Table.Briefing: Security

Kriegslektionen für die Bundeswehr + USA und Russland sondieren + FCAS im Trudeln

  • Russlands Krieg: Sieben Lektionen für die Bundeswehr
  • Ukraine: Anzeichen für und gegen Verhandlungen
  • FCAS: Jetzt hilft nur noch politisches Machtwort
  • SWP-Chef: China gefährlicher als Russland
  • Deutschland sucht nach weiteren Hilfen für Flugabwehr in der Ukraine
  • Frankreich: Neue Sicherheitsstrategie bereitet Gesellschaft und Industrie auf Kriegsfall vor
  • Warnungen an Russland und Iran: Atom-U-Boote der USA geben Standort preis
  • Russland könnte zum zweijährigen Armeedienst zurückkehren
  • Debatte um Seesicherheitsgesetz wird wiederbelebt
  • Medienschau
  • Deutsch-französisches Verhältnis: Misstrauen zur falschen Zeit
  • Heads: Franziska Davies – Sie verreißt die Bücher der “Russland-Versteher”
Liebe Leserin, lieber Leser,

stellen Sie sich einen runden Tisch vor. Sie und ich, wir sitzen daran, mit uns meine Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion und neben Ihnen viele weitere Menschen wie Sie. Menschen, deren berufliches Tun und Handeln im näheren oder weiteren Sinne mit dem zu tun hat, was wir Sicherheits- und Verteidigungspolitik nennen. Auf dem Tisch liegen acht Papierstapel, hoch aufgetürmt, jeder für sich ein Metathema, zum Beispiel Geostrategie, Bundeswehr oder Russlands Krieg in der Ukraine. Zu dem einen Thema könnten Sie viel sagen, zu dem anderen weniger, aber es interessiert, es beschäftigt, vielleicht sogar betrifft es Sie.

Sie sind hier, weil Sie Expertise suchen, die Ihnen bei wichtigen Entscheidungen hilft.

Willkommen am Security.Table.

Ich bin Marco Seliger und es ist eine außerordentliche Freude, Sie an diesem Tisch zu begrüßen. Wenn ich auf die Papierstapel vor uns blicke und von dort in die Runde, spüre ich gespannte Erwartung. Zwischen Ihnen und diesen einzelnen Stapeln mit all ihren Themen gibt es Zusammenhänge, Querverbindungen, daraus resultieren Schlussfolgerungen und Ableitungen. Wir zeigen sie in Analysen auf, diskutieren sie in Interviews und Standpunkten, zunächst alle sieben Tage, schon bald mehrfach wöchentlich.

Fangen wir an. Seit gut neun Monaten führt Russland Krieg in der Ukraine. Zeit für Politik und Bundeswehr in Deutschland, erste Rückschlüsse aus dem Geschehen auf dem Gefechtsfeld zu ziehen. Und Zeit offensichtlich, die Bereitschaft zu Verhandlungen zu sondieren. Die USA und Russland haben gestern damit begonnen.

Eine Schlussfolgerung aus Russlands Kriegsimperialismus seit der Krim-Annexion 2014 ist die Intensivierung der europäischen Verteidigungszusammenarbeit. Wenn es allerdings darum geht, gemeinsam Rüstungsprojekte voranzutreiben, kommen die alten Nationalismen wieder zum Vorschein. Das zeigt sich gerade an den deutsch-französischen Verwerfungen über das Future Combat Air System (FCAS). Befindet sich das Kampfflugzeugprojekt der 6. Generation vor dem Scheitern?

Das bringt mich zu weiteren großen Fragen. Wo sieht Deutschland seinen sicherheitspolitischen Platz in der Welt? Was will es erreichen? Wofür stehen wir? Stefan Mair, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), beantwortet sie im Interview zur neuen Nationalen Sicherheitsstrategie.

Sie sehen, einige der Stapel auf dem Tisch fassen wir heute schon mal an, in einer Woche die nächsten. Dann treffen wir uns hier wieder.

Ihr
Marco Seliger
Bild von Marco  Seliger

Analyse

Russlands Krieg: Sieben Lektionen für die Bundeswehr

Nach gut neun Monaten des ersten, umfassenden Landkriegs großer Armeen in Europa seit 75 Jahren zeichnen sich erste wichtige Erkenntnisse für die deutsche Verteidigungs- und Sicherheitspolitik ab.

1. Das Gefechtsfeld ist gläsern

Noch nie gab es einen Krieg, in dem der Verteidiger so gut im Bilde war über den Angreifer – und dies zum Beispiel in extrem schnelles und präzises Artilleriefeuer umsetzte. Ukrainische Soldaten und Zivilisten nutzen Handyvideos, soziale Medien und eine Vielzahl privater Netzwerke und digitaler Funktionen, um über jede Bewegung des Gegners zu berichten. Jeder Ukrainer und jede Ukrainerin ist ein Aufklärer. Hinzu kommen kommerzielle Satellitenbilder und Technik westlicher Streitkräfte und Dienste.

Lektion für die Bundeswehr: Man braucht nicht zwingend teure Drohnen und Radare, um den Gegner zu finden. Die Ukrainer machen vor, wie es geht: billige Quadrocopter aus dem Elektromarkt, um aufzuklären, selbst entwickelte Handy-Apps, um die Artillerie zu koordinieren, eine Bevölkerung, die aufmerksam ist.  

2. Hubschrauber sind kaum überlebensfähig

Russland hat je nach Quelle zwischen 54 (Quelle: Oryx) und mehr als 200 (Kiew) Hubschrauber verloren. Letzteres wären knapp 15 Prozent der russischen Hubschrauberflotte (World Air Forces 2022). Grund: Die Verteidiger verfügen über moderne Flugabwehrsysteme und schultergestützte Raketen mit Infrarotsuchkopf (Manpads). Auf der anderen Seite soll Russland 18 ukrainische Maschinen zerstört haben. Hierzu muss gesagt werden, dass Oryx als Quelle Fotos im Netz auswertet. Die meisten Fotos stammen von Ukrainern. Und die Ukrainer stellen keine Bilder ihrer zerstörten Hubschrauber ein.

Lektion für die Bundeswehr: Beschaffung und Modernisierung von Kampfhubschraubern wie dem Tiger für das hochintensive Gefecht müssen überdacht werden, wenn sie in einem Krieg mit einem gleichwertigen Gegner heute kaum noch überlebensfähig sind. Im Bundestag hat dieser Prozess begonnen. Er will vom Verteidigungsministerium zunächst eine Einschätzung zur Zukunft des Tiger auf dem Gefechtsfeld haben, bevor er weiteres Geld für die Modernisierung des Helikopters freigibt.

3. Entscheidend ist das Narrativ

Der Krieg wird nicht auf dem Gefechtsfeld entschieden, sondern im Informationsraum. Die Waffen dort sind die Narrative, ihre Stoßrichtung der Westen (und die jeweils eigene Bevölkerung). Zwei Beispiele: Präsident Selenskyi warnt vor neuerlicher Migration aus seinem Land, wenn schnelle Hilfe gegen die russischen Luftangriffe auf Städte, Kraftwerke und Stromanlagen ausbleibt. Präsident Putin fabuliert von Atomwaffen, wenn “rote Linien” überschritten werden. Die Ukraine braucht den Westen, um zu überleben, Russland will ihn spalten, um die Waffenlieferungen zu stoppen. Dafür haben beide Seiten Heerscharen an Unterstützern in den sozialen Netzwerken

Lektion für die Bundeswehr: Strategische Kommunikation (StratCom), psychologische Operationen (PsyOps) – an Begriffen mangelt es der Bundeswehr für den Kampf im Informationsraum nicht. Nützlicher wäre ein kluger Kriegserklärer wie Oberst Markus Reisner. Reisner geht seit Monaten viral, ist aber ein Österreicher.

4. Der Nachschub ist extrem verwundbar

Explodierte Munitionsdepots, zusammengeschossene Konvois, sabotierte Bahnlinien – selbst tief im Hinterland ist der Nachschub beider Seiten nicht sicher. Spionage, Luftaufklärung und weitreichende Präzisionswaffen machen es möglich.

Lektionen für die Bundeswehr: Ohne Nachschub keine Verteidigung. Deutschland ist die “Drehscheibe” der Nato für Truppen- und Materialtransport nach Osteuropa. Welche Ministerien, Behörden und Einsatzkräfte neben der Bundeswehr sind für die Sicherheit von See- und Flughäfen, Pipelines, Kommunikationsleitungen und Elektrizitätswerke zuständig? Die Sicherheit der Kritischen Infrastruktur ist von strategischer Dimension. Die Verantwortung dafür muss im Kanzleramt liegen.

5. Reserven werden dringend gebraucht

Die Personalverluste auf beiden Seiten sind enorm, wie hoch ist nicht verlässlich zu sagen. Russen wie Ukrainer machen keine Angaben zu ihren Gefallenen und Verwundeten, und wenn, dann sind sie mit hoher Wahrscheinlichkeit geschönt. Stattdessen veröffentlichen sie Statistiken über die andere Seite. Das ist Propaganda. Ein Anhalt für die hohen Verlustraten sind die Mobilisierungswellen. Die Ukraine ist bei der fünften, Russland (angeblich) bei der zweiten.

Die mutmaßlichen Verluste an Material lassen sich besser belegen, sie finden sich auf der Webseite von Oryx.

  • Russland: ca. 275 Flugzeuge, Hubschrauber und Drohnen, ca. 7.920 Panzer, Gefechtsfahrzeuge und andere Fahrzeuge und Waffensysteme
  • Ukraine: ca. 125 Flugzeuge, Hubschrauber und Drohnen, ca. 2.230 Panzer, Gefechtsfahrzeuge und andere Fahrzeuge und Waffensysteme

Lektion für die Bundeswehr: Aktuell gibt es 33.000 aktive (beorderte) Reservisten, das reicht im Verteidigungsfall hinten und vorne nicht. Gebraucht würden mindestens 100.000 ausgebildete und ausgerüstete Reservisten, hieß es schon vor Jahren. Beim Material sieht es ganz düster aus. Es gibt so schon von allem zu wenig, Munitions- und Materialreserven aber gar keine. Das soll sich mit dem Sondervermögen ändern. Aber das dauert. 

6. Wirksame Drohnenabwehr ist essenziell

Der Luftkrieg in der Ukraine findet in erheblichem Ausmaß unbemannt statt. Beide Seiten setzen Drohnen nahezu aller Größen ein. Selbst Quadrocopter aus dem Elektroladen können kämpfen, ukrainische wie russische Soldaten hängen einfach Granaten darunter. Russland schickt iranische Kamikaze-Drohnen in Schwärmen gegen Städte, die ukrainische Luftabwehr kann nicht alle abwehren. Außerdem setzen beide Seiten Lenkwaffen ein, die ohne konkretes Ziel starten, für längere Zeit im Luftraum kreisen und erst angreifen, wenn sich ein Ziel bietet (Loitering Munition).

Lektion für die Bundeswehr: Drohnen und Lenkwaffen sind auf dem Gefechtsfeld omnipräsent (auch zu Wasser). Man sieht und hört sie kaum oder zu spät. Es nützt der beste Panzer nichts, wenn er ohne Drohnenabwehr kämpfen muss. Von oben ist er am verwundbarsten. Vor Kurzem schoss die Bundeswehr mit einem Laser eine Drohne ab. Allerdings von einem Schiff aus.

7. Rüstungsindustrie ist kriegswichtig

Uralwagonsavod, der russische Panzerhersteller, drosselt wegen der westlichen Sanktionen die Produktion. Drohnen, Raketen und Granaten muss Putin in Iran und Nordkorea kaufen. Russlands Waffenproduktion stockt. Die Ukraine derweil hätte kaum Nachschub an Waffen und Munition, wenn es den Westen nicht gäbe. Dieser Krieg gleicht einer Materialschlacht und ist daher auch ein Krieg der Rüstungskapazitäten.

Lektion für die Bundeswehr: Die deutsche Rüstungsindustrie hat strategische Bedeutung. Sie muss so aufgestellt sein, dass ihre Lieferketten auch in Konfliktzeiten sicher sind. Sie muss ihre Produktionskapazitäten im Krisen- oder Kriegsfall innerhalb kurzer Zeit erheblich steigern und zugleich gegen Sabotage und Angriffe schützen können. Diese Fähigkeit hat sie heute nicht. Ende 2020 stieg der Staat bei Hensoldt ein. Er sollte das auch für andere Unternehmen überlegen, um Know-how zu sichern, Entwicklungen zu beeinflussen, vor allem aber im Kriegsfall die Versorgung der eigenen Armee zu gewährleisten. 

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Ukraine: Anzeichen für und gegen Verhandlungen

Russland und die USA sind wieder im direkten Gespräch über den Krieg in der Ukraine. Delegationen beider Staaten haben sich gestern in Ankara getroffen. Für Russland war unter anderem der Chef der Auslandsaufklärung (SWR), Sergey Naryschkin, vor Ort, für die USA laut New York Times CIA-Direktor William J. Burns. 

Was ist aus Sicht der drei Seiten zu möglichen Verhandlungen derzeit bekannt? 

USA 

Einerseits zitierte die New York Times gestern einen Sprecher des Weißen Hauses, der ausdrücklich betonte, dass die Gespräche “auf keinen Fall” der Verhandlung oder Lösung des Krieges in der Ukraine dienen sollten. Vielmehr sollte Burns Naryschkin eine Warnung an Russland vor dem Einsatz von Atomwaffen überbringen. 

Andererseits sagte der Generalstabschef der US-Streitkräfte, Mark Milley, schon vor dem Rückzug der russischen Truppen aus Cherson vorige Woche in einem Interview mit dem Sender CNBC, er sehe “Möglichkeiten für diplomatische Lösungen”. Zuvor hatte der ranghöchste US-Militär bei einem Treffen vor dem Economic Club in New York erklärt: “Wir müssen anerkennen, dass ein Sieg wahrscheinlich nicht durch militärische Mittel erreichbar ist. Und deshalb müssen wir uns anderer Mittel bedienen”.

Milleys Äußerungen fallen in eine Zeit, in der in Washington viel von einer “Ukraine Fatigue” unter den westlichen Unterstützern die Rede ist. Der kommende Winter und die hohen Verluste (die US-Regierung spricht von jeweils etwa 100.000 Gefallenen und Verwundeten auf beiden Seiten) nähren die Forderungen nach Friedensgesprächen. Hinweise darauf soll es bereits während eines überraschenden Treffens von Präsident Bidens Nationalem Sicherheitsberater, Jake Sullivan, mit Präsident Selenskyj vorvergangenes Wochenende in Kiew gegeben haben. 

Mehreren US-amerikanischen Medien zufolge soll Sullivan die Bereitschaft Selenskyjs für diplomatische Gespräche “getestet” haben. In einem Presse-Briefing des Weißen Hauses erklärte Sullivan am vergangenen Freitag: “Unsere Position ist unverändert und in enger Abstimmung mit Präsident Selenskyj. Und das wird auch in der ganzen US-Regierung so geteilt”. 

Auch US-Präsident Biden bekräftigte letzte Woche, dass “wir der Ukraine nicht sagen werden, was sie zu tun hat”. Allerdings sind auch Bidens Äußerungen interpretierfähig: “Es bleibt abzuwarten, ob es ein Urteil darüber geben wird, ob die Ukraine bereit ist, mit Russland Kompromisse einzugehen”, sagte er. 

Die meisten Quellen in Washington gehen davon aus, dass der Zeitpunkt für Friedensgespräche noch nicht gekommen ist, dass aber die Vorbereitungen laufen. So erklärte die US-Botschafterin bei den UN, Linda Thomas-Greenfield, gegenüber NBC News: “Wir wollen, dass die Ukraine in einer starken Position ist, wenn sie in welche Gespräche auch immer mit den Russen geht”. 

