Table.Briefing: Security

Cyber-Macht Israel in Aufruhr + Lambsdorff vor Wechsel nach Moskau + Wie die Ukraine künftig Getreide exportiert

Liebe Leserin, lieber Leser,

Israel ist in Aufruhr – bis in die höchsten Sicherheitskreise. Weil die rechtsreligöse Regierung Benjamin Netanjahus ihre Pläne zum Umbau des Justizsystems gegen alle Kritik durchzieht, haben Tausende Reservisten angekündigt, nicht mehr zu Übungen zu erscheinen.

Darunter sind auch frühere Angehörige der Unit 8200: Die Elite-Spionageeinheit gilt als Talent Pool der israelischen Cyber-Security-Industrie, der avanciertesten der Welt. Ich habe mir das Cyber-Ökosystem des Landes in Ber Sheva und Tel Aviv angeschaut und aufgeschrieben, wie das Prinzip offener Türen zwischen Armee und Wirtschaft dafür sorgt, dass Israel Jahr für Jahr Milliarden an Venture-Kapital anzieht.

Nach knapp sechs Jahren als stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag sitzt Alexander Graf Lambsdorff auf gepackten Koffern. In den kommenden Tagen reist er nach Moskau aus, wo er Anfang August Deutschlands künftigem Vertreter bei der Nato, Géza von Geyr, als Botschafter nachfolgt. Angesichts des anhaltenden Kriegs in der Ukraine sieht Lambsdorff es als “positives Zeichen”, dass ihm die Akkreditierung trotz seiner klaren Haltung gegen die russische Aggression gewährt wurde. Viktor Funk hat mit ihm über seine neue Aufgabe gesprochen.

Eines der Themen, das den in die Diplomatie zurückkehrenden Politiker begleiten wird, ist das von Russland vergangene Woche aufgekündigte Getreideabkommen – und seine Folgen. Auch Table.Media befasst sich umfassend mit den Auswirkungen, militärisch, politisch wie wirtschaftlich. So beschreibt Thomas Wiegold in seinem Beitrag, welch wichtige Rolle der Türkei beim Transport durch die Bosporus-Meerenge zukommt. Und gemeinsam mit Viktor Funk beschreibt Henrike Schirmacher von der EU erwogene Alternativen zum Seetransport, um die Versorgung mit Weizen auf den Weltmärkten sicherzustellen.

Unter Schirmachers Leitung erscheint heute übrigens die erste Ausgabe des Agrifood.Table. Sie und ihr Team berichten über die Agrar- und Ernährungspolitik auf nationaler und europäischer Ebene und analysieren die Entwicklungen für alle, die in Politik, Unternehmen oder Verwaltungen im Agrar- und Lebensmittelsektor entscheiden müssen. Hier können Sie das Angebot kostenlos testen.

Ihr
Markus Bickel
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Analyse

Israel rüstet sich für den Cyber-Krieg der Zukunft

Für den Generaldirektor des Nationalen Cyber-Direktorats Israels ist der Feind klar. “Iran, Iran, Iran”, sagt Gaby Portnoy, dessen Posten direkt im Büro von Premierminister Benjamin Netanjahu in Jerusalem angesiedelt ist. Hundert Kilometer südlich, in Ber Sheva mitten in der Negev-Wüste, unterhält die Behörde zudem ein Cyber-Krisen-Reaktionsteam (CERT), das täglich Hunderten Hinweisen auf Attacken im Netz aus der Bevölkerung nachgeht. Das Anrufzentrum zum Schutz kritischer Infrastruktur vor Cyberattacken soll in den kommenden Jahren weiter wachsen.

Als “Cyber-Hauptstadt Israels” preist Portnoy Ber Sheva, das unweit der Grenzen zu Jordanien und Ägypten liegt. Mehr als dreißig Jahre arbeitete er für den Militärgeheimdienst der Israel Defense Force (IDF), ihm unterstanden unter anderem die Units 8200 und 9900. Die IDF-Eliteeinheiten für Fernmelde- und elektronische Aufklärung bilden den Talentpool der heimischen Cyber-Industrie, eine der größten der Welt: 40 Prozent der globalen Cyber-Investments flossen 2021 nach Israel, 17 Milliarden Dollar insgesamt 2022 in den High-Tech-Sektor. Nur Indien, Großbritannien, China und die USA zogen weltweit mehr Venture-Kapital an.

System von Drehtüren zwischen Armee und High-Tech-Sektor

Portnoy macht kein Geheimnis daraus, dass die israelische Cyberabwehr auf Quellen kommerzieller Anbieter zurückgreift – die israelischen Nasdaq-Unternehmen Check Point und CyberArk dürften dazu zählen. Auch ihre CEOs, Gil Shwed und Udi Mokady, dienten einst in der Unit 8200 und setzen nun Milliarden um. Die High-Tech-Eliteeinheit gilt als Entwickler des Computerwurms Stuxnet, der 2010 Steuerungssysteme zur Uran-Anreicherung in iranischen Atomanlagen sabotierte. Der Malware-Angriff, zu dem sich Israel nie bekannt hat, markierte den Beginn der Cyberkriegsära.

Portnoy wiederum macht das iranische Ministerium für Nachrichtenwesen (MOIS) für schwere Cyber-Angriffe in Israel verantwortlich – darunter den auf die Technion-Universität in Haifa im Februar und den auf ein Krankenhaus in Hadera 2021. “Für einige Leute im iranischen Geheimdienstministerium gehört es zum Alltag, das Leben von Zivilisten in aller Welt zu schädigen”, so Portnoy.

Neben Mojtaba Mostafavi und Farzin Karimi in Teheran zähle auch Ali Haidari dazu, der in Beirut “die iranische Zusammenarbeit mit der Hisbollah koordiniert, um unschuldige libanesische Zivilisten im Cyberspace zu schädigen”. MuddyWaters nennt sich die Gruppe, die sich des Angriffs auf das Technion Anfang des Jahres bezichtigten, wie die Gruppe Darkbit mit dem Ministerium für Nachrichtenwesen in Teheran assoziiert.

Generative KI als neue Waffe im Cyberkrieg

Der Cyber-Abwehr dient auch ein vom Inlandsgeheimdienst Shin Bet entwickeltes System Generativer Künstlicher Intelligenz namens “Shabi” – dem neuesten Element in Israels Sicherheitsarchitektur, die Angriffe nicht nur aus dem Iran, sondern auch seiner arabischen Nachbarn seit 75 Jahren abwehrt. Das nun intensiver denn je im Cyber-Raum zu praktizieren, schafft das Land auch deshalb so erfolgreich, weil die Grenzen zwischen geheimdienstlichen, militärischen und kommerziellen Quellen verschwimmen, wenn es um Aufklärung und Abwehr in der vierten Dimension geht.

So haben sich neben Microsoft, Google, dem israelischen Rüstungskonzern Elbit und der Deutschen Telekom achtzig weitere Firmen in Ber Sheva niedergelassen – direkt neben einem Stützpunkt von 1.000 Soldaten, der bis 2026 auf 14.000 Kräfte anwachsen soll. 6.000 davon bilden den Nukleus eines Cyber-Abwehr-Hubs, der die IDF für den Cyberkrieg der Zukunft rüsten soll.

Die Abraham-Abkommen ordnen den Nahen Osten neu

Dazu zählt auch die enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), die seit Abschluss der Abraham-Abkommen 2020 wie Marokko und Bahrain diplomatische Beziehungen zu Israel unterhalten. Eine “multinationale Cyber-Kooperationsplattform” sei im Aufbau, bekräftigt Portnoys Counterpart aus Abu Dhabi, Mohammed al-Kuwaiti. Im Juni war der Cyber-Security-Chef der Emirate Gast auf der Cyber Week in Tel Aviv – und saß gemeinsam mit dem Direktor des israelischen Inlandsgeheimdienstes, Ronen Bar, auf einem Panel. Vor Abschluss der Abraham-Abkommen wäre das undenkbar gewesen.

Das Interesse der Emirate an Israels Cyber-Ökosystem kommt nicht von ungefähr. Allein die Angriffe auf Firmen in der vis-à-vis zur iranischen Küste gelegenen Petrodollarmonarchie stiegen im vergangenen Jahr um mehr als dreißig Prozent – und liegen damit im weltweiten Trend. Das Know-How der Cyber-Nation Israel zu nutzen, ist denn auch ausdrückliches Ziel der Führung in Abu Dhabi. Es gehe darum, die Abraham-Abkommen “über die Beziehung zwischen Regierungen hinaus” weiterzuentwickeln, um “neu aufkommende Bedrohungen für die VAE und Israel” gemeinsam zu adressieren, sagt Cyber-Security-Chef al-Kuwaiti. Als “gute Grundlage für einen regionalen Cyber-Verteidigungspakt” bezeichnet auch Shin-Bet-Direktor Bar die Abkommen.

