schon heute Abend fliegt Joe Biden vom G7-Gipfel in Italien weiter in die Schweiz. Auch für Olaf Scholz ist die Zusammenkunft in Apulien eigentlich nur ein Zwischenstopp auf dem Weg zum Vierwaldstättersee. Dort beginnt am Samstagabend die von der Schweiz organisierte Friedenskonferenz für die Ukraine – ohne Russland, ohne Brasilien, ohne China.
Wer kommt, wollen die Veranstalter erst kurz vor Beginn bekannt geben; neunzig Staaten wären schon ein Erfolg für die Ukraine, schreibt unser Korrespondent in Kiew, Denis Trubetskoy, der in seiner Analyse der Frage nachgeht, wie auf der Konferenz auf dem Bürgenstock Wege zum Frieden gefunden werden können.
Ein Jahr wird die deutsche Nationale Sicherheitsstrategie heute alt. Nana Brink fasst zusammen, warum die Umsetzung der Strategie seit der Vorstellung durch die Bundesregierung am 14. Juni 2023 weit hinter den Erwartungen geblieben ist. Nacharbeit in Sachen Länderbeteiligung fordert der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Baks), Wolf-Jürgen Stahl, in seinem Standpunkt.
Ein schönes Wochenende wünscht
Die letzten Monate der Vorbereitung des Friedensgipfels, der am Wochenende in der Schweiz stattfinden wird, hat sich die Staatsführung in Kiew bestimmt einfacher vorgestellt. Anfang Juni sprach Präsident Wolodymyr Selenskyj ungewöhnlich kritisch über Peking. Neben Russland arbeite China aktiv daran, Länder des Globalen Südens davon abzuhalten, an der zweitägigen Friedenskonferenz teilzunehmen.
Dass Selenskyjs Aussagen nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigen die Entwicklungen der letzten Tage. Radio Free Europe/Radio Liberty berichtete am Dienstag mit Verweis auf anonyme EU-Diplomaten, dass die Anzahl der Staaten und Organisationen, die ihre Teilnahme bestätigt hatten, von 93 auf 78 zurückgegangen sei. Anonyme ukrainische Telegram-Kanäle, denen eine Verbindung zur Kiewer Regierung nachgesagt wird, sprachen jedoch am Mittwoch weiterhin von mehr als 90 erwarteten Teilnehmern. Es ist davon auszugehen, dass im Hintergrund ein harter diplomatischer Schlagabtausch läuft – und dass die finale Teilnehmerliste erst am Vorabend feststehen wird.
Dass China nicht am Gipfel teilnehmen wird, ist für die Ukraine ärgerlich, weil Kiew sich intensiv um die Teilnahme Pekings bemüht hatte. Den ukrainischen Verantwortlichen war jedoch klar, dass dies eher unwahrscheinlich und dass China ohnehin nicht auf höchster Ebene vertreten sein würde.
Die Ukraine ist aus mehreren Gründen daran interessiert, dass Länder wie Katar, Saudi-Arabien, die Türkei oder die Vereinigten Arabische Emirate, die vergleichsweise gute Beziehungen sowohl zu Kiew als auch zu Moskau haben, Vertreter in die Schweiz schicken. Saudi-Arabien dürfte Medienberichten zufolge allerdings nicht zu den Teilnehmern gehören, was alleine noch keine herbe Niederlage wäre. Chinas angebliche Aktivitäten im Hintergrund sind für Kiew dennoch besorgniserregend.
Obwohl die Ukraine eine Einladung Russlands zur zweiten Friedenskonferenz nicht ausschließt, sieht Kiew die ukrainische Friedensformel nicht ernsthaft als Grundlage für künftige Gespräche mit Moskau. Vielmehr formuliert sie das strategische Ziel der Ukraine, das sie auch nach dem Krieg und mit diplomatischen und politischen Mitteln verfolgen wird: die volle Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes. Dies könnte wie etwa im Falle der deutschen Wiedervereinigung auch sehr lange dauern, doch Kiew wird von diesem vom Völkerrecht gedeckten Ziel keinesfalls abkehren. Je mehr Länder das Recht der Ukraine auf die Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität anerkennen – auch wenn nicht zwingend mit militärischen Mitteln – desto besser für Kiew.
Beim anstehenden ersten Gipfel wird das sicher noch nicht geschehen. Denn der Fokus wird zunächst nur auf drei der zehn Punkte aus dem ukrainischen Friedensplan liegen, bei denen eine globale Einigkeit vermeintlich einfacher zu erreichen ist. Zu diesen Punkten gehören atomare Sicherheit, Lebensmittelsicherheit sowie Gefangenaustausch beziehungsweise Rückführung aller Deportierten, inklusive der verschleppten Kinder.
Es ist auch ein recht allgemeines Abschlussstatement des Gipfels zu erwarten. Gleichzeitig ist es erst der Beginn eines offensichtlich schwierigen Prozesses – und sollten tatsächlich um die 90 Teilnehmer in die Schweiz kommen, wäre das für die Ukraine sicher ein Erfolg. Zumal es für das angegriffene Land wichtig ist, den Friedensdiskurs zu dominieren und wenig Raum für alternative Projekte und Vorschläge zu lassen.
Insgesamt aber liegen die größten Hoffnungen für den Schweizer Gipfel nicht auf den öffentlichen Diskussionen und den Abschlussstatements, sondern auf Hintergrundgesprächen. Zweifellos wird Russland, das sich momentan in der militärisch stärkeren Position sieht, in absehbarer Zeit kein ernsthaftes Interesse an der Einstellung der Kampfhandlungen haben – und wenn, dann zu inakzeptablen Bedingungen für die Ukraine. Dazu gehört vor allem die sogenannte “Entmilitarisierung”: Russland will die maximal mögliche Reduzierung der ukrainischen Streitkräfte erreichen, um das Nachbarland mittel- und längerfristig verteidigungsunfähig zu machen.
Daher gibt es für die Ukraine keine Alternative dazu, zunächst einmal durchzuhalten – und mit der seit Jahresende gestiegenen Munitionsproduktion im Westen zu versuchen, die russische Armee zumindest zu stoppen. Doch während ein prinzipieller Kompromiss zu territorialen Fragen ausgeschlossen zu sein scheint, weil beide Staaten die gleichen sechs Regierungsbezirke beanspruchen, dürfte ein bedingungsloser Waffenstillstand der wohl wahrscheinlichste Kriegsausgang sein.
Doch selbst einen solchen Waffenstillstand zu beschließen, wäre kompliziert: Die Schwierigkeiten würden dabei schon bei der Frage beginnen, wer dessen Einhaltung kontrollieren soll. Der Friedensgipfel in der Schweiz bietet theoretisch eine gute Grundlage, um mit Ländern wie Katar oder der Türkei darüber zu reden. Ob es wirklich dazu kommt, hängt von vielen Faktoren ab – und wird mit großer Wahrscheinlichkeit zunächst sowieso nicht an die Öffentlichkeit gelangen.
Die Bundeswehr hat, unbestritten, ein Personalproblem: Nur noch rund 181.500 Männer und Frauen umfasst die aktive Truppe, und die angestrebte Zahl von gut 200.000 wird seit Jahren nicht erreicht. Da scheint es naheliegend, die Pläne von Verteidigungsminister Boris Pistorius für einen, wie er es nennt, “neuen Wehrdienst” als Personalwerbemaßnahme zu verstehen. Was öffentlich praktisch nicht wahrgenommen wird: Dem Minister geht es eben nicht um eine Aufstockung der Streitkräfte im Frieden – sondern um den Aufbau einer Reserve, die Deutschland im Kriegsfall heranziehen kann.
“Es geht nicht um die Personallücke”, sagte Pistorius bei der Vorstellung seines Plans, neue und bis auf Weiteres freiwillige Soldaten zu gewinnen. Diese Lücke müsse zwar geschlossen werden, aber “das können in aller Regel nicht Wehrdienstleistende sein”.
Die Rechnung, die der Minister und die Planer im Wehrressort aufmachen, orientiert sich an den Erkenntnissen und Erwartungen aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Bereits ab 2029, so Pistorius deutlich ausgesprochene Warnung, könne Russland “in der Lage sein, militärisch einen NATO- oder Nachbarstaat anzugreifen”. Für den Fall brauche Deutschland als der größte Bündnispartner in Europa nicht nur seine bestehende Truppe, sondern vor allem zusätzliche Reserven, die die Bundeswehr verstärken können – und, auch das gehört unausgesprochen dazu, verwundete oder gefallene Soldaten ersetzen. “Wir müssen diesen Aufwuchs hinbekommen”, forderte Pistorius.
