außer der Reihe laden wir Sie zu einem ausführlichen Perspektivwechsel ein. In dieser Spezialausgabe beleuchten wir die Positionen der Akteure, deren offener Brief am Beginn der Fördermittelaffäre stand: die Unterzeichner des am 8. Mai veröffentlichten “Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten”, in dem die polizeiliche Räumung eines Pro-Palästina-Camps an der Freien Universität (FU) Berlin kritisiert wird.
In der Aufregung – über eine Bundesministerin, die nichts preisgibt, interne Chatgruppen sowie geschasste und linientreue Staatssekretäre – sind ihre Motive in den Hintergrund gerückt. Nach dem Rücktritt Stark-Watzingers ist zudem nicht klar, ob sich ihr Nachfolger Cem Özdemir weiter mit den Vorgängen befassen wird oder nicht. Ein Grund mehr für eine Bestandsaufnahme. Table.Briefings hat mehrere Erstunterzeichner kontaktiert. Wir wollten wissen: Wie denken sie heute über den offenen Brief? Hat Bettina Stark-Watzinger als Forschungsministerin je das Gespräch mit ihnen gesucht? Sind ihnen berufliche Nachteile entstanden? Ein Kondensat der Antworten finden Sie in der heutigen Ausgabe.
In einem Standpunkt legt einer der Unterzeichner, der Berliner Politologe Jannis Julien Grimm, darüber hinaus dar, was an der FU Berlin im zurückliegenden Jahr im Umgang mit Protesten gut lief – und was nicht. Sein dringender Appell: Rückkehr zum Dialog statt Restriktionen. Außerdem bieten wir Ihnen Kontext. Denn die Fördermittelaffäre ist so etwas wie ein Symptom des Nahost-Konflikts und der spezifisch deutschen Probleme damit. Verkürzt gesagt ist die gedankliche Schlusskette so: Wer für Palästina die Stimme erhebt, ist gegen Israel und demnach antisemitisch.
Derartiges Pochen auf die deutsche Staatsräson führt unweigerlich zu Konflikten. Die Historikerin Miriam Rürup vom Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam erläutert im Interview, warum die Staatsräson weiter gefasst werden muss. Sie hält die Antisemitismusresolution des Bundestags in dieser Hinsicht für eine vertane Chance und erklärt, was es mit der Kritik an der IHRA-Definition auf sich hat.
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Nach einer Woche waren es 350 Unterschriften, bis heute haben mehr als tausend Hochschulangehörige das “Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten” unterzeichnet. Der offene Brief, der für so viel Furore sorgte, entstand binnen weniger Stunden nach der polizeilichen Räumung eines Pro-Palästina-Protestcamps auf dem Campus der Freien Universität (FU) Berlin am 7. Mai. Zunächst unterzeichneten nur Lehrende von Berliner Hochschulen, später auch aus anderen Städten.
Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger reagierte mit einem Statement in der Bild-Zeitung. Der offene Brief mache sie “fassungslos”, statt sich klar gegen Israel- und Judenhass zu stellen, würden Uni-Besetzer zu Opfern gemacht und Gewalt verharmlost, erklärte sie. In einem weiteren Artikel verurteilte die Bild-Zeitung die Unterzeichner unter dem Titel “Die UniversiTÄTER” als “Israel-Hasser” und zeigte zwölf von ihnen mit Fotos. Die Fördermittelaffäre nahm ihren Lauf.
Was mit Bettina Stark-Watzinger und ihrer Staatssekretärin Sabine Döring passierte, blieb im Licht der Öffentlichkeit. Wie es den Angeprangerten ging, rückte in den Hintergrund. Table.Briefings hat 14 Erstunterzeichner des offenen Briefs kontaktiert. Wir wollten wissen, wie sie heute über den Brief denken und ob ihnen berufliche Nachteile entstanden sind. Neun haben geantwortet, einige von ihnen möchten anonym bleiben. Wir skizzieren das Bild, das sich daraus ergibt.