Reservisten der Cyber-Eliteeinheit Unit 8200 verweigern den Dienst

Allerdings fürchten zahlreiche frühere israelische Geheimdienstchefs sowie hochrangige Armee-Offizielle die größte Bedrohung zur Zeit vor allem im Innern. Aus Protest gegen die von Ministerpräsident Netanjahus rechtsreligiöser Regierung geplanten Beschränkungen der Judikative kündigten zudem fünfzig Reserveoffiziere der Cyberspionageeinheit 8200 vergangene Woche an, Aufrufen zu Reserveübungen nicht mehr zu folgen. In Eliteeinheiten der Armee versorgen die Reservisten die Soldaten unter anderem mit Aufklärungsergebnissen in Echtzeit.

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Deutschlands neuer Botschafter in Russland: “Wichtig, bestimmte Foren zu erhalten”

Außenministerin Annalena Baerbock und ihr bald wichtigster Mann in Moskau: Alexander Graf Lambsdorff.

Herr Lambsdorff, Russland hat vor kurzem Dutzende deutsche Diplomaten ausgewiesen, es muss drei Konsulate schließen. Dass Sie nun in wenigen Tagen als deutscher Botschafter in Moskau anfangen, ist das trotzdem ein positives Zeichen für deutsch-russische Beziehungen?

Deutschland und Russland haben auch in schwierigsten Zeiten diplomatische Beziehungen zueinander unterhalten, weil das eine Stabilisierung bestimmter Gesprächskanäle mit sich bringt. Und die sind gerade dann wichtig, wenn die Spannungen so sind wie im Moment. Insofern können Sie das als positives Zeichen sehen.

Gibt es denn noch gute Gesprächskanäle? Es wird doch eher darüber diskutiert, Russland etwa aus der OSZE auszuschließen. Damit würden direkte Gespräche noch seltener werden.

Es ist einfach wichtig, einander auch in einer schwierigen Lage zu verstehen, die Politik des jeweiligen Gegenübers zu analysieren und die Regierung zu Hause darüber zu unterrichten. Was die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen angeht, gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. Persönlich glaube ich, dass es wichtig ist, bestimmte Foren zu erhalten, in denen auch Vertreter Russlands ihren Platz haben. Aber dass andere Länder dies anders sehen können, kann ich nachvollziehen.

Was kann die Bundesregierung tun, um den Krieg in der Ukraine möglichst schnell zu beenden?

Derzeit geht es darum, gemeinsam mit den Verbündeten in der Europäischen Union und der Nato der Ukraine weiter in ihrem legitimen Recht auf Selbstverteidigung zu helfen, mit dem Ziel, dass Russland von seiner militärischen Aggression ablässt. Das wird in der breiten demokratischen Mitte auch von allen so gesehen, die Union trägt das als größte Oppositionskraft ja mit.

Was bedeutet es Ihrer Meinung nach, dass Russlands Präsident Wladimir Putin nun doch nicht zum BRICS-Staaten-Treffen nach Südafrika reist?

Ich kann über die Motive von Präsident Putin nicht spekulieren. Wir wissen aber aus Äußerungen der südafrikanischen Regierung, dass es in ihren Augen eine ausgesprochen heikle Situation war. Und allein die Tatsache, dass man dort das Römische Statut hochhält, zeigt, dass die regelbasierte Ordnung da, wo sie noch funktioniert, Wirkung entfaltet. Und wir als Deutsche haben jedes Interesse daran, genau diese regelbasierte Ordnung zu verteidigen, zu stützen und da, wo sie verletzt worden ist, wiederherzustellen. Das ist für uns als tief in Europa integriertes, global exportorientiertes Land mit begrenzten militärischen Mitteln absolut zentral.

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Nato-Kriegsschiffe für Getreidekonvois? Nicht nur Vertrag von Montreux setzt Grenzen

Zu den prominentesten Stimmen, die eine Nato-Absicherung für die Getreideexporte aus ukrainischen Häfen befürworten, gehört der ehemalige US-Admiral James Stavridis. Der frühere Nato-Oberbefehlshaber plädierte auf Twitter mehrfach für eine solche Absicherung, auch unter Beteiligung von US-Kriegsschiffen. Dabei, so argumentierte der Marineoffizier, sei letztendlich auch der Vertrag von Montreux kein Hinderungsgrund.

Das Abkommen von 1936, eine Spätfolge des Ersten Weltkriegs, garantiert der Türkei die Kontrolle über die Dardanellen und den Bosporus und damit den Zugang vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer und letztendlich zu den Ozeanen. Insbesondere die Durchfahrt von Kriegsschiffen ist danach reglementiert. Schon in normalen Zeiten dürfen Marinen von Staaten, die nicht Anlieger des Schwarzen Meeres sind, nur in begrenztem Umfang und für maximal 21 Tage in das Binnenmeer einfahren. In Kriegszeiten kann die türkische Regierung, auch und gerade wenn die Türkei nicht am Krieg beteiligt ist, die Passage für Kriegsschiffe von Nicht-Anliegerstaaten komplett sperren – und hat davon im vergangenen Jahr auch Gebrauch gemacht.

Handelsschiffe mit militärischem Gerät sind zulässige militärische Ziele

Solange die Türkei auf Einhaltung der Konvention besteht, ist damit mehr als unwahrscheinlich, dass außer den drei Anrainerstaaten Türkei, Rumänien und Bulgarien Nato-Mitglieder eine militärische Eskorte für Getreidefrachter ins Schwarze Meer schicken können. Doch selbst wenn nur Kriegsschiffe dieser drei Staaten
Getreidekonvois begleiten wollten, wäre das nicht unproblematisch.

Der Befehlshaber eines solchen so genannten neutralen Geleitzuges müsse zum Beispiel den Kriegsparteien garantieren, dass die Frachter nicht zum Transport von militärischem Gerät genutzt werden, erläutert der Seerechtler Wolff Heintschel von Heinegg von der Europa-Universtität Viadrina in Frankfurt/Oder. Wenn Handelsschiffe solche Ladung an Bord hätten, “dann sind sie zulässige militärische Ziele. Dann hilft auch der
Geleitzug nicht mehr”. Anderenfalls würden die begleitenden Kriegsschiffe und ihre Flaggenstaaten sehr schnell zur Konfliktpartei.

Russland greift bisher vor allem Infrastruktur an

Russland habe zudem nach dem Kriegsvölkerrecht die Möglichkeit, selbst zu prüfen, ob die Frachter mit Waffen oder Munition beladen sind: “Das ist das Recht der kriegführenden Parteien, jederzeit auch neutrale
Handelsschiffe zu inspizieren”, sagt Heinegg im Gespräch mit Table.Media.

Dass und wie Russland dieses Recht nutzen könnte, zeigte sich bereits am Montag. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB habe auf einem Getreidefrachter, der zuvor auch die Ukraine angelaufen hatte, Spuren von militärischem Sprengstoff entdeckt, meldete die Nachrichtenagentur TASS. “Die Umstände deuten darauf hin, dass möglicherweise ein fremdes Handelsschiff benutzt wurde, um Sprengmittel auf ukrainisches Gebiet zu bringen.”

Bislang sieht es allerdings danach aus, dass Russland weniger zur See aktiv wird, sondern in ukrainischen Hafenstädten die Infrastruktur zur Verschiffung von Getreide angreift. Nachdem in den vergangenen Tagen mehrfach solche Einrichtungen in Odessa das Ziel von Luftangriffen waren, wurden in der Nacht zum Montag auch die Verladeeinrichtungen eines Donauhafens attackiert, wie das ukrainische Verteidigungsministerium mitteilte.

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Russland will von der Ernährungskrise profitieren

Vom Krieg ohnehin schon gebeutelt, trifft der geplatzte Grain Deal, die auf Export angewiesene ukrainische Landwirtschaft bis ins Mark. “Unserer Branche geht langsam das Geld aus”, sagt Alex Lissitsa, Chef der Agrar-Unternehmensgruppe IMC, der jetzt mit sinkenden Preisen für ukrainisches Getreide und steigenden Logistikkosten rechnet. “Der Erlös beim Verkauf von Winterweizen deckt noch nicht einmal die Produktionskosten”, sagt Lissitsa, der mehr als 100.000 Hektar Land in Sumy im Nordosten der Ukraine bewirtschaftet. Russland hingegen – ebenfalls globaler Getreideexporteur – gerät in die komfortable Lage, Weizen auf dem Weltmarkt zu höheren Preisen exportieren zu können.  