Die Zahlen klingen ebenso simpel wie ambitioniert. Zu den bereits eingeplanten – aber noch nicht erreichten – 60.000 Reservisten der Bundeswehr sind weitere 200.000 nötig, um einen geplanten Verteidigungsumfang von 460.000 Soldaten und Soldatinnen zu erreichen. Für diese 200.000 sollen unter anderem ehemalige Soldaten gefunden werden, die die Bundeswehr nach Aussetzung der Wehrpflicht bei ihrem Ausscheiden hat ziehen lassen, ohne auch nur nach einer Adresse zu fragen: “Wir wüssten im Ernstfall noch nicht einmal, wen wir mobilisieren können”, klagt der Minister. Schon der Wieder-Aufbau der abgeschafften Verwaltungsstrukturen, die eine Reserve überhaupt erst verfügbar machen, wird das Ressort eine Weile beschäftigen.
Zugleich aber, und dafür dient das Modell des “neuen Wehrdienstes”, sollen junge Männer verpflichtend und junge Frauen freiwillig nach ihrer Bereitschaft zum Dienst an der Waffe überhaupt erstmal gefragt werden. Alle 18-Jährigen eines Geburtsjahrganges sollen künftig einen Fragebogen ausfüllen müssen, in dem sie zu Bildung, Fitness und der Bereitschaft zum Wehrdienst befragt werden. Daraus werden 40.000 Männer ausgewählt, die ebenfalls verpflichtend zur Musterung geladen werden – von denen aber dann nur ein geringer Teil zum Wehrdienst faktisch eingeladen wird: Eine Pflicht zum Antreten ist, vorerst, nicht vorgesehen.
Die sehr begrenzte Pflicht ist der politischen Bewegungsfreiheit des Verteidigungsministers ebenso geschuldet wie den praktischen Möglichkeiten der Bundeswehr. In der Ampelkoalition ist eine Wehrpflicht mit den Partnern Grüne und FDP derzeit nicht machbar. Aber auch die Truppe wäre überfordert, wenn sie wie vor mehr als einem Jahrzehnt wieder Zehntausende junger Männer ausbilden, unterbringen und mit Waffen und Gerät ausstatten müsste: Die geschrumpften Streitkräfte geben das schlicht nicht her.
Die Planer im Verteidigungsministerium gehen deshalb zunächst davon aus, dass auf diesem Wege pro Jahr 5.000 Männer und auch Frauen gewonnen werden können, die für mindestens sechs Monate zur Truppe kommen und, so sie wollen, auf zwölf oder mehr Monate Dienstzeit verlängern. In den sechs Monaten Minimum, das ist dem Minister klar, wird es nur eine sehr grundlegende Ausbildung an der Waffe geben können. Doch diese Soldaten hätten dann zumindest die Voraussetzung, im Spannungs- oder Verteidigungsfall als Heimatschutzkräfte im Inland zum Beispiel die kritische Infrastruktur zu schützen, während die aktive Truppe an der Ostflanke der NATO gebunden ist. Wer sich für bis zu 23 Monate verpflichtet, die längstmögliche Zeit unterhalb eines Einstiegs als Zeitsoldat in die aktive Truppe, soll dann auch in Einsatzverbände integriert werden können.
Mit dem neuen Modell, faktisch eine Ausweitung des bereits heute bestehenden “Freiwilligen Wehrdienstes”, ist allerdings die Grundsatzdebatte über eine Wehrpflicht nur aufgeschoben. Das weiß auch der Minister. Die grundlegende Diskussion, so seine Argumentation, müsse auch die Frage einbeziehen, ob weiterhin ein verpflichtender Wehrdienst nur für Männer vorgesehen sein könne. Aber die Debatte über eine Grundgesetzänderung, die eine Wehrpflicht auch für Frauen ermöglichen würde, sei vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr nicht abschließend zu schaffen. Schon gar nicht, wenn die bereits laufende Diskussion über eine allgemeine Dienstpflicht hinzukomme.
Schon für die mit dem “neuen Wehrdienst” vorgesehenen minimalen Verpflichtungen für Männer müssen Gesetze geändert werden: Die Pflicht, Auskunft zu erteilen und sich mustern zu lassen, gehört zu den Teilen des Wehrpflichtgesetzes, die 2011 ausgesetzt werden und derzeit nur im Verteidigungs- oder Spannungsfall automatisch in Kraft treten. Eine Neufassung, hofft Pistorius, kann nach den Gesprächen in der Bundesregierung im Herbst ins Parlament eingebracht und vor der Sommerpause 2025 verabschiedet werden: dann ist angesichts des beginnenden Bundestagswahlkampfes nicht mehr viel möglich.
Die aktive Truppe, so hofft der Minister übrigens, wird dennoch von diesen Plänen profitieren. Denn wie zu Zeiten der Wehrpflicht werde es einen Teil der Wehrdienstleistenden geben, die nach einigen Monaten Bundeswehr Gefallen gefunden hätten am Soldatenberuf und sich für Jahre verpflichten wollten.
Sie umfasst 76 Seiten und sollte ein historischer Meilenstein werden, die erste Nationale Sicherheitsstrategie einer Bundesregierung. Aber ein Jahr nach ihrem Erscheinen “ist nicht viel passiert, sie ist schnell in Vergessenheit geraten”, wie Carlo Masala, Politikprofessor an der Universität der Bundeswehr in München, urteilt. Das Dokument, das die strategische Ausrichtung Deutschlands neu justieren soll, sei eine “gute Beschreibung der momentanen und künftigen Herausforderungen”. Aber die neue Strategie zeige “keine Konsequenzen” auf: “Sie ist auf der Analyse-Ebene stehen geblieben”.
Deutlichster Ausdruck der Zeitenwende-Politik der Ampel-Koalition ist die Neu-Bewertung Russlands als “größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit in Europa”. Klarer als in jedem anderen Dokument wird die “glaubwürdige Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit” als “unverzichtbares Fundament” für Deutschlands Sicherheit definiert. Die neue Strategie nennt drei “zentrale Dimensionen” der Sicherheitspolitik: Wehrhaftigkeit, Resilienz und Nachhaltigkeit.
Gemeint sind mit ersterem die militärischen Fähigkeiten und die Ausrichtung der Bundeswehr auf die Landes- und Bündnisverteidigung. Unter dem Stichwort Resilienz werden gesellschaftliche und wirtschaftliche Themen adressiert, zum Beispiel Energiesicherheit und Innovationen. Aber auch die Klimakrise oder die globale Nahrungsversorgung finden sich als Sicherheitsrisiken unter der Überschrift “Nachhaltigkeit” wieder.
Neu eingeführt wird der Begriff der “Integrierten Sicherheit für Deutschland”, das das alte Modell der “vernetzten Sicherheit” ablösen soll. Gemeint ist damit, dass neben dem Militär auch gesellschaftliche und privat-wirtschaftliche Akteure Teil des neuen Sicherheitskonzeptes sind. Innere und äußere Sicherheit sind nicht mehr voneinander zu trennen. Der Schutz vor “hybriden Bedrohungen” oder “Desinformation” gehören genauso dazu wie die Forderung nach einem “europäischen Aktionsplan zur Sicherung der Rohstoffe”.
Was nicht benannt wird – und dies ist einer der zentralen Kritikpunkte, die ein Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zusammenfasst: Angesichts knapper finanzieller Ressourcen findet keine Priorisierung statt. Für Claudia Major, Verteidigungsexpertin bei der SWP “bleibt problematisch, dass die in der Sicherheitsstrategie formulierten Ziele nicht mit Ressourcen hinterlegt sind”.
Ein weiteres zentrales Defizit ist für General Wolf-Jürgen Stahl, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, die fehlende öffentliche Diskussion. Die Bedeutung dieser Strategie und ihre Durchschlagskraft sei in der Bevölkerung “noch nicht angekommen“. Dies sei aber “dringend nötig”. Oder wie Politikwissenschaftler Masala gegenüber Table.Briefings erklärt: “Wir müssen die Frage beantworten: Wie bekommen wir eine resiliente Gesellschaft? Wie schaffen wir dafür ein Bewusstsein in der Bevölkerung? Das ist die wichtigste Aufgabe.”
Ebenfalls umstritten ist die Finanzierung der angekündigten “integrierten Sicherheitspolitik”. In der Strategie heißt es verklausuliert: “Angesichts der erheblichen aktuellen Anforderungen an unsere öffentlichen Haushalte streben wir an, die Aufgaben dieser Strategie ohne zusätzliche Belastung des Bundeshaushalts insgesamt zu bewältigen”. De facto bedeutet dies: Er wird in dieser Legislaturperiode keinen Etat oder etwa ein Sondervermögen dafür geben. Für die Politikwissenschaftlerin Jana Puglierin vom European Council on Foreign Relations ein entscheidender Fehler: “Die Nationale Sicherheitsstrategie kann noch so überzeugend sein – wenn sie nicht mit den nötigen finanziellen Mitteln hinterlegt wird, bleibt sie ein Haufen Papier”.
