Angst scheint kein deutsches Alleinstellungsmerkmal mehr zu sein. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die heute erscheint und die Table.Media exklusiv vorliegt, zeigt, dass die Deutschen sich weniger vor einem Krieg im eigenen Land sorgen, als Franzosen, Polen und Letten. Die German Angst sei zwar da, schreibt mein Kollege Viktor Funk, “aber nicht so stark wie in den anderen Staaten”.
Von Angst hat sich Pawel Latuschka, ehemaliger Kulturminister in Belarus, in den vergangenen zwei Jahren nicht leiten lassen. 2020 verließ er das Land, nachdem er sich auf die Seite der Opposition gestellt hatte. Im Interview fordert er härtere Sanktionen gegen den Diktator Lukaschenko und schildert, wie der belarussische Machthaber russischen Truppen hilft.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan steht derweil zwischen den Stühlen – und gefällt sich in der Rolle des Vermittlers zwischen dem Westen und Russland. Sein Standing verbessert sich außenpolitisch und bei den türkischen Wählerinnen und Wählern, die ihn bei den Wahlen im Mai vor einem Korruptionsprozess retten sollen. Frank Nordhausen hat recherchiert, wie Erdoğan den Krieg in der Ukraine für sich nutzt.
In Europa ordnen sich die Machtverhältnisse neu. Die estnische Wissenschaftlerin Kadri Liik vom European Council on Foreign Relations blickt auf die Rollen der europäischen Staaten und Koalitionen, die sich seit Kriegsbeginn gefunden haben.
Wenn Ihnen der Security.Table gefällt, leiten Sie uns bitte weiter. Und wenn Ihnen diese Mail zugeleitet wurde: Hier können Sie sich für das Security-Briefing und weitere Themen anmelden.
Ich wünsche eine gute Lektüre
Angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine ist in Deutschland die Angst vor Kriegen und anderen Konflikten innerhalb von zwölf Monaten deutlich gestiegen. Fürchteten sich im September/Oktober 2021 noch 47 Prozent der Befragten vor kriegerischen Konflikten, die Deutschland betreffen würden, lag der Wert ein Jahr später bei 69 Prozent. Dieser Sprung um 22 Prozentpunkte ist der stärkste im Vergleich zu den Entwicklungen in Frankreich, Polen und Lettland.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hatte in den vier EU-Staaten im September-Oktober 2021 und im gleichen Zeitraum 2022 online in repräsentativen Umfragen jeweils etwas mehr als 2.000 Personen in jedem Land befragen lassen, in Deutschland 2.013 Personen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen liegen Table.Media exklusiv vor. In allen Staaten ist die Angst vor Kriegen gestiegen, ebenso die Sorge, dass ein Krieg nuklear eskalieren könnte, wie aus den Daten hervorgeht.
Überraschend sei jedoch, dass der Wert in Deutschland sich von anderen unterscheide, sagt Christos Katsioulis, der das FES-Büro in Wien leitet. Sein Team verantwortet die Umfrage. Trotz des starken Anstiegs in Deutschlands sei es der niedrigste Wert im Vergleich mit den anderen Staaten.
Während im Herbst 2022 in Deutschland 69 Prozent der Befragten der Aussage zustimmten “Ich befürchte, dass Kriege und andere Konflikte in Zukunft mein Land betreffen werden”, waren es in Frankreich 74, in Lettland 83 und in Polen 84 Prozent der Befragten. Die German Angst ist da, aber nicht so stark wie in den anderen Staaten.
Auch die Angst vor einer nuklearen Eskalation ist in Deutschland mit 55 Prozent der Befragten am niedrigsten. Sie liegt bei Anhängern der SPD, der Grünen, der CDU und der Linken zwischen 58 und 60 Prozent, bei der AfD sind es 48 Prozent und bei der FDP 45 Prozent der Befragten.
“Die Umfrage vom vergangenen Herbst fiel in eine Zeit, als in Deutschland die von Russland geäußerte atomare Drohung relativiert wurde”, sagt Katsioulis. “Das könnte eine mögliche Erklärung für den Wert sein.” In der FES-Auswertung heißt es dazu: “Der deutsche ,Sonderweg’ bei der Frage nuklearer Eskalation verdeutlicht zwar die Effekte, die spezifisch nationale Diskurse auf die Stimmung der Bevölkerung haben können. Allerdings besteht die Gefahr, dass sich hier ein medialer Diskurs politisch verselbstständigt und das Herunterreden nuklearer Gefahren zum Trend wird, während bei den europäischen Nachbarn die Sorgen deutlich ausgeprägter sind.”
Gefragt nach der Wahrscheinlichkeit eines direkten Krieges mit Russland sagten in Lettland 61 Prozent der Befragten, dass sie es für möglich hielten. In Polen sind es 58 Prozent, Frankreich 50, Deutschland 48 Prozent.
Die gesamte Stimmungslage in Deutschland fasst Katsioulis mit den Worten zusammen: “Die Angst ist zurück in der Bevölkerung.” Nötig sei deshalb eine regelmäßige und transparente Kommunikation aus der Politik, auch wenn das im “Nebel des Krieges” schwierig sei.
“Wir müssen diese Ängste ernst nehmen, ohne uns davon lähmen zu lassen. Es ist nötig zu erklären, warum uns die derzeitige Situation Entscheidungen abverlangt, die wir bis dato als außenpolitische Tabubrüche eingestuft hätten.”
Herr Latuschka, in deutschen Medien taucht Belarus nur noch im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine auf, die Arbeit der belarussischen Opposition findet kaum noch Beachtung. Erhalten Sie wenigstens von der europäischen Politik noch Aufmerksamkeit?
