seit dem 8. November vergangenen Jahres informiert Security.Table Sie darüber, was Europas Sicherheit gefährdet und was sie schützt. Wir haben früh darauf hingewiesen, dass der russische Krieg in der Ukraine nicht nur die Schwächen der russischen Armee, sondern auch die Probleme der Nato-Staaten offenlegt; wir haben gezeigt, dass der Konflikt die Entwicklung der Drohnen-Kriegsführung beschleunigt; und wir zeigen, wie sehr es zwischen Nato-Partnern wie Deutschland, Frankreich und Polen zuweilen knirscht.
Mit dieser Ausgabe erhalten Sie das 50. Briefing von Security.Table. Mein Kollege Denis Trubetskoy stellt Ihnen den ukrainischen Staatskonzern Ukroboronprom vor, der fast die gesamte Rüstungsbranche des Landes unter einem Dach versammelt. Welche Probleme dieses korruptionsanfällige Konglomerat einst hatte und wie der künftige Partner von Rheinmetall heute dasteht, erfahren Sie in unserer ersten Analyse.
Die rasante Entwicklung der türkischen Rüstungsindustrie ist das Thema der zweiten Analyse von Frank Nordhausen. Es ist erstaunlich – und vielleicht auch besorgniserregend – wie schnell sich ein Staat unter einem autoritär regierenden Präsidenten zu einer großen Rüstungsmacht entwickelt hat. Das Überraschende: In der Vergangenheit haben ausgerechnet die Embargos von Nato-Staaten diese Entwicklung forciert.
Zum Schluss noch ein Ausblick auf die kommende Woche mit dem Standpunkt von Fregattenkapitän Göran Swistek. Vor dem Nato-Gipfel in Vilnius am 11. und 12. Juli macht er deutlich, dass Deutschland seinen Worten Taten folgen lassen muss: Noch sei die Ostflanke nicht genügend abgesichert.
Die russische Invasion von Februar 2022 hat die ukrainische Rüstungsindustrie vor eine neue Realität gestellt. Schnell wurde klar, dass die existierenden Waffenbestände aus der Sowjetzeit für einen großen Verteidigungskrieg nicht ausreichen. Einer der Gründe: Angriffe auf ukrainische Munitionsfabriken. Mehr als 100 Drohnen- und Raketenangriffe auf Rüstungsobjekte in der Ukraine sind in den vergangenen 16 Monaten bekannt geworden, nicht nur im Osten des Landes. Außerdem stellen die neuen mobilen Brigaden eine Herausforderung dar, denn die beschädigte Wehrtechnik soll möglichst vor Ort in Frontnähe repariert werden.
Fast die gesamte Rüstungsbranche der Ukraine ist konzentriert in dem Dachkonzern Ukroboronprom (Ukrainische Verteidigungsindustrie). Selbst nach Beginn des Kriegs im Donbass 2014 lief der Betrieb in großen Standorten wie Kramatorsk im Gebiet Donezk weiter – auch für den Export. Indonesien, Südsudan, die Demokratische Republik Kongo, aber auch die USA, Kanada und Deutschland zählten zu den Abnehmern. Nur nach Russland soll nach offiziellen Angaben seit dem Export eines Hubschraubers im Jahr 2013 keine Ausfuhr mehr erfolgt sein.
Seit Februar 2022 aber ist ohnehin alles anders. Ukroboronprom stellte auf den Import von Waffen um, der Export rückte in den Hintergrund. Zugleich musste der Konzern um ein Vielfaches mehr produzieren, reparieren – und neu entwickeln. Rund 60.000 Menschen beschäftigt der Konzern heute und unterhält Betriebe längst nicht mehr nur in der Ukraine. Selbst bekannt gegeben hat Ukroboronprom Kooperationen in Tschechien und in Polen. Nach ukrainischen Medienberichten sollen dort unter anderem 82-mm-Splitterminen, 120-mm-Minen und 125-mm-Panzermunition hergestellt werden.
Und seit der vergangenen Woche hat Ukroboronprom auch einen neuen Chef: Der erst 31-jährige Herman Smetanin löst Jurij Hussjew, 43, ab. Smetanins Ernennung geht auf den neuen Minister für strategische Industrien, Oleksandr Kamyschin, zurück. Er selbst hatte vorher die ukrainische Bahn geleitet und soll den 31-Jährigen persönlich ausgesucht haben. Kamyschin, 38, ist seit Ende März in seinem neuen Amt. Seitdem hat es Ukroboronprom geschafft, die Produktionskapazitäten etwa bei der Munition deutlich zu erhöhen. Dass ein derart wichtiger Posten einer so jungen Person wie Smetanin anvertraut wird, ist für die Präsidentschaft Wolodymyr Selenskyjs typisch. Er setzt seit seinem Wahlsieg 2019 auf Verjüngung wichtiger Stellen im Staat.
Wie andere staatlich geführte Bereiche musste sich Ukroboronprom nach Kriegsbeginn binnen kürzester Zeit an die schwierigen Bedingungen anpassen. Im Vergleich zur Bahn und zur Post, die in den Vorkriegsjahren modernisiert wurden, war die Ausgangslage des Rüstungskonzerns aber eine andere. Nur gegen scharfe Kritik aus der Bevölkerung gelang es dem damaligen Ministerpräsidenten Wiktor Janukowytsch 2010, die Zusammenlegung der staatlichen Rüstungsunternehmen unter einem Dach durchzusetzen. Die Zeitung Ukrajinska Prawda bezeichnete den neuen Konzern seinerzeit als “Korruptionsspielzeug Janukowytschs”.
“Auch unter Präsident Petro Poroschenko gab es dann trotz des Donbass-Kriegs keine besonderen Schritte nach vorne”, bemängelt der ukrainische Militäranalyst Stanislaw Besuschko. Vielmehr sei die Zahl der durch Medienrecherchen aufgedeckten Korruptionsskandale zum Ende von Poroschenkos Amtszeit 2019 noch einmal in die Höhe gegangen. Erst danach habe sich die Lage bei Ukroboronprom zum Besseren verändert. Als nächster Reformschritt steht der Wandel vom Staatskonzern in eine Aktiengesellschaft an – wenn auch etwas holprig wegen des Krieges.
Heute ist man bei Ukroboronprom stolz darauf, dass der Konzern nur sechs Monate brauchte, um die Produktion auf Zehntausende Geschosse Munition pro Monat zu erhöhen. Zudem erwiesen sich Eigenentwicklungen im Krieg als erfolgreich: Die Radhaubitze 2S22 Bohdana beispielsweise bewährte sich bei der Befreiung der Schlangeninsel im Schwarzen Meer im Juli 2022. Und der Seezielflugkörper R-360 Neptun war für die Versenkung der Moskwa, des Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte, kurz nach Kriegsbeginn verantwortlich. “Das reicht aber nicht. Man hätte hier trotz der Umstände effektiver sein können”, kritisiert Besuschko. Bei der Bohdana etwa hätten sich Probleme gezeigt, die noch behoben werden müssen.
Die im Mai verkündete strategische Partnerschaft mit Rheinmetall hingegen hält Besuschko für einen großen Erfolg. “Das ist sowohl im Hinblick auf das Image von Ukroboronprom als auch im Sinne der Reduzierung von Korruptionsrisiken unglaublich wichtig”, sagt er. “Andere potenzielle Partner werden dadurch sehen, dass die Ukraine vertrauenswürdig ist, dass das Unternehmen wirklich einen Wandel hinbekommt.”