Nicht nur Experten kritisieren darüber hinaus die mangelnde Koordination der Folge-Strategien, die in den einzelnen Ressorts wie dem Innen- oder Wirtschaftsministerium erarbeitet werden sollen. So erklärt der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter, die Ampel-Regierung habe zwar einen “Katalog von Maßnahmen zusammengeschrieben”. Was fehle, sei aber eine Institution wie ein Nationaler Sicherheitsrat, der unter anderem die nötigen Prioritäten setze: “Wir haben eine Gleichzeitigkeit von Krisen, die zu einer Ressourcen-Konkurrenz führen”. Ähnlich sieht es auch Sicherheitsexperte Masala, der die Verantwortung dafür beim Kanzler sieht. Die Folge-Strategien müssten “koordiniert werden und das kann eigentlich nur im Bundeskanzleramt erfolgen. Das sehe ich bislang nicht”.
Die grüne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bemerkte bei der Veröffentlichung vor einem Jahr, die Strategie sei “kein Schlusspunkt, sondern ein Anfang”. Wann allerdings ein Nachfolge-Dokument erscheinen soll, ist völlig unklar. Bislang ist es in das Belieben jeder Bundesregierung gestellt, strategischen Leitlinien zu formulieren. Oder auch nicht.
Am ersten Tag des G7-Gipfels im süditalienischen Apulien haben der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und US-Präsident Joe Biden ein Sicherheitsabkommen mit einer Laufzeit von zehn Jahren unterzeichnet. Es sei ein Schritt hin zu “einer Brücke zur künftigen Mitgliedschaft der Ukraine im Nato-Bündnis”, heißt es in dem Text. Die USA sichern der Ukraine unter anderem weitere militärische Unterstützung, Kooperation mit Blick auf die Rüstungsindustrie und den Austausch von Geheimdienstinformationen zu.
Bis Ende des Jahres soll die Ukraine zudem auf einen Kredit in Höhe von etwa fünfzig Milliarden US-Dollar zurückgreifen können – auch für Waffenkäufe. Das beschlossen die Staats- und Regierungschefs der sieben führenden Industriemächte (G7) am Donnerstag auf ihrem Gipfel im süditalienischen Borgo Egnazia. Der Kredit soll mit Zinserträgen aus eingefrorenem russischen Staatsvermögen finanziert werden. Die ukrainische Regierung soll das Geld auch für den Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur und bei Engpässen im Staatshaushalt nutzen können.
Die EU-Staaten hatten bereits zuvor entschieden, Zinsen direkt für die Finanzierung von Militärhilfen für die Ukraine bereitzustellen. Über den sogenannten Kredithebel kann die Wirkung nun deutlich erhöht werden. Das in Brüssel ansässige Finanzinstitut Euroclear hatte zuletzt mitgeteilt, 2023 rund 4,4 Milliarden Euro an Zinsen eingenommen zu haben.
Für die meisten der Staats- und Regierungschefs war das Luxusresort “Borgo Egnazia” im süditalienischen Apulien nur ein Zwischenstopp: Schon am Freitagabend verlässt unter anderem Joe Biden den offiziell bis Samstag dauernden Gipfel Richtung Schweiz. Bundeskanzler Olaf Scholz folgt ihm am Samstagmittag im Flieger nach Zürich, von wo er weiterreisen wird auf den Bürgenstock bei Luzern. Dort beginnt um 17.30 Uhr die Eröffnungssitzung der Konferenz zum Frieden in der Ukraine, die Bundespräsidentin der Schweizer Eidgenossenschaft, Viola Amherd, leitet die Zusammenkunft.
Offiziellen Angaben zufolge sollen sich neunzig Länder und Organisationen für die Konferenz am Vierwaldstättersee angemeldet haben. Darunter sind Mitglieder der G7, der G20, der Schwellenländergruppe Brics sowie auch Vertreter der EU, der UN und des Vatikans. Ungefähr die Hälfte der Teilnehmer kommt Schweizer Angaben zufolge aus Lateinamerika, Asien, Afrika und dem Nahen Osten. Ziel der Gespräche ist laut der Schweizer Regierung, gemeinsam einen Fahrplan für einen Friedensprozess zu erarbeiten. mrb
Die Nato löst das US-geführte Ramsteinformat bei der Koordination der Militärhilfe für die Ukraine ab, zumindest zum großen Teil: Er gehe davon aus, dass die Verteidigungsminister heute den Operationsplan für die Hilfe und Ausbildung in der Ukraine verabschiedeten, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg am Donnerstag. Es sei sinnvoll, dass die Nato hier eine größere Rolle spiele, da 99 Prozent der gesamten militärischen Unterstützung von den Verbündeten geleistet werde.
In einem schriftlichen Verfahren hatte der Transfer der Koordination schon am Donnerstag eine letzte Hürde genommen. Bis zuletzt umstritten war der Name der Plattform, über die innerhalb der Nato die Unterstützung koordiniert werden soll. Deutschland wehrte sich dagegen, dass der Begriff “Mission” vorkommt, da dies russischer Propaganda von einem militärischen Engagement des Bündnisses Auftrieb leisten könnte. Vorerst wurde der Name “Nato Security Assistance and Training for Ukraine” (NSATU) festgehalten.
Ein Motiv für den Transfer vom US-geführten Ad hoc Format in die Nato-Struktur ist es, die Koordination “Trump proofed” zu machen. Bei einem Comeback Donald Trumps als US-Präsident könnte die Hilfe nicht ohne weiteres gestoppt werden, so das Kalkül am Sitz des Bündnisses. Die Institutionalisierung der Hilfe ist Teil eines “Ukraine-Pakets”, das auf dem Gipfel Anfang Juli in Washington von den Staats- und Regierungschefs formell beschlossen werden soll.
Teil des Pakets sollen auch längerfristige finanzielle Zusagen sein: Die Ukraine brauche eine berechenbare Unterstützung, bekräftigte Stoltenberg am Donnerstag. Seit dem Einmarsch Russlands hätten die Bündnispartner jedes Jahr militärische Unterstützung im Wert von etwa 40 Milliarden Euro geleistet. Dieses Unterstützungsniveau müsse als Minimum beibehalten werden, solange es nötig sei. Der Nato-Generalsekretär hofft, dass die Verteidigungsminister ihm hier folgen und den jährlich 40 Milliarden Euro als Teil des Ukraine-Pakets zustimmen. sti
Klappt es heute mit der politischen Einigung auf das 14. Sanktionspaket gegen Russland? Die belgische Ratspräsidentschaft hat die Botschafter der Mitgliedstaaten für den Abend zu einer Sondersitzung eingeladen. Beim regulären Treffen am Mittwoch hatte Deutschland in letzter Minute Vorbehalte gegen eine Art No-Russia-Klausel angemeldet. Mit der Klausel soll eigentlich die Umgehung der EU-Sanktionen gegen Russland zumindest erschwert werden.
Die Formulierungen seien zu weitgehend und könnten Exportunternehmen Geschäfte in Drittstaaten verunmöglichen, hieß es in Berlin. Die Klausel schade europäischen Firmen mehr als Russland. Tatsache ist, dass die EU zwar ein umfassendes Sanktionsregime erlassen hat, die Strafmaßnahmen derzeit aber relativ einfach umgangen werden können.
Deutliches Indiz sind die massiven Zunahmen von sanktionierten Gütern wie auch von Kraftfahrzeugen aus Deutschland in Ex-Sowjetrepubliken wie Kirgistan. Der Re-Export über Drittstaaten nach Russland ist zwar heute schon verboten. Nun aber sollen EU-Firmen das Wiederausfuhrverbot in den Verträgen mit den Abnehmern festschreiben.
Europäische Unternehmen könnten gleichzeitig haften, wenn Zweigniederlassungen oder Zwischenhändler sich an Umgehungsgeschäften beteiligen und sanktionierte Produkte nach Russland weiter verkaufen. Die Bundesregierung will laut Diplomaten erreichen, dass die geplante Regel zur Haftung von Zweigniederlassungen von EU-Firmen auf bestimmte Güter eingegrenzt oder ganz gestrichen wird.
Neben den Maßnahmen gegen Umgehungsgeschäfte sieht das 14. Sanktionspaket vor, dass Russland LNG nicht mehr über europäische Häfen wie Zeebrugge in Drittstaaten exportieren kann. Neue Strafmaßnahmen sind zudem gegen die Schattenflotten vorgesehen, mit denen Russland den Ölpreisdeckel umgeht.