Die Haltung dazu ist eindeutig: Keiner der Befragten bereut, das Statement unterzeichnet zu haben. Es geht ihnen um grundgesetzlich geschützte Rechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit, aber auch um die Hochschulautonomie. Alle würden erneut so handeln, die meisten jedoch würden einzelne Passagen anders formulieren. Gleichwohl geben sie zu bedenken, dass der Brief binnen weniger Stunden entstand.
Allerdings machen sich die Lehrenden auch keine Illusionen, dass präzisere Wortwahl die Skandalisierung vermieden hätte. Er zweifle, dass “andere Formulierungen etwas an der Rezeption ändern würden. Zu klar und antagonistisch sind hier die Lager der unschönen Diskussion sortiert”, sagt Peter Ullrich.
Einige Personen, darunter die Ministerin, hätten “Inhalte wiederholt falsch dargestellt, indem etwa Aussagen zugeschrieben wurden, die gar nicht im offenen Brief standen”, sagt der Politologe Jan Wilkens, der als Senior Researcher an der Universität Hamburg tätig ist. “Durch die gezielte Diffamierung durch die Bild-Zeitung, die durch die Ministerin weiterverbreitet wurde, wurde der Eindruck erweckt, der Brief würde ,Israelhass’ unterstützen oder die UnterzeichnerInnen würden nicht ,auf dem Boden des Grundgesetzes stehen’, moniert er.
Viele der im Nachhinein genannten Kritikpunkte an dem Brief scheinen entweder aus einer mutwillig problematischen Auslegung des Briefes oder einer Nichtbeachtung der Adressaten und des Kontextes zu resultieren, findet auch Ilyas Saliba. “So wurden oftmals die Proteste an der HU herangezogen, um unseren Brief zu kritisieren, obwohl diese erst Wochen nach unserem Brief geschahen.”
Die inzwischen zurückgetretene Bundesministerin hat die Briefunterzeichner öffentlich kritisiert und diffamiert, aber offenbar nie das persönliche Gespräch mit ihnen gesucht. Dabei hatte sie das Medienberichten zufolge im Gespräch mit den Spitzen der Allianz der Wissenschaftsorganisationen zugesichert. “Es gab weder eine Entschuldigung noch eine Einladung zu einem Gespräch seitens des BMBF”, sagt Ilyas Saliba. “Alle Gesprächsangebote von mir und anderen Mitzeichner:innen wurden meines Wissens ignoriert.” Obwohl immer wieder Behauptungen über Gesprächsangebote kursierten, habe es keine derartigen Reaktionen des Ministeriums gegeben, bestätigt Peter Ullrich.
Auf Anfragen der Unterzeichner hat das BMBF äußerst langsam und schmallippig reagiert. “Auf die Antwort des BMBF auf meine Frage nach der erstellten Liste nach Art. 15 DSGVO habe ich vier Monate gewartet und dann lediglich eine Kopie des offenen Briefs bekommen mit Google als Quellenangabe, in dem alle Namen außer meinem geschwärzt waren. Das ist Realsatire”, berichtet Jannis Julien Grimm. Dazu habe es lediglich geheißen: “Zu anderen Vorgängen werden Auskunft und Datenkopie zur Zeit noch zusammengestellt.”
Die fragwürdige Liste, deren Existenz durch Leaks aus dem BMBF bekannt wurde und die nicht nur die Unterzeichner auflistet, sondern auch Informationen über aktuelle Förderungen, hat bisher keiner der Unterzeichner zu Gesicht bekommen, geschweige denn etwas über ihren Verbleib erfahren. Zudem finden sich in der geleakten ministeriumsinternen Konversation Anhaltspunkte dafür, dass sie auch an weitere Projektträger und begutachtende Institutionen des BMBF weitergeleitet wurde.
Zwar sei das deutsche Wissenschaftssystem nicht autoritär, dennoch sehen die meisten Befragten eine Gefährdung oder Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit. Angela Harutyunyan, Professorin an der Universität der Künste in Berlin, sieht die akademische Freiheit in Deutschland “auf dem tiefsten Stand seit den dunklen Jahren des letzten Jahrhunderts”.
Die von den Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und CDU/CSU gemeinsam erarbeitete Resolution “Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken” wurde am 7. November beschlossen. Ob es ein ergänzender Fachantrag, der Antisemitismus an Schulen und Hochschulen adressiert, noch in den Bundestag schafft, ist nach dem Koalitions-Aus aber ungewiss.