Ein Vertrag über ein Joint Venture von Rheinmetall und Ukroboronprom, an dem das deutsche Unternehmen 51 Prozent besitzen soll, wird dem Rheinmetall-Vorstandsvorsitzenden Armin Papperger zufolge im Juli oder August unterschrieben. Im ersten Schritt wird sich das Joint Venture auf Wartung und Reparatur der an Kiew gelieferten Technik konzentrieren. Dann will man gemeinsam ausgewählte Waffenarten vor Ort in der Ukraine produzieren. Im Gespräch ist der Transportpanzer Fuchs. Noch ist unklar, ob die Produktion in einer bestehenden oder in einer neu zu bauenden Fabrik erfolgen wird. Einiges deutet auf die erste Variante hin, obwohl Rheinmetall offen den Wunsch äußert, eine Panzerfabrik in der Ukraine bauen zu wollen.
Der erstaunliche Aufstieg der türkischen Rüstungsindustrie geht zurück auf die Zeit nach der türkischen Invasion Zyperns 1974, als die USA ein Waffenembargo gegen den Nato-Partner verhängten. Weitere Exportrestriktionen des Westens erfolgten 1994 wegen des Bürgerkriegs mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK oder zuletzt wegen des Erwerbs russischer S-400-Flugabwehrsysteme durch Ankara, der zum Ausschluss der Türkei aus dem F-35-Kampfjetprogramm der USA führte.
Dass einige westliche Länder der Türkei ein “verdecktes Rüstungsembargo” auferlegt hätten, habe seinem Land geholfen, kritische Komponenten durch eigene Entwicklungen zu ersetzen, erklärte Ismail Demir, der Chef des regierungsamtlichen Direktorats der türkischen Verteidigungsindustrie (SSB). Die Produktpalette türkischer Rüstungsfirmen umfasst alle Waffengattungen: Gewehre, gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie- und lasergelenkte Raketensysteme, Kriegsschiffe, Hubschrauber, Aufklärungs- und Kampfdrohnen, Haubitzen.
Ausdrückliches Ziel der türkischen Regierung ist die völlige Unabhängigkeit von Rüstungsimporten und der Aufbau einer autarken nationalen Waffenindustrie. Allein 2022 investierte die Regierung 1,6 Milliarden US-Dollar in die Entwicklung neuer Waffensysteme. Mit ihrer massiven Aufrüstung unterstreicht die Türkei zudem ihr Ziel strategischer Unabhängigkeit und den Anspruch als regionale Ordnungsmacht.
Nach Angaben des SSB-Chefs Ismail Demir hat sich der Umsatz der landeseigenen Waffenindustrie in den vergangenen zehn Jahren auf 10,2 Milliarden US-Dollar verdreifacht und erreicht damit 1,13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Zahl der Firmen im Rüstungssektor ist in den vergangenen zwanzig Jahren von etwa 60 auf inzwischen mehr als 1500 gestiegen. Davon gehören rund ein Fünftel der wichtigsten 100 Unternehmen wie Aselsan, Tusas, Roketsan und Havelsan dem Staat. Daneben sind einige private Unternehmen wie der Drohnenproduzent Baykar Teknoloji in die Spitzengruppe aufgestiegen.
Laut dem türkischen Verteidigungsministerium produziert die Rüstungsindustrie inzwischen 80 Prozent der für die Armee benötigten Militärgüter selbst, während es zum Amtsantritt Erdoğans 2002 nur 20 Prozent waren. Die Internet-Plattform Statista gibt an, dass die Militärausgaben der Türkei von 2015 bis 2019 von 12,3 auf 20,4 Milliarden US-Dollar stiegen – 2,4 Prozent des BIP. Seither halbierten sich die Ausgaben aber wegen der Corona- und der Wirtschaftskrise auf 10,64 Milliarden Dollar 2022. Dennoch bleibt die Türkei laut neuesten Daten des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri bei staatlichen Militärausgaben international auf Platz 15.
Die türkische Waffenindustrie profitiert vom massiven Anstieg der weltweiten Verteidigungsausgaben, den der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auslöste. Laut SSB-Chef Demir wurden 2022 Waffen und Munition im Wert von rund 4,4 Milliarden Dollar exportiert; für 2023 werden sechs Milliarden Dollar angepeilt. Die Hauptabnehmerländer sind Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Oman. Bestseller sind Kampfdrohnen, Raketensysteme, Munition und gepanzerte Fahrzeuge. Die drei wichtigsten Rüstungsunternehmen Aselsan, TAI und Roketsan erzielten 2021 Umsätze von insgesamt 4,36 Milliarden US-Dollar und schafften es in die weltweite Top-100-Liste der amerikanischen Fachzeitschrift Defense News.
Die Türkei ist tief integriert in die rüstungstechnische Nato-Infrastruktur. So hängen die meisten der als “nationale Verteidigungssysteme” bezeichneten Rüstungsprojekte von ausländischen Komponenten ab. Das gilt besonders für Hochtechnologie, etwa Spezialmotoren, strategische Raketen-, Radar- oder Sensorsysteme. Das “nationale Kampfjetprojekt TF-X” des Herstellers TAI scheiterte bisher an der Beschaffung eines leistungsfähigen Antriebmotors ebenso wie der “erste völlig eigene nationaler Kampfpanzer Altay”, für den erst im letzten Jahr ein Antrieb aus Südkorea akquiriert werden konnte.
Das Prestigeprojekt “Milgem” zur Entwicklung “nationaler Kriegsschiffe” kann zwar auf eine eindrucksvolle Eigenbau-Flotte aus 14 Fregatten und 10 Korvetten verweisen, doch stammen nach einer Recherche des Magazins Forbes bisher nur rund 60 Prozent der Komponenten aus türkischer Produktion. Die Rüstungsexporte verstärkten entgegen Erdoğans Ziel einer “geopolitischen Autonomie” die Abhängigkeiten von westlichen Zulieferern sogar noch, erklärt Yonca Özdemir, Professorin für Internationale Politik aus Nordzypern: “Sie wirken wie ein Anker, der die Türkei in der Nato hält.”
Die Zusammenarbeit mit der Ukraine, einer früheren Rüstungsschmiede der Sowjetunion, eröffnete der Türkei neue Chancen für die Akquisition aufgrund westlicher Exportembargos fehlender Waffensystemkomponenten. So wurde für den neuen Kampfhubschrauber “Atak-2” eine erste Charge von 14 Turbinen des ukrainischen Herstellers Sitsch Anfang des Jahres ausgeliefert. Die zu Jahresbeginn erfolgreich getestete Überschall-Tarnkappendrohne “Kizilelma” von Baykar ist mit einem Düsenantrieb des ukrainischen Unternehmens Iwtschenko ausgestattet. “Die Ukraine wird in der Türkei inzwischen als entscheidende Alternative zu traditionellen westlichen Waffenlieferanten betrachtet”, sagt Ilhan Uzgel, Professor für internationale Beziehungen aus Ankara.
Die Bundesregierung wird nur wegen des Sondervermögens für die Bundeswehr das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erreichen – und das lediglich bis 2027. Danach sind die zwei Prozent der Wirtschaftsleistung, die Deutschland laut Nato-Einigung in die Verteidigung investieren muss, unsicher. Das geht aus dem Bundeshaushaltsentwurf für das Jahr 2024 hervor, den das Kabinett am Mittwoch beschließen will.