Russland 

Parallel zur Nachricht über die Gespräche in Ankara betonte das russische Außenministerium gestern, es lehne westliche Forderungen nach einem Truppenabzug aus der Ukraine vor Verhandlungsbeginn ab. Der russische Vize-Außenminister Alexander Gruschko bezeichnete diese Forderung als “nicht annehmbar”. Gruschko versicherte noch einmal, dass Russland zu Verhandlungen bereit sei. 

Der Rückzug der russischen Armee aus Cherson hat auch die kriegsbereiten Putin-treuen Gruppen verunsichert. Auf Telegram-Kanälen, die den Krieg unterstützen und aktiv für Spenden und Freiwilligeneinheiten werben, wird die Frage diskutiert “welche Ziele dieser Krieg eigentlich noch hat”, so zum Beispiel auf dem Telegram-Kanal “Zapicki veterana” (“Notizen eines Veterans”).

Der Autor macht deutlich, dass die russische Gesellschaft nicht mehr zu motivieren sei. Parallel findet bei einer kleinen Gruppe, etwa den Wagner-Söldnern, eine Radikalisierung statt. So haben sie einen in die eigenen Reihen angeworbenen Häftling ermordet und mit dem Video von diesem Mord anderen “Verrätern” gedroht. 

Wagner-Gründer Jewgeni Prigoschin und Putins Statthalter in Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, schimpfen immer lauter auf die militärische Führung. Die Bedeutung der beiden für die Fortführung des Kriegs sei schwierig einzuschätzen, sagt der Politikwissenschaftler und Fachmann für die russische Außenpolitik, Felix Riefer, im Gespräch mit Security.Table.

“Kadyrow hat zwar während des Kriegs in der internen Hierarchie an Macht gewonnen, aber er soll eher die Elite auf Linie bringen, er ist für die innere Kontrolle wichtig. Bei Prigoschin ist es zwar komplizierter, aber er leitet eine formal illegale Organisation. Beide sind der russischen Gesellschaft als politisch mächtige Führer nicht vermittelbar.”

Riefers Einschätzung teilt auch der ehemalige Redenschreiber Putins (2008 bis 2010), Abbas Galljamow. Der Politikwissenschaftler schrieb auf seinem Telegram-Kanal am Montag: “Ich glaube immer mehr, dass Wagners Chef kein eigenständiger Spieler ist. Vielleicht wird er es irgendwann sein, aber im Moment erfüllt er nur Putins Vorgaben. Es sieht so aus, als hätte Putin [mit Wagner, Anm. d. Red.] ein Projekt zur Einschüchterung der Unzufriedenen gestartet – in erster Linie in der Bürokratie und in den Eliten. Ihre Zahl wächst und sie könnten aufhören, ihm zu gehorchen.” Prigoschin solle diese Unzufriedenen einschüchtern, meint Galljamow. 

Ukraine 

Michailo Podolyak, Berater Selenskyjs und Leiter der Präsidialverwaltung, unterstrich am Sonntagabend via Twitter auf Russisch: “Russland muss begreifen: Nicht eine Niederlage gefährdet seine Existenz, sondern die Fortführung des Krieges. … Nur innere Reformen und ein kompletter Abzug der Truppen aus der Ukraine können Russland langfristig retten.” 

Selenskyj besuchte am Montag die befreite Stadt Cherson. Er ehrte ukrainische Soldaten und sandte damit einmal mehr Bilder an seine Landsleute, die motivieren sollen. Am Wochenende hatte auch er in einem CNN-Interview wiederholt, dass er zu Friedensverhandlungen bereit sei, wenn Russland sich vollständig aus der Ukraine zurückziehe. 

Nana Brink, Viktor Funk und Marco Seliger

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FCAS: Jetzt hilft nur noch politisches Machtwort

Bis vor Kurzem unterhielt Dassault Aviation ein Büro in der Berliner Friedrichstraße. Der Grund: Zusammen mit Airbus Defence and Space will der französische Flugzeugbauer das Luftverteidigungssystem der Superlative bauen. Deutschland und Frankreich sind die “Lead Nations” in dem größten europäischen Rüstungsprojekt “Future Combat Air System” (FCAS), an dem noch Spanien beteiligt ist. Doch seit ein paar Wochen ist das Büro von Dassault verwaist, das Schild abmontiert. Vielleicht ein Hinweis auf das Ende einer “mésalliance”?

Dass die Zusammenarbeit zwischen Dassault und Airbus von Beginn an schwierig war, ist kein Geheimnis. FCAS war – und ist es vielleicht immer noch – ein vorrangig politisches Projekt, das zwischen dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel 2017 aus der Taufe gehoben worden war.

Mit Dassault und Airbus wurden zwei Industriepartner verheiratet, die eigentlich Konkurrenten sind. So hatten Streitigkeiten über die Arbeitsteilung und vor allem die Frage, welches Wissen man mit dem Partner teilt, zu monatelangem Stillstand in den Verhandlungen geführt.

Zuletzt nährte die Absage des deutsch-französischen Ministertreffens Zweifel am Fortgang des Projekts in dreistelliger Milliardenhöhe. Viele Beobachter erwarteten zu diesem Treffen die Präsentation eines Vertrages, der die nächste Phase in der Entwicklung einläuten soll: den Bau eines Demonstrators. Dazu aber wäre ein Machtwort der Politik nötig gewesen, um die zerstrittenen Partner zu einen. Dies ist offensichtlich während des Treffens von Staatspräsident Macron und Bundeskanzler Scholz Ende Oktober nicht gefallen.

Paris und Berlin erwarten Umsetzung des Projekts

Auf politischer Ebene hält Frankreich eisern an FCAS fest. So erklärte Verteidigungsminister Sébastien Lecornu bei einem Treffen mit seiner deutschen Amtskollegin Christine Lambrecht: “FCAS ist ein Prioritätsprojekt. Paris und Berlin erwarten, dass dieses Projekt umgesetzt wird. Wir brauchen diese Innovation. Christine und ich haben uns über einen Zeitplan geeinigt”.

Den hat auch Michael Schöllhorn, Chef der Airbus-Rüstungssparte, im Visier. Gegenüber Security.Table sagte er in der vorigen Woche: “Wir gehen davon aus, dass wir noch in diesem Jahr mit der nächsten Phase beginnen. Die Gespräche dauern an”. In einem Pressegespräch präzisierte Schöllhorn diese Aussage gestern: “Der nächste Schritt ist die Unterzeichnung des Vertrags für die Phase 1B”.

Er rechne damit in den nächsten Tagen oder Wochen, jedenfalls noch in diesem Jahr. Aus europäischer Sicht gebe es zu FCAS keine Alternative: “Sonst gibt es in den nächsten Jahrzehnten nur noch US-Kampfsysteme und damit einen Verlust der europäischen Autonomie.” 

FCAS ist ein neuartiges Luftverteidigungsnetzwerk, ein “System of Systems”. Das Zentrum bildet ein Kampfjet, der “Next Generation Fighter” (NGF), der, so will es Frankreich, ausschließlich von Dassault entwickelt werden soll. Der NGF wird von Drohnenschwärmen (Remote Carrier) begleitet. Sie übernehmen, gesteuert durch Künstliche Intelligenz, sowohl Aufklärung als auch Verteidigung. Der Datenaustausch zwischen dem bemannten Führungsflugzeug und den Drohnen wird durch eine Air Combat Cloud gesichert. Beide Elemente sollen von Airbus entwickelt werden.

Streit über die Aufgabenteilung

Die Arbeitsaufteilung mag auf den ersten Blick logisch klingen. Auf den zweiten Blick jedoch ergeben sich heikle Fragen für die Industriepartner. Beide sind Marktführer in der Sparte, die sie zu verantworten haben. Die Franzosen beharren auf den Eigentumsrechten an dem von ihnen zu entwickelnden Kampfjet. Die deutsche Seite hingegen drängt darauf, den Jet nach Übernahme auch selbst warten und den eigenen Bedürfnissen anpassen zu können. Das würde bedeuten, dass Dassault sein technologisches Know-how mit Airbus teilen müsste. Umgekehrt würde dies für Airbus im Bereich Remote Carrier und Air Combat Cloud ebenfalls gelten.

Hinter den Kulissen ist von großen Unstimmigkeiten in Frankreich die Rede, besonders zwischen Staatspräsident Emmanuel Macron und Dassault. Der französische Rüstungskonzern, der im zurückliegenden Präsidentschaftswahlkampf offen einen Konkurrenten Macrons unterstützt hatte, soll sich bislang geweigert haben, eine Zusage für die nächste Phase zu machen. Und: Es bestehen Zweifel, dass Macron nach dem Verlust der absoluten Mehrheit bei den Nationalratswahlen überhaupt noch den politischen Einfluss hat, ein Machtwort zu sprechen. 

Dassault-Chef Eric Trappier hatte sich im Sommer genervt über den Stillstand geäußert und vor einem Scheitern des Projektes gewarnt. Der FCAS-Ausstieg käme für Dassault zu keinem schlechten Zeitpunkt. Erst zu Jahresbeginn hat das Unternehmen mit Indonesien einen Vertrag über die Lieferung von 42 Rafale unterzeichnet. Dassault könne derzeit vor Kraft kaum gehen, äußerten Verteidigungs- und Haushaltspolitiker gegenüber Security.Table.

Hellmich: “Kann man nicht allein der Industrie überlassen!”

In Deutschland sprechen sowohl Bundeskanzler Olaf Scholz als auch Verteidigungsministerin Lambrecht von “Fortschritten” – nach monatelanger Stagnation. Das Treffen zwischen Scholz und Macron Ende Oktober habe “geholfen”, die Verhandlungen für die nächste Phase zwischen den zerstrittenen Industriepartnern voranzutreiben. “Das kann man auch nicht allein der Industrie überlassen”, erklärt Wolfgang Hellmich, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD im Bundestag.

Diese Fortschritte müssen auf höchster politischer Ebene erreicht werden, denn im Haushaltsausschuss des Bundestags mehren sich auch bei den Ampel-Koalitionären die Zweifel, dass FCAS wirklich fliegt. Wenn bis Anfang 2023 keine Einigung zwischen den Industriepartnern in Sicht ist, werde es kein Geld mehr geben, äußerte ein Mitglied des Haushaltsausschusses gegenüber Security.Table, nachdem die Haushälter in der Bereinigungssitzung zuvor noch eine halbe Milliarde Euro für die Entwicklung von FCAS abgesegnet hatten.

Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Luftwaffe gibt es große Bedenken am Jet von Dassault als dem deutschen Kampfflugzeug der Zukunft. Zwar stellt in der Bundeswehr niemand FCAS öffentlich infrage. Gegenüber Security.Table äußerte allerdings ein Insider große Zweifel, “dass Dassault uns einen Fighter auf den Hof stellt, der besser ist als die F-35”.

Erst im Sommer hat das Verteidigungsministerium in Berlin den Kauf von 35 amerikanischen F-35 im geschätzten Wert von 8,4 Milliarden Dollar bekannt gegeben (und die Amerikaner haben den Kauf inzwischen gebilligt). Das hat nicht nur die Franzosen verärgert, sondern auch eine Frage aufgeworfen: Warum sollte Deutschland in zwei Fighter der nächsten Generation investieren?

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SWP-Chef: China gefährlicher als Russland

Porträtfoto von Stefan Mair (SWP) mit blauer Brille und Anzug.
Dr. Stefan Mair ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Herr Mair, Anfang 2023 will die Bundesregierung die Nationale Sicherheitsstrategie vorlegen. Klären wir zunächst den Begriff: Was ist eine Sicherheitsstrategie?

Stefan Mair: Eine Strategie analysiert das Umfeld eines Landes, mit welchen Bedrohungen es zu rechnen und auf welche Veränderungen es sich einzustellen hat. Dann beantwortet sie die Frage, was die nationalen Ziele im Rahmen einer Sicherheitsstrategie sind und versucht, beides zusammenzubringen: Wie können wir in diesem Umfeld unsere Ziele durchbringen, welche Instrumente und Mittel haben wir dafür, wo setzen wir die Prioritäten.

Was unterscheidet die Sicherheitsstrategie von einer militärischen Strategie?

Sicherheitspolitik ist mehr als Verteidigungs- und Militärpolitik. Sie erhebt den Anspruch, weite Teile der Außenpolitik mitzugestalten. Das umfasst ein weites Feld bis hin zur Klimaaußenpolitik. Im Prinzip ist es eher eine außenpolitische Strategie als eine Sicherheitsstrategie.

Was leitet sich aus dieser Strategie dann ab? Ich denke zum Beispiel an die künftige Aufstellung der Bundeswehr oder an ein Rüstungsexportkontrollgesetz.

Die Aufstellung der Bundeswehr leitet sich eher aus dem Weißbuch ab. Ich gehe davon aus, dass das Verteidigungsministerium auch künftig ein solches Dokument vorlegen wird. Die Sicherheitsstrategie setzt eher unsere außenpolitischen Prioritäten und zeigt auf, mit welchen Mitteln wir sie voranbringen wollen. Das soll ein schlankes Dokument werden, der Arbeitsstab spricht von 25 bis 40 Seiten. Da kann man nicht zu sehr ins Detail gehen. Ich verstehe es mehr als Dachpapier für weitere Strategien, etwa die China-Strategie, an der die Bundesregierung derzeit arbeitet.

Die Sicherheitsdebatte wird nun öffentlich

Andere Länder legen regelmäßig Sicherheitsstrategien vor. Warum gab es das in Deutschland bisher nicht?

Das ist bisher noch in jeder Koalitionsverhandlung gescheitert. Die Forderung nach einer Sicherheitsstrategie gibt es schon lange, etwa im Bundestag oder in der sicherheitspolitischen Gemeinde. Ich habe mich gefreut, als die aktuelle Koalition festlegte, eine außenpolitische Strategie zu erarbeiten.

Wo waren denn unsere bisherigen Vorstellungen von Sicherheit niedergeschrieben?

Niederschlag fanden sie eher in internen Dokumenten im Kanzleramt, Außen- und Verteidigungsministerium. Es gab aber keine öffentliche Debatte darüber, wie wir Sicherheit definieren und wo wir Prioritäten setzen. Am nächsten kamen wir damit immer mit dem Weißbuch.

Auch Sie persönlich beraten die Bundesregierung bei der Erarbeitung der Strategie. Lassen Sie uns teilhaben: Wo liegen unsere nationalen Sicherheitsinteressen?

Die Annahme, wir seien von Freunden umgeben und könnten unsere militärischen Kapazitäten zurückbauen, trifft nicht mehr zu. Wir sehen uns wieder einer unmittelbaren militärischen Bedrohung gegenüber, die von Russland ausgeht. Darüber hinaus müssen wir mit anderen Bedrohungen rechnen, vor allem der systemischen Rivalität mit China, die sich noch nicht in einer militärischen Konfliktlage niederschlägt, was aber im Indopazifik nicht auszuschließen ist. Der internationale Terrorismus existiert noch immer und wir dürfen auch instabile Weltgegenden, die derzeit nicht so im Fokus sind, nicht vernachlässigen, zum Beispiel die Sahelzone.

China kann einen Konflikt lange durchhalten

Warum ist der Systemkonflikt mit China gefährlicher als der aktuelle Konflikt mit Russland?

Vor allem, weil China, anders als Russland, über die wirtschaftlichen Mittel verfügt, einen Konflikt lange durchzuhalten. Das schlägt sich auch in der gerade veröffentlichten amerikanischen Sicherheitsstrategie nieder. China hat sowohl eine andere Vorstellung seines Gesellschaftssystems als auch von der Weltordnung und es verfügt über das ökonomische Potenzial, eine zentrale Rolle bei der Revision dieser Ordnung zu spielen. Das ist bei Russland anders. Es steht wirtschaftlich auf tönernen Füßen, ist vom Rohstoffexport abhängig und schafft es nicht, nachhaltiges Wachstum zu generieren.