Die Vereinten Nationen, aber auch China, kritisierten Putin für das Aussetzen des Abkommens. Sie befürchten Hungersnöte, insbesondere in Afrika. Die Führung in Peking forderte Putin explizit auf, die Ausfuhren ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer wieder zuzulassen. Putin rechtfertigt den Stopp des Abkommens damit, dass sowieso nur ein geringer Teil der Ernte-Exporte armen Staaten im Rest der Welt zugutekämen. Russland habe kein Interesse daran, ukrainisches Getreide auf den Weltmarkt kommen zu lassen, sagt Tobias Heidland, Direktor für Internationale Entwicklung am Kieler Institut für Weltwirtschaft, im Interview mit Africa.Table. Dieses Geschäft wolle Putin selbst machen und er wolle diplomatisch von der Lebensmittel- und Düngemittelkrise profitieren.

Beide Länder haben nach Ende des Getreideabkommens erklärt, Schiffe, die die Häfen des anderen Landes anlaufen, als potenzielle Träger militärischer Fracht zu betrachten. Aktuell sieht es so aus, als schade sich Putin auch selbst. Deutlich weniger Schiffe steuern russische Häfen an. Dennoch erklärt Putin, Russland sei mit Blick auf eine Rekordernte bereit, ukrainische Getreidelieferungen zu ersetzen. Sollte der Weizenexport der Ukraine und Russlands über einen längeren Zeitraum beeinträchtigt werden, würde das zu einem massiven Angebotsdefizit auf dem Weltmarkt führen, analysiert der Börsenmakler Kaack Terminhandel.

Ernte auf Hochtouren: Putin wählt Zeitpunkt geschickt

Aktuell wird Weizen, Raps und Gerste in der Ukraine gedroschen. “Niemand weiß, ob wir unsere Ernte in diesem Jahr überhaupt noch verkaufen können”, sagt Lissitsa. Die ukrainische Landwirtschaft sorge für bis zu 70 Prozent der Exporteinnahmen des Landes. “Die Russen treffen damit gezielt unsere Wirtschaft.” Der Unternehmer zweifelt, ob in dieser Saison noch Ware über den Schwarzmeerhafen Odessa transportiert werden wird. Durch die russische Bombardierung ist es zu riskant für Reedereien ihre Schiffe dorthin zu schicken. Sein Unternehmen ist direkt betroffen. Weizen und Mais im Wert von rund 10 Millionen Euro lagert am Schwarzen Meer ohne Aussicht, die Ware zurückzubekommen. “Wir brauchen das Geld dringend, um im September Winterweizen säen zu können.” Hinzukommt, dass ab Oktober Lagerkapazitäten für die Ernte von Mais, Sojabohnen und Sonnenblumenkernen gebraucht werden.

Nun will die EU die Kapazitäten auf den alternativen Routen erhöhen. Zu denen gehören: Transporte über Flüsse, mit Güterzügen, Lastwagen. Seit die sogenannten Solidarity Lanes im Mai 2022 ihre Arbeit aufgenommen haben, wurden 41 Millionen Tonnen Getreide, Öle und andere Agrarprodukte über die alternativen Routen aus der Ukraine ausgeführt. Beim Getreide macht das 60 Prozent aus, 40 Prozent des gesamten exportierten Getreides gingen über die Schwarzmeer-Initiative. Das zeigen neue Daten der EU-Kommission.

Alternative Routen sind kein Ersatz

Bezüglich der Transportroute über die Donau zum rumänischen Hafen Constanza ist Lissitsa wenig optimistisch: “Kollegen, die Getreideterminals an der Donau besitzen, rechnen in den kommenden Sommermonaten mit Niedrigwasser.” Komplikationen gibt es nach wie vor an der westlichen Grenze zu Polen und Ungarn. Bis zum 15. September gestattet die EU lediglich den Transit von vier landwirtschaftlichen Erzeugnissen (Weizen, Mais, Rapssamen und Sonnenblumenkernen) durch fünf osteuropäische EU-Mitgliedstaaten. Neben Polen und Ungarn betrifft dies auch Bulgarien, Rumänien und die Slowakei. Bislang halten diese Staaten an einem Importverbot fest. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki sagte, man wolle weiterhin eine Destabilisierung des Marktes verhindern.

Die Solidarity Lanes sind jedoch nicht nur für den Export wichtig, sie stellen die einzigen Wege für den Import von Hilfsgütern dar. Die EU baut bessere Verbindungsmöglichkeiten zwischen Polen und der Ukraine sowie zwischen Rumänien und der Republik Moldau aus, neben Straßen- geht es auch um Schienenverbindungen. Insgesamt seien in das Solidaritätsverkehrsprogramm gut eine Milliarde Euro investiert worden, so die EU-Kommission.

Schnell umsetzen lassen sich die Infrastrukturprogramme aber nicht. Hinzu kommen andere Schwierigkeiten, wie etwa der Mangel an Getreidewaggons in Europa. Flüsse lassen sich auch nicht so schnell ausbaggern, um größere Transportschiffe einzusetzen und auch die Zahl der Lastwagen, Lastwagenfahrer sowie der Straßenkapazitäten ist begrenzt. Russland blockiert also die effektivste Exportmöglichkeit der Ukraine und schneidet die Ukraine von etwa 8 bis 9 Milliarden US-Dollar an Einnahmen ab, während russische Exporteure höhere Preise erzielen und Russland damit auch höhere Einnahmen generieren kann.

Fortsetzung bleibt ungewiss

Ob der Grain Deal wieder aktiviert oder neu verhandelt werden kann – da gehen die Meinungen auseinander. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sagte noch vor der offiziellen Verkündung aus Moskau für das Ende des Abkommens: die Initiative sei “Geschichte”. Auch deutsche regierungsnahe Kreise sind eher skeptisch, dass es eine Fortsetzung gibt.

Moskau hat in der Erklärung nicht ausgeschlossen, dass es eine Zukunft für die Schwarzmeer-Initiative geben kann. Seit dem verkündeten Ende zerstört es aber systematisch den Hafen von Odessa – einen der drei ukrainischen Exporthäfen der Initiative. Die Wirtschaftsanalystin Alexandra Prokopenko, die nach dem Verlassen Russlands 2022 nun am Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin forscht, sieht noch nicht das endgültige Ende für das Abkommen gekommen und verweist auf die Abhängigkeit des russischen Präsidenten Putin von der Türkei. Putin werde im August Erdogan treffen und sicher auch über das Getreide-Abkommen sprechen, schreibt sie in einer Analyse.

Vor dem Treffen mit Erdogan findet in dieser Woche am Donnerstag und Freitag das Russia-Africa-Economic-Forum in St. Petersburg statt und knapp vier Wochen später das BRICS-Treffen im südafrikanischen Johannesburg. Putin werde diese Treffen nutzen und die Ukraine sowie den Westen für das Ende des Grain Deals verantwortlich machen, vermuten deutsche Diplomaten. Auch wenn er angekündigt hat, nicht nach Südafrika reisen zu wollen. Zugleich sei das auch eine Chance für ihn, sich vielleicht als ein Gönner zu präsentieren und afrikanischen Staaten eigene Hilfe anzubieten. Immerhin hat Russland im vergangenen Jahr Rekordernten eingefahren.

Auf verpasste Chancen der Politik weist Rafaël Schneider von der Welthungerhilfe hin. Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock geißelten Putin zwar zu Recht dafür, Hunger als Kriegswaffe einzusetzen. Dies gelinge ihm aber nur, weil Zusagen der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union, die landwirtschaftliche Erzeugung in von Hunger betroffenen Ländern zu fördern, in der Vergangenheit nicht umgesetzt worden seien. Stattdessen sei die Importabhängigkeit in Teilen Afrikas – nicht nur aus der Ukraine, sondern vor allem auch aus Russland, Frankreich, den USA, Kanada und Argentinien – stetig gewachsen.

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News

Russland erhöht Alter für Wehrpflichtige auf 30

In Russland soll die Altersspanne zur Einberufung von Männern zum Wehrdienst um drei Jahre ausgedehnt werden. Entgegen den Ankündigungen, die bisherige Altersspanne von 18 bis 27 Jahre auf 21 bis 30 Jahre zu verschieben, soll nur die Obergrenze angehoben werden. Das kündigte am vergangenen Freitag der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in der Duma, Andrej Kartapolow, an. Auf diese Weise stünden dem russischen Militär mehr Männer zur Verfügung. Erst kürzlich wurde zudem das Höchstalter für die Einberufung von Reservisten von 50 auf 55 Jahre angehoben.

Nach den jüngsten verfügbaren amtlichen Zahlen lebten am 1. Januar 2022 rund 10,1 Millionen Männer in der Altersgruppe von 18 bis 30 Jahre in Russland. Seit Kriegsbeginn und nach der Ausrufung der Mobilmachung vergangenes Jahr sind aber Hunderttausende aus dem Land geflohen.