Ich denke, dass unsere westlichen Partner gerade einen Fehler begehen. Sie beschäftigen sie nicht ausreichend mit der Rolle des Diktators Lukaschenko und der geografischen Lage von Belarus im Bezug auf die Entwicklung des russischen Krieges gegen die Ukraine. Dadurch kann die Sicherheitsfrage für Europa insgesamt nicht gelöst werden.
Was genau meinen Sie?
Stellen wir uns nur mal vor, dass im Jahr 2020 demokratische Kräfte in Belarus gesiegt hätten. Hätte Putin dann einen Krieg gegen die Ukraine entfachen können? Die Chancen dafür wären deutlich kleiner gewesen. Hätten wir im Februar letzten Jahres einen massiven Angriff der russischen Armee von Belarus aus auf Kiew erwartet? Nein, das wäre unmöglich gewesen. Wenn also unsere westlichen Partner der Rolle des Diktators Lukaschenko im Krieg in der Ukraine nicht genügend Aufmerksamkeit widmen, erschwert das die Lösung der Situation. Natürlich sind die Menschen in Belarus selbst verantwortlich für die Veränderungen im Land. Aber wir haben auch Erwartungen an die EU.
Was fehlt Ihnen?
Wir merken, dass im Westen die Bereitschaft gesunken ist, die Möglichkeiten, die es gegenüber Lukaschenko gibt, zu nutzen. Dazu gehört als erstes eine genaue Analyse der Rolle Lukaschenkos im Krieg in der Ukraine und als Gefahr für die Sicherheit der gesamten Region. Auf dieser Grundlage muss eine Handlungsstrategie entwickelt werden, unter Berücksichtigung des Übergangskabinetts von Belarus unter dem Vorsitz von Swetlana Tichanowskaja. Doch wenn wir ehrlich sind, dann hat heute kein einziges Land der EU eine Belarus-Strategie.
Sie werben für härtere Sanktionen gegen Lukaschenko, die EU-Kommission hat darüber zumindest schon öffentlich gesprochen. Würden härtere Sanktionen Lukaschenko nicht noch weiter in die Arme Putins treiben?
Diese Annahme ist ein Fehler. Sanktionen werden Lukaschenko nicht dazu verleiten, Putins Krieg noch aktiver zu unterstützen, weil Lukaschenko keinen Einmarsch belarussischer Streitkräfte in die Ukraine will. 90 bis 95 Prozent der Bevölkerung in Belarus sind gegen den Krieg. Verluste in der Ukraine würden Entwicklungen in Belarus führen, die Lukaschenko selbst fürchtet. Und das gilt übrigens auch für Putin. Aus demselben Grund will er gar nicht, dass belarussische Truppen eingreifen, weil die Probleme im inneren von Belarus auch Probleme für Russland bedeuten würden. Und Russland hat heute genug eigene Probleme. Sollte Russland aber dennoch mit seinen in Belarus konzertierten Kräften einen Angriff starten, wird Lukaschenko den Willen Moskau erfüllen.
Derzeit sieht es so aus, dass Lukaschenko wieder stabil auf seinem Thron sitzt.
Ja, weil in Europa die Aufmerksamkeit für ihn fehlt. Er nutzt das aus. Seit acht Monaten gibt es keine neuen Sanktionen gegen ihn. Er erhält Geld aus Russland. Er bereitet die Armee vor, falls sie in den Krieg mit der Ukraine geschickt wird. Er hilft den Russen bei Vorbereitungen der russischen Truppen in Belarus, er stellt Waffen für sie her, er verdient daran und am Schmuggel von Waren, die in Russland unter Sanktionen stehen. Er hat sich gut eingerichtet!
Welche konkreten Schritte im Umgang mit Lukaschenko schlagen Sie vor?
Wir arbeiten daran, das Protestpotenzial im Land zu erhöhen. Wir wollen eine Untergrundbewegung organisieren, damit sich die Ereignisse von 2020 und 2021 nicht wiederholen. Offen lässt sich in Belarus schon nichts mehr ausrichten, und die Motivation der Menschen für Protest sinkt. Zweitens müssen wir der Ukraine helfen. Schon heute gibt es drei belarussische Einheiten, die dort kämpfen. Und drittens brauchen wir eine internationale Agenda, die besagt, dass Belarus ein besetztes Land ist. Denn die russischen Truppen machen im Land, was sie wollen, Lukaschenko hat kaum Einfluss auf sie, wenn er ihn überhaupt noch hat. Außerdem sollten die Sanktionen viel härter sein und denen von Russland angepasst werden.
Es gibt offensichtlich Diskussionen in der EU über die Angleichung der Sanktionen gegen Belarus und Russland, Deutschland war da bisher zurückhaltend.
Ja, auch wir haben früher davon gehört. Wir versuchen unsere Partner in Berlin zu überzeugen, dass nur sehr harte und aktive Maßnahmen gegen Lukaschenko die Menschen in Belarus motivieren und ihnen Hoffnung geben können. Lukaschenko führt einen Krieg gegen das eigene Volk, er lässt Kritiker foltern. Es gibt mehr als 5.000 politische Gefangene im Land, sagt eine Reihe von Experten. Und wenn jemand dieses Interview im Internet likt, dann kann er dafür für drei Jahre ins Gefängnis kommen.
Sind Sie enttäuscht vom Verhalten der EU?
Meine persönliche Meinung ist nicht wichtig. Polen und Litauen unterstützen uns ja aktiv. Ich will die Situation auch nicht in Schwarz-Weiß malen, die EU als Ganzes hat ja Schritte unternommen. Mir ist nur wichtig zu betonen, dass es in Belarus sehr große Hoffnung auf die EU und besonders auf Deutschland gab. Wir haben eine Strategie aktiver Schritte.
Werden Sie von Politikerinnen und Politikern in Berlin gehört?
Ich hoffe, ich verärgere niemanden und sie empfangen mich auch wieder, nur bisher haben wir den Eindruck, dass wir eher Informationslieferanten sind. Wir bringen Ideen ein, legen Papiere vor, aber erhalten keine Reaktionen. Wir brauchen eine gemeinsame Arbeitsgruppe.