Was folgt aus Ihrer Beschreibung zu China für unsere Sicherheitsstrategie?

Wir werden den Dreiklang in der China-Politik beibehalten. Danach ist das Land unverzichtbarer Partner, um globale Herausforderungen wie den Klimawandel zu bewältigen, ökonomischer und technologischer Wettbewerber und systemischer Rivale, was sich insbesondere bei Menschenrechten und Ordnungsfragen niederschlägt.

Betrachten wir die Bedrohungen eine Nummer kleiner: Die Russen erlauben den Israelis Überflüge in Syrien, um iranische Waffentransporte für die Hisbollah zu bombardieren. Gleichzeitig halten sich die Israelis bei der Unterstützung der Ukraine zurück, obwohl sie eine Demokratie sind. Wie kann man solche ad hoc entstehenden Querallianzen in einer Sicherheitsstrategie berücksichtigen?

Unheimlich schwer. Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, in einer sehr unsicheren und unübersichtlichen Welt zu leben, wo genau diese Art von merkwürdigen Allianzen entstehen werden. Wir müssen uns verstärkt Ländern zuwenden, die man nicht der einen oder anderen Seite zuordnen kann. Und wir müssen mit ihnen umgehen lernen, auf sie zugehen, sie in unsere politischen Ansätze einbinden. Das haben wir in der Vergangenheit vernachlässigt. Die Bundeskanzlerin hat oft China und die USA besucht, andere Weltgegenden eher selten.

Nuklearwaffen noch immer Tabuthema

Russland, die USA und andere Länder diskutieren wieder den Nuklearwaffeneinsatz. Inwieweit wird die Nuklearwaffen-Politik Teil unserer deutschen Sicherheitsstrategie sein?

Nuklearwaffen sind noch immer ein Tabuthema. Der Bundeskanzler hat in seiner Zeitenwende-Rede zwar klargemacht, dass sich Deutschland weiter an der nuklearen Teilhabe beteiligen wird, aber wenn wir 2024 eine neue Regierung in den USA sehen, müssen wir vermutlich über einen eigenen europäischen nuklearen Schutzschirm reden. Macron hat dazu 2020 ein Gesprächsangebot gemacht.

Ist es nicht zu spät, wenn wir uns erst 2024 darüber Gedanken machen?

Ja, wir sollten es spätestens 2024 tun. Ich glaube aber, dass es dazu nächstes Jahr umfassendere und intensivere Diskussionen geben wird.

Gerade erst haben die USA und Frankreich ihre Nationale Sicherheitsstrategie vorgelegt. Das sind Deutschlands wichtigste Partner. Inwiefern war Deutschland in die Erarbeitung dieser Strategien involviert?

Ich komme gerade aus Washington, wo ich einen der Autoren der US-Sicherheitsstrategie getroffen habe. Die Amerikaner haben viele Gespräche mit ihren Partnern geführt, auch mit uns. Umgekehrt tun wir das auch mit unseren europäischen und amerikanischen Partnern.

Wie lange ist eine Sicherheitsstrategie gültig?

Ich würde mir wünschen, dass wir uns einen ähnlichen Rhythmus gäben wie die USA: Mit jeder neuen Bundesregierung würde die Sicherheitsstrategie überarbeitet oder neu formuliert.

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News

Deutschland sucht nach weiteren Hilfen für Flugabwehr in der Ukraine

Die Bundesregierung und die deutsche Industrie suchen nach neuen Möglichkeiten, die Ukraine bei der Flugabwehr gegen russische Drohnen und Raketen zu unterstützen. Das bereits von einem deutschen Unternehmen gelieferte Flugabwehrsystem Iris-T SLM hat sich nach ukrainischen Angaben zwar als sehr effektiv erwiesen – aber die Zahl der Abwehrraketen für dieses System ist begrenzt; zudem ist der Einsatz der mehr als eine Million Euro teuren Flugkörper zur Abwehr vergleichsweise billiger Drohnen aus iranischen Beständen wirtschaftlich unsinnig.

Nach Informationen von Security.Table wird deshalb erwogen, der Ukraine eine kleinere Variante zur Verfügung zu stellen: Das Flugabwehrsystem Iris-T SLS nutzt Abwehrraketen, wie sie auch von der deutschen Luftwaffe an ihren Kampfjets eingesetzt werden und die im Unterschied zu den Flugkörpern für das größere SLM-System kostengünstiger sind.

Allerdings gibt es bislang nur ein Land, das dieses kleinere System aus deutscher Produktion auch bereits gekauft hat und nutzt: Die schwedischen Streitkräfte verfügen über einsatzbereite Iris-T SLS-Feuereinheiten. Ohne eine Abgabe aus schwedischen Beständen gibt es keine Starter, die der Ukraine zur Verfügung gestellt werden könnten. Ob die Bundesregierung bei Schweden nach einer Lieferung anfragt, ist derzeit noch offen. tw

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Frankreich: Neue Sicherheitsstrategie bereitet Gesellschaft und Industrie auf Kriegsfall vor 

Frankreich verlagert den Schwerpunkt seiner Sicherheitspolitik. Fortan steht nicht mehr der Kampf gegen Terroristen im Mittelpunkt, sondern die Verteidigung des Landes, seiner Überseegebiete und der Nato-Bündnispartner.

Die 60-seitige “Revue nationale Stratégique”, die Präsident Emmanuel Macron am vergangenen Mittwoch in einer 45-minütigen Rede vorstellte, dient als Grundlage für ein Gesetz, das dem Parlament im kommenden Jahr vorgelegt werden soll und die Budgets für das französische Militär 2024 bis 2030 festlegt.  

Die Strategie widmet mehrere Punkte der Einstellung der Gesellschaft und Industrie auf einen möglichen Kriegsfall. “Das Militärische dringt in dieser Strategie sehr weit in die Gesellschaft vor, sagt der Frankreich-Experte der DGAP, Jacob Ross. “In Deutschland wäre das undenkbar.” 

Das Papier, das auf Französisch und in einer vorläufigen Version auf Englisch vorliegt, nennt fünf wesentliche Ziele für 2030: 

  • Die Fähigkeit, das Kernland und die Überseegebiete zu verteidigen 
  • Europa und das Mittelmeer in einem intensiven Konflikt zu verteidigen 
  • Als Partner Sicherheit in einem Gebiet von Subsahara-Afrika über das Horn von Afrika bis zum Persischen Golf zu gewährleisten 
  • Zur Stabilisierung im Indopazifischen Raum beizutragen 
  • Handlungsfreiheit in gemeinsamen Räumen (Cyberraum, Weltraum, Meeresgrund, Luftraum) zu erzielen und die Sicherheit von Versorgungswegen zu gewährleisten. 

So sollen diese Ziele erreicht werden: 

  1. Robuste und glaubwürdige nukleare Abschreckung: Die französischen Atomwaffen würden “allein durch ihre Existenz zur Sicherheit Frankreichs und Europas beitragen”, sagte Macron. Als einziges EU-Land, das Atomwaffen besitzt, habe diese nukleare Abschreckung auch eine “europäische Dimension”, heißt es in der Strategie. 
  2. Vereintes und resilientes Frankreich: Macron spricht von “nationaler Kohäsion”, die durch eine höhere Attraktivität für den Armeedienst oder “die Vermittlung republikanischer Werte” gestärkt werden soll.
  3. Wirtschaft im Einklang mit der Verteidigung: Im Kriegsfall soll die Wirtschaft so organisiert werden, dass “die französische Industrie die Kriegsanstrengungen dauerhaft unterstützen kann, wenn das für die Streitkräfte oder zugunsten eines Partners erforderlich ist”. 
  4. Erstklassige Cyber-Resilienz: Frankreich soll in der Lage sein, die Dauer von Angriffen auf Kritische Infrastruktur zu minimieren. Dazu müsse es ein öffentliches und privates Cyber-Ökosystem geben, das sich auf eine “kompetitive nationale und europäische Cybersicherheits-Industrie stützt”. 
  5. Beispielhafter Nato-Verbündeter: Frankreich will seinen Einfluss und den der europäischen Verbündeten in der Nato stärken und “Motor der Kooperation zwischen EU und Nato sein”. 
  6. Strategische Autonomie: Zu strategischer Autonomie gehöre eine starke europäische Verteidigungsindustrie. Frankreich wolle daher “die Einrichtung eines kurzfristigen Instruments zur gemeinsamen Beschaffung europäischen Militärmaterials” unterstützen. 
  7. Verlässlicher Partner: In der Aufzählung wichtiger Partner in Europa wird Deutschland als erstes genannt. “Mit Deutschland muss Frankreich seine Beziehung vertiefen, um (…) ein Europa der Verteidigung aufzubauen.” 
  8. Unabhängige Beurteilungen, souveräne Entscheidungen: Präziser heißt es in der Sicherheitsstrategie, die Informationskapazitäten zu erhöhen, sowohl digital als auch durch Präsenz in relevanten Regionen, “vor allem in Europa und im Indopazifik”. 
  9. Verteidigung gegen hybride Bedrohungen: Kritische Infrastruktur müsse geschützt werden, insbesondere Unterwasser- und Weltraum-Kommunikationsinfrastruktur. 
  10. Fähigkeit zum hochintensiven Gefecht: Dazu gehört auch die Zusammenarbeit mit Verbündeten in verschiedenen Weltregionen. Frankreich soll aber auch in der Lage sein, “autonom zu agieren” und Einsätze zu planen.  

Darüber hinaus verkündete Macron das Ende des Mali-Einsatzes Barkhane. Er betonte, dass die “Souveränität der europäischen Verteidigung” von der Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland abhänge. bub

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Warnungen an Russland und Iran: Atom-U-Boote der USA geben Standort preis 

Gleich zweimal haben die USA zuletzt Standorte ihrer Atom-U-Boote offenbart und damit indirekte Warnungen an ihre Gegner ausgestoßen. Während die USS West Virginia im Arabischen Meer operierte, was als Signal an Iran verstanden wurde, tauchte die USS Rhode Island in Gibraltar auf, ein Zeichen an Russland. Das berichtete The War Zone, ein amerikanisches Online-Magazin für Sicherheitspolitik. 

Das amerikanische Vorgehen ist ungewöhnlich. Üblicherweise halten die USA die Einsatzgebiete strategischer U-Boote geheim, weil diese Waffensysteme ihre nukleare Zweitschlagfähigkeit sicherstellen. USS West Virginia und USS Rhode Island sind Boote der Ohio-Klasse, ausgerüstet mit ballistischen, nuklear bestückbaren Raketen (Ship Submersible Ballistic Nuclear, SSBN).

Im Gegensatz zu Landstützpunkten oder Flugzeugen, von denen aus Atomwaffen abgeschossen werden können, ist der Standort eines U-Bootes unbekannt. Einmal abgetaucht, bleibt es monatelang verschwunden. Meist erscheint es erst wieder an der Oberfläche, wenn es seinen Heimathafen anläuft. Dadurch bleibt das Überraschungsmoment und das Abschreckungspotenzial der USA erhalten. Selbst durch Sonar sind die Boote nicht zu entdecken, da ihr Schiffsrumpf schallabsorbierend ist. 

U-Boote der Ohio-Klasse sind zu Zweitschlägen unterschiedlichen Ausmaßes fähig. Dazu können ihre Trident-Raketen auch mit Nuklearsprengköpfen geringerer Wirkung versehen werden. Die amerikanische Nukleardoktrin sieht diese Abstufung vor, um einen Gegner davon abzuhalten, Atomschläge begrenzten Ausmaßes zu erwägen, in dem Glauben, dass er damit aus Gründen der Verhältnismäßigkeit der amerikanischen Vergeltung entgeht. Russland hatte wiederholt mit dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen in der Ukraine gedroht, deren unmittelbare Wirkung auf einen kleinen Radius begrenzt bliebe.

Die Boote können aber auch konventionelle Lenkflugkörper verschießen, die für das “Iran-Szenario” infrage kämen. Iran hatte zuletzt mit dem Einsatz von Raketen gegen Saudi-Arabien und Nordirak gedroht, um von den Unruhen im eigenen Land abzulenken. In der nordirakischen Hauptstadt Erbil haben die USA und auch Deutschland Truppen stationiert. Für den Angriffsfall hatte die US-Regierung dem Regime in Teheran Vergeltungsmaßnahmen angekündigt. ms 

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Russland könnte zum zweijährigen Armeedienst zurückkehren 

Müssen Wehrpflichtige in Russland bald wieder zwei Jahre dienen? Nach Berichten russischer Medien schlagen Duma-Abgeordnete vor, wieder zur alten Wehrdienstdauer zurückzukehren. Sie galt bis zur Reform im Jahr 2008. Damals wurde die Wehrdienstzeit von 24 auf zwölf Monate verkürzt.  

Der aktuelle Vorschlag soll nach Angaben des Vorsitzenden des Verteidigungskomitees im Föderationsrat, Viktor Bondarew, mit den zuständigen Behörden diskutiert werden. Bondarew sagte dazu: “Natürlich unterstütze ich das, wir sollten unbedingt zum zweijährigen Dienst zurückkehren.” 

Offiziell wird das Vorhaben mit der Qualität der Ausbildung in der Armee begründet. “Innerhalb eines Jahres jemanden auszubilden und vorzubereiten ist schwierig”, sagte Michail Scheremet, Duma-Abgeordneter von der russisch besetzten Krim. Aber Ausbildung in zwei Jahren – das sei optimal, erläuterte Scheremet. Das sei eine aktuelle und nötige Maßnahme, “die in kürzester Zeit für die Kampfbereitschaft unserer Armee umgesetzt werden muss”. 

Einen Monat nach dem Beginn der sogenannten Teilmobilmachung am 21. September propagierten erste Stimmen in Russland den Zweijahresdienst. Damit wäre die Teilmobilmachung nicht nötig gewesen, lautete ein Argument. Offiziell verfügt Russland derzeit über 1,02 Millionen Militärangehörige, diese Zahl soll um 137.000 auf etwas mehr als 1,15 Millionen steigen.  

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte zwar, das Thema werde derzeit im Kreml nicht diskutiert. Er ergänzte aber: “Die wichtige Stimme in diesem Fall ist die des Verteidigungsministeriums.” Außerdem hatte Präsident Wladimir Putin Ende Oktober Verteidigungsminister Sergej Schoigu beauftragt, nach den Erfahrungen in der Ukraine “Korrekturen” in den Streitkräften vorzunehmen – eine Folge der hohen Verluste der russischen Armee in der Ukraine.

Schneller als der zweijährige Militärdienst könnte in Russland der militärische Vorbereitungsunterricht an den Schulen zurückkehren – eine alte sowjetische Tradition. Bildungsminister Sergej Krawzow kündigte vor wenigen Tagen an, dass bereits zum Schulstart am 1. September 2023 für die oberen Klassen zehn und elf der Unterricht um militärische Kurse ergänzt wird. In 140 Stunden über zwei Jahre verteilt sollen Schülerinnen und Schüler sowohl Sicherheitsregeln für den Alltag lernen als sich auch mit den Grundlagen der Sicherheitspolitik Russlands beschäftigen. Auch ein Kurs für militärische Grundlagen und Umgang mit Handfeuerwaffen ist geplant. vf

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Debatte um Seesicherheitsgesetz wird wiederbelebt

Angesichts der Bedrohungen für Kritische Infrastrukturen auf See zeichnet sich eine erneute Debatte über ein Seesicherheitsgesetz ab, bei dem auch die Bundeswehr zum Schutz maritimer Einrichtungen herangezogen werden könnte. Nach den Anschlägen auf die Nordstream-Pipelines in der Ostsee hatte zum Beispiel Norwegen die Bereitschaft seiner Streitkräfte erhöht – und die Deutsche Marine ist im Rahmen der Nato am Schutz norwegischer Öl- und Gasplattformen beteiligt.