Der belgische EU-Ratsvorsitz wollte das 14. Sanktionspaket eigentlich vor Beginn des G7-Treffens in Italien verabschiedet haben. Berlin ist mit den Vorbehalten bei den europäischen Partnern auf Unverständnis gestoßen. Umso mehr, als Ungarn diesmal an Bord war und am Mittwoch keine Einwände mehr hatte. tho/sti
The New York Times: U.S. Confronts Failures as Terrorism Spreads in West Africa. Die Antiterroreinsätze westlicher Streitkräfte in Westafrika sind gescheitert. Islamistische Gruppen werden immer stärker und die Regierungen in der Region wenden sich Russland zu. Analyse, was die USA in Mali und Niger falsch gemacht haben.
Podcast: Stiftung Wissenschaft und Politik: US Presidential Election 2024 – Money, trade and the transatlantic economy. Laura von Daniels und Mark Copelovitch diskutieren, was eine Trump-Präsidentschaft für die internationale Sicherheit und Wirtschaft bedeuten würde und wie die Stärke des US-Dollars die globale US-Dominanz erhält. 28 Minuten.
Wall Street Journal: How an Iranian-Backed Militia Ties Down U.S. Naval Forces in the Red Sea. Obwohl die Angriffe der Huthi-Rebellen weitgehend wirkungslos sind, gefährden sie die Schifffahrt. Und ihre Abwehr ist imens teuer: Die US Navy hat nach eigenen Angaben seit November bereits eine Milliarde Dollar für Munition ausgegeben, 450 Angriffe durchgeführt und mehr als 200 Drohnen und Raketen abgefangen.
Der Gesundheitsminister kündigt an, Kliniken besser auf militärische Konflikte vorzubereiten, die Bildungsministerin spricht sich für Zivilschutzübungen an Schulen aus, und der Wirtschaftsminister fordert mehr Rüstungsforschung. Solche Vorstöße wären in Deutschland vor der Zeitwende politische Tabubrüche gewesen. Heute zeugen sie von der nüchternen Anerkennung neuer Realitäten.
Dabei können sie sich auf eine amtliche Grundlage berufen. Denn vor einem Jahr hat die Bundesregierung erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie beschlossen. Schon zuvor gab es Strategiedokumente, die jeweils bestimmte Politikfelder betrafen, wie etwa das Weißbuch zur Sicherheitspolitik oder die Leitlinien für zivile Krisenprävention. Doch nun existiert erstmals eine Strategie, welche die nationale Sicherheit in ihrer gesamten Breite betrachtet. Das Dokument steht durchaus im Geiste der Zeitenwende, benennt Russland auf absehbare Zeit als die größte Bedrohung für Europa, schreibt eine leistungsfähige Bundeswehr vor und bekennt sich zum Zwei-Prozent-Ziel sowie zur Nuklearen Teilhabe der Nato.
Doch die Nationale Sicherheitsstrategie greift deutlich über diese klassischen Dimensionen von Sicherheits- und Verteidigungspolitik hinaus. “Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig” lautet ihr Anspruch. Neben dem Schutz vor Krieg und Gewalt fasst sie demnach ebenso die Widerstandskraft der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nach innen und außen sowie den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen als Sicherheitsbelange auf. Ihr Leitmotiv ist deshalb Integrierte Sicherheit.
Das bedeutet erstens, alle in dieser Breite betroffenen Politikbereiche zusammenzudenken. Nicht nur Diplomatie, Streitkräfte, Nachrichtendienste und Polizei tragen zur Sicherheit der Bundesrepublik bei, sondern zum Beispiel auch unabhängige Energieversorgung, verlässliche Nachrichtenmedien, ehrenamtliche Hilfsorganisationen und funktionierende Transportwege. Zum Zweiten gilt es, alle dafür relevanten Akteure, Instrumente und Mittel synchronisiert zur Wirkung zu bringen – multilateral in Nato und EU sowie innerhalb Deutschlands gesamtstaatlich und gesamtgesellschaftlich. Hier wird es komplex, denn neben praktisch allen Bundesministerien sind auch die Bundesländer und die Kommunen einzubeziehen und ebenso Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft.
In ihrem Vorwort schreibt Außenministerin Baerbock, dass die Nationale Sicherheitsstrategie keinen Schlusspunkt, sondern einen Anfang darstellt. Ein Jahr nach Verabschiedung der Strategie lohnt es sich also zu fragen, wo wir stehen. Zunächst ist festzustellen, dass im 75. Jahr des Bestehens der Bundesrepublik mit dieser Strategie ein bislang leeres Glas erstmalig befüllt worden ist – auch wenn der Inhalt vielleicht nicht allen schmeckt. Kritische Stimmen verweisen darauf, dass der Anspruch an eine Strategie doch in verbindlicher Zuschreibung von Verantwortlichkeiten, priorisierter Ressourcenzuweisung – insbesondere von Haushaltsmitteln – und Schritten zur Umsetzung liegt.
Auf der Strecke bleibt bei dieser Kritik allerdings zuweilen, dass angesichts des extrem von Tagesaktualität getriebenen Politikbetriebs bereits die konzertierte Befassung mehrerer Ministerien mit Deutschlands Sicherheitslage, die Erarbeitung einer kohärenten Lagebeurteilung und die Formulierung einer gemeinsamen Absicht von strategischem Wert sind.
Tatsächlich geht es nun darum, den Dreiklang aus Zielen, Wegen und Mitteln abgestimmt fortzuschreiben. Um im Bild zu bleiben: Es gilt, nachzuschenken, um das Glas vollständig zu füllen. Eine Weiterentwicklung der Nationalen Sicherheitsstrategie liegt auf der Hand. Zugleich erfolgt derzeit ihre Umsetzung in Form weiterer Dokumente und Ableitungen. So wurden zum Beispiel im Juli 2023 die China-Strategie der Bundesregierung, im September 2023 die Verteidigungspolitischen Richtlinien und im Juni 2024 die Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung beschlossen.
Während die Außen- und die Verteidigungspolitik vollständig beim Bund liegen, betrifft die Gesamtverteidigung mit Themen wie Zivilschutz, medizinischer Versorgung und Nahrungsmittelbevorratung jedoch das gesamte föderale System. Die Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte der Bundesländer sind zu wahren und somit dicke politische Bretter zu bohren – wobei die Zeit drängt.
Ebenso hält die Bundesregierung in der Sicherheitsstrategie fest, dass sie zu einem regelmäßigen Austausch mit dem Deutschen Bundestag und den Ländern bereit ist. Hier sollten alle Beteiligten aktiv und engagiert aufeinander zugehen. Nur so ist die alternativlose Gesamtstaatlichkeit zu gewährleisten.
Hilfreich wäre es zudem, permanente Foren oder Formate zu etablieren, die eine gesamtgesellschaftliche Einbindung ermöglichen – insbesondere der Blaulicht- und Hilfsorganisationen sowie auch der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Denn wie heißt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie: “Sicherheit geht alle Menschen in unserem Land etwas an, alle tragen dafür Verantwortung und haben etwas beizutragen.”
Generalmajor Wolf-Jürgen Stahl ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS).
Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik ernennt Thomas Kleine-Brockhoff zu ihrem neuen Direktor. Er übernimmt am 15. August 2024. Kleine-Brockhoff, zuvor Guido Goldman Distinguished Scholar for Geostrategy beim German Marshall Fund (GMF) leitete fünf Jahre lang das Berliner Büro des GMF und war zwischen 2013 und 2017 Berater des Bundespräsidenten Joachim Gauck.
Kleine-Brockhoff war vorher Journalist bei der Zeit und Leiter des Büros in Washington. Inmitten der Zeitenwende werde die DGAP “mehr denn je gebraucht”, sagt Kleine-Brockhoff, “als Plattform zur Diskussion, zur Analyse und zum Weiterdenken von Außenpolitik und dem Einbezug unterschiedlichster Zielgruppen in ihre Gestaltung und Vermittlung”. Die Organisation zu leiten, verstehe er als “Auftrag zur Erneuerung”. Bis Februar 2024 hatte Guntram Wolff die DGAP geleitet. red
Torsten Akmann ist neuer ziviler Vizepräsident des Bundesamts für den Militärischen Abschirmdienst (MAD). Das Verteidigungsministerium teilte am Donnerstag seine Ernennung durch Verteidigungsminister Boris Pistorius mit. Akmann war bis Februar 2023 Staatssekretär in der Berliner Innenverwaltung und zuvor Referatsleiter im Innenministerium.