Nach 2027 “werden nach der vorliegenden Planung die Mittel des Sondervermögens Bundeswehr im Finanzplanzeitraum vollständig ausgeschöpft sein, sodass es erheblicher Mittel im Kernhaushalt bedarf, um weiterhin die angestrebten zwei Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben einsetzen zu können”, heißt es in dem Gesetzesentwurf von Bundesfinanzminister Christian Lindner. Übersetzt: Es wird absehbar nicht reichen, wenn die Finanzierung des Einzelplan 14 nicht dramatisch verändert wird.
Für das kommende Jahr erhält Verteidigungsminister Boris Pistorius 1,7 Milliarden Euro mehr, sein Etat erhöht sich auf 51,8 Milliarden. Mit dieser Summe sollen die geplanten Solderhöhungen aus der Übertragung der Tariferhöhung für den öffentlichen Dienst auf die Soldatinnen und Soldaten finanziert werden. Rechnet man rund 19,2 Milliarden Euro hinzu, die aus dem Sondervermögen bereits für das kommende Jahr verplant sind, wird das Zwei-Prozent-Ziel knapp erreicht. Im laufenden Jahr sind laut der Vorlage aus dem Finanzministerium bisher rund 8,4 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen verplant.
Lindner hatte bei der Vorstellung der Nationalen Sicherheitsstrategie Mitte Juni noch betont, dass das Zwei-Prozent-Ziel im mehrjährigen Durchschnitt erreicht werde. Das Ziel ohne das 100 Milliarden Euro-Sondervermögen zu erreichen, wäre “nur möglich durch massiven Eingriff in gesetzliche Leistungen oder Steuererhöhung”. vf
Mehrere Beschaffungsvorhaben im Wert von jeweils mehr als 25 Millionen Euro will das Verteidigungsministerium noch vor der Sommerpause im Haushaltsausschuss gebilligt haben. Für die Sitzung des Haushaltsausschusses am Mittwoch stehen gleich zehn Punkte auf der Tagesordnung, die den Etat des Verteidigungsministeriums (Einzelplan 14), das Sondervermögen und die Allgemeine Finanzverwaltung (Einzelplan 60) betreffen. Unter anderem geht es um:
Außerdem soll die Haushaltssperre für die Beschaffung von digitalen Funkgeräten aufgehoben werden. Laut Gesetz muss der Haushaltsausschuss alle Projekte der Bundeswehr mit einem Wert von mehr als 25 Millionen Euro gesondert genehmigen. In Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine wurde auch in europäischen Staaten sichtbar, dass insbesondere die Munitionsdepots schnell erschöpft waren, nachdem die Staaten ihre Munition an die Ukraine geliefert haben. Zuletzt zeigte sich am Beispiel von Geschossen für die Panzerhaubitze 2000, dass Deutschland viel weniger, als von der Nato vorgegeben, vorrätig hat. vf/tw
Die malische Regierung hat sich nach der Entscheidung des UN-Sicherheitsrats, die Stabilisierungsmission Minusma zum Jahresende zu beenden, neu aufgestellt. 13 von 16 Ministern kommen neu in die Regierung, zwei Vertreter aus dem abtrünnigen Norden des Landes werden ausscheiden, wie aus einer Mitteilung der Regierung vom Wochenende hervorgeht.
Außenminister Abdoulaye Diop begrüßte das Ende der UN-Mission zum Jahreswechsel im staatlichen Fernsehen. Er kündigte einen Wirtschaftsplan an, der den Verlust an Einkommen und Arbeitsplätzen, der mit der Minusma verknüpft ist, ausgleichen soll. “Die Antwort auf den Terrorismus ist nicht nur militärisch“, sagte Diop. Weitere Einzelheiten zu dem Vorhaben lagen nicht vor. Die Minusma beschäftigt rund 3.400 Zivilisten.
Unter den Top Ten der Truppensteller der rund 15.000 Minusma-Kräfte sind überwiegend afrikanische Länder. Die Bundeswehr ist aktuell mit rund 1.100 Soldatinnen und Soldaten beteiligt. Seit Jahren beobachten Fachleute, dass Terror und Gewalt auch aus der Bevölkerung selbst und nicht nur von externen Akteuren kommen – etwa aus Enttäuschung über fehlende staatliche Institutionen vor Ort.
Nach dem angekündigten Ende für Minusma erwarten Experten keine Besserung für die Sicherheitslage. “Das Sicherheitsvakuum besteht schon. Aber das ist der endgültige Schlag”, sagte der Analyst Djallil Lounnas von der Al Akhawayn Universität in Marokko gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP.
“Mali ist ein Land in der Krise, und im Moment konzentrieren sich alle Anstrengungen im Bereich der Sicherheitskräfte”, sagt Tidiani Togola, ein Vertreter der zivilgesellschaftlichen Organisation Tuwindi, im Gespräch mit Table.Media. Der Wirtschaft auf die Beine zu helfen, sei ein enorm wichtiger Faktor, um das Land zu stabilisieren. Dabei dürfe Mali aber nicht nur auf einen Partner setzen. “Mali dürfte Russland nicht einfach die Leerstelle ausfüllen lassen, die Frankreich gelassen hat”, sagte Togola. “Ich bin gegen kein bestimmtes Land, aber strategisch ist es ein Fehler, wieder einem einzigen Land Exklusivität als Partner zuzugestehen.”
Malis Nachbarland Burkina Faso, das ebenfalls vom Militär regiert wird, hat bereits angekündigt, nach Ende von Minusma seine Truppen aus der Mission abzuziehen. Inzwischen setzt aber auch Burkina Faso selbst verstärkt auf Russland als Partner für Sicherheit und Wirtschaft. Moskau hatte nach dem Aufstand der Wagner-Gruppe angekündigt, seine Aktivitäten in Afrika wie bisher fortsetzen zu wollen. Nach Ansicht der USA hatte die Wagner-Gruppe direkt darauf hingewirkt, ein Ende von Minusma zu erreichen. “Prigoschin hat geholfen, diesen Abzug in die Wege zu leiten, um Wagners Interessen voranzutreiben”, sagte der Sprecher des Weißen Hauses John Kirby nach dem Votum des UN-Sicherheitsrates. lcw
Zwei Wochen nach dem ersten offiziellen Kampfdrohneneinsatz gegen Palästinenser seit 2006 geht die israelische Armee seit Montag im Westjordanland abermals aus der Luft gegen Einheiten der Jenin Brigades vor. Bei Kämpfen zwischen Soldaten der Israel Defence Force (IDF) und Milizionären von Hamas und Islamischem Dschihad kamen sieben Palästinenser ums Leben. Ein IDF-Sprecher sagte, der Angriff richtete sich gegen “spezifische Ziele” und werde nach 24 bis 48 Stunden beendet sein. An dem Einsatz sind Hunderte Soldaten beteiligt.
Die israelische Regierung hatte Washington am Sonntag über die anstehende Operation unterrichtet – ein stärkeres militärisches Vorgehen war von den rechtsextremen Ministern im Kabinett Ministerpräsident Benjamin Netanjahus seit Wochen gefordert worden. Seit Jahresbeginn sind bei Anschlägen 24 Israelis ums Leben gekommen; in Gazastreifen und Westjordanland wurden mehr als 130 Menschen von IDF-Soldaten getötet – so viele wie seit Ende der Zweiten Intifada 2005 nicht mehr.