Zu Beidem gab es mahnende Stimmen aus der Wissenschaft, die das Vorhaben zwar grundsätzlich unterstützen, aber die gewählten Mittel kritisieren. Am Dienstag hat sich auch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) kritisch zu dem Fachantrag geäußert. Die derzeit angedachte, hochschulspezifische Resolution könnte in ihrer Umsetzung zu einer Beeinträchtigung der Wissenschaftsfreiheit und der Hochschulautonomie führen, warnt sie.
Die beiden Resolutionen zugrundeliegende IHRA-Arbeitsdefinition für Antisemitismus erwähnt die HRK in ihrer Entschließung nicht. Dabei gibt es aus der Wissenschaft viel Kritik an der politischen Festlegung auf diese Definition.
Auf der Leitungsebene von Wissenschaftseinrichtungen ist Barbara Stollberg-Rilinger hierzulande eine der wenigen, die zur Festlegung auf die IHRA-Definition und zur beschlossenen Bundestagsresolution öffentlich eine kritische Position vertreten. Die Historikerin und Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin sah schon im Jahr 2020, als der Bundestag die BDS-Resolution verabschiedet hat, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft in Gefahr und äußerte ihre Bedenken unter anderem in einem FAZ-Beitrag.
Kurz vor der Verabschiedung der Antisemitismusresolution hat sie sich in einer Pressekonferenz für alternative Formulierungsvorschläge ausgesprochen und erläutert, warum auch der geplante Hochschulantrag die Wissenschaftsfreiheit gefährdet. Sie wusste, worauf sie sich einlässt, sagt sie im Gespräch mit Table.Briefings. Damals wie heute habe ihr die Positionierung diffamierende Kommentare eingebracht. Aber sie erhalte auch viel Zuspruch aus der Scientific Community und fühle sich schlicht verpflichtet, auf die Gefahren hinzuweisen.
Dass sich viele Forschende und Wissenschaftsinstitutionen zum Thema Antisemitismusresolution bedeckt halten, wundert Stollberg-Rilinger nicht. Schließlich riskiere man, selbst als antisemitisch verunglimpft zu werden. “Sich als Deutscher den Vorwurf des Antisemitismus zuzuziehen, ist so ein abschreckender Gedanke, dass viele lieber schweigen.” Aber gerade deswegen sei es so wichtig, an die Öffentlichkeit zu gehen. “Die Nebenwirkungen der Resolution sind fatal. Die vage und unbestimmte IHRA-Definition lässt sich instrumentalisieren, um missliebige Stimmen zum Verstummen zu bringen.”
“Ich würde mir auch von den Wissenschaftsorganisationen hierzulande noch etwas deutlichere Worte wünschen”, sagt sie. Denn die Fördermittelaffäre habe gezeigt, wie leicht die Wissenschaftsfreiheit gefährdet werden könne. Dass sich ein solcher Vorgang im BMBF wiederholt, hält sie aber für unwahrscheinlich. “Es hat sich schließlich gezeigt, dass es auf der mittleren Ebene des Ministeriums Beamte gibt, denen klar ist, was Wissenschaftsfreiheit bedeutet.”
Die Gefahr sei eher, dass Wissenschaft und Zivilgesellschaft vor dem Hintergrund der Antisemitismusresolution vorauseilende Selbstzensur üben und das Thema Israel/Palästina meiden. Das habe zur Folge, dass sich Räume schließen, in denen dieses Thema kontrovers diskutiert, erforscht oder verhandelt werden kann.
Besonders bedenklich findet die Historikerin, dass eine solche Entwicklung einer rechten Partei wie der AfD höchst willkommen ist, wie auch am 7. November in der Bundestagsdebatte über den Antrag zu beobachten gewesen sei. Dass die Politiker der demokratischen Parteien dieses Missbrauchspotenzial nicht erkennen, beunruhige sie sehr.