In deutschen Küstengewässern und in der sogenannten Ausschließlichen Wirtschaftszone Deutschlands auf See ist dagegen der Schutz Kritischer Infrastrukturen, zu denen neben Öl- und Gasfeldern vor allem Windparks gehören, Aufgabe der Bundespolizei. Die Bundeswehr darf nur auf Anforderung in der Amtshilfe tätig werden und unterstützt unter anderem mit Tauchausrüstung für große Tiefen, über die die Polizei nicht verfügt.

Aus Kreisen der Bundeswehr gibt es deshalb erneute Überlegungen für ein Gesetz, das die Streitkräfte bei dieser Schutzaufgabe besser einbinden könnte und ihnen mehr Befugnisse gibt. Allerdings stehen diese Planungen noch ganz am Anfang und werden aufgrund früherer Erfahrungen bislang nicht öffentlich diskutiert: Vor fast zwei Jahrzehnten hatte es unter dem Eindruck der Anschläge in New York und Washington am 11. September 2001 bereits einen fertigen Entwurf für ein Seesicherheitsgesetz mit mehr Bundeswehr-Kompetenzen gegeben. Nach der juristischen Auseinandersetzung über das Luftsicherheitsgesetz scheiterte die maritime Variante am Streit zwischen den damaligen Koalitionsparteien CDU und SPD. tw

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Medienschau

The New York Times Magazine – The Untold Story of ‘Russiagate’ and the Road to War in Ukraine: Jim Rutenberg beschreibt detailliert, wie Putins Eingriffe in den US-amerikanischen Wahlkampf mit einer Schwächung der Ukraine zusammenhängen und an welchen Plänen Trumps damaliger Wahlkampfmanager, Paul Manafort, 2016 beteiligt war. Wer den Text, der am 2. November erschienen ist, noch nicht gelesen hat, sollte das tun. 30 bis 45 Minuten dauert die Lektüre.

Doku: Arte – Terror in Paris: Chronik einer Fahndung: Vor sieben Jahren, am 13. November 2015, erschossen drei islamistische Terroristen im Pariser Nachtclub Bataclan 90 Menschen. Die Dokumentation von Christophe Cotteret arbeitet die Terrorismusbekämpfung vor und nach dem Terroranschlag auf, zeigt, wie europäische Geheimdienste zunächst schlecht kooperierten und wie die europäische Gesetzgebung Probleme machte. Dauer: 91 Minuten.

Der Spiegel – Könnte ich das – auf jemanden schießen? (Paywall): Die Schriftstellerin Nora Bossong wird für zehn Tage zur Soldatin. Bossong fremdelt, wirft Fragen auf und nähert sich an. Ein Text für Soldatinnen und Soldaten, die einen Blick auf den Blick von außen werfen wollen. Eignet sich auch zum Weiterleiten an Freunde und Familie.

Podcast: War on the rocks – Assessing the National Security Strategy: Wer mehr über Sicherheitsstrategien wissen will: Christopher Preble, Melanie Marlowe und Zack Cooper diskutieren die neue Sicherheitsstrategie der USA. Hört sich schneller (etwa eine Stunde), als sich die Strategie liest und liefert Hinweise, was man bei der Sicherheitsstrategie in Deutschland besser nicht nachmachen sollte. Es gibt auch eine Folge zur Verteidigungsstrategie.

Süddeutsche Zeitung – “Wir haben einen riesigen Aufholbedarf” (Paywall): Alfons Mais, Generalinspekteur des Heeres, gibt Einblicke, was von den 100 Milliarden Sondervermögen beim Heer zunächst gekauft wird und sagt, dass die Bundeswehr neue Gefechtssituationen lernen muss. Hier erfährt man, wo es bei der Truppe hakt.

Standpunkt

Deutsch-französisches Verhältnis: Misstrauen zur falschen Zeit

Von Gaspard Schnitzler
Porträtfoto von Gaspard Schnitzler vor einer Holzwand. Im Standpunkt schreibt er über Deutschland, Frankreich, Militär und Verteidigung.
Gaspard Schnitzler ist Forscher am Institut für internationale und strategische Beziehungen (IRIS) in Paris. 

Selten war das deutsch-französische Verhältnis so strapaziert wie derzeit. Gegenseitige Vorwürfe und beiderseitig geäußertes Unverständnis machten in den vergangenen Wochen heftige Dissonanzen in der Zusammenarbeit deutlich.

Das “deutsch-französische Paar” steht kurz vor einer Trennung – so wirkten zuletzt die Beziehungen zwischen Berlin und Paris. Einige Politiker in Frankreich bezichtigten Deutschland des “Alleingangs” und der “hegemonialen Absichten” in Verteidigungsfragen. Berlin sei kein “verlässlicher Partner” mehr, hieß es bei manchen Industriellen oder Abgeordneten, die Regierung solle ihre Zusammenarbeit in Europa weniger auf die Deutschen fokussieren, sondern stärker diversifizieren.

Jüngster Ausdruck dieser Spannungen ist die erneute Verschiebung des deutsch-französischen Ministerrats, der ursprünglich für Juli und dann für Ende Oktober geplant war. Nun soll er im Januar stattfinden.

FCAS litt von Anfang an unter einem Ungleichgewicht

Das Verhältnis von Berlin (früher Bonn) und Paris war immer wieder von unterschiedlichen Ansichten auf politischen Teilgebieten geprägt, ohne dass beide Seiten ihre Zusammenarbeit nachhaltig infrage stellten. Man könnte dafür beispielhaft das Scheitern des deutsch-französischen Panzerprogramms in den 1970er-Jahren oder des Kampfflugzeugprogramms in den 1990er-Jahren nennen.

Die Gründe für die Meinungsverschiedenheiten sind vielfältig und reichen von einer unterschiedlichen strategischen Kultur – die von verschiedenen historischen, politischen und geografischen Gegebenheiten abhängt – bis hin zu einem hohen (manchmal zu hohen) Anspruch an den Umfang der Zusammenarbeit.

Das beste Beispiel dafür dürfte die Entwicklung des Future Combat Air Systems (FCAS) sein. Von Anfang an litt das Programm unter einem Ungleichgewicht. Frankreich kann es sich nicht leisten, ein Flugzeugsystem der 6. Generation allein zu stemmen, zugleich aber kommt der Kauf eines solchen Systems im Ausland aus Gründen der “strategischen Autonomie” nicht infrage.

Für Deutschland liegt die Sache anders. Es ist in Fragen der Rüstungsbeschaffung geschmeidiger. Die eigenen Hersteller werden nicht immer bevorzugt, wie die Entscheidung, 35 amerikanische F-35 zu kaufen, gerade wieder zeigt.  

Frankreich stört, dass Deutschland seine Interessen verteidigt

Der zweite Grund, der über FCAS hinausgeht, ist der industrielle Wettbewerb zwischen beiden Ländern. Frankreich kann schwer akzeptieren, dass Deutschland vehementer als früher seine industriellen Interessen verteidigt und sich nicht mehr den Willen seiner Nachbarn aufzwingen lässt. Deutschlands Liste der “Nationalen Schlüsseltechnologien”, vor zwei Jahren veröffentlicht, steht beispielhaft dafür.

Die Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz, gemeinsam mit 14 europäischen Staaten, aber ohne Frankreich einen europäischen Luftverteidigungsschirm aufzubauen (European Sky Shield Initiative), ist ein weiteres Beispiel dafür. 

Sowohl auf industrieller als auch auf politischer Ebene herrscht auf französischer Seite inzwischen ein tiefes Misstrauen gegenüber den Deutschen. Es speist sich unter anderem aus den Erfahrungen bei gemeinsamen Rüstungsprojekten. Deutschland reduzierte zum Beispiel die Anzahl der zusammen entwickelten Transportflugzeuge A400M, nachdem entschieden war, wer was produziert.

Es war aber vereinbart, dass sich die Industrieanteile nach der Anzahl der bestellten Flugzeuge richten. Die Franzosen fühlten sich über den Tisch gezogen und haben das immer noch im Kopf, wenn es um industrielle Zusammenarbeit geht.

Weitere Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit erklären dieses Gefühl:

  • Deutschland liebäugelt damit, aus dem Modernisierungsprogramm für den gemeinsam entwickelten Kampfhubschrauber Tiger auszusteigen und möglicherweise den AH-54 Apache aus US-Produktion zu kaufen.
  • Deutschland hat angekündigt, als Seefernaufklärungsflugzeug die marktverfügbare amerikanische P-8 Poseidon zu beschaffen. In Frankreich wird dies als Anfang vom Ende des gemeinsamen Maritime Airborne Warfare System (MAWS) gewertet.

Risiko: Dauerhafte Schwächung der EU-Verteidigung

Klar ist, dass in Berlin eine andere Definition von “strategischer Autonomie” gilt als in Paris. Nicht umsonst zieht Deutschland den Begriff der “strategischen Souveränität” vor; er gilt als konsensfähiger und weniger ambivalent gegenüber der Nato. Erst wenn beide Seiten die daraus resultierenden Unterschiede in ihrer jeweiligen Sicherheitspolitik anerkennen und akzeptieren, wird es möglich sein, stabile Grundlagen einer gesunden und fruchtbaren Zusammenarbeit zu schaffen. 

Auch wenn das europäische Projekt nicht allein auf Frankreich und Deutschland beruht, ist das militärische Gewicht beider Länder so groß, dass von ihrer Achse die sicherheitspolitische Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der EU abhängt. Wenn sich Frankreich und Deutschland einig sind, wirken sie wie ein Motor, der einen Mitnahmeeffekt auf andere Staaten hat und das Ambitionsniveau des europäischen Verteidigungsprojekts bestimmt.

Die Rolle, die beide Staaten im Prozess der Entwicklung und Verabschiedung des Strategischen Kompasses der EU spielten, ist ein gutes Beispiel dafür. Der Strategieprozess wurde Ende 2020 unter der deutschen Ratspräsidentschaft eingeleitet und Anfang 2022 unter der französischen Ratspräsidentschaft angenommen.

Angesichts der aktuellen Lage ist die effektive Umsetzung dieses sicherheitspolitischen Grundlagendokuments von entscheidender Bedeutung, um die Handlungsfähigkeit der EU zu stärken. Gelingt das nicht und bricht die deutsch-französische Achse, würde das zu einer dauerhaften unverantwortlichen Schwächung der europäischen Verteidigungsfähigkeit führen. Eine Schwächung, die wir uns in diesen Zeiten nicht leisten können.

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Heads

Franziska Davies – Sie verreißt die Bücher der “Russland-Versteher”

Porträtfoto von Franziska Davies vor einer gelben Wand mit Brille. Sie verreißt die Bücher der
Die Historikerin Franziska Davies kämpft gegen pro-russische Narrative in Deutschland.

Die persönliche Zeitenwende von Franziska Davies war im Jahr 2004, als die Ukrainerinnen und Ukrainer die erste Revolution gegen die altsowjetischen Strukturen probten und Davies eine junge Studentin für Russisch und Geschichte in München war. Von dem Moment an war die Ukraine fest auf ihrer inneren Landkarte verankert, das Interesse an Land und Menschen wuchs stetig.

Ihr Studium konzentrierte sie zunehmend auf die russische und osteuropäische Geschichte. Sie habe Glück gehabt, sagt sie im Gespräch, denn an vielen Universitäten wurde osteuropäische Geschichte vor allem als russische Geschichte gelehrt. Nicht so an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU).

Davies hat in München, St. Petersburg und Sheffield studiert, in Warschau, Moskau, St. Petersburg, Kazan sowie London wissenschaftlich gearbeitet. Heute ist die promovierte Historikerin Akademische Rätin auf Zeit am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der LMU. Sie war bei den Vorbereitungen der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission dabei, die im Jahr der Maidan-Revolution ihre Arbeit aufnahm.  

Fachwissen gegen Propaganda

Seit Februar dieses Jahres ist Davies eine laute Stimme im öffentlichen Kampf in Deutschland um die Deutung des russischen Krieges gegen die Ukraine. Als der “totale Krieg” (Davies) Russlands gegen die Ukraine begonnen habe, sei sie in Polen gewesen. Danach hat sie vor allem Hilfe für geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer organisiert, auch in der eigenen Wohnung einige aufgenommen. “Wissenschaftlich arbeiten war erstmal schwierig”. Doch genau das macht sie jetzt umso stärker auch in der Öffentlichkeit.

Seit Februar mischt sie bei den innerdeutschen Debatten über den Krieg mit. Die heiß diskutierten Fragen sind die nach der Mitverantwortung des Westens und der Ukraine für den Krieg. Davies sagt, sie habe bereits in den vergangenen Jahren Bücher von “Russland-Verstehern” rezensiert und meistens verrissen. Darunter etwa “Putins Macht” von Hubert Seipel oder “Wir brauchen eine neue Ostpolitik” von Matthias Platzeck. Das Problem sei, dass einige Verstehen mit Verständnis gleichsetzten. Gegen deren pro-russische Narrative arbeitete sie an. “Das habe ich als meine Aufgabe gesehen”, betont sie.

Dafür wagt sie sich auch dahin, wo die Wogen besonders hochschlagen und bei vielen die Hemmschwelle für persönliche Beleidigungen und Angriffe niedrig ist: Twitter. Mit ihrer Expertise hat sie sich dort innerhalb kürzester Zeit eine große Followerzahl erarbeitet.

Sie klärt in Threads vor allem darüber auf, welches Wissen in der innerdeutschen Debatte über den Krieg fehlt: Warum Russlands kolonial-imperiale Vergangenheit beachtet werden muss; warum der Krieg mindestens einen genozidalen Aspekt hat, etwa wegen des Kinderraubs; oder auch welche Narrative in Deutschland Putin entlasten – etwa die angebliche Bedrohung Russlands durch die Nato. Davies setzt ihr Fachwissen dagegen und transportiert es aus den engeren akademischen Kreisen in die breite Öffentlichkeit.

Bereit zum Streit, auch vor Gericht

Doch dieser, teils pointiert, ausgetragene Kampf kann sie nun vielleicht sogar vor Gericht bringen. Die ehemalige ARD-Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz geht gegen Davies juristisch vor. Hauptsächlich gehe es im Schreiben ihrer Anwälte um Kritik an den Büchern und Aussagen von Krone-Schmalz, die Davies via Twitter getätigt habe, erläutert die Wissenschaftlerin.

Doch im Grunde geht es um die Deutung der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine. Davies sagt, nach der ersten negativen Überraschung auf das Schreiben der Anwälte von Krone-Schmalz (Anwaltskanzlei Höcker, Köln) sei sie jetzt “kämpferisch aufgestellt”.

