjs Plan sieht außerdem vor, die Erlaubnis zu erhalten, russische Ziele mit westlichen weitreichenden Waffen anzugreifen. Die USA, Frankreich und Großbritannien haben Marschflugkörper und Raketen geliefert, die auch militärische Ziele im russischen Hinterland erreichen können. Die Freigabe, das auch zu tun, scheitert aber derzeit vor allem am Veto der amerikanischen Regierung.

    Bundeskanzler Olaf Scholz bekräftigte in Brüssel ebenfalls noch einmal seine Ablehnung. Der ukrainische Präsident betonte jedoch, dass die Position des Bundeskanzlers derzeit nicht relevant sei, weil Deutschland den entsprechenden Marschflugkörper Taurus erst gar nicht geliefert habe. “Er kann uns nicht empfehlen, anzugreifen oder nicht anzugreifen, denn er hat nie etwas geliefert”, so Selenskyj. wp

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    Syrien-Krieg: Warum Meloni und Schallenberg auf Gespräche mit Assad drängen

    Pläne einzelner EU-Staaten, die Beziehungen zu Syriens Machthaber Baschar al-Assad zu normalisieren, stoßen auf Widerstand im Land selbst. Der stellvertretende Außenbeauftragte der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Fanar al-Kait Hussain, warnte gegenüber Table.Briefings davor, eine Verständigung mit Assad anzustreben, ehe ein interner syrischer Dialog über die Zukunft des Landes begonnen habe. “Es wird weiterhin in vier Landesteilen gekämpft, wir brauchen zunächst einen Waffenstillstand”, sagte er. In Brüssel beraten die EU-Staats- und Regierungschefs noch diesen Freitag unter anderem über eine Wiederaufnahme der 2011 suspendierten diplomatischen Beziehungen mit Syrien.

    Sieben EU-Staaten, angeführt von Italien und Österreich, hatten im Juli darauf gedrängt, die Beziehungen zum Assad-Regime zu normalisieren, um so die Rückführung nach Europa geflohener Syrerinnen und Syrer zu ermöglichen. Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg und die italienische Premierministerin Giorgia Meloni argumentieren, dass Europa nicht die Last von 1,2 Millionen hierher gelangter Syrer tragen könne und dass deshalb Gespräche mit dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher in Damaskus beginnen müssten.

    Al-Kait Hussain, der der multiethnisch regierten, kurdisch dominierten Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens angehört, verwies auf den demokratischen Charakter seiner Region als Vorbild für einen Versöhnungs- und Wiederaufbauprozess nach Ende des Krieges, dem seit 2012 mehr als 500.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Die sieben syrischen Kantone an der Grenze zur Türkei sind immer wieder Ziel türkischer und syrischer Luftangriffe. Militärisch verteidigt wird das selbst verwaltete, auch als Rojava bezeichnete Gebiet von den Syrian Democratic Forces (SDF).

    Die SDF werden von den USA unterstützt, vom Nato-Mitglied Türkei aber bekämpft, weil sie angeführt werden vom syrischen Arm der international als Terrororganisation geächteten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), den Volksverteidigungseinheiten YPG. mrb

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    Was Leonardo und Rheinmetall sich vom neuen Joint Venture erhoffen

    Der verteidigungspolitische Sprecher der FDP, Alexander Müller, begrüßt das Joint Venture, das Rheinmetall und der italienische Panzerbauer Leonardo diese Woche eingegangen sind. Die Kooperation belebe den Wettbewerb, sagte Müller zu Table.Briefings. Außerdem sei die Zusammenarbeit in der europäischen Rüstungsindustrie “ein wichtiger Schritt für eine effiziente europäische industrielle Basis“, sagte Müller.

    Die Unterzeichnung dürfte nicht überall auf Zustimmung gestoßen sein. Das Joint Venture ist auch eine Ansage an den anderen Branchenriesen, der deutsch-französischen Holding KNDS. Eine tiefergehende Kooperation von KNDS, die Nexter und Krauss-Maffei Wegmann vereint, mit Leonardo war in diesem Jahr gescheitert.

    Die CEOs von Rheinmetall und Leonardo, Armin Papperger und Roberto Cingolani, hatten diese Woche ein entsprechendes Abkommen in Rom unterzeichnet. Die beiden Konzerne sollen sich zu gleichen Teilen an Leonardo Rheinmetall Military Vehicles (LRMV) beteiligen, 60 Prozent der Aktivitäten werden in Italien durchgeführt, die operative Zentrale kommt nach La Spezia in Ligurien. Das betreffe vor allem Endmontage, Auslieferungsaktivitäten und logistische Unterstützung, teilten die Konzerne mit.

    Rheinmetall und Leonardo hoffen auf 23 Milliarden Euro

    Die ersten Großaufträge hat das Unternehmen bereits in Aussicht. Italien will in den kommenden Jahren 23 Milliarden Euro für gepanzerte Fahrzeuge ausgeben. Rheinmetall und Leonardo hoffen, über 1.000 gepanzerte Kampfsysteme auf Basis des Panther von Rheinmetall und auf Basis des Schützenpanzers Lynx an Italien zu verkaufen. Einen Absatzmarkt erhofft man sich auch über Italien hinaus. Die EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten und der Nähe zu Russland und Ländern des Nahen Ostens biete einen Markt für Landesverteidigung, sagte Cingolani.