Die Eskalation der Gewalt in den seit 1967 von Israel besetzten Gebieten fällt zusammen mit neuen Protesten israelischer Reservisten gegen die Regierung von Ministerpräsident Netanjahu. Reserveoffiziere unter anderem der Luftwaffeneliteeinheit Shaldag und der IDF-Spionageeinheit Unit 8200 kündigten an, sich solange nicht mehr an Übungen zu beteiligen, bis die Regierung ihre umstrittenen Pläne zum Umbau des Justizsystems zurückziehe. Am Montag blockierten sie gemeinsam mit Angehörigen des Hightechsektors und der israelischen Zivilgesellschaft die Zufahrten zum internationalen Flughafen Ben Gurion.
Der rechtextreme Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, begrüßte am Montag den Beginn der Militäroperation im Norden des Westjordanlands um Jenin. Der Vorsitzende der Partei Jüdische Stärke hatte noch vor wenigen Wochen gefordert, wenn nötig “Tausende” palästinensische Kämpfer zu töten, um den Terrorismus zu besiegen. mrb
Auslandsinfo Spotlight – (Un-)sichtbare Macht? Geheimdienste im Wandel der Zeit (Podcast): Geheimdienst-Experte Christopher Nehring und Ferdinand Gehringer, Cybersicherheitsexperte bei der KAS, erklären, wie die technologischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte das Handwerkszeug der Geheimdienste radikal verändert haben, wie sie Social Media nutzen und warum nun eine erhöhte Wachsamkeit im Bereich der Cybersicherheit gefordert ist.
SWP-Aktuell – Russlands Raketen und die European Sky Shield Initiative: Die französische Regierung schüttelt den Kopf über die deutschen Pläne zur Luftverteidigung und die Beschaffung des US-amerikanisch-israelischen Arrow-3-Systems. Lydia Wachs legt in diesem achtseitigen Paper dar, welche russischen Langstreckenwaffen die Sky Shield Initiative abschrecken soll, welche strategische Dimension die Waffensysteme haben und welche Fragen das Vorhaben ungeklärt lässt.
Foreign Policy – Russia’s Nukes Are Probably Secure From Rogue Actors: Als Jewgeni Prigoschin mit seiner Wagner-Gruppe Richtung Moskau marschierte, freuten sich einige Unterstützer der Ukraine. Andere sorgten sich wegen Russlands Atomwaffenarsenals. Hier erläutern zwei Experten, wer wie einen russischen Atomschlag auslösen kann, wie Putschisten sich der Waffen bedienen könnten und wie es zum Vergleich in den USA abläuft. Die gute Nachricht: Nicht mal Wladimir Putin kann alleine einen Atomwaffeneinsatz beschließen. Die schlechte: Wer mitbestimmt, entscheidet immer noch Putin.
Berlin liegt nicht auf einer direkten geometrischen Gerade zwischen Madrid und Vilnius. Aber aus Sicht vieler Alliierter und Partner, insbesondere aus Ost- und Nordeuropa, führt beim Nato-Gipfeltreffen vom 11. bis 12. Juli in Litauen kein Weg an der deutschen Hauptstadt vorbei. Was auch immer Deutschland hinsichtlich der zukünftigen europäischen Sicherheitsarchitektur unternimmt, es wird signifikante Auswirkungen haben – selbst wenn es nichts tut.
Vergangene Woche überraschte Deutschland dann mit der Ankündigung zur Erweiterung der Präsenz im Baltikum. Die dauerhafte Stationierung von Nato-Truppen in Litauen stellt eine bisher so nicht geäußerte Akzeptanz der endgültigen Abwicklung der Nato-Russland-Grundakte dar.
Sehr wahrscheinlich werden gerade in diesem Bereich die deutlichsten Signale vom Gipfeltreffen Richtung Russland ausgehen. Gleichzeitig hat Deutschland damit das Thema der Stärkung der “Forward Defence” – als Weiterentwicklung der bisherigen “Deterrence by denial”-Strategie – in den Fokus gerückt.
Ob dies in der Retrospektive für die Bewertung als historischer Gipfel reicht, hängt auch davon ab, inwiefern andere große Alliierte sich auf konkrete Maßnahmen und Botschaften einlassen – oder ob sie sich aufgrund der Fülle an zu besprechenden Themen verzetteln.
Denn es gibt bislang keine gemeinsam formulierte Strategie zur Unterstützung der Ukraine, jenseits der ‘so lange wie notwendig’-Unterstützung. Ob Russland den Krieg nicht gewinnen darf, oder ob die Ukraine gewinnen muss, ist ein Unterschied. Je nach Ziel könnte man einen besseren Überblick über die notwendigen Fähigkeiten, die Menge an Ausrüstung, etwaige Indikatoren für Entwicklungstendenzen und benötigte Ausbildungen für die verschiedenen Unterstützungsinitiativen der Ukraine auch jenseits der Nato gewinnen. Eine Einigung würde die Anstrengungen der verschiedenen Unterstützer und der Allianz in eine greifbare Strategie umwandeln.
Seit dem Gipfeltreffen in Madrid im Jahr 2022 kursiert außerdem die Zielformulierung des Defence Investment Pledge (DIP): ‘2% is the bottom not the ceiling’. Ein Übertreffen der zwei Prozent soll also künftig das Ziel sein. Für das Jahr 2023 werden in Deutschland, trotz aller Anstrengungen, sowohl Verteidigungshaushalt als auch die Ausgaben aus dem Sonderbudget zusammen unterhalb der Zwei-Prozent-Marke verbleiben.
Im kommenden Jahr, abhängig von den entsprechenden Vertragsschließungen und Mittelabflüssen, könnten optimistisch gerechnet zwei Prozent erreicht werden. Das Sonderbudget ist jedoch limitiert und nach den größeren Ausgaben sowie Inflation werden anschließend die noch verbleibenden Restsummern deutlich geringer ausfallen. Bei einem nicht deutlich ansteigenden Verteidigungshaushalt wird man dann wieder deutlich unter dem bisherigen Zwei-Prozent-Ziel verbleiben.
Durch gemeinsame Anstrengungen und Koordination müssen an der Nato-Ostflanke Fähigkeitslücken geschlossen und Truppenpräsenz am Boden gestärkt werden. Das soll nicht nur Abschreckung erzeugen, sondern für den Ernstfall eine umgehende und effektive Verteidigung ermöglichen. Ein wesentliches Element dabei sind die verfassten Regionalpläne auf Grundlage des New Force Models, die in Vilnius abgesegnet werden sollen.
Aus Sicht vieler litauischer Politiker sollten gerade die deutschen Luftraumverteidigungssysteme für den Gipfel dauerhaft im Land verbleiben und perspektivisch durch weitere ergänzt werden. Dies stünde exemplarisch für die auf dem Gipfel zu thematisierenden Verstärkungen und Fähigkeitsanpassungen der Allianz entlang ihrer Ostflanke und für den weiteren Übergang von “Deterrence by denial” zu “Forward Defence”.
Zuletzt kursieren noch zahlreiche Spekulationen darüber, wer neuer Generalsekretär oder Generalsekretärin wird oder ob Jens Stoltenberg doch noch einmal verlängert. Eine Einigung wird ein Zeichen angesichts der kontinuierlichen Versuche zur Unterminierung des alliierten Zusammenhalts von außen wie von innen darstellen. Ähnliches gilt übrigens für den Beitritt Schwedens.