Dass sie dabei durchaus pointiert auftritt, sieht sie persönlich positiv. “Ich glaube, es ist eine Pose, wenn manche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen immer intellektuell wirkend ganz ruhig erscheinen. Emotionen dürfen auch sein, es geht in der Ukraine um Menschenleben.” Ihrer Aufklärungsarbeit scheint das jedenfalls nicht zu schaden. Auf Twitter erhält sie sehr viele Solidaritätsbekundungen von Fachkolleginnen und Kollegen. Und aus der Politik gibt es erste Beratungsanfragen. Konkreter will sie zunächst nicht werden. Viktor Funk

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Security.Table Redaktion

SECURITY.TABLE REDAKTION

Licenses:
    • Russlands Krieg: Sieben Lektionen für die Bundeswehr
    • Ukraine: Anzeichen für und gegen Verhandlungen
    • FCAS: Jetzt hilft nur noch politisches Machtwort
    • SWP-Chef: China gefährlicher als Russland
    • Deutschland sucht nach weiteren Hilfen für Flugabwehr in der Ukraine
    • Frankreich: Neue Sicherheitsstrategie bereitet Gesellschaft und Industrie auf Kriegsfall vor
    • Warnungen an Russland und Iran: Atom-U-Boote der USA geben Standort preis
    • Russland könnte zum zweijährigen Armeedienst zurückkehren
    • Debatte um Seesicherheitsgesetz wird wiederbelebt
    • Medienschau
    • Deutsch-französisches Verhältnis: Misstrauen zur falschen Zeit
    • Heads: Franziska Davies – Sie verreißt die Bücher der “Russland-Versteher”
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    stellen Sie sich einen runden Tisch vor. Sie und ich, wir sitzen daran, mit uns meine Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion und neben Ihnen viele weitere Menschen wie Sie. Menschen, deren berufliches Tun und Handeln im näheren oder weiteren Sinne mit dem zu tun hat, was wir Sicherheits- und Verteidigungspolitik nennen. Auf dem Tisch liegen acht Papierstapel, hoch aufgetürmt, jeder für sich ein Metathema, zum Beispiel Geostrategie, Bundeswehr oder Russlands Krieg in der Ukraine. Zu dem einen Thema könnten Sie viel sagen, zu dem anderen weniger, aber es interessiert, es beschäftigt, vielleicht sogar betrifft es Sie.

    Sie sind hier, weil Sie Expertise suchen, die Ihnen bei wichtigen Entscheidungen hilft.

    Willkommen am Security.Table.

    Ich bin Marco Seliger und es ist eine außerordentliche Freude, Sie an diesem Tisch zu begrüßen. Wenn ich auf die Papierstapel vor uns blicke und von dort in die Runde, spüre ich gespannte Erwartung. Zwischen Ihnen und diesen einzelnen Stapeln mit all ihren Themen gibt es Zusammenhänge, Querverbindungen, daraus resultieren Schlussfolgerungen und Ableitungen. Wir zeigen sie in Analysen auf, diskutieren sie in Interviews und Standpunkten, zunächst alle sieben Tage, schon bald mehrfach wöchentlich.

    Fangen wir an. Seit gut neun Monaten führt Russland Krieg in der Ukraine. Zeit für Politik und Bundeswehr in Deutschland, erste Rückschlüsse aus dem Geschehen auf dem Gefechtsfeld zu ziehen. Und Zeit offensichtlich, die Bereitschaft zu Verhandlungen zu sondieren. Die USA und Russland haben gestern damit begonnen.

    Eine Schlussfolgerung aus Russlands Kriegsimperialismus seit der Krim-Annexion 2014 ist die Intensivierung der europäischen Verteidigungszusammenarbeit. Wenn es allerdings darum geht, gemeinsam Rüstungsprojekte voranzutreiben, kommen die alten Nationalismen wieder zum Vorschein. Das zeigt sich gerade an den deutsch-französischen Verwerfungen über das Future Combat Air System (FCAS). Befindet sich das Kampfflugzeugprojekt der 6. Generation vor dem Scheitern?

    Das bringt mich zu weiteren großen Fragen. Wo sieht Deutschland seinen sicherheitspolitischen Platz in der Welt? Was will es erreichen? Wofür stehen wir? Stefan Mair, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), beantwortet sie im Interview zur neuen Nationalen Sicherheitsstrategie.

    Sie sehen, einige der Stapel auf dem Tisch fassen wir heute schon mal an, in einer Woche die nächsten. Dann treffen wir uns hier wieder.

    Ihr
    Marco Seliger
    Bild von Marco  Seliger

    Analyse

    Russlands Krieg: Sieben Lektionen für die Bundeswehr

    Nach gut neun Monaten des ersten, umfassenden Landkriegs großer Armeen in Europa seit 75 Jahren zeichnen sich erste wichtige Erkenntnisse für die deutsche Verteidigungs- und Sicherheitspolitik ab.

    1. Das Gefechtsfeld ist gläsern

    Noch nie gab es einen Krieg, in dem der Verteidiger so gut im Bilde war über den Angreifer – und dies zum Beispiel in extrem schnelles und präzises Artilleriefeuer umsetzte. Ukrainische Soldaten und Zivilisten nutzen Handyvideos, soziale Medien und eine Vielzahl privater Netzwerke und digitaler Funktionen, um über jede Bewegung des Gegners zu berichten. Jeder Ukrainer und jede Ukrainerin ist ein Aufklärer. Hinzu kommen kommerzielle Satellitenbilder und Technik westlicher Streitkräfte und Dienste.

    Lektion für die Bundeswehr: Man braucht nicht zwingend teure Drohnen und Radare, um den Gegner zu finden. Die Ukrainer machen vor, wie es geht: billige Quadrocopter aus dem Elektromarkt, um aufzuklären, selbst entwickelte Handy-Apps, um die Artillerie zu koordinieren, eine Bevölkerung, die aufmerksam ist.  

    2. Hubschrauber sind kaum überlebensfähig

    Russland hat je nach Quelle zwischen 54 (Quelle: Oryx) und mehr als 200 (Kiew) Hubschrauber verloren. Letzteres wären knapp 15 Prozent der russischen Hubschrauberflotte (World Air Forces 2022). Grund: Die Verteidiger verfügen über moderne Flugabwehrsysteme und schultergestützte Raketen mit Infrarotsuchkopf (Manpads). Auf der anderen Seite soll Russland 18 ukrainische Maschinen zerstört haben. Hierzu muss gesagt werden, dass Oryx als Quelle Fotos im Netz auswertet. Die meisten Fotos stammen von Ukrainern. Und die Ukrainer stellen keine Bilder ihrer zerstörten Hubschrauber ein.

    Lektion für die Bundeswehr: Beschaffung und Modernisierung von Kampfhubschraubern wie dem Tiger für das hochintensive Gefecht müssen überdacht werden, wenn sie in einem Krieg mit einem gleichwertigen Gegner heute kaum noch überlebensfähig sind. Im Bundestag hat dieser Prozess begonnen. Er will vom Verteidigungsministerium zunächst eine Einschätzung zur Zukunft des Tiger auf dem Gefechtsfeld haben, bevor er weiteres Geld für die Modernisierung des Helikopters freigibt.

    3. Entscheidend ist das Narrativ

    Der Krieg wird nicht auf dem Gefechtsfeld entschieden, sondern im Informationsraum. Die Waffen dort sind die Narrative, ihre Stoßrichtung der Westen (und die jeweils eigene Bevölkerung). Zwei Beispiele: Präsident Selenskyi warnt vor neuerlicher Migration aus seinem Land, wenn schnelle Hilfe gegen die russischen Luftangriffe auf Städte, Kraftwerke und Stromanlagen ausbleibt. Präsident Putin fabuliert von Atomwaffen, wenn “rote Linien” überschritten werden. Die Ukraine braucht den Westen, um zu überleben, Russland will ihn spalten, um die Waffenlieferungen zu stoppen. Dafür haben beide Seiten Heerscharen an Unterstützern in den sozialen Netzwerken

    Lektion für die Bundeswehr: Strategische Kommunikation (StratCom), psychologische Operationen (PsyOps) – an Begriffen mangelt es der Bundeswehr für den Kampf im Informationsraum nicht. Nützlicher wäre ein kluger Kriegserklärer wie Oberst Markus Reisner. Reisner geht seit Monaten viral, ist aber ein Österreicher.

    4. Der Nachschub ist extrem verwundbar

    Explodierte Munitionsdepots, zusammengeschossene Konvois, sabotierte Bahnlinien – selbst tief im Hinterland ist der Nachschub beider Seiten nicht sicher. Spionage, Luftaufklärung und weitreichende Präzisionswaffen machen es möglich.

    Lektionen für die Bundeswehr: Ohne Nachschub keine Verteidigung. Deutschland ist die “Drehscheibe” der Nato für Truppen- und Materialtransport nach Osteuropa. Welche Ministerien, Behörden und Einsatzkräfte neben der Bundeswehr sind für die Sicherheit von See- und Flughäfen, Pipelines, Kommunikationsleitungen und Elektrizitätswerke zuständig? Die Sicherheit der Kritischen Infrastruktur ist von strategischer Dimension. Die Verantwortung dafür muss im Kanzleramt liegen.

    5. Reserven werden dringend gebraucht

    Die Personalverluste auf beiden Seiten sind enorm, wie hoch ist nicht verlässlich zu sagen. Russen wie Ukrainer machen keine Angaben zu ihren Gefallenen und Verwundeten, und wenn, dann sind sie mit hoher Wahrscheinlichkeit geschönt. Stattdessen veröffentlichen sie Statistiken über die andere Seite. Das ist Propaganda. Ein Anhalt für die hohen Verlustraten sind die Mobilisierungswellen. Die Ukraine ist bei der fünften, Russland (angeblich) bei der zweiten.

    Die mutmaßlichen Verluste an Material lassen sich besser belegen, sie finden sich auf der Webseite von Oryx.

    • Russland: ca. 275 Flugzeuge, Hubschrauber und Drohnen, ca. 7.920 Panzer, Gefechtsfahrzeuge und andere Fahrzeuge und Waffensysteme
    • Ukraine: ca. 125 Flugzeuge, Hubschrauber und Drohnen, ca. 2.230 Panzer, Gefechtsfahrzeuge und andere Fahrzeuge und Waffensysteme

    Lektion für die Bundeswehr: Aktuell gibt es 33.000 aktive (beorderte) Reservisten, das reicht im Verteidigungsfall hinten und vorne nicht. Gebraucht würden mindestens 100.000 ausgebildete und ausgerüstete Reservisten, hieß es schon vor Jahren. Beim Material sieht es ganz düster aus. Es gibt so schon von allem zu wenig, Munitions- und Materialreserven aber gar keine. Das soll sich mit dem Sondervermögen ändern. Aber das dauert. 

    6. Wirksame Drohnenabwehr ist essenziell

    Der Luftkrieg in der Ukraine findet in erheblichem Ausmaß unbemannt statt. Beide Seiten setzen Drohnen nahezu aller Größen ein. Selbst Quadrocopter aus dem Elektroladen können kämpfen, ukrainische wie russische Soldaten hängen einfach Granaten darunter. Russland schickt iranische Kamikaze-Drohnen in Schwärmen gegen Städte, die ukrainische Luftabwehr kann nicht alle abwehren. Außerdem setzen beide Seiten Lenkwaffen ein, die ohne konkretes Ziel starten, für längere Zeit im Luftraum kreisen und erst angreifen, wenn sich ein Ziel bietet (Loitering Munition).

    Lektion für die Bundeswehr: Drohnen und Lenkwaffen sind auf dem Gefechtsfeld omnipräsent (auch zu Wasser). Man sieht und hört sie kaum oder zu spät. Es nützt der beste Panzer nichts, wenn er ohne Drohnenabwehr kämpfen muss. Von oben ist er am verwundbarsten. Vor Kurzem schoss die Bundeswehr mit einem Laser eine Drohne ab. Allerdings von einem Schiff aus.

    7. Rüstungsindustrie ist kriegswichtig

    Uralwagonsavod, der russische Panzerhersteller, drosselt wegen der westlichen Sanktionen die Produktion. Drohnen, Raketen und Granaten muss Putin in Iran und Nordkorea kaufen. Russlands Waffenproduktion stockt. Die Ukraine derweil hätte kaum Nachschub an Waffen und Munition, wenn es den Westen nicht gäbe. Dieser Krieg gleicht einer Materialschlacht und ist daher auch ein Krieg der Rüstungskapazitäten.

    Lektion für die Bundeswehr: Die deutsche Rüstungsindustrie hat strategische Bedeutung. Sie muss so aufgestellt sein, dass ihre Lieferketten auch in Konfliktzeiten sicher sind. Sie muss ihre Produktionskapazitäten im Krisen- oder Kriegsfall innerhalb kurzer Zeit erheblich steigern und zugleich gegen Sabotage und Angriffe schützen können. Diese Fähigkeit hat sie heute nicht. Ende 2020 stieg der Staat bei Hensoldt ein. Er sollte das auch für andere Unternehmen überlegen, um Know-how zu sichern, Entwicklungen zu beeinflussen, vor allem aber im Kriegsfall die Versorgung der eigenen Armee zu gewährleisten. 

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    Ukraine: Anzeichen für und gegen Verhandlungen

    Russland und die USA sind wieder im direkten Gespräch über den Krieg in der Ukraine. Delegationen beider Staaten haben sich gestern in Ankara getroffen. Für Russland war unter anderem der Chef der Auslandsaufklärung (SWR), Sergey Naryschkin, vor Ort, für die USA laut New York Times CIA-Direktor William J. Burns. 

    Was ist aus Sicht der drei Seiten zu möglichen Verhandlungen derzeit bekannt? 

    USA 

    Einerseits zitierte die New York Times gestern einen Sprecher des Weißen Hauses, der ausdrücklich betonte, dass die Gespräche “auf keinen Fall” der Verhandlung oder Lösung des Krieges in der Ukraine dienen sollten. Vielmehr sollte Burns Naryschkin eine Warnung an Russland vor dem Einsatz von Atomwaffen überbringen. 

    Andererseits sagte der Generalstabschef der US-Streitkräfte, Mark Milley, schon vor dem Rückzug der russischen Truppen aus Cherson vorige Woche in einem Interview mit dem Sender CNBC, er sehe “Möglichkeiten für diplomatische Lösungen”. Zuvor hatte der ranghöchste US-Militär bei einem Treffen vor dem Economic Club in New York erklärt: “Wir müssen anerkennen, dass ein Sieg wahrscheinlich nicht durch militärische Mittel erreichbar ist. Und deshalb müssen wir uns anderer Mittel bedienen”.

    Milleys Äußerungen fallen in eine Zeit, in der in Washington viel von einer “Ukraine Fatigue” unter den westlichen Unterstützern die Rede ist. Der kommende Winter und die hohen Verluste (die US-Regierung spricht von jeweils etwa 100.000 Gefallenen und Verwundeten auf beiden Seiten) nähren die Forderungen nach Friedensgesprächen. Hinweise darauf soll es bereits während eines überraschenden Treffens von Präsident Bidens Nationalem Sicherheitsberater, Jake Sullivan, mit Präsident Selenskyj vorvergangenes Wochenende in Kiew gegeben haben. 

    Mehreren US-amerikanischen Medien zufolge soll Sullivan die Bereitschaft Selenskyjs für diplomatische Gespräche “getestet” haben. In einem Presse-Briefing des Weißen Hauses erklärte Sullivan am vergangenen Freitag: “Unsere Position ist unverändert und in enger Abstimmung mit Präsident Selenskyj. Und das wird auch in der ganzen US-Regierung so geteilt”. 

    Auch US-Präsident Biden bekräftigte letzte Woche, dass “wir der Ukraine nicht sagen werden, was sie zu tun hat”. Allerdings sind auch Bidens Äußerungen interpretierfähig: “Es bleibt abzuwarten, ob es ein Urteil darüber geben wird, ob die Ukraine bereit ist, mit Russland Kompromisse einzugehen”, sagte er. 

    Die meisten Quellen in Washington gehen davon aus, dass der Zeitpunkt für Friedensgespräche noch nicht gekommen ist, dass aber die Vorbereitungen laufen. So erklärte die US-Botschafterin bei den UN, Linda Thomas-Greenfield, gegenüber NBC News: “Wir wollen, dass die Ukraine in einer starken Position ist, wenn sie in welche Gespräche auch immer mit den Russen geht”. 