Der Grund für die geplanten Änderungen ist die demografische Entwicklung der 1990er Jahre, als die Geburtenzahlen zurückgingen und es relativ einfach war, sich vom Wehrdienst freizukaufen. Wird die Altersgrenze auf 30 angehoben, könnte das Militär noch mehrere Jahrgänge einziehen, die bisher davongekommen waren. In den 2000er Jahren stieg zwar die Zahl der Geburten, doch seit 2018 sinkt sie wieder und erreichte zuletzt so schlechte Werte wie seit mehr als 20 Jahren nicht mehr. Dies könnte eine Folge der ökonomisch angespannteren Lage infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine 2014 und der Krim-Annexion sowie der Sanktionen des Westens sein. vf

  • Russland
  • Ukraine-Krieg

Liebe Beschäftigte in Bundesministerien und obersten Bundesbehörden, Ihre Vorgesetzten (von denen viele China.Table Professional Briefing lesen) fordern in der neuen China-Strategie: “Die China-Kompetenz in der Bundesregierung muss gestärkt werden”. Wir laden Sie ein, so gut informiert zu sein wie Ihre Vorgesetzten. Lernen Sie China.Table Professional Briefing jetzt auch kennen: Zum kostenlosen Test

Presseschau

Politico – MI6 chief Richard Moore on Ukraine and the future of intelligence gathering. Bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr hat sich der Chef des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 an die Öffentlichkeit gewandt. Bei einer Rede in der britischen Botschaft in Prag forderte Richard Moore russische Bürger zum Verrat auf – und verriet, weshalb der “menschliche Faktor” im Zeitalter künstlicher Intelligenz an Bedeutung nichts einbüße.

Crisis Group – Paving the Way to Talks on Western Sahara. Infolge der Abraham-Abkommen erkennt Israel Marokkos Anspruch auf die Westsahara an. Seit Ende 2020 haben Vermittler allerdings Probleme, Friedensverhandlungen zwischen Marokko und den Unabhängigkeitskämpfern zu organisieren. Ausführliche Chronik des Konflikts. Ohne ein stärkeres Engagement der USA könne die Situation eskalieren, sagt Autor Riccardo Fabiani.

Frankfurter Allgemeine Zeitung – Militärexperte Gady an der Front (Podcast). Franz-Stefan Gady vom Institute for International Strategic Studies (IISS) sieht nach seinem Besuch im ukrainischen Kriegsgebiet die Schwächen der Ukrainer vor allem im Gefecht der verbundenen Waffen. Er prognostiziert eine lange Offensive und vermutet, dass die Ukraine sich an einer Stelle durcharbeiten wird. 33 Minuten.

Ares – Russia’s War Against Ukraine: A New Impetus for the Harmonisation of European Arms Export Policies? Deutschland, Frankreich und Schweden haben unterschiedliche Einstellungen zu Rüstungsexporten. Wissenschaftler aus den drei Ländern blicken auf die verschiedenen Exportgesetze, die Interessen auf europäischem Niveau und wo Konfliktlinien liegen. In Frankreich hat die Rüstungsindustrie nicht nur eine sicherheitspolitische Funktion.

Table.Media – “Dann hat China die Macht über den Weltraum”. Der Westen habe einen strategischen Fehler begangen, indem er den Weltraum vernachlässige, sagt Niklas Schörnig vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). China habe bei seinen Investitionen im Weltall die meisten Länder abgehängt und schließe zu den USA auf. Die Verknüpfung des chinesischen Weltraumprogramms mit dem Militär sei sehr eng.

Standpunkt

Friedensmissionen neu denken

Von Karamba Diaby
Karamba Diaby ist Vorsitzender der Parlamentariergruppe Westafrika und leitet den Gesprächskreis Afrika der SPD-Bundestagsfraktion. Er ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss.

Im Juni forderte der malische Außenminister Abdoulaye Diop den Abzug aller Minusma-Einsatzkräfte aus dem Land. Am 30. Juni 2023 wurde das Mandat im UN-Sicherheitsrat endgültig beendet. Fortwährend werden außerdem Forderungen nach einem sofortigen Abzug der Bundeswehr laut – ohne jedoch alternative Perspektiven aufzuweisen. Was in der Debatte vollends fehlt, sind die Wünsche der Menschen in Mali selbst. Diese müssen für unser künftiges Engagement zielweisend sein.

Das Ende von Minusma ist ein weiterer Fall von UN-Friedensmissionen auf dem afrikanischen Kontinent, die hinter den Erwartungen der Regierungen, aber auch der lokalen Bevölkerung, zurückbleiben. Ein weiteres prominentes Beispiel ist in der Demokratischen Republik Kongo die Monusco, vor deren Quartieren es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kam.

Obwohl afrikanische Staaten in diesen Missionen fast zwei Drittel des Personals stellen, werden die UN vielerorts mit “dem Westen” gleichgesetzt. Dieser macht sich in den Augen afrikanischer Akteure unglaubwürdig, wenn in einem Kontext Machtwechsel mit Sanktionen belegt und in einem anderen weggesehen wird – wie zuletzt im Tschad.

UN-Blauhelme verlieren Vertrauen

Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Missbrauch durch UN-Blauhelme tragen zum Vertrauensverlust bei. Auch können die Missionen ihren Hauptauftrag, die Zivilbevölkerung zu schützen, nicht nachhaltig erfüllen. Dabei hat kein anderer Kontinent vergleichbar viele UN-Einsätze gesehen. In sechs Staaten sind die UN derzeit engagiert. Die eng abgesteckten Mandate und die sich dynamisch ändernde Gewalt vor Ort erschweren jedoch den effektiven Schutz der Zivilbevölkerung.

Nicht grundlos fordert UN-Generalsekretär Guterres also eine neue Generation von Friedenseinsätzen. Wie könnte diese aussehen? Zum einen sollte die lokale und regionale Friedensarbeit im Fokus stehen. Friedensvermittlungsstrategien müssen auf die Vielfalt der bewaffneten Akteure und ihrer unterschiedlichen Agenden zugeschnitten werden sowie die Verstrickungen von nationaler und lokaler Politik berücksichtigen.

Dafür ist die Teilhabe der Zivilbevölkerung und inklusive, gemeindebasierte Mediation essenziell. Ziel der Friedensmissionen muss es weiterhin sein, politische Rahmenbedingungen für mehr zivile, demokratische Mitbestimmung zu unterstützen. Nur so kann nachhaltiges Vertrauen in staatliche Strukturen entstehen.

Regionale Organisationen in Afrika einbeziehen

Zum anderen sollten die Strategien der afrikanischen Regionalorganisationen Richtschnur für künftige Friedensmissionen sein. Dazu zählen die Afrikanische Union, die Afrikanische Entwicklungsbank und in Westafrika die Ecowas wie auch die Accra-Initiative. Diese gestalten schon längst die Friedens- und Sicherheitsarchitektur mit.

Die zunehmende Komplexität grenzüberschreitender Konflikte kann aufgrund der geografischen Nähe am besten durch regionale Diplomatie angegangen werden. Vorteil afrikanisch geführter Missionen ist außerdem ein grundlegendes Verständnis der lokalen Gegebenheiten. Ein Beispiel ist die Weiterentwicklung des “umuganda”-Konzepts aus Ruanda, welches auf umfassende Gemeindearbeit und Ausbildung in kürzlich befriedeten Gebieten setzt.

Doch es reicht nicht allein, mehr Verantwortung an die Regionalorganisationen abzugeben. Dort, wo es gewünscht ist, muss sich Deutschland weiter engagieren. So ist der Vorsitz von Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze bei der Sahel-Allianz in diesem Jahr ein wichtiger Schritt.

Wenn afrikanische Friedensmissionen nachhaltig Erfolg haben sollen, müssen die deutsche sowie die multilaterale Zusammenarbeit finanziell und logistisch robust bleiben, wie es auch Henrik Maihack (Friedrich-Ebert-Stiftung) fordert. Eine mangelhafte Finanzierung wie bei der AU-Mission in Somalia darf sich so nicht wiederholen. Denn fest steht: Friedensmissionen sichern auch unseren humanitären und entwicklungspolitischen Einsatz vor Ort ab.

Dr. Karamba Diaby, 1961 in Marsassoum (Senegal) geboren, ist seit 2013 Bundestagsabgeordneter. Er vertritt direkt gewählt den Wahlkreis 72 – Halle (Saale). Er ist im Fraktionsvorstand der SPD und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie im Unterausschuss Globale Gesundheit. Zudem ist er Vorsitzender der Parlamentariergruppe Westafrika und leitet den Gesprächskreis Afrika der SPD-Bundestagsfraktion.