Wie würden Ihrer Meinung nach stärkere Sanktionen gegen Belarus wirken?
Vielleicht muss man eher fragen, was ist das stärkste Mittel gegen Russland? Das kann ich klar beantworten: die Abschaffung des Regimes von Lukaschenko. Das wären sozusagen die wirksamsten Sanktionen gegen Moskau. Ist so etwas realistisch? Manche sagen, nein. Sicher ist nur, dass es unrealistisch bleibt, wenn nichts versucht wird.
* Pawel Latuschka, 49, ist Vorsitzender der belarussischen Organisation National Anti-Crisis Management (NAU). Die Organisation arbeitet eng mit der Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja zusammen und kämpft vor allem in der EU um Unterstützung. Latuschka selbst verließ im September 2020 Belarus, nachdem der Druck auf ihn zugenommen hatte. Er hatte sich infolge der gefälschten Präsidentschaftswahl im August 2020 auf die Seite der Opposition gestellt.
Der türkische Dauerherrscher erfüllt einerseits die Nato-Verpflichtungen seines Landes und gleichzeitig stärkt er die Verbindungen mit Russland. Ohne die Türkei gäbe es das Getreideabkommen vom Juli 2022 nicht. Dafür erhielt die Türkei eine Art “Immunität” aus dem Westen, die es ihr erlaubt, Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit sanktionierten russischen Unternehmen aufzubauen. Kreml-Chef Wladimir Putin seinerseits benötigt Verbündete gegen die westlichen Sanktionen. Beide Autokraten versuchen, sich gegenseitig zu stützen.
Im Mai stehen in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Bei einer Niederlage drohen Erdoğan Korruptionsprozesse. Man könne davon ausgehen, dass “all seine derzeitigen Handlungen unter dem Primat der Wahlen stehen”, sagt Professor Burak Çopur, Politikwissenschaftler und Türkei-Experte aus Essen. Zwar brüskiert Erdoğans konfrontativer Umgang mit den Nato-Beitrittsanträgen von Schweden und Finnland das eigene Militärbündnis, befördert aber seine Umfragewerte in der Türkei.
Das sind die Fakten:
Neue Zürcher Zeitung – Helsinkis Bunker: Die Stadt unter der Stadt: Hervorragend illustriert zeigt der Artikel, wie unter Finnlands Hauptstadt Helsinki ein System aus Sport- und Freizeitanlagen ganz nebenbei den Schutz für die Bevölkerung in Kriegszeiten massiv erhöhen könnte.
Bayerischer Rundfunk – Mit Humor gegen die Diktatur: Die belarussischen Journalisten Maria Sawuschkina und Andrej Karalewitsch gründeten vor der Invasion Russlands den Satire-Kanal “ChinChinchannel” auf YouTube. Die Inhalte, so erklärt es Sawuschkina, “sollen die Absurdität der staatlichen Propaganda entlarven”. Sie erreichen damit ein Millionenpublikum. Inzwischen sind die beiden nach Berlin geflüchtet. 8 Minuten
RND-Podcast mit Chelsea Manning: Über Spionage in Zeiten sozialer Medien, ihr Leben und warum sie glaubt, dass Faktenchecker heute wichtiger sind als Spione. Außerdem sagt die ehemalige US-Soldatin und Whistleblowerin den Journalisten Steven Geyer und Andreas Niemann, was sie von den elektronischen Musikstücken des Bundesjustizministers Marco Buschmann hält.
Sky News – No new money for defence: Könnte Großbritannien die zugesagte Zahl an Truppen für die Nato stellen? Eher nicht. Und mehr Geld für Munition, Ausrüstung und Soldaten soll es auch nicht geben, berichtet die Journalistin Deborah Haynes.
The Wall Street Journal – China Aids Russia’s War in Ukraine, Trade Data Shows: Russland kann zwar eigenständig herkömmliche Waffen fertigen, braucht für moderne Waffen aber Hochtechnologie wie Halbleiter aus dem Ausland. Daten aus 84.000 Lieferungen zeigen, wie chinesische Rüstungsunternehmen Navigationsgeräte, Störsender und Teile für Kampfflugzeuge über die Türkei (siehe auch unsere Analyse) oder die Vereinigten Arabischen Emirate an sanktionierte russische Unternehmen liefern.
Obwohl geeint in der Verurteilung des Krieges, schien eine Teilung Europas nach Russlands Invasion am 24. Februar 2022 in der Ukraine in der praktischen Politik beinahe unvermeidlich: auf der einen Seite der risikobewusste Westen, auf der anderen der prinzipienorientierte Osten.
Die Spaltung blieb aus. Ein Jahr später mag es Meinungsverschiedenheiten und Debatten in den Mitgliedstaaten geben. Aber Europa ist keineswegs geteilt, noch viel weniger gelähmt: Die allgemeine politische Marschrichtung bleibt im Wesentlichen die gleiche. Differenzen reduzieren die Geschwindigkeit des Marsches, aber nicht die Richtung.
Allerdings: Europas Einheit scheint derzeit führerlos. Nach der Annexion der Krim war es Deutschland, das Europas Position vorgab und konsolidierte. Im Kontrast dazu tut sich aktuell kein Land als zentrale Macht hervor: Während Deutschland, Frankreich und Polen eine gewichtige Stimme auf dieser Position haben, wirkt keines der Länder wie die dominante Macht. Stattdessen ist die Verantwortung auf verschiedene Schultern in der EU verteilt, wobei die einzelnen Länder bei der Gestaltung der gemeinsamen Politik unterschiedliche Rollen spielen.