    Russland 

    Parallel zur Nachricht über die Gespräche in Ankara betonte das russische Außenministerium gestern, es lehne westliche Forderungen nach einem Truppenabzug aus der Ukraine vor Verhandlungsbeginn ab. Der russische Vize-Außenminister Alexander Gruschko bezeichnete diese Forderung als “nicht annehmbar”. Gruschko versicherte noch einmal, dass Russland zu Verhandlungen bereit sei. 

    Der Rückzug der russischen Armee aus Cherson hat auch die kriegsbereiten Putin-treuen Gruppen verunsichert. Auf Telegram-Kanälen, die den Krieg unterstützen und aktiv für Spenden und Freiwilligeneinheiten werben, wird die Frage diskutiert “welche Ziele dieser Krieg eigentlich noch hat”, so zum Beispiel auf dem Telegram-Kanal “Zapicki veterana” (“Notizen eines Veterans”).

    Der Autor macht deutlich, dass die russische Gesellschaft nicht mehr zu motivieren sei. Parallel findet bei einer kleinen Gruppe, etwa den Wagner-Söldnern, eine Radikalisierung statt. So haben sie einen in die eigenen Reihen angeworbenen Häftling ermordet und mit dem Video von diesem Mord anderen “Verrätern” gedroht. 

    Wagner-Gründer Jewgeni Prigoschin und Putins Statthalter in Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, schimpfen immer lauter auf die militärische Führung. Die Bedeutung der beiden für die Fortführung des Kriegs sei schwierig einzuschätzen, sagt der Politikwissenschaftler und Fachmann für die russische Außenpolitik, Felix Riefer, im Gespräch mit Security.Table.

    “Kadyrow hat zwar während des Kriegs in der internen Hierarchie an Macht gewonnen, aber er soll eher die Elite auf Linie bringen, er ist für die innere Kontrolle wichtig. Bei Prigoschin ist es zwar komplizierter, aber er leitet eine formal illegale Organisation. Beide sind der russischen Gesellschaft als politisch mächtige Führer nicht vermittelbar.”

    Riefers Einschätzung teilt auch der ehemalige Redenschreiber Putins (2008 bis 2010), Abbas Galljamow. Der Politikwissenschaftler schrieb auf seinem Telegram-Kanal am Montag: “Ich glaube immer mehr, dass Wagners Chef kein eigenständiger Spieler ist. Vielleicht wird er es irgendwann sein, aber im Moment erfüllt er nur Putins Vorgaben. Es sieht so aus, als hätte Putin [mit Wagner, Anm. d. Red.] ein Projekt zur Einschüchterung der Unzufriedenen gestartet – in erster Linie in der Bürokratie und in den Eliten. Ihre Zahl wächst und sie könnten aufhören, ihm zu gehorchen.” Prigoschin solle diese Unzufriedenen einschüchtern, meint Galljamow. 

    Ukraine 

    Michailo Podolyak, Berater Selenskyjs und Leiter der Präsidialverwaltung, unterstrich am Sonntagabend via Twitter auf Russisch: “Russland muss begreifen: Nicht eine Niederlage gefährdet seine Existenz, sondern die Fortführung des Krieges. … Nur innere Reformen und ein kompletter Abzug der Truppen aus der Ukraine können Russland langfristig retten.” 

    Selenskyj besuchte am Montag die befreite Stadt Cherson. Er ehrte ukrainische Soldaten und sandte damit einmal mehr Bilder an seine Landsleute, die motivieren sollen. Am Wochenende hatte auch er in einem CNN-Interview wiederholt, dass er zu Friedensverhandlungen bereit sei, wenn Russland sich vollständig aus der Ukraine zurückziehe. 

    Nana Brink, Viktor Funk und Marco Seliger

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    FCAS: Jetzt hilft nur noch politisches Machtwort

    Bis vor Kurzem unterhielt Dassault Aviation ein Büro in der Berliner Friedrichstraße. Der Grund: Zusammen mit Airbus Defence and Space will der französische Flugzeugbauer das Luftverteidigungssystem der Superlative bauen. Deutschland und Frankreich sind die “Lead Nations” in dem größten europäischen Rüstungsprojekt “Future Combat Air System” (FCAS), an dem noch Spanien beteiligt ist. Doch seit ein paar Wochen ist das Büro von Dassault verwaist, das Schild abmontiert. Vielleicht ein Hinweis auf das Ende einer “mésalliance”?

    Dass die Zusammenarbeit zwischen Dassault und Airbus von Beginn an schwierig war, ist kein Geheimnis. FCAS war – und ist es vielleicht immer noch – ein vorrangig politisches Projekt, das zwischen dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel 2017 aus der Taufe gehoben worden war.

    Mit Dassault und Airbus wurden zwei Industriepartner verheiratet, die eigentlich Konkurrenten sind. So hatten Streitigkeiten über die Arbeitsteilung und vor allem die Frage, welches Wissen man mit dem Partner teilt, zu monatelangem Stillstand in den Verhandlungen geführt.

    Zuletzt nährte die Absage des deutsch-französischen Ministertreffens Zweifel am Fortgang des Projekts in dreistelliger Milliardenhöhe. Viele Beobachter erwarteten zu diesem Treffen die Präsentation eines Vertrages, der die nächste Phase in der Entwicklung einläuten soll: den Bau eines Demonstrators. Dazu aber wäre ein Machtwort der Politik nötig gewesen, um die zerstrittenen Partner zu einen. Dies ist offensichtlich während des Treffens von Staatspräsident Macron und Bundeskanzler Scholz Ende Oktober nicht gefallen.

    Paris und Berlin erwarten Umsetzung des Projekts

    Auf politischer Ebene hält Frankreich eisern an FCAS fest. So erklärte Verteidigungsminister Sébastien Lecornu bei einem Treffen mit seiner deutschen Amtskollegin Christine Lambrecht: “FCAS ist ein Prioritätsprojekt. Paris und Berlin erwarten, dass dieses Projekt umgesetzt wird. Wir brauchen diese Innovation. Christine und ich haben uns über einen Zeitplan geeinigt”.

    Den hat auch Michael Schöllhorn, Chef der Airbus-Rüstungssparte, im Visier. Gegenüber Security.Table sagte er in der vorigen Woche: “Wir gehen davon aus, dass wir noch in diesem Jahr mit der nächsten Phase beginnen. Die Gespräche dauern an”. In einem Pressegespräch präzisierte Schöllhorn diese Aussage gestern: “Der nächste Schritt ist die Unterzeichnung des Vertrags für die Phase 1B”.

    Er rechne damit in den nächsten Tagen oder Wochen, jedenfalls noch in diesem Jahr. Aus europäischer Sicht gebe es zu FCAS keine Alternative: “Sonst gibt es in den nächsten Jahrzehnten nur noch US-Kampfsysteme und damit einen Verlust der europäischen Autonomie.” 

    FCAS ist ein neuartiges Luftverteidigungsnetzwerk, ein “System of Systems”. Das Zentrum bildet ein Kampfjet, der “Next Generation Fighter” (NGF), der, so will es Frankreich, ausschließlich von Dassault entwickelt werden soll. Der NGF wird von Drohnenschwärmen (Remote Carrier) begleitet. Sie übernehmen, gesteuert durch Künstliche Intelligenz, sowohl Aufklärung als auch Verteidigung. Der Datenaustausch zwischen dem bemannten Führungsflugzeug und den Drohnen wird durch eine Air Combat Cloud gesichert. Beide Elemente sollen von Airbus entwickelt werden.

    Streit über die Aufgabenteilung

    Die Arbeitsaufteilung mag auf den ersten Blick logisch klingen. Auf den zweiten Blick jedoch ergeben sich heikle Fragen für die Industriepartner. Beide sind Marktführer in der Sparte, die sie zu verantworten haben. Die Franzosen beharren auf den Eigentumsrechten an dem von ihnen zu entwickelnden Kampfjet. Die deutsche Seite hingegen drängt darauf, den Jet nach Übernahme auch selbst warten und den eigenen Bedürfnissen anpassen zu können. Das würde bedeuten, dass Dassault sein technologisches Know-how mit Airbus teilen müsste. Umgekehrt würde dies für Airbus im Bereich Remote Carrier und Air Combat Cloud ebenfalls gelten.

    Hinter den Kulissen ist von großen Unstimmigkeiten in Frankreich die Rede, besonders zwischen Staatspräsident Emmanuel Macron und Dassault. Der französische Rüstungskonzern, der im zurückliegenden Präsidentschaftswahlkampf offen einen Konkurrenten Macrons unterstützt hatte, soll sich bislang geweigert haben, eine Zusage für die nächste Phase zu machen. Und: Es bestehen Zweifel, dass Macron nach dem Verlust der absoluten Mehrheit bei den Nationalratswahlen überhaupt noch den politischen Einfluss hat, ein Machtwort zu sprechen. 

    Dassault-Chef Eric Trappier hatte sich im Sommer genervt über den Stillstand geäußert und vor einem Scheitern des Projektes gewarnt. Der FCAS-Ausstieg käme für Dassault zu keinem schlechten Zeitpunkt. Erst zu Jahresbeginn hat das Unternehmen mit Indonesien einen Vertrag über die Lieferung von 42 Rafale unterzeichnet. Dassault könne derzeit vor Kraft kaum gehen, äußerten Verteidigungs- und Haushaltspolitiker gegenüber Security.Table.

    Hellmich: “Kann man nicht allein der Industrie überlassen!”

    In Deutschland sprechen sowohl Bundeskanzler Olaf Scholz als auch Verteidigungsministerin Lambrecht von “Fortschritten” – nach monatelanger Stagnation. Das Treffen zwischen Scholz und Macron Ende Oktober habe “geholfen”, die Verhandlungen für die nächste Phase zwischen den zerstrittenen Industriepartnern voranzutreiben. “Das kann man auch nicht allein der Industrie überlassen”, erklärt Wolfgang Hellmich, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD im Bundestag.

    Diese Fortschritte müssen auf höchster politischer Ebene erreicht werden, denn im Haushaltsausschuss des Bundestags mehren sich auch bei den Ampel-Koalitionären die Zweifel, dass FCAS wirklich fliegt. Wenn bis Anfang 2023 keine Einigung zwischen den Industriepartnern in Sicht ist, werde es kein Geld mehr geben, äußerte ein Mitglied des Haushaltsausschusses gegenüber Security.Table, nachdem die Haushälter in der Bereinigungssitzung zuvor noch eine halbe Milliarde Euro für die Entwicklung von FCAS abgesegnet hatten.

    Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Luftwaffe gibt es große Bedenken am Jet von Dassault als dem deutschen Kampfflugzeug der Zukunft. Zwar stellt in der Bundeswehr niemand FCAS öffentlich infrage. Gegenüber Security.Table äußerte allerdings ein Insider große Zweifel, “dass Dassault uns einen Fighter auf den Hof stellt, der besser ist als die F-35”.

    Erst im Sommer hat das Verteidigungsministerium in Berlin den Kauf von 35 amerikanischen F-35 im geschätzten Wert von 8,4 Milliarden Dollar bekannt gegeben (und die Amerikaner haben den Kauf inzwischen gebilligt). Das hat nicht nur die Franzosen verärgert, sondern auch eine Frage aufgeworfen: Warum sollte Deutschland in zwei Fighter der nächsten Generation investieren?

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    SWP-Chef: China gefährlicher als Russland

    Porträtfoto von Stefan Mair (SWP) mit blauer Brille und Anzug.
    Dr. Stefan Mair ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

    Herr Mair, Anfang 2023 will die Bundesregierung die Nationale Sicherheitsstrategie vorlegen. Klären wir zunächst den Begriff: Was ist eine Sicherheitsstrategie?

    Stefan Mair: Eine Strategie analysiert das Umfeld eines Landes, mit welchen Bedrohungen es zu rechnen und auf welche Veränderungen es sich einzustellen hat. Dann beantwortet sie die Frage, was die nationalen Ziele im Rahmen einer Sicherheitsstrategie sind und versucht, beides zusammenzubringen: Wie können wir in diesem Umfeld unsere Ziele durchbringen, welche Instrumente und Mittel haben wir dafür, wo setzen wir die Prioritäten.

    Was unterscheidet die Sicherheitsstrategie von einer militärischen Strategie?

    Sicherheitspolitik ist mehr als Verteidigungs- und Militärpolitik. Sie erhebt den Anspruch, weite Teile der Außenpolitik mitzugestalten. Das umfasst ein weites Feld bis hin zur Klimaaußenpolitik. Im Prinzip ist es eher eine außenpolitische Strategie als eine Sicherheitsstrategie.

    Was leitet sich aus dieser Strategie dann ab? Ich denke zum Beispiel an die künftige Aufstellung der Bundeswehr oder an ein Rüstungsexportkontrollgesetz.

    Die Aufstellung der Bundeswehr leitet sich eher aus dem Weißbuch ab. Ich gehe davon aus, dass das Verteidigungsministerium auch künftig ein solches Dokument vorlegen wird. Die Sicherheitsstrategie setzt eher unsere außenpolitischen Prioritäten und zeigt auf, mit welchen Mitteln wir sie voranbringen wollen. Das soll ein schlankes Dokument werden, der Arbeitsstab spricht von 25 bis 40 Seiten. Da kann man nicht zu sehr ins Detail gehen. Ich verstehe es mehr als Dachpapier für weitere Strategien, etwa die China-Strategie, an der die Bundesregierung derzeit arbeitet.

    Die Sicherheitsdebatte wird nun öffentlich

    Andere Länder legen regelmäßig Sicherheitsstrategien vor. Warum gab es das in Deutschland bisher nicht?

    Das ist bisher noch in jeder Koalitionsverhandlung gescheitert. Die Forderung nach einer Sicherheitsstrategie gibt es schon lange, etwa im Bundestag oder in der sicherheitspolitischen Gemeinde. Ich habe mich gefreut, als die aktuelle Koalition festlegte, eine außenpolitische Strategie zu erarbeiten.

    Wo waren denn unsere bisherigen Vorstellungen von Sicherheit niedergeschrieben?

    Niederschlag fanden sie eher in internen Dokumenten im Kanzleramt, Außen- und Verteidigungsministerium. Es gab aber keine öffentliche Debatte darüber, wie wir Sicherheit definieren und wo wir Prioritäten setzen. Am nächsten kamen wir damit immer mit dem Weißbuch.

    Auch Sie persönlich beraten die Bundesregierung bei der Erarbeitung der Strategie. Lassen Sie uns teilhaben: Wo liegen unsere nationalen Sicherheitsinteressen?

    Die Annahme, wir seien von Freunden umgeben und könnten unsere militärischen Kapazitäten zurückbauen, trifft nicht mehr zu. Wir sehen uns wieder einer unmittelbaren militärischen Bedrohung gegenüber, die von Russland ausgeht. Darüber hinaus müssen wir mit anderen Bedrohungen rechnen, vor allem der systemischen Rivalität mit China, die sich noch nicht in einer militärischen Konfliktlage niederschlägt, was aber im Indopazifik nicht auszuschließen ist. Der internationale Terrorismus existiert noch immer und wir dürfen auch instabile Weltgegenden, die derzeit nicht so im Fokus sind, nicht vernachlässigen, zum Beispiel die Sahelzone.

    China kann einen Konflikt lange durchhalten

    Warum ist der Systemkonflikt mit China gefährlicher als der aktuelle Konflikt mit Russland?

    Vor allem, weil China, anders als Russland, über die wirtschaftlichen Mittel verfügt, einen Konflikt lange durchzuhalten. Das schlägt sich auch in der gerade veröffentlichten amerikanischen Sicherheitsstrategie nieder. China hat sowohl eine andere Vorstellung seines Gesellschaftssystems als auch von der Weltordnung und es verfügt über das ökonomische Potenzial, eine zentrale Rolle bei der Revision dieser Ordnung zu spielen. Das ist bei Russland anders. Es steht wirtschaftlich auf tönernen Füßen, ist vom Rohstoffexport abhängig und schafft es nicht, nachhaltiges Wachstum zu generieren.