Die Ankündigungen von Verteidigungsminister Boris Pistorius in den vergangenen Tagen bei seinen Besuchen in Vilnius und Washington D.C. könnten zumindest den Gipfel aus einem deutschen Blickwinkel historisch gestalten. Dazu muss Deutschland aber seinen eigenen Anspruch auf Zeitenwende mit Inhalten befüllen und Taktgeber der Neuausrichtung der Allianz werden. Dies wäre in der Tat historisch und überraschend.
seit dem 8. November vergangenen Jahres informiert Security.Table Sie darüber, was Europas Sicherheit gefährdet und was sie schützt. Wir haben früh darauf hingewiesen, dass der russische Krieg in der Ukraine nicht nur die Schwächen der russischen Armee, sondern auch die Probleme der Nato-Staaten offenlegt; wir haben gezeigt, dass der Konflikt die Entwicklung der Drohnen-Kriegsführung beschleunigt; und wir zeigen, wie sehr es zwischen Nato-Partnern wie Deutschland, Frankreich und Polen zuweilen knirscht.
Mit dieser Ausgabe erhalten Sie das 50. Briefing von Security.Table. Mein Kollege Denis Trubetskoy stellt Ihnen den ukrainischen Staatskonzern Ukroboronprom vor, der fast die gesamte Rüstungsbranche des Landes unter einem Dach versammelt. Welche Probleme dieses korruptionsanfällige Konglomerat einst hatte und wie der künftige Partner von Rheinmetall heute dasteht, erfahren Sie in unserer ersten Analyse.
Die rasante Entwicklung der türkischen Rüstungsindustrie ist das Thema der zweiten Analyse von Frank Nordhausen. Es ist erstaunlich – und vielleicht auch besorgniserregend – wie schnell sich ein Staat unter einem autoritär regierenden Präsidenten zu einer großen Rüstungsmacht entwickelt hat. Das Überraschende: In der Vergangenheit haben ausgerechnet die Embargos von Nato-Staaten diese Entwicklung forciert.
Zum Schluss noch ein Ausblick auf die kommende Woche mit dem Standpunkt von Fregattenkapitän Göran Swistek. Vor dem Nato-Gipfel in Vilnius am 11. und 12. Juli macht er deutlich, dass Deutschland seinen Worten Taten folgen lassen muss: Noch sei die Ostflanke nicht genügend abgesichert.
Die russische Invasion von Februar 2022 hat die ukrainische Rüstungsindustrie vor eine neue Realität gestellt. Schnell wurde klar, dass die existierenden Waffenbestände aus der Sowjetzeit für einen großen Verteidigungskrieg nicht ausreichen. Einer der Gründe: Angriffe auf ukrainische Munitionsfabriken. Mehr als 100 Drohnen- und Raketenangriffe auf Rüstungsobjekte in der Ukraine sind in den vergangenen 16 Monaten bekannt geworden, nicht nur im Osten des Landes. Außerdem stellen die neuen mobilen Brigaden eine Herausforderung dar, denn die beschädigte Wehrtechnik soll möglichst vor Ort in Frontnähe repariert werden.
Fast die gesamte Rüstungsbranche der Ukraine ist konzentriert in dem Dachkonzern Ukroboronprom (Ukrainische Verteidigungsindustrie). Selbst nach Beginn des Kriegs im Donbass 2014 lief der Betrieb in großen Standorten wie Kramatorsk im Gebiet Donezk weiter – auch für den Export. Indonesien, Südsudan, die Demokratische Republik Kongo, aber auch die USA, Kanada und Deutschland zählten zu den Abnehmern. Nur nach Russland soll nach offiziellen Angaben seit dem Export eines Hubschraubers im Jahr 2013 keine Ausfuhr mehr erfolgt sein.
Seit Februar 2022 aber ist ohnehin alles anders. Ukroboronprom stellte auf den Import von Waffen um, der Export rückte in den Hintergrund. Zugleich musste der Konzern um ein Vielfaches mehr produzieren, reparieren – und neu entwickeln. Rund 60.000 Menschen beschäftigt der Konzern heute und unterhält Betriebe längst nicht mehr nur in der Ukraine. Selbst bekannt gegeben hat Ukroboronprom Kooperationen in Tschechien und in Polen. Nach ukrainischen Medienberichten sollen dort unter anderem 82-mm-Splitterminen, 120-mm-Minen und 125-mm-Panzermunition hergestellt werden.
Und seit der vergangenen Woche hat Ukroboronprom auch einen neuen Chef: Der erst 31-jährige Herman Smetanin löst Jurij Hussjew, 43, ab. Smetanins Ernennung geht auf den neuen Minister für strategische Industrien, Oleksandr Kamyschin, zurück. Er selbst hatte vorher die ukrainische Bahn geleitet und soll den 31-Jährigen persönlich ausgesucht haben. Kamyschin, 38, ist seit Ende März in seinem neuen Amt. Seitdem hat es Ukroboronprom geschafft, die Produktionskapazitäten etwa bei der Munition deutlich zu erhöhen. Dass ein derart wichtiger Posten einer so jungen Person wie Smetanin anvertraut wird, ist für die Präsidentschaft Wolodymyr Selenskyjs typisch. Er setzt seit seinem Wahlsieg 2019 auf Verjüngung wichtiger Stellen im Staat.
Wie andere staatlich geführte Bereiche musste sich Ukroboronprom nach Kriegsbeginn binnen kürzester Zeit an die schwierigen Bedingungen anpassen. Im Vergleich zur Bahn und zur Post, die in den Vorkriegsjahren modernisiert wurden, war die Ausgangslage des Rüstungskonzerns aber eine andere. Nur gegen scharfe Kritik aus der Bevölkerung gelang es dem damaligen Ministerpräsidenten Wiktor Janukowytsch 2010, die Zusammenlegung der staatlichen Rüstungsunternehmen unter einem Dach durchzusetzen. Die Zeitung Ukrajinska Prawda bezeichnete den neuen Konzern seinerzeit als “Korruptionsspielzeug Janukowytschs”.
“Auch unter Präsident Petro Poroschenko gab es dann trotz des Donbass-Kriegs keine besonderen Schritte nach vorne”, bemängelt der ukrainische Militäranalyst Stanislaw Besuschko. Vielmehr sei die Zahl der durch Medienrecherchen aufgedeckten Korruptionsskandale zum Ende von Poroschenkos Amtszeit 2019 noch einmal in die Höhe gegangen. Erst danach habe sich die Lage bei Ukroboronprom zum Besseren verändert. Als nächster Reformschritt steht der Wandel vom Staatskonzern in eine Aktiengesellschaft an – wenn auch etwas holprig wegen des Krieges.
Heute ist man bei Ukroboronprom stolz darauf, dass der Konzern nur sechs Monate brauchte, um die Produktion auf Zehntausende Geschosse Munition pro Monat zu erhöhen. Zudem erwiesen sich Eigenentwicklungen im Krieg als erfolgreich: Die Radhaubitze 2S22 Bohdana beispielsweise bewährte sich bei der Befreiung der Schlangeninsel im Schwarzen Meer im Juli 2022. Und der Seezielflugkörper R-360 Neptun war für die Versenkung der Moskwa, des Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte, kurz nach Kriegsbeginn verantwortlich. “Das reicht aber nicht. Man hätte hier trotz der Umstände effektiver sein können”, kritisiert Besuschko. Bei der Bohdana etwa hätten sich Probleme gezeigt, die noch behoben werden müssen.
Die im Mai verkündete strategische Partnerschaft mit Rheinmetall hingegen hält Besuschko für einen großen Erfolg. “Das ist sowohl im Hinblick auf das Image von Ukroboronprom als auch im Sinne der Reduzierung von Korruptionsrisiken unglaublich wichtig”, sagt er. “Andere potenzielle Partner werden dadurch sehen, dass die Ukraine vertrauenswürdig ist, dass das Unternehmen wirklich einen Wandel hinbekommt.”