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  • Sicherheitspolitik

Security.Table Redaktion

SECURITY.TABLE REDAKTION

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    Israel ist in Aufruhr – bis in die höchsten Sicherheitskreise. Weil die rechtsreligöse Regierung Benjamin Netanjahus ihre Pläne zum Umbau des Justizsystems gegen alle Kritik durchzieht, haben Tausende Reservisten angekündigt, nicht mehr zu Übungen zu erscheinen.

    Darunter sind auch frühere Angehörige der Unit 8200: Die Elite-Spionageeinheit gilt als Talent Pool der israelischen Cyber-Security-Industrie, der avanciertesten der Welt. Ich habe mir das Cyber-Ökosystem des Landes in Ber Sheva und Tel Aviv angeschaut und aufgeschrieben, wie das Prinzip offener Türen zwischen Armee und Wirtschaft dafür sorgt, dass Israel Jahr für Jahr Milliarden an Venture-Kapital anzieht.

    Nach knapp sechs Jahren als stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag sitzt Alexander Graf Lambsdorff auf gepackten Koffern. In den kommenden Tagen reist er nach Moskau aus, wo er Anfang August Deutschlands künftigem Vertreter bei der Nato, Géza von Geyr, als Botschafter nachfolgt. Angesichts des anhaltenden Kriegs in der Ukraine sieht Lambsdorff es als “positives Zeichen”, dass ihm die Akkreditierung trotz seiner klaren Haltung gegen die russische Aggression gewährt wurde. Viktor Funk hat mit ihm über seine neue Aufgabe gesprochen.

    Eines der Themen, das den in die Diplomatie zurückkehrenden Politiker begleiten wird, ist das von Russland vergangene Woche aufgekündigte Getreideabkommen – und seine Folgen. Auch Table.Media befasst sich umfassend mit den Auswirkungen, militärisch, politisch wie wirtschaftlich. So beschreibt Thomas Wiegold in seinem Beitrag, welch wichtige Rolle der Türkei beim Transport durch die Bosporus-Meerenge zukommt. Und gemeinsam mit Viktor Funk beschreibt Henrike Schirmacher von der EU erwogene Alternativen zum Seetransport, um die Versorgung mit Weizen auf den Weltmärkten sicherzustellen.

    Unter Schirmachers Leitung erscheint heute übrigens die erste Ausgabe des Agrifood.Table. Sie und ihr Team berichten über die Agrar- und Ernährungspolitik auf nationaler und europäischer Ebene und analysieren die Entwicklungen für alle, die in Politik, Unternehmen oder Verwaltungen im Agrar- und Lebensmittelsektor entscheiden müssen. Hier können Sie das Angebot kostenlos testen.

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    Israel rüstet sich für den Cyber-Krieg der Zukunft

    Für den Generaldirektor des Nationalen Cyber-Direktorats Israels ist der Feind klar. “Iran, Iran, Iran”, sagt Gaby Portnoy, dessen Posten direkt im Büro von Premierminister Benjamin Netanjahu in Jerusalem angesiedelt ist. Hundert Kilometer südlich, in Ber Sheva mitten in der Negev-Wüste, unterhält die Behörde zudem ein Cyber-Krisen-Reaktionsteam (CERT), das täglich Hunderten Hinweisen auf Attacken im Netz aus der Bevölkerung nachgeht. Das Anrufzentrum zum Schutz kritischer Infrastruktur vor Cyberattacken soll in den kommenden Jahren weiter wachsen.

    Als “Cyber-Hauptstadt Israels” preist Portnoy Ber Sheva, das unweit der Grenzen zu Jordanien und Ägypten liegt. Mehr als dreißig Jahre arbeitete er für den Militärgeheimdienst der Israel Defense Force (IDF), ihm unterstanden unter anderem die Units 8200 und 9900. Die IDF-Eliteeinheiten für Fernmelde- und elektronische Aufklärung bilden den Talentpool der heimischen Cyber-Industrie, eine der größten der Welt: 40 Prozent der globalen Cyber-Investments flossen 2021 nach Israel, 17 Milliarden Dollar insgesamt 2022 in den High-Tech-Sektor. Nur Indien, Großbritannien, China und die USA zogen weltweit mehr Venture-Kapital an.

    System von Drehtüren zwischen Armee und High-Tech-Sektor

    Portnoy macht kein Geheimnis daraus, dass die israelische Cyberabwehr auf Quellen kommerzieller Anbieter zurückgreift – die israelischen Nasdaq-Unternehmen Check Point und CyberArk dürften dazu zählen. Auch ihre CEOs, Gil Shwed und Udi Mokady, dienten einst in der Unit 8200 und setzen nun Milliarden um. Die High-Tech-Eliteeinheit gilt als Entwickler des Computerwurms Stuxnet, der 2010 Steuerungssysteme zur Uran-Anreicherung in iranischen Atomanlagen sabotierte. Der Malware-Angriff, zu dem sich Israel nie bekannt hat, markierte den Beginn der Cyberkriegsära.

    Portnoy wiederum macht das iranische Ministerium für Nachrichtenwesen (MOIS) für schwere Cyber-Angriffe in Israel verantwortlich – darunter den auf die Technion-Universität in Haifa im Februar und den auf ein Krankenhaus in Hadera 2021. “Für einige Leute im iranischen Geheimdienstministerium gehört es zum Alltag, das Leben von Zivilisten in aller Welt zu schädigen”, so Portnoy.

    Neben Mojtaba Mostafavi und Farzin Karimi in Teheran zähle auch Ali Haidari dazu, der in Beirut “die iranische Zusammenarbeit mit der Hisbollah koordiniert, um unschuldige libanesische Zivilisten im Cyberspace zu schädigen”. MuddyWaters nennt sich die Gruppe, die sich des Angriffs auf das Technion Anfang des Jahres bezichtigten, wie die Gruppe Darkbit mit dem Ministerium für Nachrichtenwesen in Teheran assoziiert.

    Generative KI als neue Waffe im Cyberkrieg

    Der Cyber-Abwehr dient auch ein vom Inlandsgeheimdienst Shin Bet entwickeltes System Generativer Künstlicher Intelligenz namens “Shabi” – dem neuesten Element in Israels Sicherheitsarchitektur, die Angriffe nicht nur aus dem Iran, sondern auch seiner arabischen Nachbarn seit 75 Jahren abwehrt. Das nun intensiver denn je im Cyber-Raum zu praktizieren, schafft das Land auch deshalb so erfolgreich, weil die Grenzen zwischen geheimdienstlichen, militärischen und kommerziellen Quellen verschwimmen, wenn es um Aufklärung und Abwehr in der vierten Dimension geht.

    So haben sich neben Microsoft, Google, dem israelischen Rüstungskonzern Elbit und der Deutschen Telekom achtzig weitere Firmen in Ber Sheva niedergelassen – direkt neben einem Stützpunkt von 1.000 Soldaten, der bis 2026 auf 14.000 Kräfte anwachsen soll. 6.000 davon bilden den Nukleus eines Cyber-Abwehr-Hubs, der die IDF für den Cyberkrieg der Zukunft rüsten soll.

    Die Abraham-Abkommen ordnen den Nahen Osten neu

    Dazu zählt auch die enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), die seit Abschluss der Abraham-Abkommen 2020 wie Marokko und Bahrain diplomatische Beziehungen zu Israel unterhalten. Eine “multinationale Cyber-Kooperationsplattform” sei im Aufbau, bekräftigt Portnoys Counterpart aus Abu Dhabi, Mohammed al-Kuwaiti. Im Juni war der Cyber-Security-Chef der Emirate Gast auf der Cyber Week in Tel Aviv – und saß gemeinsam mit dem Direktor des israelischen Inlandsgeheimdienstes, Ronen Bar, auf einem Panel. Vor Abschluss der Abraham-Abkommen wäre das undenkbar gewesen.

    Das Interesse der Emirate an Israels Cyber-Ökosystem kommt nicht von ungefähr. Allein die Angriffe auf Firmen in der vis-à-vis zur iranischen Küste gelegenen Petrodollarmonarchie stiegen im vergangenen Jahr um mehr als dreißig Prozent – und liegen damit im weltweiten Trend. Das Know-How der Cyber-Nation Israel zu nutzen, ist denn auch ausdrückliches Ziel der Führung in Abu Dhabi. Es gehe darum, die Abraham-Abkommen “über die Beziehung zwischen Regierungen hinaus” weiterzuentwickeln, um “neu aufkommende Bedrohungen für die VAE und Israel” gemeinsam zu adressieren, sagt Cyber-Security-Chef al-Kuwaiti. Als “gute Grundlage für einen regionalen Cyber-Verteidigungspakt” bezeichnet auch Shin-Bet-Direktor Bar die Abkommen.