Mit der Präsidentin Martina Rosenberg und dem militärischen Vizepräsidenten Brigadegeneral Ralf Feldotto bildet Akmann die Amtsleitung beim Militärischen Abschirmdienst. Ihm sind vier Abteilungen des Amtes unterstellt, die sich unter anderem mit der Spionageabwehr und der Extremismusabwehr befassen. Akmann folgt auf Burkhard Even. red
schon heute Abend fliegt Joe Biden vom G7-Gipfel in Italien weiter in die Schweiz. Auch für Olaf Scholz ist die Zusammenkunft in Apulien eigentlich nur ein Zwischenstopp auf dem Weg zum Vierwaldstättersee. Dort beginnt am Samstagabend die von der Schweiz organisierte Friedenskonferenz für die Ukraine – ohne Russland, ohne Brasilien, ohne China.
Wer kommt, wollen die Veranstalter erst kurz vor Beginn bekannt geben; neunzig Staaten wären schon ein Erfolg für die Ukraine, schreibt unser Korrespondent in Kiew, Denis Trubetskoy, der in seiner Analyse der Frage nachgeht, wie auf der Konferenz auf dem Bürgenstock Wege zum Frieden gefunden werden können.
Ein Jahr wird die deutsche Nationale Sicherheitsstrategie heute alt. Nana Brink fasst zusammen, warum die Umsetzung der Strategie seit der Vorstellung durch die Bundesregierung am 14. Juni 2023 weit hinter den Erwartungen geblieben ist. Nacharbeit in Sachen Länderbeteiligung fordert der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Baks), Wolf-Jürgen Stahl, in seinem Standpunkt.
Ein schönes Wochenende wünscht
Die letzten Monate der Vorbereitung des Friedensgipfels, der am Wochenende in der Schweiz stattfinden wird, hat sich die Staatsführung in Kiew bestimmt einfacher vorgestellt. Anfang Juni sprach Präsident Wolodymyr Selenskyj ungewöhnlich kritisch über Peking. Neben Russland arbeite China aktiv daran, Länder des Globalen Südens davon abzuhalten, an der zweitägigen Friedenskonferenz teilzunehmen.
Dass Selenskyjs Aussagen nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigen die Entwicklungen der letzten Tage. Radio Free Europe/Radio Liberty berichtete am Dienstag mit Verweis auf anonyme EU-Diplomaten, dass die Anzahl der Staaten und Organisationen, die ihre Teilnahme bestätigt hatten, von 93 auf 78 zurückgegangen sei. Anonyme ukrainische Telegram-Kanäle, denen eine Verbindung zur Kiewer Regierung nachgesagt wird, sprachen jedoch am Mittwoch weiterhin von mehr als 90 erwarteten Teilnehmern. Es ist davon auszugehen, dass im Hintergrund ein harter diplomatischer Schlagabtausch läuft – und dass die finale Teilnehmerliste erst am Vorabend feststehen wird.
Dass China nicht am Gipfel teilnehmen wird, ist für die Ukraine ärgerlich, weil Kiew sich intensiv um die Teilnahme Pekings bemüht hatte. Den ukrainischen Verantwortlichen war jedoch klar, dass dies eher unwahrscheinlich und dass China ohnehin nicht auf höchster Ebene vertreten sein würde.
Die Ukraine ist aus mehreren Gründen daran interessiert, dass Länder wie Katar, Saudi-Arabien, die Türkei oder die Vereinigten Arabische Emirate, die vergleichsweise gute Beziehungen sowohl zu Kiew als auch zu Moskau haben, Vertreter in die Schweiz schicken. Saudi-Arabien dürfte Medienberichten zufolge allerdings nicht zu den Teilnehmern gehören, was alleine noch keine herbe Niederlage wäre. Chinas angebliche Aktivitäten im Hintergrund sind für Kiew dennoch besorgniserregend.
Obwohl die Ukraine eine Einladung Russlands zur zweiten Friedenskonferenz nicht ausschließt, sieht Kiew die ukrainische Friedensformel nicht ernsthaft als Grundlage für künftige Gespräche mit Moskau. Vielmehr formuliert sie das strategische Ziel der Ukraine, das sie auch nach dem Krieg und mit diplomatischen und politischen Mitteln verfolgen wird: die volle Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes. Dies könnte wie etwa im Falle der deutschen Wiedervereinigung auch sehr lange dauern, doch Kiew wird von diesem vom Völkerrecht gedeckten Ziel keinesfalls abkehren. Je mehr Länder das Recht der Ukraine auf die Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität anerkennen – auch wenn nicht zwingend mit militärischen Mitteln – desto besser für Kiew.
Beim anstehenden ersten Gipfel wird das sicher noch nicht geschehen. Denn der Fokus wird zunächst nur auf drei der zehn Punkte aus dem ukrainischen Friedensplan liegen, bei denen eine globale Einigkeit vermeintlich einfacher zu erreichen ist. Zu diesen Punkten gehören atomare Sicherheit, Lebensmittelsicherheit sowie Gefangenaustausch beziehungsweise Rückführung aller Deportierten, inklusive der verschleppten Kinder.
Es ist auch ein recht allgemeines Abschlussstatement des Gipfels zu erwarten. Gleichzeitig ist es erst der Beginn eines offensichtlich schwierigen Prozesses – und sollten tatsächlich um die 90 Teilnehmer in die Schweiz kommen, wäre das für die Ukraine sicher ein Erfolg. Zumal es für das angegriffene Land wichtig ist, den Friedensdiskurs zu dominieren und wenig Raum für alternative Projekte und Vorschläge zu lassen.
Insgesamt aber liegen die größten Hoffnungen für den Schweizer Gipfel nicht auf den öffentlichen Diskussionen und den Abschlussstatements, sondern auf Hintergrundgesprächen. Zweifellos wird Russland, das sich momentan in der militärisch stärkeren Position sieht, in absehbarer Zeit kein ernsthaftes Interesse an der Einstellung der Kampfhandlungen haben – und wenn, dann zu inakzeptablen Bedingungen für die Ukraine. Dazu gehört vor allem die sogenannte “Entmilitarisierung”: Russland will die maximal mögliche Reduzierung der ukrainischen Streitkräfte erreichen, um das Nachbarland mittel- und längerfristig verteidigungsunfähig zu machen.
Daher gibt es für die Ukraine keine Alternative dazu, zunächst einmal durchzuhalten – und mit der seit Jahresende gestiegenen Munitionsproduktion im Westen zu versuchen, die russische Armee zumindest zu stoppen. Doch während ein prinzipieller Kompromiss zu territorialen Fragen ausgeschlossen zu sein scheint, weil beide Staaten die gleichen sechs Regierungsbezirke beanspruchen, dürfte ein bedingungsloser Waffenstillstand der wohl wahrscheinlichste Kriegsausgang sein.
Doch selbst einen solchen Waffenstillstand zu beschließen, wäre kompliziert: Die Schwierigkeiten würden dabei schon bei der Frage beginnen, wer dessen Einhaltung kontrollieren soll. Der Friedensgipfel in der Schweiz bietet theoretisch eine gute Grundlage, um mit Ländern wie Katar oder der Türkei darüber zu reden. Ob es wirklich dazu kommt, hängt von vielen Faktoren ab – und wird mit großer Wahrscheinlichkeit zunächst sowieso nicht an die Öffentlichkeit gelangen.
Die Bundeswehr hat, unbestritten, ein Personalproblem: Nur noch rund 181.500 Männer und Frauen umfasst die aktive Truppe, und die angestrebte Zahl von gut 200.000 wird seit Jahren nicht erreicht. Da scheint es naheliegend, die Pläne von Verteidigungsminister Boris Pistorius für einen, wie er es nennt, “neuen Wehrdienst” als Personalwerbemaßnahme zu verstehen. Was öffentlich praktisch nicht wahrgenommen wird: Dem Minister geht es eben nicht um eine Aufstockung der Streitkräfte im Frieden – sondern um den Aufbau einer Reserve, die Deutschland im Kriegsfall heranziehen kann.
“Es geht nicht um die Personallücke”, sagte Pistorius bei der Vorstellung seines Plans, neue und bis auf Weiteres freiwillige Soldaten zu gewinnen. Diese Lücke müsse zwar geschlossen werden, aber “das können in aller Regel nicht Wehrdienstleistende sein”.
Die Rechnung, die der Minister und die Planer im Wehrressort aufmachen, orientiert sich an den Erkenntnissen und Erwartungen aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Bereits ab 2029, so Pistorius deutlich ausgesprochene Warnung, könne Russland “in der Lage sein, militärisch einen NATO- oder Nachbarstaat anzugreifen”. Für den Fall brauche Deutschland als der größte Bündnispartner in Europa nicht nur seine bestehende Truppe, sondern vor allem zusätzliche Reserven, die die Bundeswehr verstärken können – und, auch das gehört unausgesprochen dazu, verwundete oder gefallene Soldaten ersetzen. “Wir müssen diesen Aufwuchs hinbekommen”, forderte Pistorius.