    Was folgt aus Ihrer Beschreibung zu China für unsere Sicherheitsstrategie?

    Wir werden den Dreiklang in der China-Politik beibehalten. Danach ist das Land unverzichtbarer Partner, um globale Herausforderungen wie den Klimawandel zu bewältigen, ökonomischer und technologischer Wettbewerber und systemischer Rivale, was sich insbesondere bei Menschenrechten und Ordnungsfragen niederschlägt.

    Betrachten wir die Bedrohungen eine Nummer kleiner: Die Russen erlauben den Israelis Überflüge in Syrien, um iranische Waffentransporte für die Hisbollah zu bombardieren. Gleichzeitig halten sich die Israelis bei der Unterstützung der Ukraine zurück, obwohl sie eine Demokratie sind. Wie kann man solche ad hoc entstehenden Querallianzen in einer Sicherheitsstrategie berücksichtigen?

    Unheimlich schwer. Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, in einer sehr unsicheren und unübersichtlichen Welt zu leben, wo genau diese Art von merkwürdigen Allianzen entstehen werden. Wir müssen uns verstärkt Ländern zuwenden, die man nicht der einen oder anderen Seite zuordnen kann. Und wir müssen mit ihnen umgehen lernen, auf sie zugehen, sie in unsere politischen Ansätze einbinden. Das haben wir in der Vergangenheit vernachlässigt. Die Bundeskanzlerin hat oft China und die USA besucht, andere Weltgegenden eher selten.

    Nuklearwaffen noch immer Tabuthema

    Russland, die USA und andere Länder diskutieren wieder den Nuklearwaffeneinsatz. Inwieweit wird die Nuklearwaffen-Politik Teil unserer deutschen Sicherheitsstrategie sein?

    Nuklearwaffen sind noch immer ein Tabuthema. Der Bundeskanzler hat in seiner Zeitenwende-Rede zwar klargemacht, dass sich Deutschland weiter an der nuklearen Teilhabe beteiligen wird, aber wenn wir 2024 eine neue Regierung in den USA sehen, müssen wir vermutlich über einen eigenen europäischen nuklearen Schutzschirm reden. Macron hat dazu 2020 ein Gesprächsangebot gemacht.

    Ist es nicht zu spät, wenn wir uns erst 2024 darüber Gedanken machen?

    Ja, wir sollten es spätestens 2024 tun. Ich glaube aber, dass es dazu nächstes Jahr umfassendere und intensivere Diskussionen geben wird.

    Gerade erst haben die USA und Frankreich ihre Nationale Sicherheitsstrategie vorgelegt. Das sind Deutschlands wichtigste Partner. Inwiefern war Deutschland in die Erarbeitung dieser Strategien involviert?

    Ich komme gerade aus Washington, wo ich einen der Autoren der US-Sicherheitsstrategie getroffen habe. Die Amerikaner haben viele Gespräche mit ihren Partnern geführt, auch mit uns. Umgekehrt tun wir das auch mit unseren europäischen und amerikanischen Partnern.

    Wie lange ist eine Sicherheitsstrategie gültig?

    Ich würde mir wünschen, dass wir uns einen ähnlichen Rhythmus gäben wie die USA: Mit jeder neuen Bundesregierung würde die Sicherheitsstrategie überarbeitet oder neu formuliert.

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    Deutschland sucht nach weiteren Hilfen für Flugabwehr in der Ukraine

    Die Bundesregierung und die deutsche Industrie suchen nach neuen Möglichkeiten, die Ukraine bei der Flugabwehr gegen russische Drohnen und Raketen zu unterstützen. Das bereits von einem deutschen Unternehmen gelieferte Flugabwehrsystem Iris-T SLM hat sich nach ukrainischen Angaben zwar als sehr effektiv erwiesen – aber die Zahl der Abwehrraketen für dieses System ist begrenzt; zudem ist der Einsatz der mehr als eine Million Euro teuren Flugkörper zur Abwehr vergleichsweise billiger Drohnen aus iranischen Beständen wirtschaftlich unsinnig.

    Nach Informationen von Security.Table wird deshalb erwogen, der Ukraine eine kleinere Variante zur Verfügung zu stellen: Das Flugabwehrsystem Iris-T SLS nutzt Abwehrraketen, wie sie auch von der deutschen Luftwaffe an ihren Kampfjets eingesetzt werden und die im Unterschied zu den Flugkörpern für das größere SLM-System kostengünstiger sind.

    Allerdings gibt es bislang nur ein Land, das dieses kleinere System aus deutscher Produktion auch bereits gekauft hat und nutzt: Die schwedischen Streitkräfte verfügen über einsatzbereite Iris-T SLS-Feuereinheiten. Ohne eine Abgabe aus schwedischen Beständen gibt es keine Starter, die der Ukraine zur Verfügung gestellt werden könnten. Ob die Bundesregierung bei Schweden nach einer Lieferung anfragt, ist derzeit noch offen. tw

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    Frankreich: Neue Sicherheitsstrategie bereitet Gesellschaft und Industrie auf Kriegsfall vor 

    Frankreich verlagert den Schwerpunkt seiner Sicherheitspolitik. Fortan steht nicht mehr der Kampf gegen Terroristen im Mittelpunkt, sondern die Verteidigung des Landes, seiner Überseegebiete und der Nato-Bündnispartner.

    Die 60-seitige “Revue nationale Stratégique”, die Präsident Emmanuel Macron am vergangenen Mittwoch in einer 45-minütigen Rede vorstellte, dient als Grundlage für ein Gesetz, das dem Parlament im kommenden Jahr vorgelegt werden soll und die Budgets für das französische Militär 2024 bis 2030 festlegt.  

    Die Strategie widmet mehrere Punkte der Einstellung der Gesellschaft und Industrie auf einen möglichen Kriegsfall. “Das Militärische dringt in dieser Strategie sehr weit in die Gesellschaft vor, sagt der Frankreich-Experte der DGAP, Jacob Ross. “In Deutschland wäre das undenkbar.” 

    Das Papier, das auf Französisch und in einer vorläufigen Version auf Englisch vorliegt, nennt fünf wesentliche Ziele für 2030: 

    • Die Fähigkeit, das Kernland und die Überseegebiete zu verteidigen 
    • Europa und das Mittelmeer in einem intensiven Konflikt zu verteidigen 
    • Als Partner Sicherheit in einem Gebiet von Subsahara-Afrika über das Horn von Afrika bis zum Persischen Golf zu gewährleisten 
    • Zur Stabilisierung im Indopazifischen Raum beizutragen 
    • Handlungsfreiheit in gemeinsamen Räumen (Cyberraum, Weltraum, Meeresgrund, Luftraum) zu erzielen und die Sicherheit von Versorgungswegen zu gewährleisten. 

    So sollen diese Ziele erreicht werden: 

    1. Robuste und glaubwürdige nukleare Abschreckung: Die französischen Atomwaffen würden “allein durch ihre Existenz zur Sicherheit Frankreichs und Europas beitragen”, sagte Macron. Als einziges EU-Land, das Atomwaffen besitzt, habe diese nukleare Abschreckung auch eine “europäische Dimension”, heißt es in der Strategie. 
    2. Vereintes und resilientes Frankreich: Macron spricht von “nationaler Kohäsion”, die durch eine höhere Attraktivität für den Armeedienst oder “die Vermittlung republikanischer Werte” gestärkt werden soll.
    3. Wirtschaft im Einklang mit der Verteidigung: Im Kriegsfall soll die Wirtschaft so organisiert werden, dass “die französische Industrie die Kriegsanstrengungen dauerhaft unterstützen kann, wenn das für die Streitkräfte oder zugunsten eines Partners erforderlich ist”. 
    4. Erstklassige Cyber-Resilienz: Frankreich soll in der Lage sein, die Dauer von Angriffen auf Kritische Infrastruktur zu minimieren. Dazu müsse es ein öffentliches und privates Cyber-Ökosystem geben, das sich auf eine “kompetitive nationale und europäische Cybersicherheits-Industrie stützt”. 
    5. Beispielhafter Nato-Verbündeter: Frankreich will seinen Einfluss und den der europäischen Verbündeten in der Nato stärken und “Motor der Kooperation zwischen EU und Nato sein”. 
    6. Strategische Autonomie: Zu strategischer Autonomie gehöre eine starke europäische Verteidigungsindustrie. Frankreich wolle daher “die Einrichtung eines kurzfristigen Instruments zur gemeinsamen Beschaffung europäischen Militärmaterials” unterstützen. 
    7. Verlässlicher Partner: In der Aufzählung wichtiger Partner in Europa wird Deutschland als erstes genannt. “Mit Deutschland muss Frankreich seine Beziehung vertiefen, um (…) ein Europa der Verteidigung aufzubauen.” 
    8. Unabhängige Beurteilungen, souveräne Entscheidungen: Präziser heißt es in der Sicherheitsstrategie, die Informationskapazitäten zu erhöhen, sowohl digital als auch durch Präsenz in relevanten Regionen, “vor allem in Europa und im Indopazifik”. 
    9. Verteidigung gegen hybride Bedrohungen: Kritische Infrastruktur müsse geschützt werden, insbesondere Unterwasser- und Weltraum-Kommunikationsinfrastruktur. 
    10. Fähigkeit zum hochintensiven Gefecht: Dazu gehört auch die Zusammenarbeit mit Verbündeten in verschiedenen Weltregionen. Frankreich soll aber auch in der Lage sein, “autonom zu agieren” und Einsätze zu planen.  

    Darüber hinaus verkündete Macron das Ende des Mali-Einsatzes Barkhane. Er betonte, dass die “Souveränität der europäischen Verteidigung” von der Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland abhänge. bub

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    Warnungen an Russland und Iran: Atom-U-Boote der USA geben Standort preis 

    Gleich zweimal haben die USA zuletzt Standorte ihrer Atom-U-Boote offenbart und damit indirekte Warnungen an ihre Gegner ausgestoßen. Während die USS West Virginia im Arabischen Meer operierte, was als Signal an Iran verstanden wurde, tauchte die USS Rhode Island in Gibraltar auf, ein Zeichen an Russland. Das berichtete The War Zone, ein amerikanisches Online-Magazin für Sicherheitspolitik. 

    Das amerikanische Vorgehen ist ungewöhnlich. Üblicherweise halten die USA die Einsatzgebiete strategischer U-Boote geheim, weil diese Waffensysteme ihre nukleare Zweitschlagfähigkeit sicherstellen. USS West Virginia und USS Rhode Island sind Boote der Ohio-Klasse, ausgerüstet mit ballistischen, nuklear bestückbaren Raketen (Ship Submersible Ballistic Nuclear, SSBN).

    Im Gegensatz zu Landstützpunkten oder Flugzeugen, von denen aus Atomwaffen abgeschossen werden können, ist der Standort eines U-Bootes unbekannt. Einmal abgetaucht, bleibt es monatelang verschwunden. Meist erscheint es erst wieder an der Oberfläche, wenn es seinen Heimathafen anläuft. Dadurch bleibt das Überraschungsmoment und das Abschreckungspotenzial der USA erhalten. Selbst durch Sonar sind die Boote nicht zu entdecken, da ihr Schiffsrumpf schallabsorbierend ist. 

    U-Boote der Ohio-Klasse sind zu Zweitschlägen unterschiedlichen Ausmaßes fähig. Dazu können ihre Trident-Raketen auch mit Nuklearsprengköpfen geringerer Wirkung versehen werden. Die amerikanische Nukleardoktrin sieht diese Abstufung vor, um einen Gegner davon abzuhalten, Atomschläge begrenzten Ausmaßes zu erwägen, in dem Glauben, dass er damit aus Gründen der Verhältnismäßigkeit der amerikanischen Vergeltung entgeht. Russland hatte wiederholt mit dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen in der Ukraine gedroht, deren unmittelbare Wirkung auf einen kleinen Radius begrenzt bliebe.

    Die Boote können aber auch konventionelle Lenkflugkörper verschießen, die für das “Iran-Szenario” infrage kämen. Iran hatte zuletzt mit dem Einsatz von Raketen gegen Saudi-Arabien und Nordirak gedroht, um von den Unruhen im eigenen Land abzulenken. In der nordirakischen Hauptstadt Erbil haben die USA und auch Deutschland Truppen stationiert. Für den Angriffsfall hatte die US-Regierung dem Regime in Teheran Vergeltungsmaßnahmen angekündigt. ms 

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    Russland könnte zum zweijährigen Armeedienst zurückkehren 

    Müssen Wehrpflichtige in Russland bald wieder zwei Jahre dienen? Nach Berichten russischer Medien schlagen Duma-Abgeordnete vor, wieder zur alten Wehrdienstdauer zurückzukehren. Sie galt bis zur Reform im Jahr 2008. Damals wurde die Wehrdienstzeit von 24 auf zwölf Monate verkürzt.  

    Der aktuelle Vorschlag soll nach Angaben des Vorsitzenden des Verteidigungskomitees im Föderationsrat, Viktor Bondarew, mit den zuständigen Behörden diskutiert werden. Bondarew sagte dazu: “Natürlich unterstütze ich das, wir sollten unbedingt zum zweijährigen Dienst zurückkehren.” 

    Offiziell wird das Vorhaben mit der Qualität der Ausbildung in der Armee begründet. “Innerhalb eines Jahres jemanden auszubilden und vorzubereiten ist schwierig”, sagte Michail Scheremet, Duma-Abgeordneter von der russisch besetzten Krim. Aber Ausbildung in zwei Jahren – das sei optimal, erläuterte Scheremet. Das sei eine aktuelle und nötige Maßnahme, “die in kürzester Zeit für die Kampfbereitschaft unserer Armee umgesetzt werden muss”. 

    Einen Monat nach dem Beginn der sogenannten Teilmobilmachung am 21. September propagierten erste Stimmen in Russland den Zweijahresdienst. Damit wäre die Teilmobilmachung nicht nötig gewesen, lautete ein Argument. Offiziell verfügt Russland derzeit über 1,02 Millionen Militärangehörige, diese Zahl soll um 137.000 auf etwas mehr als 1,15 Millionen steigen.  

    Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte zwar, das Thema werde derzeit im Kreml nicht diskutiert. Er ergänzte aber: “Die wichtige Stimme in diesem Fall ist die des Verteidigungsministeriums.” Außerdem hatte Präsident Wladimir Putin Ende Oktober Verteidigungsminister Sergej Schoigu beauftragt, nach den Erfahrungen in der Ukraine “Korrekturen” in den Streitkräften vorzunehmen – eine Folge der hohen Verluste der russischen Armee in der Ukraine.

    Schneller als der zweijährige Militärdienst könnte in Russland der militärische Vorbereitungsunterricht an den Schulen zurückkehren – eine alte sowjetische Tradition. Bildungsminister Sergej Krawzow kündigte vor wenigen Tagen an, dass bereits zum Schulstart am 1. September 2023 für die oberen Klassen zehn und elf der Unterricht um militärische Kurse ergänzt wird. In 140 Stunden über zwei Jahre verteilt sollen Schülerinnen und Schüler sowohl Sicherheitsregeln für den Alltag lernen als sich auch mit den Grundlagen der Sicherheitspolitik Russlands beschäftigen. Auch ein Kurs für militärische Grundlagen und Umgang mit Handfeuerwaffen ist geplant. vf

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    Debatte um Seesicherheitsgesetz wird wiederbelebt

    Angesichts der Bedrohungen für Kritische Infrastrukturen auf See zeichnet sich eine erneute Debatte über ein Seesicherheitsgesetz ab, bei dem auch die Bundeswehr zum Schutz maritimer Einrichtungen herangezogen werden könnte. Nach den Anschlägen auf die Nordstream-Pipelines in der Ostsee hatte zum Beispiel Norwegen die Bereitschaft seiner Streitkräfte erhöht – und die Deutsche Marine ist im Rahmen der Nato am Schutz norwegischer Öl- und Gasplattformen beteiligt.