Deutschland wird zwar weiterhin von sechs Mitgliedstaaten als führende Macht in der EU angesehen, seine Attraktivität liegt heute allerdings nicht in seiner Macht als Lenker: Es wird nicht als Land gesehen, das vorausschauend denkt oder politische Prozesse maßgeblich beeinflusst.
Innerpolitische Debatten und gelegentlich holprige politische Findungsprozesse sind für alle nach außen hin sichtbar. Und obwohl das Berlin in den Augen vieler als Europas Zauderer wirken lässt, weckt es in vielen Ländern mit ähnlichen Debatten und/oder gegensätzlichen Ansichten über das gesamte politische Spektrum hinweg ein Gefühl der Verbundenheit. Sie erkennen sich wieder in Deutschland und das gibt Deutschland in ihren Augen Gewicht – wenn auch manchmal auf wackeligen Füßen.
Polen und die baltischen Länder beanspruchen für sich die “moralische Führung”. Eine Reihe von Ländern sehen ihre kompromisslose und maximalistische Haltung als einen Leuchtturm der perfekten prinzipienorientierten Position. Das lässt sich in der Politik allerdings nicht in eine wahre Führungsrolle übersetzen. Zum einen sind diese Länder nicht sehr erfahren in der Lenkung von EU-politischen Prozessen.
Es ist, wie ein polnischer Experte einmal selbst einräumte: “Wir sind sehr gut darin, unsere moralische Position zu formulieren, aber nicht sehr gut darin, herauszufinden, was wir tun müssen und welche Koalitionen wir bilden müssen, um Taten folgen zu lassen.”
Zum anderen kann die polnisch-baltische, maximalistische Haltung auch beängstigend wirken. Vor allem kleinere und weiter südlich gelegene Länder sehen darin eine Fokussierung auf die Bestrafung Russlands bei völliger Ignoranz der Interessen anderer Mitgliedstaaten. Sie sind der Ansicht, dass sie mit der Möglichkeit, Russland könnte eskalieren und die Nato in einen Krieg hineinziehen, leichtfertig umgehen.
Für diese Länder vermittelt wiederum die deutsche Zurückhaltung ein Gefühl von Vertrauen und Sicherheit. Sie haben das Gefühl, dass, wenn Berlin sich bewegt und seine Haltung gegenüber Russland verstärkt, dann können auch sie sich bewegen.
Frankreichs Position gegenüber Russland stand in gewisser Weise immer schon im Gegensatz zur deutschen und polnisch-baltischen. Für lange Zeit waren Deutschland, Polen und die baltischen Länder bestrebt, Russland zu ändern, zu demokratisieren, auch wenn sie dafür verschiedene Ansätze wählten. Wo Deutschland auf das Zuckerbrot des Handels und des Dialogs setzte, griffen Polen und die baltischen Länder zur Peitsche der Kritik.
Frankreich stattdessen akzeptierte Russland als das, was es ist: Der Westen kann Russland nicht ändern, sondern muss die Beziehung “managen”. Diese Position findet auch heute seine Anhänger, insbesondere im Süden Europas. “Die Betonung der Bedeutung des Multilateralismus und der Diplomatie bei gleichzeitiger Verurteilung Russlands für die Invasion” – diese Position, wie sie ein Wissenschaftler des ECFR zusammenfasste – macht Frankreich für eine Reihe von Ländern attraktiv, auch über die direkte Nachbarschaft hinaus.
Und dann gibt es in der EU auch eine Reihe von Zusammenschlüssen. Einige sind interessenbasiert: Da die Kosten des Krieges die Länder unterschiedlich stark treffen, bilden sich (vorübergehende) Koalitionen aus Staaten mit ähnlichen Interessen bei bestimmten Fragen.
Einige sind traditionell: So sind die großen Länder daran gewöhnt, sich regelmäßig untereinander auszutauschen, auch die nordisch-baltischen Länder und die Mittelmeerländer gleichen sich jeweils miteinander ab und führen ihre eigenen Diskussionen (wenn auch die Visegrád-Gruppe etwas gehindert ist durch Ungarns Außenseiterposition).
Aber es gibt auch ungewöhnliche Netzwerke: Österreich, Irland und Malta zum Beispiel versuchen gemeinsam herauszufinden, was eine angemessene Position für die formal neutralen, aber EU-orientierten Länder sein könnte. Gleichzeitig finden sich Finnland und Schweden – immer schon Partner – in enger Abstimmung zu einem gemeinsamen Nato-Beitritt. Tschechien und die Slowakei werden von verschiedenen Seiten gelobt, ihre, wenn auch geringen, militärischen und diplomatischen Ressourcen erstaunlich gut eingesetzt zu haben: zur Unterstützung der Ukraine, aber auch zur Überbrückung der Ost-West-Differenzen innerhalb der EU.
Und die EU als Ganzes übt eine starke Anziehungskraft aus: viele Länder, vor allem die weiter entfernt von Russland liegenden, erkennen an, dass sie sich – unabhängig von ihrer Meinung – am Ende immer der Mehrheit in der EU anschließen werden.
Zu guter Letzt spielen auch zwei außenstehende Mächte eine große Rolle im Formungsprozess der EU. Die eine ist die USA: Bidens Führungsrolle verdient Applaus aus unterschiedlichen Richtungen innerhalb der EU. Dem Ansatz der USA, die Unterstützung für die Ukraine mit vorsichtigem Eskalations-Management zu kombinieren, ist einer, dem sich fast alle EU-Mitgliedstaaten komfortabel anschließen können.
Die andere ist Russland: Russlands brutales, militärisches Verhalten in der Ukraine und Präsident Putins offensichtlicher Unwille, seine hegemonialen Kriegsziele zu überdenken, haben vielen potenziell verhandlungsbereiten Ländern die Argumente entzogen. Und es hat dazu beigetragen, dass die Unterstützung der Ukraine zum wichtigsten, wenn nicht gar zum einzigen Schwerpunkt der aktuellen EU-Politik geworden ist.