Die Zahlen klingen ebenso simpel wie ambitioniert. Zu den bereits eingeplanten – aber noch nicht erreichten – 60.000 Reservisten der Bundeswehr sind weitere 200.000 nötig, um einen geplanten Verteidigungsumfang von 460.000 Soldaten und Soldatinnen zu erreichen. Für diese 200.000 sollen unter anderem ehemalige Soldaten gefunden werden, die die Bundeswehr nach Aussetzung der Wehrpflicht bei ihrem Ausscheiden hat ziehen lassen, ohne auch nur nach einer Adresse zu fragen: “Wir wüssten im Ernstfall noch nicht einmal, wen wir mobilisieren können”, klagt der Minister. Schon der Wieder-Aufbau der abgeschafften Verwaltungsstrukturen, die eine Reserve überhaupt erst verfügbar machen, wird das Ressort eine Weile beschäftigen.
Zugleich aber, und dafür dient das Modell des “neuen Wehrdienstes”, sollen junge Männer verpflichtend und junge Frauen freiwillig nach ihrer Bereitschaft zum Dienst an der Waffe überhaupt erstmal gefragt werden. Alle 18-Jährigen eines Geburtsjahrganges sollen künftig einen Fragebogen ausfüllen müssen, in dem sie zu Bildung, Fitness und der Bereitschaft zum Wehrdienst befragt werden. Daraus werden 40.000 Männer ausgewählt, die ebenfalls verpflichtend zur Musterung geladen werden – von denen aber dann nur ein geringer Teil zum Wehrdienst faktisch eingeladen wird: Eine Pflicht zum Antreten ist, vorerst, nicht vorgesehen.
Die sehr begrenzte Pflicht ist der politischen Bewegungsfreiheit des Verteidigungsministers ebenso geschuldet wie den praktischen Möglichkeiten der Bundeswehr. In der Ampelkoalition ist eine Wehrpflicht mit den Partnern Grüne und FDP derzeit nicht machbar. Aber auch die Truppe wäre überfordert, wenn sie wie vor mehr als einem Jahrzehnt wieder Zehntausende junger Männer ausbilden, unterbringen und mit Waffen und Gerät ausstatten müsste: Die geschrumpften Streitkräfte geben das schlicht nicht her.
Die Planer im Verteidigungsministerium gehen deshalb zunächst davon aus, dass auf diesem Wege pro Jahr 5.000 Männer und auch Frauen gewonnen werden können, die für mindestens sechs Monate zur Truppe kommen und, so sie wollen, auf zwölf oder mehr Monate Dienstzeit verlängern. In den sechs Monaten Minimum, das ist dem Minister klar, wird es nur eine sehr grundlegende Ausbildung an der Waffe geben können. Doch diese Soldaten hätten dann zumindest die Voraussetzung, im Spannungs- oder Verteidigungsfall als Heimatschutzkräfte im Inland zum Beispiel die kritische Infrastruktur zu schützen, während die aktive Truppe an der Ostflanke der NATO gebunden ist. Wer sich für bis zu 23 Monate verpflichtet, die längstmögliche Zeit unterhalb eines Einstiegs als Zeitsoldat in die aktive Truppe, soll dann auch in Einsatzverbände integriert werden können.
Mit dem neuen Modell, faktisch eine Ausweitung des bereits heute bestehenden “Freiwilligen Wehrdienstes”, ist allerdings die Grundsatzdebatte über eine Wehrpflicht nur aufgeschoben. Das weiß auch der Minister. Die grundlegende Diskussion, so seine Argumentation, müsse auch die Frage einbeziehen, ob weiterhin ein verpflichtender Wehrdienst nur für Männer vorgesehen sein könne. Aber die Debatte über eine Grundgesetzänderung, die eine Wehrpflicht auch für Frauen ermöglichen würde, sei vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr nicht abschließend zu schaffen. Schon gar nicht, wenn die bereits laufende Diskussion über eine allgemeine Dienstpflicht hinzukomme.
Schon für die mit dem “neuen Wehrdienst” vorgesehenen minimalen Verpflichtungen für Männer müssen Gesetze geändert werden: Die Pflicht, Auskunft zu erteilen und sich mustern zu lassen, gehört zu den Teilen des Wehrpflichtgesetzes, die 2011 ausgesetzt werden und derzeit nur im Verteidigungs- oder Spannungsfall automatisch in Kraft treten. Eine Neufassung, hofft Pistorius, kann nach den Gesprächen in der Bundesregierung im Herbst ins Parlament eingebracht und vor der Sommerpause 2025 verabschiedet werden: dann ist angesichts des beginnenden Bundestagswahlkampfes nicht mehr viel möglich.
Die aktive Truppe, so hofft der Minister übrigens, wird dennoch von diesen Plänen profitieren. Denn wie zu Zeiten der Wehrpflicht werde es einen Teil der Wehrdienstleistenden geben, die nach einigen Monaten Bundeswehr Gefallen gefunden hätten am Soldatenberuf und sich für Jahre verpflichten wollten.
Sie umfasst 76 Seiten und sollte ein historischer Meilenstein werden, die erste Nationale Sicherheitsstrategie einer Bundesregierung. Aber ein Jahr nach ihrem Erscheinen “ist nicht viel passiert, sie ist schnell in Vergessenheit geraten”, wie Carlo Masala, Politikprofessor an der Universität der Bundeswehr in München, urteilt. Das Dokument, das die strategische Ausrichtung Deutschlands neu justieren soll, sei eine “gute Beschreibung der momentanen und künftigen Herausforderungen”. Aber die neue Strategie zeige “keine Konsequenzen” auf: “Sie ist auf der Analyse-Ebene stehen geblieben”.
Deutlichster Ausdruck der Zeitenwende-Politik der Ampel-Koalition ist die Neu-Bewertung Russlands als “größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit in Europa”. Klarer als in jedem anderen Dokument wird die “glaubwürdige Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit” als “unverzichtbares Fundament” für Deutschlands Sicherheit definiert. Die neue Strategie nennt drei “zentrale Dimensionen” der Sicherheitspolitik: Wehrhaftigkeit, Resilienz und Nachhaltigkeit.
Gemeint sind mit ersterem die militärischen Fähigkeiten und die Ausrichtung der Bundeswehr auf die Landes- und Bündnisverteidigung. Unter dem Stichwort Resilienz werden gesellschaftliche und wirtschaftliche Themen adressiert, zum Beispiel Energiesicherheit und Innovationen. Aber auch die Klimakrise oder die globale Nahrungsversorgung finden sich als Sicherheitsrisiken unter der Überschrift “Nachhaltigkeit” wieder.
Neu eingeführt wird der Begriff der “Integrierten Sicherheit für Deutschland”, das das alte Modell der “vernetzten Sicherheit” ablösen soll. Gemeint ist damit, dass neben dem Militär auch gesellschaftliche und privat-wirtschaftliche Akteure Teil des neuen Sicherheitskonzeptes sind. Innere und äußere Sicherheit sind nicht mehr voneinander zu trennen. Der Schutz vor “hybriden Bedrohungen” oder “Desinformation” gehören genauso dazu wie die Forderung nach einem “europäischen Aktionsplan zur Sicherung der Rohstoffe”.
Was nicht benannt wird – und dies ist einer der zentralen Kritikpunkte, die ein Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zusammenfasst: Angesichts knapper finanzieller Ressourcen findet keine Priorisierung statt. Für Claudia Major, Verteidigungsexpertin bei der SWP “bleibt problematisch, dass die in der Sicherheitsstrategie formulierten Ziele nicht mit Ressourcen hinterlegt sind”.
Ein weiteres zentrales Defizit ist für General Wolf-Jürgen Stahl, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, die fehlende öffentliche Diskussion. Die Bedeutung dieser Strategie und ihre Durchschlagskraft sei in der Bevölkerung “noch nicht angekommen“. Dies sei aber “dringend nötig”. Oder wie Politikwissenschaftler Masala gegenüber Table.Briefings erklärt: “Wir müssen die Frage beantworten: Wie bekommen wir eine resiliente Gesellschaft? Wie schaffen wir dafür ein Bewusstsein in der Bevölkerung? Das ist die wichtigste Aufgabe.”
Ebenfalls umstritten ist die Finanzierung der angekündigten “integrierten Sicherheitspolitik”. In der Strategie heißt es verklausuliert: “Angesichts der erheblichen aktuellen Anforderungen an unsere öffentlichen Haushalte streben wir an, die Aufgaben dieser Strategie ohne zusätzliche Belastung des Bundeshaushalts insgesamt zu bewältigen”. De facto bedeutet dies: Er wird in dieser Legislaturperiode keinen Etat oder etwa ein Sondervermögen dafür geben. Für die Politikwissenschaftlerin Jana Puglierin vom European Council on Foreign Relations ein entscheidender Fehler: “Die Nationale Sicherheitsstrategie kann noch so überzeugend sein – wenn sie nicht mit den nötigen finanziellen Mitteln hinterlegt wird, bleibt sie ein Haufen Papier”.