    In deutschen Küstengewässern und in der sogenannten Ausschließlichen Wirtschaftszone Deutschlands auf See ist dagegen der Schutz Kritischer Infrastrukturen, zu denen neben Öl- und Gasfeldern vor allem Windparks gehören, Aufgabe der Bundespolizei. Die Bundeswehr darf nur auf Anforderung in der Amtshilfe tätig werden und unterstützt unter anderem mit Tauchausrüstung für große Tiefen, über die die Polizei nicht verfügt.

    Aus Kreisen der Bundeswehr gibt es deshalb erneute Überlegungen für ein Gesetz, das die Streitkräfte bei dieser Schutzaufgabe besser einbinden könnte und ihnen mehr Befugnisse gibt. Allerdings stehen diese Planungen noch ganz am Anfang und werden aufgrund früherer Erfahrungen bislang nicht öffentlich diskutiert: Vor fast zwei Jahrzehnten hatte es unter dem Eindruck der Anschläge in New York und Washington am 11. September 2001 bereits einen fertigen Entwurf für ein Seesicherheitsgesetz mit mehr Bundeswehr-Kompetenzen gegeben. Nach der juristischen Auseinandersetzung über das Luftsicherheitsgesetz scheiterte die maritime Variante am Streit zwischen den damaligen Koalitionsparteien CDU und SPD. tw

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    Medienschau

    The New York Times Magazine – The Untold Story of ‘Russiagate’ and the Road to War in Ukraine: Jim Rutenberg beschreibt detailliert, wie Putins Eingriffe in den US-amerikanischen Wahlkampf mit einer Schwächung der Ukraine zusammenhängen und an welchen Plänen Trumps damaliger Wahlkampfmanager, Paul Manafort, 2016 beteiligt war. Wer den Text, der am 2. November erschienen ist, noch nicht gelesen hat, sollte das tun. 30 bis 45 Minuten dauert die Lektüre.

    Doku: Arte – Terror in Paris: Chronik einer Fahndung: Vor sieben Jahren, am 13. November 2015, erschossen drei islamistische Terroristen im Pariser Nachtclub Bataclan 90 Menschen. Die Dokumentation von Christophe Cotteret arbeitet die Terrorismusbekämpfung vor und nach dem Terroranschlag auf, zeigt, wie europäische Geheimdienste zunächst schlecht kooperierten und wie die europäische Gesetzgebung Probleme machte. Dauer: 91 Minuten.

    Der Spiegel – Könnte ich das – auf jemanden schießen? (Paywall): Die Schriftstellerin Nora Bossong wird für zehn Tage zur Soldatin. Bossong fremdelt, wirft Fragen auf und nähert sich an. Ein Text für Soldatinnen und Soldaten, die einen Blick auf den Blick von außen werfen wollen. Eignet sich auch zum Weiterleiten an Freunde und Familie.

    Podcast: War on the rocks – Assessing the National Security Strategy: Wer mehr über Sicherheitsstrategien wissen will: Christopher Preble, Melanie Marlowe und Zack Cooper diskutieren die neue Sicherheitsstrategie der USA. Hört sich schneller (etwa eine Stunde), als sich die Strategie liest und liefert Hinweise, was man bei der Sicherheitsstrategie in Deutschland besser nicht nachmachen sollte. Es gibt auch eine Folge zur Verteidigungsstrategie.

    Süddeutsche Zeitung – “Wir haben einen riesigen Aufholbedarf” (Paywall): Alfons Mais, Generalinspekteur des Heeres, gibt Einblicke, was von den 100 Milliarden Sondervermögen beim Heer zunächst gekauft wird und sagt, dass die Bundeswehr neue Gefechtssituationen lernen muss. Hier erfährt man, wo es bei der Truppe hakt.

    Standpunkt

    Deutsch-französisches Verhältnis: Misstrauen zur falschen Zeit

    Von Gaspard Schnitzler
    Porträtfoto von Gaspard Schnitzler vor einer Holzwand. Im Standpunkt schreibt er über Deutschland, Frankreich, Militär und Verteidigung.
    Gaspard Schnitzler ist Forscher am Institut für internationale und strategische Beziehungen (IRIS) in Paris. 

    Selten war das deutsch-französische Verhältnis so strapaziert wie derzeit. Gegenseitige Vorwürfe und beiderseitig geäußertes Unverständnis machten in den vergangenen Wochen heftige Dissonanzen in der Zusammenarbeit deutlich.

    Das “deutsch-französische Paar” steht kurz vor einer Trennung – so wirkten zuletzt die Beziehungen zwischen Berlin und Paris. Einige Politiker in Frankreich bezichtigten Deutschland des “Alleingangs” und der “hegemonialen Absichten” in Verteidigungsfragen. Berlin sei kein “verlässlicher Partner” mehr, hieß es bei manchen Industriellen oder Abgeordneten, die Regierung solle ihre Zusammenarbeit in Europa weniger auf die Deutschen fokussieren, sondern stärker diversifizieren.

    Jüngster Ausdruck dieser Spannungen ist die erneute Verschiebung des deutsch-französischen Ministerrats, der ursprünglich für Juli und dann für Ende Oktober geplant war. Nun soll er im Januar stattfinden.

    FCAS litt von Anfang an unter einem Ungleichgewicht

    Das Verhältnis von Berlin (früher Bonn) und Paris war immer wieder von unterschiedlichen Ansichten auf politischen Teilgebieten geprägt, ohne dass beide Seiten ihre Zusammenarbeit nachhaltig infrage stellten. Man könnte dafür beispielhaft das Scheitern des deutsch-französischen Panzerprogramms in den 1970er-Jahren oder des Kampfflugzeugprogramms in den 1990er-Jahren nennen.

    Die Gründe für die Meinungsverschiedenheiten sind vielfältig und reichen von einer unterschiedlichen strategischen Kultur – die von verschiedenen historischen, politischen und geografischen Gegebenheiten abhängt – bis hin zu einem hohen (manchmal zu hohen) Anspruch an den Umfang der Zusammenarbeit.

    Das beste Beispiel dafür dürfte die Entwicklung des Future Combat Air Systems (FCAS) sein. Von Anfang an litt das Programm unter einem Ungleichgewicht. Frankreich kann es sich nicht leisten, ein Flugzeugsystem der 6. Generation allein zu stemmen, zugleich aber kommt der Kauf eines solchen Systems im Ausland aus Gründen der “strategischen Autonomie” nicht infrage.

    Für Deutschland liegt die Sache anders. Es ist in Fragen der Rüstungsbeschaffung geschmeidiger. Die eigenen Hersteller werden nicht immer bevorzugt, wie die Entscheidung, 35 amerikanische F-35 zu kaufen, gerade wieder zeigt.  

    Frankreich stört, dass Deutschland seine Interessen verteidigt

    Der zweite Grund, der über FCAS hinausgeht, ist der industrielle Wettbewerb zwischen beiden Ländern. Frankreich kann schwer akzeptieren, dass Deutschland vehementer als früher seine industriellen Interessen verteidigt und sich nicht mehr den Willen seiner Nachbarn aufzwingen lässt. Deutschlands Liste der “Nationalen Schlüsseltechnologien”, vor zwei Jahren veröffentlicht, steht beispielhaft dafür.

    Die Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz, gemeinsam mit 14 europäischen Staaten, aber ohne Frankreich einen europäischen Luftverteidigungsschirm aufzubauen (European Sky Shield Initiative), ist ein weiteres Beispiel dafür. 

    Sowohl auf industrieller als auch auf politischer Ebene herrscht auf französischer Seite inzwischen ein tiefes Misstrauen gegenüber den Deutschen. Es speist sich unter anderem aus den Erfahrungen bei gemeinsamen Rüstungsprojekten. Deutschland reduzierte zum Beispiel die Anzahl der zusammen entwickelten Transportflugzeuge A400M, nachdem entschieden war, wer was produziert.

    Es war aber vereinbart, dass sich die Industrieanteile nach der Anzahl der bestellten Flugzeuge richten. Die Franzosen fühlten sich über den Tisch gezogen und haben das immer noch im Kopf, wenn es um industrielle Zusammenarbeit geht.

    Weitere Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit erklären dieses Gefühl:

    • Deutschland liebäugelt damit, aus dem Modernisierungsprogramm für den gemeinsam entwickelten Kampfhubschrauber Tiger auszusteigen und möglicherweise den AH-54 Apache aus US-Produktion zu kaufen.
    • Deutschland hat angekündigt, als Seefernaufklärungsflugzeug die marktverfügbare amerikanische P-8 Poseidon zu beschaffen. In Frankreich wird dies als Anfang vom Ende des gemeinsamen Maritime Airborne Warfare System (MAWS) gewertet.

    Risiko: Dauerhafte Schwächung der EU-Verteidigung

    Klar ist, dass in Berlin eine andere Definition von “strategischer Autonomie” gilt als in Paris. Nicht umsonst zieht Deutschland den Begriff der “strategischen Souveränität” vor; er gilt als konsensfähiger und weniger ambivalent gegenüber der Nato. Erst wenn beide Seiten die daraus resultierenden Unterschiede in ihrer jeweiligen Sicherheitspolitik anerkennen und akzeptieren, wird es möglich sein, stabile Grundlagen einer gesunden und fruchtbaren Zusammenarbeit zu schaffen. 

    Auch wenn das europäische Projekt nicht allein auf Frankreich und Deutschland beruht, ist das militärische Gewicht beider Länder so groß, dass von ihrer Achse die sicherheitspolitische Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der EU abhängt. Wenn sich Frankreich und Deutschland einig sind, wirken sie wie ein Motor, der einen Mitnahmeeffekt auf andere Staaten hat und das Ambitionsniveau des europäischen Verteidigungsprojekts bestimmt.

    Die Rolle, die beide Staaten im Prozess der Entwicklung und Verabschiedung des Strategischen Kompasses der EU spielten, ist ein gutes Beispiel dafür. Der Strategieprozess wurde Ende 2020 unter der deutschen Ratspräsidentschaft eingeleitet und Anfang 2022 unter der französischen Ratspräsidentschaft angenommen.

    Angesichts der aktuellen Lage ist die effektive Umsetzung dieses sicherheitspolitischen Grundlagendokuments von entscheidender Bedeutung, um die Handlungsfähigkeit der EU zu stärken. Gelingt das nicht und bricht die deutsch-französische Achse, würde das zu einer dauerhaften unverantwortlichen Schwächung der europäischen Verteidigungsfähigkeit führen. Eine Schwächung, die wir uns in diesen Zeiten nicht leisten können.

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    Heads

    Franziska Davies – Sie verreißt die Bücher der “Russland-Versteher”

    Porträtfoto von Franziska Davies vor einer gelben Wand mit Brille. Sie verreißt die Bücher der
    Die Historikerin Franziska Davies kämpft gegen pro-russische Narrative in Deutschland.

    Die persönliche Zeitenwende von Franziska Davies war im Jahr 2004, als die Ukrainerinnen und Ukrainer die erste Revolution gegen die altsowjetischen Strukturen probten und Davies eine junge Studentin für Russisch und Geschichte in München war. Von dem Moment an war die Ukraine fest auf ihrer inneren Landkarte verankert, das Interesse an Land und Menschen wuchs stetig.

    Ihr Studium konzentrierte sie zunehmend auf die russische und osteuropäische Geschichte. Sie habe Glück gehabt, sagt sie im Gespräch, denn an vielen Universitäten wurde osteuropäische Geschichte vor allem als russische Geschichte gelehrt. Nicht so an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU).

    Davies hat in München, St. Petersburg und Sheffield studiert, in Warschau, Moskau, St. Petersburg, Kazan sowie London wissenschaftlich gearbeitet. Heute ist die promovierte Historikerin Akademische Rätin auf Zeit am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der LMU. Sie war bei den Vorbereitungen der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission dabei, die im Jahr der Maidan-Revolution ihre Arbeit aufnahm.  

    Fachwissen gegen Propaganda

    Seit Februar dieses Jahres ist Davies eine laute Stimme im öffentlichen Kampf in Deutschland um die Deutung des russischen Krieges gegen die Ukraine. Als der “totale Krieg” (Davies) Russlands gegen die Ukraine begonnen habe, sei sie in Polen gewesen. Danach hat sie vor allem Hilfe für geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer organisiert, auch in der eigenen Wohnung einige aufgenommen. “Wissenschaftlich arbeiten war erstmal schwierig”. Doch genau das macht sie jetzt umso stärker auch in der Öffentlichkeit.

    Seit Februar mischt sie bei den innerdeutschen Debatten über den Krieg mit. Die heiß diskutierten Fragen sind die nach der Mitverantwortung des Westens und der Ukraine für den Krieg. Davies sagt, sie habe bereits in den vergangenen Jahren Bücher von “Russland-Verstehern” rezensiert und meistens verrissen. Darunter etwa “Putins Macht” von Hubert Seipel oder “Wir brauchen eine neue Ostpolitik” von Matthias Platzeck. Das Problem sei, dass einige Verstehen mit Verständnis gleichsetzten. Gegen deren pro-russische Narrative arbeitete sie an. “Das habe ich als meine Aufgabe gesehen”, betont sie.

    Dafür wagt sie sich auch dahin, wo die Wogen besonders hochschlagen und bei vielen die Hemmschwelle für persönliche Beleidigungen und Angriffe niedrig ist: Twitter. Mit ihrer Expertise hat sie sich dort innerhalb kürzester Zeit eine große Followerzahl erarbeitet.

    Sie klärt in Threads vor allem darüber auf, welches Wissen in der innerdeutschen Debatte über den Krieg fehlt: Warum Russlands kolonial-imperiale Vergangenheit beachtet werden muss; warum der Krieg mindestens einen genozidalen Aspekt hat, etwa wegen des Kinderraubs; oder auch welche Narrative in Deutschland Putin entlasten – etwa die angebliche Bedrohung Russlands durch die Nato. Davies setzt ihr Fachwissen dagegen und transportiert es aus den engeren akademischen Kreisen in die breite Öffentlichkeit.

    Bereit zum Streit, auch vor Gericht

    Doch dieser, teils pointiert, ausgetragene Kampf kann sie nun vielleicht sogar vor Gericht bringen. Die ehemalige ARD-Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz geht gegen Davies juristisch vor. Hauptsächlich gehe es im Schreiben ihrer Anwälte um Kritik an den Büchern und Aussagen von Krone-Schmalz, die Davies via Twitter getätigt habe, erläutert die Wissenschaftlerin.

    Doch im Grunde geht es um die Deutung der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine. Davies sagt, nach der ersten negativen Überraschung auf das Schreiben der Anwälte von Krone-Schmalz (Anwaltskanzlei Höcker, Köln) sei sie jetzt “kämpferisch aufgestellt”.

    Dass sie dabei durchaus pointiert auftritt, sieht sie persönlich positiv. “Ich glaube, es ist eine Pose, wenn manche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen immer intellektuell wirkend ganz ruhig erscheinen. Emotionen dürfen auch sein, es geht in der Ukraine um Menschenleben.” Ihrer Aufklärungsarbeit scheint das jedenfalls nicht zu schaden. Auf Twitter erhält sie sehr viele Solidaritätsbekundungen von Fachkolleginnen und Kollegen. Und aus der Politik gibt es erste Beratungsanfragen. Konkreter will sie zunächst nicht werden. Viktor Funk

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    Security.Table Redaktion

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