    Die Produktionspläne sind allerdings ambitioniert. In zwei Jahren wollen Rheinmetall und Leonardo die ersten Schützenpanzer liefern können und in drei Jahren die ersten Kampfpanzer. Bei der Rüstungsmesse Eurosatory hatte Rheinmetall den Panther KF51-U als Brücke zum Main Ground Combat System (MGCS) präsentiert.

    Papperger dementierte, dass die neue Panzerkooperation den Erfolg von MGCS gefährde. “Die Idee vom Main Ground Combat System ist, dass wir etwa 2040 bereit sind”, sagte Papperger. KNDS hatte bei der Eurosatory mit dem Leopard 2 A-RC 3.0 seine Vision gezeigt. Rheinmetall teilt sich mit KNDS die lukrativen Aufträge bei der Entwicklung des deutsch-französischen MGCS-Panzerprojekts. Ein Interesse am MGCS mitzuwirken hatte Leonardo auch schon bei der Eurosatory gezeigt. bub

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    Must-Reads

    Bloomberg: Why Europe Is Unprepared to Defend Itself. Die europäischen Nato-Mitglieder müssen sich darauf einstellen, ohne die Hilfe der USA einen Landkrieg gegen Russland zu führen, so das Plädoyer dieses Texts. Doch nicht nur die Feuerkraft der USA würde den Europäern in so einem Fall fehlen, es gebe auch kein Wissen, wie man groß angelegte Militäroperationen durchführt.

    Wall Street Journal: Scale of Chinese Spying Overwhelms Western Governments. Chinas Hackerprogramm ist größer als das aller anderen großen Länder zusammen: Die Zahl der von Peking unterstützten Hacker, die im Westen Unternehmen und staatliche Stellen angreifen, liegt 50-mal höher als die der Cyberabwehr-Mitarbeiter des FBI.

    Federation of American Scientists: Nato Tactical Nuclear Weapons Exercise And Base Upgrades. 60 Flugzeuge aus 13 Ländern und 2.000 Soldaten nehmen an den diesjährigen taktischen Atomwaffenübungen “Steadfast Noon” der Nato teil. Die Übung wird von Belgien und den Niederlanden ausgerichtet und konzentriert sich auf Flugmanöver über der Nordsee und den umliegenden Staaten.

    Sipri: Military Entrenchment in Mali and Niger – Praetorianism in Retrospect. Das Militär im Sudan und in Mali ist untrennbar mit der Politik verbunden. Der Wunsch nach Souveränität sicherte den Offizieren die Unterstützung der Bevölkerung. Unter dem Vorwand, den Terrorismus zu bekämpfen, schränkten sie schließlich Freiheitsrechte ein.

    Foreign Policy: Will Moldova’s Election Finally Loosen Russia’s Grip? In der Republik Moldau finden am Sonntag die Präsidentschaftswahl und ein EU-Referendum statt. Es gibt zahlreiche Beweise, dass Russland versucht, mit Druck, Bestechungen und illegaler Parteifinanzierung auf den Ausgang der Wahl Einfluss zu nehmen.

    Standpunkt

    Wehrpflicht für alle? – Die Rolle von Frauen in der Landesverteidigung

    Von Markus Grübel
    Markus Grübel, Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag.

    Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in Deutschland eine intensive Debatte um die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht beziehungsweise die Einführung einer anderen Form der Dienstpflicht ausgelöst. Er verdeutlicht auch, dass Frieden und Sicherheit in Europa nicht selbstverständlich sind. Deutschland muss fähig sein, sich und seine Bündnispartner zu verteidigen. Dafür braucht die Bundeswehr neben ausreichend Material auch genügend geeignetes Personal, was über eine Wehr- beziehungsweise Dienstpflicht sichergestellt werden könnte.

    Die Truppe braucht pro Jahr 30.000 bis 40.000 junge Menschen, die ihren Grundwehrdienst ableisten und dann der Reserve zur Verfügung stehen. Eine Dienstpflicht nach schwedischem Modell, bei dem alle Männer und Frauen – gemustert und die besten ausgesucht werden, wäre der richtige Weg. Auf Freiwilligkeit zu setzen, reicht nicht. Verteidigungsminister Boris Pistorius hatte sich positiv zum schwedischen Modell geäußert. Der im Juni von ihm vorgestellte Plan bleibt aber weit hinter den Erwartungen zurück.

    Es geht um die Gleichberechtigung

    Pistorius’ Vorschlag verpflichtet nur Männer, den Fragebogen zur Erfassung der Wehrfähigen auszufüllen und sich nach Aufforderung einer Musterung zu unterziehen. Frauen können dies freiwillig tun. So wird die Bundeswehr weder ihren Personalmangel beheben können, noch verteidigungsfähig oder kriegstüchtig werden. Deutschland braucht den Beitrag der Frauen.