Angst scheint kein deutsches Alleinstellungsmerkmal mehr zu sein. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die heute erscheint und die Table.Media exklusiv vorliegt, zeigt, dass die Deutschen sich weniger vor einem Krieg im eigenen Land sorgen, als Franzosen, Polen und Letten. Die German Angst sei zwar da, schreibt mein Kollege Viktor Funk, “aber nicht so stark wie in den anderen Staaten”.
Von Angst hat sich Pawel Latuschka, ehemaliger Kulturminister in Belarus, in den vergangenen zwei Jahren nicht leiten lassen. 2020 verließ er das Land, nachdem er sich auf die Seite der Opposition gestellt hatte. Im Interview fordert er härtere Sanktionen gegen den Diktator Lukaschenko und schildert, wie der belarussische Machthaber russischen Truppen hilft.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan steht derweil zwischen den Stühlen – und gefällt sich in der Rolle des Vermittlers zwischen dem Westen und Russland. Sein Standing verbessert sich außenpolitisch und bei den türkischen Wählerinnen und Wählern, die ihn bei den Wahlen im Mai vor einem Korruptionsprozess retten sollen. Frank Nordhausen hat recherchiert, wie Erdoğan den Krieg in der Ukraine für sich nutzt.
In Europa ordnen sich die Machtverhältnisse neu. Die estnische Wissenschaftlerin Kadri Liik vom European Council on Foreign Relations blickt auf die Rollen der europäischen Staaten und Koalitionen, die sich seit Kriegsbeginn gefunden haben.
Wenn Ihnen der Security.Table gefällt, leiten Sie uns bitte weiter. Und wenn Ihnen diese Mail zugeleitet wurde: Hier können Sie sich für das Security-Briefing und weitere Themen anmelden.
Ich wünsche eine gute Lektüre
Angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine ist in Deutschland die Angst vor Kriegen und anderen Konflikten innerhalb von zwölf Monaten deutlich gestiegen. Fürchteten sich im September/Oktober 2021 noch 47 Prozent der Befragten vor kriegerischen Konflikten, die Deutschland betreffen würden, lag der Wert ein Jahr später bei 69 Prozent. Dieser Sprung um 22 Prozentpunkte ist der stärkste im Vergleich zu den Entwicklungen in Frankreich, Polen und Lettland.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hatte in den vier EU-Staaten im September-Oktober 2021 und im gleichen Zeitraum 2022 online in repräsentativen Umfragen jeweils etwas mehr als 2.000 Personen in jedem Land befragen lassen, in Deutschland 2.013 Personen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen liegen Table.Media exklusiv vor. In allen Staaten ist die Angst vor Kriegen gestiegen, ebenso die Sorge, dass ein Krieg nuklear eskalieren könnte, wie aus den Daten hervorgeht.
Überraschend sei jedoch, dass der Wert in Deutschland sich von anderen unterscheide, sagt Christos Katsioulis, der das FES-Büro in Wien leitet. Sein Team verantwortet die Umfrage. Trotz des starken Anstiegs in Deutschlands sei es der niedrigste Wert im Vergleich mit den anderen Staaten.
Während im Herbst 2022 in Deutschland 69 Prozent der Befragten der Aussage zustimmten “Ich befürchte, dass Kriege und andere Konflikte in Zukunft mein Land betreffen werden”, waren es in Frankreich 74, in Lettland 83 und in Polen 84 Prozent der Befragten. Die German Angst ist da, aber nicht so stark wie in den anderen Staaten.
Auch die Angst vor einer nuklearen Eskalation ist in Deutschland mit 55 Prozent der Befragten am niedrigsten. Sie liegt bei Anhängern der SPD, der Grünen, der CDU und der Linken zwischen 58 und 60 Prozent, bei der AfD sind es 48 Prozent und bei der FDP 45 Prozent der Befragten.
“Die Umfrage vom vergangenen Herbst fiel in eine Zeit, als in Deutschland die von Russland geäußerte atomare Drohung relativiert wurde”, sagt Katsioulis. “Das könnte eine mögliche Erklärung für den Wert sein.” In der FES-Auswertung heißt es dazu: “Der deutsche ,Sonderweg’ bei der Frage nuklearer Eskalation verdeutlicht zwar die Effekte, die spezifisch nationale Diskurse auf die Stimmung der Bevölkerung haben können. Allerdings besteht die Gefahr, dass sich hier ein medialer Diskurs politisch verselbstständigt und das Herunterreden nuklearer Gefahren zum Trend wird, während bei den europäischen Nachbarn die Sorgen deutlich ausgeprägter sind.”
Gefragt nach der Wahrscheinlichkeit eines direkten Krieges mit Russland sagten in Lettland 61 Prozent der Befragten, dass sie es für möglich hielten. In Polen sind es 58 Prozent, Frankreich 50, Deutschland 48 Prozent.
Die gesamte Stimmungslage in Deutschland fasst Katsioulis mit den Worten zusammen: “Die Angst ist zurück in der Bevölkerung.” Nötig sei deshalb eine regelmäßige und transparente Kommunikation aus der Politik, auch wenn das im “Nebel des Krieges” schwierig sei.
“Wir müssen diese Ängste ernst nehmen, ohne uns davon lähmen zu lassen. Es ist nötig zu erklären, warum uns die derzeitige Situation Entscheidungen abverlangt, die wir bis dato als außenpolitische Tabubrüche eingestuft hätten.”
Herr Latuschka, in deutschen Medien taucht Belarus nur noch im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine auf, die Arbeit der belarussischen Opposition findet kaum noch Beachtung. Erhalten Sie wenigstens von der europäischen Politik noch Aufmerksamkeit?