Ein Vertrag über ein Joint Venture von Rheinmetall und Ukroboronprom, an dem das deutsche Unternehmen 51 Prozent besitzen soll, wird dem Rheinmetall-Vorstandsvorsitzenden Armin Papperger zufolge im Juli oder August unterschrieben. Im ersten Schritt wird sich das Joint Venture auf Wartung und Reparatur der an Kiew gelieferten Technik konzentrieren. Dann will man gemeinsam ausgewählte Waffenarten vor Ort in der Ukraine produzieren. Im Gespräch ist der Transportpanzer Fuchs. Noch ist unklar, ob die Produktion in einer bestehenden oder in einer neu zu bauenden Fabrik erfolgen wird. Einiges deutet auf die erste Variante hin, obwohl Rheinmetall offen den Wunsch äußert, eine Panzerfabrik in der Ukraine bauen zu wollen.
Der erstaunliche Aufstieg der türkischen Rüstungsindustrie geht zurück auf die Zeit nach der türkischen Invasion Zyperns 1974, als die USA ein Waffenembargo gegen den Nato-Partner verhängten. Weitere Exportrestriktionen des Westens erfolgten 1994 wegen des Bürgerkriegs mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK oder zuletzt wegen des Erwerbs russischer S-400-Flugabwehrsysteme durch Ankara, der zum Ausschluss der Türkei aus dem F-35-Kampfjetprogramm der USA führte.
Dass einige westliche Länder der Türkei ein “verdecktes Rüstungsembargo” auferlegt hätten, habe seinem Land geholfen, kritische Komponenten durch eigene Entwicklungen zu ersetzen, erklärte Ismail Demir, der Chef des regierungsamtlichen Direktorats der türkischen Verteidigungsindustrie (SSB). Die Produktpalette türkischer Rüstungsfirmen umfasst alle Waffengattungen: Gewehre, gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie- und lasergelenkte Raketensysteme, Kriegsschiffe, Hubschrauber, Aufklärungs- und Kampfdrohnen, Haubitzen.
Ausdrückliches Ziel der türkischen Regierung ist die völlige Unabhängigkeit von Rüstungsimporten und der Aufbau einer autarken nationalen Waffenindustrie. Allein 2022 investierte die Regierung 1,6 Milliarden US-Dollar in die Entwicklung neuer Waffensysteme. Mit ihrer massiven Aufrüstung unterstreicht die Türkei zudem ihr Ziel strategischer Unabhängigkeit und den Anspruch als regionale Ordnungsmacht.
Nach Angaben des SSB-Chefs Ismail Demir hat sich der Umsatz der landeseigenen Waffenindustrie in den vergangenen zehn Jahren auf 10,2 Milliarden US-Dollar verdreifacht und erreicht damit 1,13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Zahl der Firmen im Rüstungssektor ist in den vergangenen zwanzig Jahren von etwa 60 auf inzwischen mehr als 1500 gestiegen. Davon gehören rund ein Fünftel der wichtigsten 100 Unternehmen wie Aselsan, Tusas, Roketsan und Havelsan dem Staat. Daneben sind einige private Unternehmen wie der Drohnenproduzent Baykar Teknoloji in die Spitzengruppe aufgestiegen.
Laut dem türkischen Verteidigungsministerium produziert die Rüstungsindustrie inzwischen 80 Prozent der für die Armee benötigten Militärgüter selbst, während es zum Amtsantritt Erdoğans 2002 nur 20 Prozent waren. Die Internet-Plattform Statista gibt an, dass die Militärausgaben der Türkei von 2015 bis 2019 von 12,3 auf 20,4 Milliarden US-Dollar stiegen – 2,4 Prozent des BIP. Seither halbierten sich die Ausgaben aber wegen der Corona- und der Wirtschaftskrise auf 10,64 Milliarden Dollar 2022. Dennoch bleibt die Türkei laut neuesten Daten des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri bei staatlichen Militärausgaben international auf Platz 15.
Die türkische Waffenindustrie profitiert vom massiven Anstieg der weltweiten Verteidigungsausgaben, den der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auslöste. Laut SSB-Chef Demir wurden 2022 Waffen und Munition im Wert von rund 4,4 Milliarden Dollar exportiert; für 2023 werden sechs Milliarden Dollar angepeilt. Die Hauptabnehmerländer sind Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Oman. Bestseller sind Kampfdrohnen, Raketensysteme, Munition und gepanzerte Fahrzeuge. Die drei wichtigsten Rüstungsunternehmen Aselsan, TAI und Roketsan erzielten 2021 Umsätze von insgesamt 4,36 Milliarden US-Dollar und schafften es in die weltweite Top-100-Liste der amerikanischen Fachzeitschrift Defense News.
Die Türkei ist tief integriert in die rüstungstechnische Nato-Infrastruktur. So hängen die meisten der als “nationale Verteidigungssysteme” bezeichneten Rüstungsprojekte von ausländischen Komponenten ab. Das gilt besonders für Hochtechnologie, etwa Spezialmotoren, strategische Raketen-, Radar- oder Sensorsysteme. Das “nationale Kampfjetprojekt TF-X” des Herstellers TAI scheiterte bisher an der Beschaffung eines leistungsfähigen Antriebmotors ebenso wie der “erste völlig eigene nationaler Kampfpanzer Altay”, für den erst im letzten Jahr ein Antrieb aus Südkorea akquiriert werden konnte.
Das Prestigeprojekt “Milgem” zur Entwicklung “nationaler Kriegsschiffe” kann zwar auf eine eindrucksvolle Eigenbau-Flotte aus 14 Fregatten und 10 Korvetten verweisen, doch stammen nach einer Recherche des Magazins Forbes bisher nur rund 60 Prozent der Komponenten aus türkischer Produktion. Die Rüstungsexporte verstärkten entgegen Erdoğans Ziel einer “geopolitischen Autonomie” die Abhängigkeiten von westlichen Zulieferern sogar noch, erklärt Yonca Özdemir, Professorin für Internationale Politik aus Nordzypern: “Sie wirken wie ein Anker, der die Türkei in der Nato hält.”
Die Zusammenarbeit mit der Ukraine, einer früheren Rüstungsschmiede der Sowjetunion, eröffnete der Türkei neue Chancen für die Akquisition aufgrund westlicher Exportembargos fehlender Waffensystemkomponenten. So wurde für den neuen Kampfhubschrauber “Atak-2” eine erste Charge von 14 Turbinen des ukrainischen Herstellers Sitsch Anfang des Jahres ausgeliefert. Die zu Jahresbeginn erfolgreich getestete Überschall-Tarnkappendrohne “Kizilelma” von Baykar ist mit einem Düsenantrieb des ukrainischen Unternehmens Iwtschenko ausgestattet. “Die Ukraine wird in der Türkei inzwischen als entscheidende Alternative zu traditionellen westlichen Waffenlieferanten betrachtet”, sagt Ilhan Uzgel, Professor für internationale Beziehungen aus Ankara.
Die Bundesregierung wird nur wegen des Sondervermögens für die Bundeswehr das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erreichen – und das lediglich bis 2027. Danach sind die zwei Prozent der Wirtschaftsleistung, die Deutschland laut Nato-Einigung in die Verteidigung investieren muss, unsicher. Das geht aus dem Bundeshaushaltsentwurf für das Jahr 2024 hervor, den das Kabinett am Mittwoch beschließen will.