    Die Frage, ob eine Dienstpflicht auch für Frauen gelten sollte, stellt sich nicht nur im Zusammenhang mit der Personallage in der Bundeswehr. Es geht um Gleichberechtigung. Laut Absatz 4 des Artikels 12a Grundgesetz dürfen Frauen im Verteidigungsfall bei Bedarf zum Dienst in militärischen Lazaretten, aber auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.

    Abgesehen vom Sanitäts- und Militärmusikdienst, wozu sie schon seit langem Zugang haben, dürfen Frauen seit 2001 freiwillig in der Bundeswehr in kämpfenden Truppenverbänden dienen. Die Soldatinnen haben längst bewiesen, dass sie fähig sind, unser Land zu verteidigen. Warum sollten sie nicht zum Wehrdienst verpflichtet werden können?

    Artikel 12a verstärkt antiquierte Rollenbilder

    Artikel 12a Grundgesetz ist in den 1950er Jahren entstanden und spiegelt das damalige Rollenverständnis wider, das mit unserer heutigen Vorstellung von Gleichberechtigung nicht vereinbar ist: Frauen mit Schwesternhäubchen versorgen und pflegen zur Unterstützung der Ärzte – die damals natürlich auch Männer waren – die im Kampf verwundeten männlichen Soldaten.

    Dieses Bild ist antiquiert, Artikel 12a Grundgesetz sollte an die heutige Realität angepasst werden, damit auch Frauen zur Verteidigung unseres Landes beitragen können. Natürlich muss im Verteidigungsfall die Hilfe im Lazarett gesichert sein. Diese Aufgabe kann auch von Männern wahrgenommen werden. Gleichberechtigung geht in beide Richtungen.

    Maßgeblich für die Geschlechtszuordnung ist der Eintrag beim Standesamt, was dann eine Rolle spielt, wenn die Geschlechtsidentität, also das subjektive Empfinden, nicht mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmt. Auch ist es nicht möglich, sich als Mann im Falle eines Spannungs- oder Verteidigungsfalls durch entsprechende Änderung des Geschlechtseintrags der Wehrpflicht zu entziehen. Laut Paragraph 9 Selbstbestimmungsgesetz bleibt ab zwei Monaten vor Feststellung des Spannungs- oder Verteidigungsfalls die Zuordnung einer Person zum männlichen Geschlecht bestehen, selbst wenn eine Änderung erklärt wird.

    Die Hürde einer Grundgesetzänderung ist hoch. Dafür ist eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich. Mit politischem Willen ist das möglich.

    Markus Grübel ist seit 2002 für die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag (Wahlkreis Esslingen) und ist Mitglied im Verteidigungsausschuss. Von 2018 bis 2021 war er Beauftragter der Bundesregierung für die weltweite Religionsfreiheit und zuvor von 2013 bis 2018 Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung.

    • Boris Pistorius
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    Nachtisch

    Um junge Menschen anzusprechen und für das Thema Bundeswehr zu begeistern, setzt nach der Nato auch die Bundeswehr auf das Medium Graphic Novel. Das Zentrum Innere Führung hat den Comic “Ben dient Deutschland” veröffentlicht, geschrieben und gezeichnet von Marineoffizier und Comicautor Tom Fiedler.

    Er spielt im Spätsommer 2014, Protagonist Ben Schneider ist 19, gerade fertig mit der Schule und beschließt Soldat zu werden, weil er “keinen Bock auf einen Schreibtischjob” hat. Die Geschichte folgt ihm durch seine ersten Monate bei der Luftwaffe: Sie zeigt seine Eingewöhnung, wie er neue Freunde findet, aber auch Streitereien innerhalb der Truppe oder moralische Diskussionen mit seiner pazifistischen Schwester.

    Zudem beleuchtet der 124-seitige Comic, wie die deutsche Vergangenheit die heutige Arbeit der Bundeswehr prägt, und erläutert Begriffe und Konzepte wie das humanitäre Völkerrecht, die Charta der Vereinten Nationen oder den Unterschied zwischen Landes- und Bündnisverteidigung. Und er stellt Bezüge zur aktuellen Geopolitik her, mit besonderem Blick auf Russlands Annexion der Krim und den darauffolgenden Krieg.

    Die Graphic Novel will mehr als nur Jugendliche anwerben, sie versucht, den Alltag eines jungen Soldaten realistisch darzustellen. Bisweilen wirkt es etwas pathetisch, bisweilen genau passend. Besonders zum Ende hin: Der Epilog zeigt, dass Ben im Februar 2022 schließlich Teil der Nato-Beistandsinitiative enhanced Forward Presence (eFP) der Battlegroup Litauen wird – und dass die russische Bedrohung, nicht nur für ihn, realer und näher denn je ist. asc

    Zentrum Innere Führung: Tom Fiedler – Ben dient Deutschland (als PDF verfügbar).

    • Bundeswehr
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