Ich denke, dass unsere westlichen Partner gerade einen Fehler begehen. Sie beschäftigen sie nicht ausreichend mit der Rolle des Diktators Lukaschenko und der geografischen Lage von Belarus im Bezug auf die Entwicklung des russischen Krieges gegen die Ukraine. Dadurch kann die Sicherheitsfrage für Europa insgesamt nicht gelöst werden.
Was genau meinen Sie?
Stellen wir uns nur mal vor, dass im Jahr 2020 demokratische Kräfte in Belarus gesiegt hätten. Hätte Putin dann einen Krieg gegen die Ukraine entfachen können? Die Chancen dafür wären deutlich kleiner gewesen. Hätten wir im Februar letzten Jahres einen massiven Angriff der russischen Armee von Belarus aus auf Kiew erwartet? Nein, das wäre unmöglich gewesen. Wenn also unsere westlichen Partner der Rolle des Diktators Lukaschenko im Krieg in der Ukraine nicht genügend Aufmerksamkeit widmen, erschwert das die Lösung der Situation. Natürlich sind die Menschen in Belarus selbst verantwortlich für die Veränderungen im Land. Aber wir haben auch Erwartungen an die EU.
Was fehlt Ihnen?
Wir merken, dass im Westen die Bereitschaft gesunken ist, die Möglichkeiten, die es gegenüber Lukaschenko gibt, zu nutzen. Dazu gehört als erstes eine genaue Analyse der Rolle Lukaschenkos im Krieg in der Ukraine und als Gefahr für die Sicherheit der gesamten Region. Auf dieser Grundlage muss eine Handlungsstrategie entwickelt werden, unter Berücksichtigung des Übergangskabinetts von Belarus unter dem Vorsitz von Swetlana Tichanowskaja. Doch wenn wir ehrlich sind, dann hat heute kein einziges Land der EU eine Belarus-Strategie.
Sie werben für härtere Sanktionen gegen Lukaschenko, die EU-Kommission hat darüber zumindest schon öffentlich gesprochen. Würden härtere Sanktionen Lukaschenko nicht noch weiter in die Arme Putins treiben?
Diese Annahme ist ein Fehler. Sanktionen werden Lukaschenko nicht dazu verleiten, Putins Krieg noch aktiver zu unterstützen, weil Lukaschenko keinen Einmarsch belarussischer Streitkräfte in die Ukraine will. 90 bis 95 Prozent der Bevölkerung in Belarus sind gegen den Krieg. Verluste in der Ukraine würden Entwicklungen in Belarus führen, die Lukaschenko selbst fürchtet. Und das gilt übrigens auch für Putin. Aus demselben Grund will er gar nicht, dass belarussische Truppen eingreifen, weil die Probleme im inneren von Belarus auch Probleme für Russland bedeuten würden. Und Russland hat heute genug eigene Probleme. Sollte Russland aber dennoch mit seinen in Belarus konzertierten Kräften einen Angriff starten, wird Lukaschenko den Willen Moskau erfüllen.
Derzeit sieht es so aus, dass Lukaschenko wieder stabil auf seinem Thron sitzt.
Ja, weil in Europa die Aufmerksamkeit für ihn fehlt. Er nutzt das aus. Seit acht Monaten gibt es keine neuen Sanktionen gegen ihn. Er erhält Geld aus Russland. Er bereitet die Armee vor, falls sie in den Krieg mit der Ukraine geschickt wird. Er hilft den Russen bei Vorbereitungen der russischen Truppen in Belarus, er stellt Waffen für sie her, er verdient daran und am Schmuggel von Waren, die in Russland unter Sanktionen stehen. Er hat sich gut eingerichtet!
Welche konkreten Schritte im Umgang mit Lukaschenko schlagen Sie vor?
Wir arbeiten daran, das Protestpotenzial im Land zu erhöhen. Wir wollen eine Untergrundbewegung organisieren, damit sich die Ereignisse von 2020 und 2021 nicht wiederholen. Offen lässt sich in Belarus schon nichts mehr ausrichten, und die Motivation der Menschen für Protest sinkt. Zweitens müssen wir der Ukraine helfen. Schon heute gibt es drei belarussische Einheiten, die dort kämpfen. Und drittens brauchen wir eine internationale Agenda, die besagt, dass Belarus ein besetztes Land ist. Denn die russischen Truppen machen im Land, was sie wollen, Lukaschenko hat kaum Einfluss auf sie, wenn er ihn überhaupt noch hat. Außerdem sollten die Sanktionen viel härter sein und denen von Russland angepasst werden.
Es gibt offensichtlich Diskussionen in der EU über die Angleichung der Sanktionen gegen Belarus und Russland, Deutschland war da bisher zurückhaltend.
Ja, auch wir haben früher davon gehört. Wir versuchen unsere Partner in Berlin zu überzeugen, dass nur sehr harte und aktive Maßnahmen gegen Lukaschenko die Menschen in Belarus motivieren und ihnen Hoffnung geben können. Lukaschenko führt einen Krieg gegen das eigene Volk, er lässt Kritiker foltern. Es gibt mehr als 5.000 politische Gefangene im Land, sagt eine Reihe von Experten. Und wenn jemand dieses Interview im Internet likt, dann kann er dafür für drei Jahre ins Gefängnis kommen.
Sind Sie enttäuscht vom Verhalten der EU?
Meine persönliche Meinung ist nicht wichtig. Polen und Litauen unterstützen uns ja aktiv. Ich will die Situation auch nicht in Schwarz-Weiß malen, die EU als Ganzes hat ja Schritte unternommen. Mir ist nur wichtig zu betonen, dass es in Belarus sehr große Hoffnung auf die EU und besonders auf Deutschland gab. Wir haben eine Strategie aktiver Schritte.
Werden Sie von Politikerinnen und Politikern in Berlin gehört?
Ich hoffe, ich verärgere niemanden und sie empfangen mich auch wieder, nur bisher haben wir den Eindruck, dass wir eher Informationslieferanten sind. Wir bringen Ideen ein, legen Papiere vor, aber erhalten keine Reaktionen. Wir brauchen eine gemeinsame Arbeitsgruppe.