    Reservisten der Cyber-Eliteeinheit Unit 8200 verweigern den Dienst

    Allerdings fürchten zahlreiche frühere israelische Geheimdienstchefs sowie hochrangige Armee-Offizielle die größte Bedrohung zur Zeit vor allem im Innern. Aus Protest gegen die von Ministerpräsident Netanjahus rechtsreligiöser Regierung geplanten Beschränkungen der Judikative kündigten zudem fünfzig Reserveoffiziere der Cyberspionageeinheit 8200 vergangene Woche an, Aufrufen zu Reserveübungen nicht mehr zu folgen. In Eliteeinheiten der Armee versorgen die Reservisten die Soldaten unter anderem mit Aufklärungsergebnissen in Echtzeit.

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    Deutschlands neuer Botschafter in Russland: “Wichtig, bestimmte Foren zu erhalten”

    Außenministerin Annalena Baerbock und ihr bald wichtigster Mann in Moskau: Alexander Graf Lambsdorff.

    Herr Lambsdorff, Russland hat vor kurzem Dutzende deutsche Diplomaten ausgewiesen, es muss drei Konsulate schließen. Dass Sie nun in wenigen Tagen als deutscher Botschafter in Moskau anfangen, ist das trotzdem ein positives Zeichen für deutsch-russische Beziehungen?

    Deutschland und Russland haben auch in schwierigsten Zeiten diplomatische Beziehungen zueinander unterhalten, weil das eine Stabilisierung bestimmter Gesprächskanäle mit sich bringt. Und die sind gerade dann wichtig, wenn die Spannungen so sind wie im Moment. Insofern können Sie das als positives Zeichen sehen.

    Gibt es denn noch gute Gesprächskanäle? Es wird doch eher darüber diskutiert, Russland etwa aus der OSZE auszuschließen. Damit würden direkte Gespräche noch seltener werden.

    Es ist einfach wichtig, einander auch in einer schwierigen Lage zu verstehen, die Politik des jeweiligen Gegenübers zu analysieren und die Regierung zu Hause darüber zu unterrichten. Was die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen angeht, gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. Persönlich glaube ich, dass es wichtig ist, bestimmte Foren zu erhalten, in denen auch Vertreter Russlands ihren Platz haben. Aber dass andere Länder dies anders sehen können, kann ich nachvollziehen.

    Was kann die Bundesregierung tun, um den Krieg in der Ukraine möglichst schnell zu beenden?

    Derzeit geht es darum, gemeinsam mit den Verbündeten in der Europäischen Union und der Nato der Ukraine weiter in ihrem legitimen Recht auf Selbstverteidigung zu helfen, mit dem Ziel, dass Russland von seiner militärischen Aggression ablässt. Das wird in der breiten demokratischen Mitte auch von allen so gesehen, die Union trägt das als größte Oppositionskraft ja mit.

    Was bedeutet es Ihrer Meinung nach, dass Russlands Präsident Wladimir Putin nun doch nicht zum BRICS-Staaten-Treffen nach Südafrika reist?

    Ich kann über die Motive von Präsident Putin nicht spekulieren. Wir wissen aber aus Äußerungen der südafrikanischen Regierung, dass es in ihren Augen eine ausgesprochen heikle Situation war. Und allein die Tatsache, dass man dort das Römische Statut hochhält, zeigt, dass die regelbasierte Ordnung da, wo sie noch funktioniert, Wirkung entfaltet. Und wir als Deutsche haben jedes Interesse daran, genau diese regelbasierte Ordnung zu verteidigen, zu stützen und da, wo sie verletzt worden ist, wiederherzustellen. Das ist für uns als tief in Europa integriertes, global exportorientiertes Land mit begrenzten militärischen Mitteln absolut zentral.

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    Nato-Kriegsschiffe für Getreidekonvois? Nicht nur Vertrag von Montreux setzt Grenzen

    Zu den prominentesten Stimmen, die eine Nato-Absicherung für die Getreideexporte aus ukrainischen Häfen befürworten, gehört der ehemalige US-Admiral James Stavridis. Der frühere Nato-Oberbefehlshaber plädierte auf Twitter mehrfach für eine solche Absicherung, auch unter Beteiligung von US-Kriegsschiffen. Dabei, so argumentierte der Marineoffizier, sei letztendlich auch der Vertrag von Montreux kein Hinderungsgrund.

    Das Abkommen von 1936, eine Spätfolge des Ersten Weltkriegs, garantiert der Türkei die Kontrolle über die Dardanellen und den Bosporus und damit den Zugang vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer und letztendlich zu den Ozeanen. Insbesondere die Durchfahrt von Kriegsschiffen ist danach reglementiert. Schon in normalen Zeiten dürfen Marinen von Staaten, die nicht Anlieger des Schwarzen Meeres sind, nur in begrenztem Umfang und für maximal 21 Tage in das Binnenmeer einfahren. In Kriegszeiten kann die türkische Regierung, auch und gerade wenn die Türkei nicht am Krieg beteiligt ist, die Passage für Kriegsschiffe von Nicht-Anliegerstaaten komplett sperren – und hat davon im vergangenen Jahr auch Gebrauch gemacht.

    Handelsschiffe mit militärischem Gerät sind zulässige militärische Ziele

    Solange die Türkei auf Einhaltung der Konvention besteht, ist damit mehr als unwahrscheinlich, dass außer den drei Anrainerstaaten Türkei, Rumänien und Bulgarien Nato-Mitglieder eine militärische Eskorte für Getreidefrachter ins Schwarze Meer schicken können. Doch selbst wenn nur Kriegsschiffe dieser drei Staaten
    Getreidekonvois begleiten wollten, wäre das nicht unproblematisch.

    Der Befehlshaber eines solchen so genannten neutralen Geleitzuges müsse zum Beispiel den Kriegsparteien garantieren, dass die Frachter nicht zum Transport von militärischem Gerät genutzt werden, erläutert der Seerechtler Wolff Heintschel von Heinegg von der Europa-Universtität Viadrina in Frankfurt/Oder. Wenn Handelsschiffe solche Ladung an Bord hätten, “dann sind sie zulässige militärische Ziele. Dann hilft auch der
    Geleitzug nicht mehr”. Anderenfalls würden die begleitenden Kriegsschiffe und ihre Flaggenstaaten sehr schnell zur Konfliktpartei.

    Russland greift bisher vor allem Infrastruktur an

    Russland habe zudem nach dem Kriegsvölkerrecht die Möglichkeit, selbst zu prüfen, ob die Frachter mit Waffen oder Munition beladen sind: “Das ist das Recht der kriegführenden Parteien, jederzeit auch neutrale
    Handelsschiffe zu inspizieren”, sagt Heinegg im Gespräch mit Table.Media.

    Dass und wie Russland dieses Recht nutzen könnte, zeigte sich bereits am Montag. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB habe auf einem Getreidefrachter, der zuvor auch die Ukraine angelaufen hatte, Spuren von militärischem Sprengstoff entdeckt, meldete die Nachrichtenagentur TASS. “Die Umstände deuten darauf hin, dass möglicherweise ein fremdes Handelsschiff benutzt wurde, um Sprengmittel auf ukrainisches Gebiet zu bringen.”

    Bislang sieht es allerdings danach aus, dass Russland weniger zur See aktiv wird, sondern in ukrainischen Hafenstädten die Infrastruktur zur Verschiffung von Getreide angreift. Nachdem in den vergangenen Tagen mehrfach solche Einrichtungen in Odessa das Ziel von Luftangriffen waren, wurden in der Nacht zum Montag auch die Verladeeinrichtungen eines Donauhafens attackiert, wie das ukrainische Verteidigungsministerium mitteilte.

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    Russland will von der Ernährungskrise profitieren

    Vom Krieg ohnehin schon gebeutelt, trifft der geplatzte Grain Deal, die auf Export angewiesene ukrainische Landwirtschaft bis ins Mark. “Unserer Branche geht langsam das Geld aus”, sagt Alex Lissitsa, Chef der Agrar-Unternehmensgruppe IMC, der jetzt mit sinkenden Preisen für ukrainisches Getreide und steigenden Logistikkosten rechnet. “Der Erlös beim Verkauf von Winterweizen deckt noch nicht einmal die Produktionskosten”, sagt Lissitsa, der mehr als 100.000 Hektar Land in Sumy im Nordosten der Ukraine bewirtschaftet. Russland hingegen – ebenfalls globaler Getreideexporteur – gerät in die komfortable Lage, Weizen auf dem Weltmarkt zu höheren Preisen exportieren zu können.  