Nicht nur Experten kritisieren darüber hinaus die mangelnde Koordination der Folge-Strategien, die in den einzelnen Ressorts wie dem Innen- oder Wirtschaftsministerium erarbeitet werden sollen. So erklärt der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter, die Ampel-Regierung habe zwar einen “Katalog von Maßnahmen zusammengeschrieben”. Was fehle, sei aber eine Institution wie ein Nationaler Sicherheitsrat, der unter anderem die nötigen Prioritäten setze: “Wir haben eine Gleichzeitigkeit von Krisen, die zu einer Ressourcen-Konkurrenz führen”. Ähnlich sieht es auch Sicherheitsexperte Masala, der die Verantwortung dafür beim Kanzler sieht. Die Folge-Strategien müssten “koordiniert werden und das kann eigentlich nur im Bundeskanzleramt erfolgen. Das sehe ich bislang nicht”.
Die grüne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bemerkte bei der Veröffentlichung vor einem Jahr, die Strategie sei “kein Schlusspunkt, sondern ein Anfang”. Wann allerdings ein Nachfolge-Dokument erscheinen soll, ist völlig unklar. Bislang ist es in das Belieben jeder Bundesregierung gestellt, strategischen Leitlinien zu formulieren. Oder auch nicht.
Am ersten Tag des G7-Gipfels im süditalienischen Apulien haben der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und US-Präsident Joe Biden ein Sicherheitsabkommen mit einer Laufzeit von zehn Jahren unterzeichnet. Es sei ein Schritt hin zu “einer Brücke zur künftigen Mitgliedschaft der Ukraine im Nato-Bündnis”, heißt es in dem Text. Die USA sichern der Ukraine unter anderem weitere militärische Unterstützung, Kooperation mit Blick auf die Rüstungsindustrie und den Austausch von Geheimdienstinformationen zu.
Bis Ende des Jahres soll die Ukraine zudem auf einen Kredit in Höhe von etwa fünfzig Milliarden US-Dollar zurückgreifen können – auch für Waffenkäufe. Das beschlossen die Staats- und Regierungschefs der sieben führenden Industriemächte (G7) am Donnerstag auf ihrem Gipfel im süditalienischen Borgo Egnazia. Der Kredit soll mit Zinserträgen aus eingefrorenem russischen Staatsvermögen finanziert werden. Die ukrainische Regierung soll das Geld auch für den Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur und bei Engpässen im Staatshaushalt nutzen können.
Die EU-Staaten hatten bereits zuvor entschieden, Zinsen direkt für die Finanzierung von Militärhilfen für die Ukraine bereitzustellen. Über den sogenannten Kredithebel kann die Wirkung nun deutlich erhöht werden. Das in Brüssel ansässige Finanzinstitut Euroclear hatte zuletzt mitgeteilt, 2023 rund 4,4 Milliarden Euro an Zinsen eingenommen zu haben.
Für die meisten der Staats- und Regierungschefs war das Luxusresort “Borgo Egnazia” im süditalienischen Apulien nur ein Zwischenstopp: Schon am Freitagabend verlässt unter anderem Joe Biden den offiziell bis Samstag dauernden Gipfel Richtung Schweiz. Bundeskanzler Olaf Scholz folgt ihm am Samstagmittag im Flieger nach Zürich, von wo er weiterreisen wird auf den Bürgenstock bei Luzern. Dort beginnt um 17.30 Uhr die Eröffnungssitzung der Konferenz zum Frieden in der Ukraine, die Bundespräsidentin der Schweizer Eidgenossenschaft, Viola Amherd, leitet die Zusammenkunft.
Offiziellen Angaben zufolge sollen sich neunzig Länder und Organisationen für die Konferenz am Vierwaldstättersee angemeldet haben. Darunter sind Mitglieder der G7, der G20, der Schwellenländergruppe Brics sowie auch Vertreter der EU, der UN und des Vatikans. Ungefähr die Hälfte der Teilnehmer kommt Schweizer Angaben zufolge aus Lateinamerika, Asien, Afrika und dem Nahen Osten. Ziel der Gespräche ist laut der Schweizer Regierung, gemeinsam einen Fahrplan für einen Friedensprozess zu erarbeiten. mrb
Die Nato löst das US-geführte Ramsteinformat bei der Koordination der Militärhilfe für die Ukraine ab, zumindest zum großen Teil: Er gehe davon aus, dass die Verteidigungsminister heute den Operationsplan für die Hilfe und Ausbildung in der Ukraine verabschiedeten, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg am Donnerstag. Es sei sinnvoll, dass die Nato hier eine größere Rolle spiele, da 99 Prozent der gesamten militärischen Unterstützung von den Verbündeten geleistet werde.
In einem schriftlichen Verfahren hatte der Transfer der Koordination schon am Donnerstag eine letzte Hürde genommen. Bis zuletzt umstritten war der Name der Plattform, über die innerhalb der Nato die Unterstützung koordiniert werden soll. Deutschland wehrte sich dagegen, dass der Begriff “Mission” vorkommt, da dies russischer Propaganda von einem militärischen Engagement des Bündnisses Auftrieb leisten könnte. Vorerst wurde der Name “Nato Security Assistance and Training for Ukraine” (NSATU) festgehalten.
Ein Motiv für den Transfer vom US-geführten Ad hoc Format in die Nato-Struktur ist es, die Koordination “Trump proofed” zu machen. Bei einem Comeback Donald Trumps als US-Präsident könnte die Hilfe nicht ohne weiteres gestoppt werden, so das Kalkül am Sitz des Bündnisses. Die Institutionalisierung der Hilfe ist Teil eines “Ukraine-Pakets”, das auf dem Gipfel Anfang Juli in Washington von den Staats- und Regierungschefs formell beschlossen werden soll.
Teil des Pakets sollen auch längerfristige finanzielle Zusagen sein: Die Ukraine brauche eine berechenbare Unterstützung, bekräftigte Stoltenberg am Donnerstag. Seit dem Einmarsch Russlands hätten die Bündnispartner jedes Jahr militärische Unterstützung im Wert von etwa 40 Milliarden Euro geleistet. Dieses Unterstützungsniveau müsse als Minimum beibehalten werden, solange es nötig sei. Der Nato-Generalsekretär hofft, dass die Verteidigungsminister ihm hier folgen und den jährlich 40 Milliarden Euro als Teil des Ukraine-Pakets zustimmen. sti
Klappt es heute mit der politischen Einigung auf das 14. Sanktionspaket gegen Russland? Die belgische Ratspräsidentschaft hat die Botschafter der Mitgliedstaaten für den Abend zu einer Sondersitzung eingeladen. Beim regulären Treffen am Mittwoch hatte Deutschland in letzter Minute Vorbehalte gegen eine Art No-Russia-Klausel angemeldet. Mit der Klausel soll eigentlich die Umgehung der EU-Sanktionen gegen Russland zumindest erschwert werden.
Die Formulierungen seien zu weitgehend und könnten Exportunternehmen Geschäfte in Drittstaaten verunmöglichen, hieß es in Berlin. Die Klausel schade europäischen Firmen mehr als Russland. Tatsache ist, dass die EU zwar ein umfassendes Sanktionsregime erlassen hat, die Strafmaßnahmen derzeit aber relativ einfach umgangen werden können.
Deutliches Indiz sind die massiven Zunahmen von sanktionierten Gütern wie auch von Kraftfahrzeugen aus Deutschland in Ex-Sowjetrepubliken wie Kirgistan. Der Re-Export über Drittstaaten nach Russland ist zwar heute schon verboten. Nun aber sollen EU-Firmen das Wiederausfuhrverbot in den Verträgen mit den Abnehmern festschreiben.
Europäische Unternehmen könnten gleichzeitig haften, wenn Zweigniederlassungen oder Zwischenhändler sich an Umgehungsgeschäften beteiligen und sanktionierte Produkte nach Russland weiter verkaufen. Die Bundesregierung will laut Diplomaten erreichen, dass die geplante Regel zur Haftung von Zweigniederlassungen von EU-Firmen auf bestimmte Güter eingegrenzt oder ganz gestrichen wird.
Neben den Maßnahmen gegen Umgehungsgeschäfte sieht das 14. Sanktionspaket vor, dass Russland LNG nicht mehr über europäische Häfen wie Zeebrugge in Drittstaaten exportieren kann. Neue Strafmaßnahmen sind zudem gegen die Schattenflotten vorgesehen, mit denen Russland den Ölpreisdeckel umgeht.