Wie würden Ihrer Meinung nach stärkere Sanktionen gegen Belarus wirken?
Vielleicht muss man eher fragen, was ist das stärkste Mittel gegen Russland? Das kann ich klar beantworten: die Abschaffung des Regimes von Lukaschenko. Das wären sozusagen die wirksamsten Sanktionen gegen Moskau. Ist so etwas realistisch? Manche sagen, nein. Sicher ist nur, dass es unrealistisch bleibt, wenn nichts versucht wird.
* Pawel Latuschka, 49, ist Vorsitzender der belarussischen Organisation National Anti-Crisis Management (NAU). Die Organisation arbeitet eng mit der Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja zusammen und kämpft vor allem in der EU um Unterstützung. Latuschka selbst verließ im September 2020 Belarus, nachdem der Druck auf ihn zugenommen hatte. Er hatte sich infolge der gefälschten Präsidentschaftswahl im August 2020 auf die Seite der Opposition gestellt.
Der türkische Dauerherrscher erfüllt einerseits die Nato-Verpflichtungen seines Landes und gleichzeitig stärkt er die Verbindungen mit Russland. Ohne die Türkei gäbe es das Getreideabkommen vom Juli 2022 nicht. Dafür erhielt die Türkei eine Art “Immunität” aus dem Westen, die es ihr erlaubt, Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit sanktionierten russischen Unternehmen aufzubauen. Kreml-Chef Wladimir Putin seinerseits benötigt Verbündete gegen die westlichen Sanktionen. Beide Autokraten versuchen, sich gegenseitig zu stützen.
Im Mai stehen in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Bei einer Niederlage drohen Erdoğan Korruptionsprozesse. Man könne davon ausgehen, dass “all seine derzeitigen Handlungen unter dem Primat der Wahlen stehen”, sagt Professor Burak Çopur, Politikwissenschaftler und Türkei-Experte aus Essen. Zwar brüskiert Erdoğans konfrontativer Umgang mit den Nato-Beitrittsanträgen von Schweden und Finnland das eigene Militärbündnis, befördert aber seine Umfragewerte in der Türkei.
Das sind die Fakten:
Neue Zürcher Zeitung – Helsinkis Bunker: Die Stadt unter der Stadt: Hervorragend illustriert zeigt der Artikel, wie unter Finnlands Hauptstadt Helsinki ein System aus Sport- und Freizeitanlagen ganz nebenbei den Schutz für die Bevölkerung in Kriegszeiten massiv erhöhen könnte.
Bayerischer Rundfunk – Mit Humor gegen die Diktatur: Die belarussischen Journalisten Maria Sawuschkina und Andrej Karalewitsch gründeten vor der Invasion Russlands den Satire-Kanal “ChinChinchannel” auf YouTube. Die Inhalte, so erklärt es Sawuschkina, “sollen die Absurdität der staatlichen Propaganda entlarven”. Sie erreichen damit ein Millionenpublikum. Inzwischen sind die beiden nach Berlin geflüchtet. 8 Minuten
RND-Podcast mit Chelsea Manning: Über Spionage in Zeiten sozialer Medien, ihr Leben und warum sie glaubt, dass Faktenchecker heute wichtiger sind als Spione. Außerdem sagt die ehemalige US-Soldatin und Whistleblowerin den Journalisten Steven Geyer und Andreas Niemann, was sie von den elektronischen Musikstücken des Bundesjustizministers Marco Buschmann hält.
Sky News – No new money for defence: Könnte Großbritannien die zugesagte Zahl an Truppen für die Nato stellen? Eher nicht. Und mehr Geld für Munition, Ausrüstung und Soldaten soll es auch nicht geben, berichtet die Journalistin Deborah Haynes.
The Wall Street Journal – China Aids Russia’s War in Ukraine, Trade Data Shows: Russland kann zwar eigenständig herkömmliche Waffen fertigen, braucht für moderne Waffen aber Hochtechnologie wie Halbleiter aus dem Ausland. Daten aus 84.000 Lieferungen zeigen, wie chinesische Rüstungsunternehmen Navigationsgeräte, Störsender und Teile für Kampfflugzeuge über die Türkei (siehe auch unsere Analyse) oder die Vereinigten Arabischen Emirate an sanktionierte russische Unternehmen liefern.
Obwohl geeint in der Verurteilung des Krieges, schien eine Teilung Europas nach Russlands Invasion am 24. Februar 2022 in der Ukraine in der praktischen Politik beinahe unvermeidlich: auf der einen Seite der risikobewusste Westen, auf der anderen der prinzipienorientierte Osten.
Die Spaltung blieb aus. Ein Jahr später mag es Meinungsverschiedenheiten und Debatten in den Mitgliedstaaten geben. Aber Europa ist keineswegs geteilt, noch viel weniger gelähmt: Die allgemeine politische Marschrichtung bleibt im Wesentlichen die gleiche. Differenzen reduzieren die Geschwindigkeit des Marsches, aber nicht die Richtung.
Allerdings: Europas Einheit scheint derzeit führerlos. Nach der Annexion der Krim war es Deutschland, das Europas Position vorgab und konsolidierte. Im Kontrast dazu tut sich aktuell kein Land als zentrale Macht hervor: Während Deutschland, Frankreich und Polen eine gewichtige Stimme auf dieser Position haben, wirkt keines der Länder wie die dominante Macht. Stattdessen ist die Verantwortung auf verschiedene Schultern in der EU verteilt, wobei die einzelnen Länder bei der Gestaltung der gemeinsamen Politik unterschiedliche Rollen spielen.