    Die Vereinten Nationen, aber auch China, kritisierten Putin für das Aussetzen des Abkommens. Sie befürchten Hungersnöte, insbesondere in Afrika. Die Führung in Peking forderte Putin explizit auf, die Ausfuhren ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer wieder zuzulassen. Putin rechtfertigt den Stopp des Abkommens damit, dass sowieso nur ein geringer Teil der Ernte-Exporte armen Staaten im Rest der Welt zugutekämen. Russland habe kein Interesse daran, ukrainisches Getreide auf den Weltmarkt kommen zu lassen, sagt Tobias Heidland, Direktor für Internationale Entwicklung am Kieler Institut für Weltwirtschaft, im Interview mit Africa.Table. Dieses Geschäft wolle Putin selbst machen und er wolle diplomatisch von der Lebensmittel- und Düngemittelkrise profitieren.

    Beide Länder haben nach Ende des Getreideabkommens erklärt, Schiffe, die die Häfen des anderen Landes anlaufen, als potenzielle Träger militärischer Fracht zu betrachten. Aktuell sieht es so aus, als schade sich Putin auch selbst. Deutlich weniger Schiffe steuern russische Häfen an. Dennoch erklärt Putin, Russland sei mit Blick auf eine Rekordernte bereit, ukrainische Getreidelieferungen zu ersetzen. Sollte der Weizenexport der Ukraine und Russlands über einen längeren Zeitraum beeinträchtigt werden, würde das zu einem massiven Angebotsdefizit auf dem Weltmarkt führen, analysiert der Börsenmakler Kaack Terminhandel.

    Ernte auf Hochtouren: Putin wählt Zeitpunkt geschickt

    Aktuell wird Weizen, Raps und Gerste in der Ukraine gedroschen. “Niemand weiß, ob wir unsere Ernte in diesem Jahr überhaupt noch verkaufen können”, sagt Lissitsa. Die ukrainische Landwirtschaft sorge für bis zu 70 Prozent der Exporteinnahmen des Landes. “Die Russen treffen damit gezielt unsere Wirtschaft.” Der Unternehmer zweifelt, ob in dieser Saison noch Ware über den Schwarzmeerhafen Odessa transportiert werden wird. Durch die russische Bombardierung ist es zu riskant für Reedereien ihre Schiffe dorthin zu schicken. Sein Unternehmen ist direkt betroffen. Weizen und Mais im Wert von rund 10 Millionen Euro lagert am Schwarzen Meer ohne Aussicht, die Ware zurückzubekommen. “Wir brauchen das Geld dringend, um im September Winterweizen säen zu können.” Hinzukommt, dass ab Oktober Lagerkapazitäten für die Ernte von Mais, Sojabohnen und Sonnenblumenkernen gebraucht werden.

    Nun will die EU die Kapazitäten auf den alternativen Routen erhöhen. Zu denen gehören: Transporte über Flüsse, mit Güterzügen, Lastwagen. Seit die sogenannten Solidarity Lanes im Mai 2022 ihre Arbeit aufgenommen haben, wurden 41 Millionen Tonnen Getreide, Öle und andere Agrarprodukte über die alternativen Routen aus der Ukraine ausgeführt. Beim Getreide macht das 60 Prozent aus, 40 Prozent des gesamten exportierten Getreides gingen über die Schwarzmeer-Initiative. Das zeigen neue Daten der EU-Kommission.

    Alternative Routen sind kein Ersatz

    Bezüglich der Transportroute über die Donau zum rumänischen Hafen Constanza ist Lissitsa wenig optimistisch: “Kollegen, die Getreideterminals an der Donau besitzen, rechnen in den kommenden Sommermonaten mit Niedrigwasser.” Komplikationen gibt es nach wie vor an der westlichen Grenze zu Polen und Ungarn. Bis zum 15. September gestattet die EU lediglich den Transit von vier landwirtschaftlichen Erzeugnissen (Weizen, Mais, Rapssamen und Sonnenblumenkernen) durch fünf osteuropäische EU-Mitgliedstaaten. Neben Polen und Ungarn betrifft dies auch Bulgarien, Rumänien und die Slowakei. Bislang halten diese Staaten an einem Importverbot fest. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki sagte, man wolle weiterhin eine Destabilisierung des Marktes verhindern.

    Die Solidarity Lanes sind jedoch nicht nur für den Export wichtig, sie stellen die einzigen Wege für den Import von Hilfsgütern dar. Die EU baut bessere Verbindungsmöglichkeiten zwischen Polen und der Ukraine sowie zwischen Rumänien und der Republik Moldau aus, neben Straßen- geht es auch um Schienenverbindungen. Insgesamt seien in das Solidaritätsverkehrsprogramm gut eine Milliarde Euro investiert worden, so die EU-Kommission.

    Schnell umsetzen lassen sich die Infrastrukturprogramme aber nicht. Hinzu kommen andere Schwierigkeiten, wie etwa der Mangel an Getreidewaggons in Europa. Flüsse lassen sich auch nicht so schnell ausbaggern, um größere Transportschiffe einzusetzen und auch die Zahl der Lastwagen, Lastwagenfahrer sowie der Straßenkapazitäten ist begrenzt. Russland blockiert also die effektivste Exportmöglichkeit der Ukraine und schneidet die Ukraine von etwa 8 bis 9 Milliarden US-Dollar an Einnahmen ab, während russische Exporteure höhere Preise erzielen und Russland damit auch höhere Einnahmen generieren kann.

    Fortsetzung bleibt ungewiss

    Ob der Grain Deal wieder aktiviert oder neu verhandelt werden kann – da gehen die Meinungen auseinander. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sagte noch vor der offiziellen Verkündung aus Moskau für das Ende des Abkommens: die Initiative sei “Geschichte”. Auch deutsche regierungsnahe Kreise sind eher skeptisch, dass es eine Fortsetzung gibt.

    Moskau hat in der Erklärung nicht ausgeschlossen, dass es eine Zukunft für die Schwarzmeer-Initiative geben kann. Seit dem verkündeten Ende zerstört es aber systematisch den Hafen von Odessa – einen der drei ukrainischen Exporthäfen der Initiative. Die Wirtschaftsanalystin Alexandra Prokopenko, die nach dem Verlassen Russlands 2022 nun am Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin forscht, sieht noch nicht das endgültige Ende für das Abkommen gekommen und verweist auf die Abhängigkeit des russischen Präsidenten Putin von der Türkei. Putin werde im August Erdogan treffen und sicher auch über das Getreide-Abkommen sprechen, schreibt sie in einer Analyse.

    Vor dem Treffen mit Erdogan findet in dieser Woche am Donnerstag und Freitag das Russia-Africa-Economic-Forum in St. Petersburg statt und knapp vier Wochen später das BRICS-Treffen im südafrikanischen Johannesburg. Putin werde diese Treffen nutzen und die Ukraine sowie den Westen für das Ende des Grain Deals verantwortlich machen, vermuten deutsche Diplomaten. Auch wenn er angekündigt hat, nicht nach Südafrika reisen zu wollen. Zugleich sei das auch eine Chance für ihn, sich vielleicht als ein Gönner zu präsentieren und afrikanischen Staaten eigene Hilfe anzubieten. Immerhin hat Russland im vergangenen Jahr Rekordernten eingefahren.

    Auf verpasste Chancen der Politik weist Rafaël Schneider von der Welthungerhilfe hin. Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock geißelten Putin zwar zu Recht dafür, Hunger als Kriegswaffe einzusetzen. Dies gelinge ihm aber nur, weil Zusagen der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union, die landwirtschaftliche Erzeugung in von Hunger betroffenen Ländern zu fördern, in der Vergangenheit nicht umgesetzt worden seien. Stattdessen sei die Importabhängigkeit in Teilen Afrikas – nicht nur aus der Ukraine, sondern vor allem auch aus Russland, Frankreich, den USA, Kanada und Argentinien – stetig gewachsen.

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    News

    Russland erhöht Alter für Wehrpflichtige auf 30

    In Russland soll die Altersspanne zur Einberufung von Männern zum Wehrdienst um drei Jahre ausgedehnt werden. Entgegen den Ankündigungen, die bisherige Altersspanne von 18 bis 27 Jahre auf 21 bis 30 Jahre zu verschieben, soll nur die Obergrenze angehoben werden. Das kündigte am vergangenen Freitag der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in der Duma, Andrej Kartapolow, an. Auf diese Weise stünden dem russischen Militär mehr Männer zur Verfügung. Erst kürzlich wurde zudem das Höchstalter für die Einberufung von Reservisten von 50 auf 55 Jahre angehoben.

    Nach den jüngsten verfügbaren amtlichen Zahlen lebten am 1. Januar 2022 rund 10,1 Millionen Männer in der Altersgruppe von 18 bis 30 Jahre in Russland. Seit Kriegsbeginn und nach der Ausrufung der Mobilmachung vergangenes Jahr sind aber Hunderttausende aus dem Land geflohen.