Der belgische EU-Ratsvorsitz wollte das 14. Sanktionspaket eigentlich vor Beginn des G7-Treffens in Italien verabschiedet haben. Berlin ist mit den Vorbehalten bei den europäischen Partnern auf Unverständnis gestoßen. Umso mehr, als Ungarn diesmal an Bord war und am Mittwoch keine Einwände mehr hatte. tho/sti
The New York Times: U.S. Confronts Failures as Terrorism Spreads in West Africa. Die Antiterroreinsätze westlicher Streitkräfte in Westafrika sind gescheitert. Islamistische Gruppen werden immer stärker und die Regierungen in der Region wenden sich Russland zu. Analyse, was die USA in Mali und Niger falsch gemacht haben.
Podcast: Stiftung Wissenschaft und Politik: US Presidential Election 2024 – Money, trade and the transatlantic economy. Laura von Daniels und Mark Copelovitch diskutieren, was eine Trump-Präsidentschaft für die internationale Sicherheit und Wirtschaft bedeuten würde und wie die Stärke des US-Dollars die globale US-Dominanz erhält. 28 Minuten.
Wall Street Journal: How an Iranian-Backed Militia Ties Down U.S. Naval Forces in the Red Sea. Obwohl die Angriffe der Huthi-Rebellen weitgehend wirkungslos sind, gefährden sie die Schifffahrt. Und ihre Abwehr ist imens teuer: Die US Navy hat nach eigenen Angaben seit November bereits eine Milliarde Dollar für Munition ausgegeben, 450 Angriffe durchgeführt und mehr als 200 Drohnen und Raketen abgefangen.
Der Gesundheitsminister kündigt an, Kliniken besser auf militärische Konflikte vorzubereiten, die Bildungsministerin spricht sich für Zivilschutzübungen an Schulen aus, und der Wirtschaftsminister fordert mehr Rüstungsforschung. Solche Vorstöße wären in Deutschland vor der Zeitwende politische Tabubrüche gewesen. Heute zeugen sie von der nüchternen Anerkennung neuer Realitäten.
Dabei können sie sich auf eine amtliche Grundlage berufen. Denn vor einem Jahr hat die Bundesregierung erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie beschlossen. Schon zuvor gab es Strategiedokumente, die jeweils bestimmte Politikfelder betrafen, wie etwa das Weißbuch zur Sicherheitspolitik oder die Leitlinien für zivile Krisenprävention. Doch nun existiert erstmals eine Strategie, welche die nationale Sicherheit in ihrer gesamten Breite betrachtet. Das Dokument steht durchaus im Geiste der Zeitenwende, benennt Russland auf absehbare Zeit als die größte Bedrohung für Europa, schreibt eine leistungsfähige Bundeswehr vor und bekennt sich zum Zwei-Prozent-Ziel sowie zur Nuklearen Teilhabe der Nato.
Doch die Nationale Sicherheitsstrategie greift deutlich über diese klassischen Dimensionen von Sicherheits- und Verteidigungspolitik hinaus. “Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig” lautet ihr Anspruch. Neben dem Schutz vor Krieg und Gewalt fasst sie demnach ebenso die Widerstandskraft der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nach innen und außen sowie den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen als Sicherheitsbelange auf. Ihr Leitmotiv ist deshalb Integrierte Sicherheit.
Das bedeutet erstens, alle in dieser Breite betroffenen Politikbereiche zusammenzudenken. Nicht nur Diplomatie, Streitkräfte, Nachrichtendienste und Polizei tragen zur Sicherheit der Bundesrepublik bei, sondern zum Beispiel auch unabhängige Energieversorgung, verlässliche Nachrichtenmedien, ehrenamtliche Hilfsorganisationen und funktionierende Transportwege. Zum Zweiten gilt es, alle dafür relevanten Akteure, Instrumente und Mittel synchronisiert zur Wirkung zu bringen – multilateral in Nato und EU sowie innerhalb Deutschlands gesamtstaatlich und gesamtgesellschaftlich. Hier wird es komplex, denn neben praktisch allen Bundesministerien sind auch die Bundesländer und die Kommunen einzubeziehen und ebenso Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft.
In ihrem Vorwort schreibt Außenministerin Baerbock, dass die Nationale Sicherheitsstrategie keinen Schlusspunkt, sondern einen Anfang darstellt. Ein Jahr nach Verabschiedung der Strategie lohnt es sich also zu fragen, wo wir stehen. Zunächst ist festzustellen, dass im 75. Jahr des Bestehens der Bundesrepublik mit dieser Strategie ein bislang leeres Glas erstmalig befüllt worden ist – auch wenn der Inhalt vielleicht nicht allen schmeckt. Kritische Stimmen verweisen darauf, dass der Anspruch an eine Strategie doch in verbindlicher Zuschreibung von Verantwortlichkeiten, priorisierter Ressourcenzuweisung – insbesondere von Haushaltsmitteln – und Schritten zur Umsetzung liegt.
Auf der Strecke bleibt bei dieser Kritik allerdings zuweilen, dass angesichts des extrem von Tagesaktualität getriebenen Politikbetriebs bereits die konzertierte Befassung mehrerer Ministerien mit Deutschlands Sicherheitslage, die Erarbeitung einer kohärenten Lagebeurteilung und die Formulierung einer gemeinsamen Absicht von strategischem Wert sind.
Tatsächlich geht es nun darum, den Dreiklang aus Zielen, Wegen und Mitteln abgestimmt fortzuschreiben. Um im Bild zu bleiben: Es gilt, nachzuschenken, um das Glas vollständig zu füllen. Eine Weiterentwicklung der Nationalen Sicherheitsstrategie liegt auf der Hand. Zugleich erfolgt derzeit ihre Umsetzung in Form weiterer Dokumente und Ableitungen. So wurden zum Beispiel im Juli 2023 die China-Strategie der Bundesregierung, im September 2023 die Verteidigungspolitischen Richtlinien und im Juni 2024 die Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung beschlossen.
Während die Außen- und die Verteidigungspolitik vollständig beim Bund liegen, betrifft die Gesamtverteidigung mit Themen wie Zivilschutz, medizinischer Versorgung und Nahrungsmittelbevorratung jedoch das gesamte föderale System. Die Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte der Bundesländer sind zu wahren und somit dicke politische Bretter zu bohren – wobei die Zeit drängt.
Ebenso hält die Bundesregierung in der Sicherheitsstrategie fest, dass sie zu einem regelmäßigen Austausch mit dem Deutschen Bundestag und den Ländern bereit ist. Hier sollten alle Beteiligten aktiv und engagiert aufeinander zugehen. Nur so ist die alternativlose Gesamtstaatlichkeit zu gewährleisten.
Hilfreich wäre es zudem, permanente Foren oder Formate zu etablieren, die eine gesamtgesellschaftliche Einbindung ermöglichen – insbesondere der Blaulicht- und Hilfsorganisationen sowie auch der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Denn wie heißt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie: “Sicherheit geht alle Menschen in unserem Land etwas an, alle tragen dafür Verantwortung und haben etwas beizutragen.”
Generalmajor Wolf-Jürgen Stahl ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS).
Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik ernennt Thomas Kleine-Brockhoff zu ihrem neuen Direktor. Er übernimmt am 15. August 2024. Kleine-Brockhoff, zuvor Guido Goldman Distinguished Scholar for Geostrategy beim German Marshall Fund (GMF) leitete fünf Jahre lang das Berliner Büro des GMF und war zwischen 2013 und 2017 Berater des Bundespräsidenten Joachim Gauck.
Kleine-Brockhoff war vorher Journalist bei der Zeit und Leiter des Büros in Washington. Inmitten der Zeitenwende werde die DGAP “mehr denn je gebraucht”, sagt Kleine-Brockhoff, “als Plattform zur Diskussion, zur Analyse und zum Weiterdenken von Außenpolitik und dem Einbezug unterschiedlichster Zielgruppen in ihre Gestaltung und Vermittlung”. Die Organisation zu leiten, verstehe er als “Auftrag zur Erneuerung”. Bis Februar 2024 hatte Guntram Wolff die DGAP geleitet. red
Torsten Akmann ist neuer ziviler Vizepräsident des Bundesamts für den Militärischen Abschirmdienst (MAD). Das Verteidigungsministerium teilte am Donnerstag seine Ernennung durch Verteidigungsminister Boris Pistorius mit. Akmann war bis Februar 2023 Staatssekretär in der Berliner Innenverwaltung und zuvor Referatsleiter im Innenministerium.
Mit der Präsidentin Martina Rosenberg und dem militärischen Vizepräsidenten Brigadegeneral Ralf Feldotto bildet Akmann die Amtsleitung beim Militärischen Abschirmdienst. Ihm sind vier Abteilungen des Amtes unterstellt, die sich unter anderem mit der Spionageabwehr und der Extremismusabwehr befassen. Akmann folgt auf Burkhard Even. red