Nach 2027 “werden nach der vorliegenden Planung die Mittel des Sondervermögens Bundeswehr im Finanzplanzeitraum vollständig ausgeschöpft sein, sodass es erheblicher Mittel im Kernhaushalt bedarf, um weiterhin die angestrebten zwei Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben einsetzen zu können”, heißt es in dem Gesetzesentwurf von Bundesfinanzminister Christian Lindner. Übersetzt: Es wird absehbar nicht reichen, wenn die Finanzierung des Einzelplan 14 nicht dramatisch verändert wird.
Für das kommende Jahr erhält Verteidigungsminister Boris Pistorius 1,7 Milliarden Euro mehr, sein Etat erhöht sich auf 51,8 Milliarden. Mit dieser Summe sollen die geplanten Solderhöhungen aus der Übertragung der Tariferhöhung für den öffentlichen Dienst auf die Soldatinnen und Soldaten finanziert werden. Rechnet man rund 19,2 Milliarden Euro hinzu, die aus dem Sondervermögen bereits für das kommende Jahr verplant sind, wird das Zwei-Prozent-Ziel knapp erreicht. Im laufenden Jahr sind laut der Vorlage aus dem Finanzministerium bisher rund 8,4 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen verplant.
Lindner hatte bei der Vorstellung der Nationalen Sicherheitsstrategie Mitte Juni noch betont, dass das Zwei-Prozent-Ziel im mehrjährigen Durchschnitt erreicht werde. Das Ziel ohne das 100 Milliarden Euro-Sondervermögen zu erreichen, wäre “nur möglich durch massiven Eingriff in gesetzliche Leistungen oder Steuererhöhung”. vf
Mehrere Beschaffungsvorhaben im Wert von jeweils mehr als 25 Millionen Euro will das Verteidigungsministerium noch vor der Sommerpause im Haushaltsausschuss gebilligt haben. Für die Sitzung des Haushaltsausschusses am Mittwoch stehen gleich zehn Punkte auf der Tagesordnung, die den Etat des Verteidigungsministeriums (Einzelplan 14), das Sondervermögen und die Allgemeine Finanzverwaltung (Einzelplan 60) betreffen. Unter anderem geht es um:
Außerdem soll die Haushaltssperre für die Beschaffung von digitalen Funkgeräten aufgehoben werden. Laut Gesetz muss der Haushaltsausschuss alle Projekte der Bundeswehr mit einem Wert von mehr als 25 Millionen Euro gesondert genehmigen. In Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine wurde auch in europäischen Staaten sichtbar, dass insbesondere die Munitionsdepots schnell erschöpft waren, nachdem die Staaten ihre Munition an die Ukraine geliefert haben. Zuletzt zeigte sich am Beispiel von Geschossen für die Panzerhaubitze 2000, dass Deutschland viel weniger, als von der Nato vorgegeben, vorrätig hat. vf/tw
Die malische Regierung hat sich nach der Entscheidung des UN-Sicherheitsrats, die Stabilisierungsmission Minusma zum Jahresende zu beenden, neu aufgestellt. 13 von 16 Ministern kommen neu in die Regierung, zwei Vertreter aus dem abtrünnigen Norden des Landes werden ausscheiden, wie aus einer Mitteilung der Regierung vom Wochenende hervorgeht.
Außenminister Abdoulaye Diop begrüßte das Ende der UN-Mission zum Jahreswechsel im staatlichen Fernsehen. Er kündigte einen Wirtschaftsplan an, der den Verlust an Einkommen und Arbeitsplätzen, der mit der Minusma verknüpft ist, ausgleichen soll. “Die Antwort auf den Terrorismus ist nicht nur militärisch“, sagte Diop. Weitere Einzelheiten zu dem Vorhaben lagen nicht vor. Die Minusma beschäftigt rund 3.400 Zivilisten.
Unter den Top Ten der Truppensteller der rund 15.000 Minusma-Kräfte sind überwiegend afrikanische Länder. Die Bundeswehr ist aktuell mit rund 1.100 Soldatinnen und Soldaten beteiligt. Seit Jahren beobachten Fachleute, dass Terror und Gewalt auch aus der Bevölkerung selbst und nicht nur von externen Akteuren kommen – etwa aus Enttäuschung über fehlende staatliche Institutionen vor Ort.
Nach dem angekündigten Ende für Minusma erwarten Experten keine Besserung für die Sicherheitslage. “Das Sicherheitsvakuum besteht schon. Aber das ist der endgültige Schlag”, sagte der Analyst Djallil Lounnas von der Al Akhawayn Universität in Marokko gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP.
“Mali ist ein Land in der Krise, und im Moment konzentrieren sich alle Anstrengungen im Bereich der Sicherheitskräfte”, sagt Tidiani Togola, ein Vertreter der zivilgesellschaftlichen Organisation Tuwindi, im Gespräch mit Table.Media. Der Wirtschaft auf die Beine zu helfen, sei ein enorm wichtiger Faktor, um das Land zu stabilisieren. Dabei dürfe Mali aber nicht nur auf einen Partner setzen. “Mali dürfte Russland nicht einfach die Leerstelle ausfüllen lassen, die Frankreich gelassen hat”, sagte Togola. “Ich bin gegen kein bestimmtes Land, aber strategisch ist es ein Fehler, wieder einem einzigen Land Exklusivität als Partner zuzugestehen.”
Malis Nachbarland Burkina Faso, das ebenfalls vom Militär regiert wird, hat bereits angekündigt, nach Ende von Minusma seine Truppen aus der Mission abzuziehen. Inzwischen setzt aber auch Burkina Faso selbst verstärkt auf Russland als Partner für Sicherheit und Wirtschaft. Moskau hatte nach dem Aufstand der Wagner-Gruppe angekündigt, seine Aktivitäten in Afrika wie bisher fortsetzen zu wollen. Nach Ansicht der USA hatte die Wagner-Gruppe direkt darauf hingewirkt, ein Ende von Minusma zu erreichen. “Prigoschin hat geholfen, diesen Abzug in die Wege zu leiten, um Wagners Interessen voranzutreiben”, sagte der Sprecher des Weißen Hauses John Kirby nach dem Votum des UN-Sicherheitsrates. lcw
Zwei Wochen nach dem ersten offiziellen Kampfdrohneneinsatz gegen Palästinenser seit 2006 geht die israelische Armee seit Montag im Westjordanland abermals aus der Luft gegen Einheiten der Jenin Brigades vor. Bei Kämpfen zwischen Soldaten der Israel Defence Force (IDF) und Milizionären von Hamas und Islamischem Dschihad kamen sieben Palästinenser ums Leben. Ein IDF-Sprecher sagte, der Angriff richtete sich gegen “spezifische Ziele” und werde nach 24 bis 48 Stunden beendet sein. An dem Einsatz sind Hunderte Soldaten beteiligt.
Die israelische Regierung hatte Washington am Sonntag über die anstehende Operation unterrichtet – ein stärkeres militärisches Vorgehen war von den rechtsextremen Ministern im Kabinett Ministerpräsident Benjamin Netanjahus seit Wochen gefordert worden. Seit Jahresbeginn sind bei Anschlägen 24 Israelis ums Leben gekommen; in Gazastreifen und Westjordanland wurden mehr als 130 Menschen von IDF-Soldaten getötet – so viele wie seit Ende der Zweiten Intifada 2005 nicht mehr.