    Der Grund für die geplanten Änderungen ist die demografische Entwicklung der 1990er Jahre, als die Geburtenzahlen zurückgingen und es relativ einfach war, sich vom Wehrdienst freizukaufen. Wird die Altersgrenze auf 30 angehoben, könnte das Militär noch mehrere Jahrgänge einziehen, die bisher davongekommen waren. In den 2000er Jahren stieg zwar die Zahl der Geburten, doch seit 2018 sinkt sie wieder und erreichte zuletzt so schlechte Werte wie seit mehr als 20 Jahren nicht mehr. Dies könnte eine Folge der ökonomisch angespannteren Lage infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine 2014 und der Krim-Annexion sowie der Sanktionen des Westens sein. vf

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    • Ukraine-Krieg

    Liebe Beschäftigte in Bundesministerien und obersten Bundesbehörden, Ihre Vorgesetzten (von denen viele China.Table Professional Briefing lesen) fordern in der neuen China-Strategie: “Die China-Kompetenz in der Bundesregierung muss gestärkt werden”. Wir laden Sie ein, so gut informiert zu sein wie Ihre Vorgesetzten. Lernen Sie China.Table Professional Briefing jetzt auch kennen: Zum kostenlosen Test

    Presseschau

    Politico – MI6 chief Richard Moore on Ukraine and the future of intelligence gathering. Bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr hat sich der Chef des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 an die Öffentlichkeit gewandt. Bei einer Rede in der britischen Botschaft in Prag forderte Richard Moore russische Bürger zum Verrat auf – und verriet, weshalb der “menschliche Faktor” im Zeitalter künstlicher Intelligenz an Bedeutung nichts einbüße.

    Crisis Group – Paving the Way to Talks on Western Sahara. Infolge der Abraham-Abkommen erkennt Israel Marokkos Anspruch auf die Westsahara an. Seit Ende 2020 haben Vermittler allerdings Probleme, Friedensverhandlungen zwischen Marokko und den Unabhängigkeitskämpfern zu organisieren. Ausführliche Chronik des Konflikts. Ohne ein stärkeres Engagement der USA könne die Situation eskalieren, sagt Autor Riccardo Fabiani.

    Frankfurter Allgemeine Zeitung – Militärexperte Gady an der Front (Podcast). Franz-Stefan Gady vom Institute for International Strategic Studies (IISS) sieht nach seinem Besuch im ukrainischen Kriegsgebiet die Schwächen der Ukrainer vor allem im Gefecht der verbundenen Waffen. Er prognostiziert eine lange Offensive und vermutet, dass die Ukraine sich an einer Stelle durcharbeiten wird. 33 Minuten.

    Ares – Russia’s War Against Ukraine: A New Impetus for the Harmonisation of European Arms Export Policies? Deutschland, Frankreich und Schweden haben unterschiedliche Einstellungen zu Rüstungsexporten. Wissenschaftler aus den drei Ländern blicken auf die verschiedenen Exportgesetze, die Interessen auf europäischem Niveau und wo Konfliktlinien liegen. In Frankreich hat die Rüstungsindustrie nicht nur eine sicherheitspolitische Funktion.

    Table.Media – “Dann hat China die Macht über den Weltraum”. Der Westen habe einen strategischen Fehler begangen, indem er den Weltraum vernachlässige, sagt Niklas Schörnig vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). China habe bei seinen Investitionen im Weltall die meisten Länder abgehängt und schließe zu den USA auf. Die Verknüpfung des chinesischen Weltraumprogramms mit dem Militär sei sehr eng.

    Standpunkt

    Friedensmissionen neu denken

    Von Karamba Diaby
    Karamba Diaby ist Vorsitzender der Parlamentariergruppe Westafrika und leitet den Gesprächskreis Afrika der SPD-Bundestagsfraktion. Er ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss.

    Im Juni forderte der malische Außenminister Abdoulaye Diop den Abzug aller Minusma-Einsatzkräfte aus dem Land. Am 30. Juni 2023 wurde das Mandat im UN-Sicherheitsrat endgültig beendet. Fortwährend werden außerdem Forderungen nach einem sofortigen Abzug der Bundeswehr laut – ohne jedoch alternative Perspektiven aufzuweisen. Was in der Debatte vollends fehlt, sind die Wünsche der Menschen in Mali selbst. Diese müssen für unser künftiges Engagement zielweisend sein.

    Das Ende von Minusma ist ein weiterer Fall von UN-Friedensmissionen auf dem afrikanischen Kontinent, die hinter den Erwartungen der Regierungen, aber auch der lokalen Bevölkerung, zurückbleiben. Ein weiteres prominentes Beispiel ist in der Demokratischen Republik Kongo die Monusco, vor deren Quartieren es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kam.

    Obwohl afrikanische Staaten in diesen Missionen fast zwei Drittel des Personals stellen, werden die UN vielerorts mit “dem Westen” gleichgesetzt. Dieser macht sich in den Augen afrikanischer Akteure unglaubwürdig, wenn in einem Kontext Machtwechsel mit Sanktionen belegt und in einem anderen weggesehen wird – wie zuletzt im Tschad.

    UN-Blauhelme verlieren Vertrauen

    Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Missbrauch durch UN-Blauhelme tragen zum Vertrauensverlust bei. Auch können die Missionen ihren Hauptauftrag, die Zivilbevölkerung zu schützen, nicht nachhaltig erfüllen. Dabei hat kein anderer Kontinent vergleichbar viele UN-Einsätze gesehen. In sechs Staaten sind die UN derzeit engagiert. Die eng abgesteckten Mandate und die sich dynamisch ändernde Gewalt vor Ort erschweren jedoch den effektiven Schutz der Zivilbevölkerung.

    Nicht grundlos fordert UN-Generalsekretär Guterres also eine neue Generation von Friedenseinsätzen. Wie könnte diese aussehen? Zum einen sollte die lokale und regionale Friedensarbeit im Fokus stehen. Friedensvermittlungsstrategien müssen auf die Vielfalt der bewaffneten Akteure und ihrer unterschiedlichen Agenden zugeschnitten werden sowie die Verstrickungen von nationaler und lokaler Politik berücksichtigen.

    Dafür ist die Teilhabe der Zivilbevölkerung und inklusive, gemeindebasierte Mediation essenziell. Ziel der Friedensmissionen muss es weiterhin sein, politische Rahmenbedingungen für mehr zivile, demokratische Mitbestimmung zu unterstützen. Nur so kann nachhaltiges Vertrauen in staatliche Strukturen entstehen.

    Regionale Organisationen in Afrika einbeziehen

    Zum anderen sollten die Strategien der afrikanischen Regionalorganisationen Richtschnur für künftige Friedensmissionen sein. Dazu zählen die Afrikanische Union, die Afrikanische Entwicklungsbank und in Westafrika die Ecowas wie auch die Accra-Initiative. Diese gestalten schon längst die Friedens- und Sicherheitsarchitektur mit.

    Die zunehmende Komplexität grenzüberschreitender Konflikte kann aufgrund der geografischen Nähe am besten durch regionale Diplomatie angegangen werden. Vorteil afrikanisch geführter Missionen ist außerdem ein grundlegendes Verständnis der lokalen Gegebenheiten. Ein Beispiel ist die Weiterentwicklung des “umuganda”-Konzepts aus Ruanda, welches auf umfassende Gemeindearbeit und Ausbildung in kürzlich befriedeten Gebieten setzt.

    Doch es reicht nicht allein, mehr Verantwortung an die Regionalorganisationen abzugeben. Dort, wo es gewünscht ist, muss sich Deutschland weiter engagieren. So ist der Vorsitz von Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze bei der Sahel-Allianz in diesem Jahr ein wichtiger Schritt.

    Wenn afrikanische Friedensmissionen nachhaltig Erfolg haben sollen, müssen die deutsche sowie die multilaterale Zusammenarbeit finanziell und logistisch robust bleiben, wie es auch Henrik Maihack (Friedrich-Ebert-Stiftung) fordert. Eine mangelhafte Finanzierung wie bei der AU-Mission in Somalia darf sich so nicht wiederholen. Denn fest steht: Friedensmissionen sichern auch unseren humanitären und entwicklungspolitischen Einsatz vor Ort ab.

    Dr. Karamba Diaby, 1961 in Marsassoum (Senegal) geboren, ist seit 2013 Bundestagsabgeordneter. Er vertritt direkt gewählt den Wahlkreis 72 – Halle (Saale). Er ist im Fraktionsvorstand der SPD und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie im Unterausschuss Globale Gesundheit. Zudem ist er Vorsitzender der Parlamentariergruppe Westafrika und leitet den Gesprächskreis Afrika der SPD-Bundestagsfraktion.

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    Security.Table Redaktion

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