Deutschland wird zwar weiterhin von sechs Mitgliedstaaten als führende Macht in der EU angesehen, seine Attraktivität liegt heute allerdings nicht in seiner Macht als Lenker: Es wird nicht als Land gesehen, das vorausschauend denkt oder politische Prozesse maßgeblich beeinflusst.
Innerpolitische Debatten und gelegentlich holprige politische Findungsprozesse sind für alle nach außen hin sichtbar. Und obwohl das Berlin in den Augen vieler als Europas Zauderer wirken lässt, weckt es in vielen Ländern mit ähnlichen Debatten und/oder gegensätzlichen Ansichten über das gesamte politische Spektrum hinweg ein Gefühl der Verbundenheit. Sie erkennen sich wieder in Deutschland und das gibt Deutschland in ihren Augen Gewicht – wenn auch manchmal auf wackeligen Füßen.
Polen und die baltischen Länder beanspruchen für sich die “moralische Führung”. Eine Reihe von Ländern sehen ihre kompromisslose und maximalistische Haltung als einen Leuchtturm der perfekten prinzipienorientierten Position. Das lässt sich in der Politik allerdings nicht in eine wahre Führungsrolle übersetzen. Zum einen sind diese Länder nicht sehr erfahren in der Lenkung von EU-politischen Prozessen.
Es ist, wie ein polnischer Experte einmal selbst einräumte: “Wir sind sehr gut darin, unsere moralische Position zu formulieren, aber nicht sehr gut darin, herauszufinden, was wir tun müssen und welche Koalitionen wir bilden müssen, um Taten folgen zu lassen.”
Zum anderen kann die polnisch-baltische, maximalistische Haltung auch beängstigend wirken. Vor allem kleinere und weiter südlich gelegene Länder sehen darin eine Fokussierung auf die Bestrafung Russlands bei völliger Ignoranz der Interessen anderer Mitgliedstaaten. Sie sind der Ansicht, dass sie mit der Möglichkeit, Russland könnte eskalieren und die Nato in einen Krieg hineinziehen, leichtfertig umgehen.
Für diese Länder vermittelt wiederum die deutsche Zurückhaltung ein Gefühl von Vertrauen und Sicherheit. Sie haben das Gefühl, dass, wenn Berlin sich bewegt und seine Haltung gegenüber Russland verstärkt, dann können auch sie sich bewegen.
Frankreichs Position gegenüber Russland stand in gewisser Weise immer schon im Gegensatz zur deutschen und polnisch-baltischen. Für lange Zeit waren Deutschland, Polen und die baltischen Länder bestrebt, Russland zu ändern, zu demokratisieren, auch wenn sie dafür verschiedene Ansätze wählten. Wo Deutschland auf das Zuckerbrot des Handels und des Dialogs setzte, griffen Polen und die baltischen Länder zur Peitsche der Kritik.
Frankreich stattdessen akzeptierte Russland als das, was es ist: Der Westen kann Russland nicht ändern, sondern muss die Beziehung “managen”. Diese Position findet auch heute seine Anhänger, insbesondere im Süden Europas. “Die Betonung der Bedeutung des Multilateralismus und der Diplomatie bei gleichzeitiger Verurteilung Russlands für die Invasion” – diese Position, wie sie ein Wissenschaftler des ECFR zusammenfasste – macht Frankreich für eine Reihe von Ländern attraktiv, auch über die direkte Nachbarschaft hinaus.
Und dann gibt es in der EU auch eine Reihe von Zusammenschlüssen. Einige sind interessenbasiert: Da die Kosten des Krieges die Länder unterschiedlich stark treffen, bilden sich (vorübergehende) Koalitionen aus Staaten mit ähnlichen Interessen bei bestimmten Fragen.
Einige sind traditionell: So sind die großen Länder daran gewöhnt, sich regelmäßig untereinander auszutauschen, auch die nordisch-baltischen Länder und die Mittelmeerländer gleichen sich jeweils miteinander ab und führen ihre eigenen Diskussionen (wenn auch die Visegrád-Gruppe etwas gehindert ist durch Ungarns Außenseiterposition).
Aber es gibt auch ungewöhnliche Netzwerke: Österreich, Irland und Malta zum Beispiel versuchen gemeinsam herauszufinden, was eine angemessene Position für die formal neutralen, aber EU-orientierten Länder sein könnte. Gleichzeitig finden sich Finnland und Schweden – immer schon Partner – in enger Abstimmung zu einem gemeinsamen Nato-Beitritt. Tschechien und die Slowakei werden von verschiedenen Seiten gelobt, ihre, wenn auch geringen, militärischen und diplomatischen Ressourcen erstaunlich gut eingesetzt zu haben: zur Unterstützung der Ukraine, aber auch zur Überbrückung der Ost-West-Differenzen innerhalb der EU.
Und die EU als Ganzes übt eine starke Anziehungskraft aus: viele Länder, vor allem die weiter entfernt von Russland liegenden, erkennen an, dass sie sich – unabhängig von ihrer Meinung – am Ende immer der Mehrheit in der EU anschließen werden.
Zu guter Letzt spielen auch zwei außenstehende Mächte eine große Rolle im Formungsprozess der EU. Die eine ist die USA: Bidens Führungsrolle verdient Applaus aus unterschiedlichen Richtungen innerhalb der EU. Dem Ansatz der USA, die Unterstützung für die Ukraine mit vorsichtigem Eskalations-Management zu kombinieren, ist einer, dem sich fast alle EU-Mitgliedstaaten komfortabel anschließen können.
Die andere ist Russland: Russlands brutales, militärisches Verhalten in der Ukraine und Präsident Putins offensichtlicher Unwille, seine hegemonialen Kriegsziele zu überdenken, haben vielen potenziell verhandlungsbereiten Ländern die Argumente entzogen. Und es hat dazu beigetragen, dass die Unterstützung der Ukraine zum wichtigsten, wenn nicht gar zum einzigen Schwerpunkt der aktuellen EU-Politik geworden ist.