Die Eskalation der Gewalt in den seit 1967 von Israel besetzten Gebieten fällt zusammen mit neuen Protesten israelischer Reservisten gegen die Regierung von Ministerpräsident Netanjahu. Reserveoffiziere unter anderem der Luftwaffeneliteeinheit Shaldag und der IDF-Spionageeinheit Unit 8200 kündigten an, sich solange nicht mehr an Übungen zu beteiligen, bis die Regierung ihre umstrittenen Pläne zum Umbau des Justizsystems zurückziehe. Am Montag blockierten sie gemeinsam mit Angehörigen des Hightechsektors und der israelischen Zivilgesellschaft die Zufahrten zum internationalen Flughafen Ben Gurion.
Der rechtextreme Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, begrüßte am Montag den Beginn der Militäroperation im Norden des Westjordanlands um Jenin. Der Vorsitzende der Partei Jüdische Stärke hatte noch vor wenigen Wochen gefordert, wenn nötig “Tausende” palästinensische Kämpfer zu töten, um den Terrorismus zu besiegen. mrb
Auslandsinfo Spotlight – (Un-)sichtbare Macht? Geheimdienste im Wandel der Zeit (Podcast): Geheimdienst-Experte Christopher Nehring und Ferdinand Gehringer, Cybersicherheitsexperte bei der KAS, erklären, wie die technologischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte das Handwerkszeug der Geheimdienste radikal verändert haben, wie sie Social Media nutzen und warum nun eine erhöhte Wachsamkeit im Bereich der Cybersicherheit gefordert ist.
SWP-Aktuell – Russlands Raketen und die European Sky Shield Initiative: Die französische Regierung schüttelt den Kopf über die deutschen Pläne zur Luftverteidigung und die Beschaffung des US-amerikanisch-israelischen Arrow-3-Systems. Lydia Wachs legt in diesem achtseitigen Paper dar, welche russischen Langstreckenwaffen die Sky Shield Initiative abschrecken soll, welche strategische Dimension die Waffensysteme haben und welche Fragen das Vorhaben ungeklärt lässt.
Foreign Policy – Russia’s Nukes Are Probably Secure From Rogue Actors: Als Jewgeni Prigoschin mit seiner Wagner-Gruppe Richtung Moskau marschierte, freuten sich einige Unterstützer der Ukraine. Andere sorgten sich wegen Russlands Atomwaffenarsenals. Hier erläutern zwei Experten, wer wie einen russischen Atomschlag auslösen kann, wie Putschisten sich der Waffen bedienen könnten und wie es zum Vergleich in den USA abläuft. Die gute Nachricht: Nicht mal Wladimir Putin kann alleine einen Atomwaffeneinsatz beschließen. Die schlechte: Wer mitbestimmt, entscheidet immer noch Putin.
Berlin liegt nicht auf einer direkten geometrischen Gerade zwischen Madrid und Vilnius. Aber aus Sicht vieler Alliierter und Partner, insbesondere aus Ost- und Nordeuropa, führt beim Nato-Gipfeltreffen vom 11. bis 12. Juli in Litauen kein Weg an der deutschen Hauptstadt vorbei. Was auch immer Deutschland hinsichtlich der zukünftigen europäischen Sicherheitsarchitektur unternimmt, es wird signifikante Auswirkungen haben – selbst wenn es nichts tut.
Vergangene Woche überraschte Deutschland dann mit der Ankündigung zur Erweiterung der Präsenz im Baltikum. Die dauerhafte Stationierung von Nato-Truppen in Litauen stellt eine bisher so nicht geäußerte Akzeptanz der endgültigen Abwicklung der Nato-Russland-Grundakte dar.
Sehr wahrscheinlich werden gerade in diesem Bereich die deutlichsten Signale vom Gipfeltreffen Richtung Russland ausgehen. Gleichzeitig hat Deutschland damit das Thema der Stärkung der “Forward Defence” – als Weiterentwicklung der bisherigen “Deterrence by denial”-Strategie – in den Fokus gerückt.
Ob dies in der Retrospektive für die Bewertung als historischer Gipfel reicht, hängt auch davon ab, inwiefern andere große Alliierte sich auf konkrete Maßnahmen und Botschaften einlassen – oder ob sie sich aufgrund der Fülle an zu besprechenden Themen verzetteln.
Denn es gibt bislang keine gemeinsam formulierte Strategie zur Unterstützung der Ukraine, jenseits der ‘so lange wie notwendig’-Unterstützung. Ob Russland den Krieg nicht gewinnen darf, oder ob die Ukraine gewinnen muss, ist ein Unterschied. Je nach Ziel könnte man einen besseren Überblick über die notwendigen Fähigkeiten, die Menge an Ausrüstung, etwaige Indikatoren für Entwicklungstendenzen und benötigte Ausbildungen für die verschiedenen Unterstützungsinitiativen der Ukraine auch jenseits der Nato gewinnen. Eine Einigung würde die Anstrengungen der verschiedenen Unterstützer und der Allianz in eine greifbare Strategie umwandeln.
Seit dem Gipfeltreffen in Madrid im Jahr 2022 kursiert außerdem die Zielformulierung des Defence Investment Pledge (DIP): ‘2% is the bottom not the ceiling’. Ein Übertreffen der zwei Prozent soll also künftig das Ziel sein. Für das Jahr 2023 werden in Deutschland, trotz aller Anstrengungen, sowohl Verteidigungshaushalt als auch die Ausgaben aus dem Sonderbudget zusammen unterhalb der Zwei-Prozent-Marke verbleiben.
Im kommenden Jahr, abhängig von den entsprechenden Vertragsschließungen und Mittelabflüssen, könnten optimistisch gerechnet zwei Prozent erreicht werden. Das Sonderbudget ist jedoch limitiert und nach den größeren Ausgaben sowie Inflation werden anschließend die noch verbleibenden Restsummern deutlich geringer ausfallen. Bei einem nicht deutlich ansteigenden Verteidigungshaushalt wird man dann wieder deutlich unter dem bisherigen Zwei-Prozent-Ziel verbleiben.
Durch gemeinsame Anstrengungen und Koordination müssen an der Nato-Ostflanke Fähigkeitslücken geschlossen und Truppenpräsenz am Boden gestärkt werden. Das soll nicht nur Abschreckung erzeugen, sondern für den Ernstfall eine umgehende und effektive Verteidigung ermöglichen. Ein wesentliches Element dabei sind die verfassten Regionalpläne auf Grundlage des New Force Models, die in Vilnius abgesegnet werden sollen.
Aus Sicht vieler litauischer Politiker sollten gerade die deutschen Luftraumverteidigungssysteme für den Gipfel dauerhaft im Land verbleiben und perspektivisch durch weitere ergänzt werden. Dies stünde exemplarisch für die auf dem Gipfel zu thematisierenden Verstärkungen und Fähigkeitsanpassungen der Allianz entlang ihrer Ostflanke und für den weiteren Übergang von “Deterrence by denial” zu “Forward Defence”.
Zuletzt kursieren noch zahlreiche Spekulationen darüber, wer neuer Generalsekretär oder Generalsekretärin wird oder ob Jens Stoltenberg doch noch einmal verlängert. Eine Einigung wird ein Zeichen angesichts der kontinuierlichen Versuche zur Unterminierung des alliierten Zusammenhalts von außen wie von innen darstellen. Ähnliches gilt übrigens für den Beitritt Schwedens.
Die Ankündigungen von Verteidigungsminister Boris Pistorius in den vergangenen Tagen bei seinen Besuchen in Vilnius und Washington D.C. könnten zumindest den Gipfel aus einem deutschen Blickwinkel historisch gestalten. Dazu muss Deutschland aber seinen eigenen Anspruch auf Zeitenwende mit Inhalten befüllen und Taktgeber der Neuausrichtung der Allianz werden. Dies wäre in der Tat historisch und überraschend.