Als im Mai über den Umgang mit pro-palästinensischen Protesten an Hochschulen gestritten wurde, hat Miriam Rürup sich für das Recht auf Protest eingesetzt. Im Interview kritisiert die Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums in Potsdam die Polarisierung in Deutschland infolge des Nahostkonflikts. Die Historikerin plädiert dafür, beim Schutz jüdischen Lebens die Mehrstimmigkeit zu bedenken.
Frau Rürup, warum hat der offene Brief, in dem sich Berliner Hochschullehrende für das Recht auf friedlichen Protest stark gemacht haben, die einen “fassungslos” gemacht und andere dazu gebracht, sich für die Unterzeichner einzusetzen?
Warum jemand darauf mit Fassungslosigkeit reagiert, ist schwer zu erklären. An dem Brief ist nichts Skandalträchtiges. Es sei denn, es geht nicht um die Sache. Die Entrüstung rührt vermutlich daher, dass der Protest von vornherein als illegitim angesehen wurde – und eigentlich wäre DAS ja besorgniserregend. Denn dann werden alle diskreditiert, die das Recht auf Protest betonen.
Sie haben sich für die Briefunterzeichner und die Protestierenden eingesetzt, zum Beispiel in der Bundespressekonferenz am 21. Mai. Warum war Ihnen das wichtig?
Wenn wir eine offene, nicht-autoritäre Gesellschaft sein wollen, müssen wir auch Proteste aushalten, mit deren Inhalten wir nicht übereinstimmen – wobei ich in diesem konkreten Fall doch betonen möchte, wie sehr ich das Bedürfnis der Studierenden verstehe, gegen den anhaltenden und sich ausweitenden Krieg in Gaza zu protestieren. Eine Befreiung der Geiseln ist doch so lange kaum denkbar, wie dieser Krieg fortgeführt wird. Die Polizei zur Räumung von friedlichen Protesten hinzuziehen, sollte Ultima Ratio sein.
Zum anderen können wir nicht die Augen davor verschließen, dass wir es hierzulande mit einer Vielzahl von Positionen zu tun haben. Es gibt gesellschaftliche Gruppen, die von dem israelisch-palästinensischen Konflikt durch persönliche Beziehungen unmittelbar betroffen sind – und das sind Juden genauso wie Israelis und Palästinenserinnen. Dass sich das auch in den Unis zeigt, ist erwartbar. Gerade deshalb müssen wir an Hochschulen die Räume dafür schaffen, in denen diese Konflikte ausgehandelt werden können.
Besagtes Camp war Anfang Mai. In der Zeit danach kam es zu zerstörerischen und mit Gewalt verbundenen Protestaktionen, etwa an der Berliner Humboldt-Universität und an der FU mit der versuchten Besetzung des Präsidiums. Hat das Ihre Sicht auf die Dinge verändert?
Natürlich gibt es rote Linien. Grundsätzlich sehe ich gewaltfreien Protest weiterhin als Zeichen für gelebte Debattenkultur – wer auf das Ringen um das bessere Argument mit Repression und Diffamierung reagiert, hält sich hier ebenso wenig an die demokratischen Spielregeln wie derjenige, der Vandalismus betreibt. Die Räume für Diskurs müssen erhalten bleiben oder sogar aktiv geöffnet werden.
An der Antisemitismusresolution des Bundestags und der geplanten Hochschulresolution haben sie ebenfalls Kritik geäußert. Auch dabei geht es darum, wie viel Israel-Kritik oder Palästina-Solidarität sein darf. Was läuft da falsch?
Seit dem Überfall der Hamas auf Israel beobachte ich eine Engführung dessen, was wir unter Bekämpfung von Antisemitismus verstehen. Das kulminierte in der inzwischen beschlossenen Resolution zum Schutz jüdischen Lebens und dem Entwurf der Schul- und Hochschulresolution, den ja auch die HRK kritisiert.
Was ist falsch an dem darin skizzierten Weg?
Zurzeit wird der Schutz jüdischen Lebens gleichgesetzt mit der deutschen Staatsräson und – etwas überspitzt gesagt – dem Schutz Israels vor Kritik. Wer sich etwa kritisch zur israelischen Kriegsführung äußert, riskiert, des verbrämten Antisemitismus bezichtigt zu werden. Diese Gleichsetzung hat fast schon wieder eine antisemitische Grundierung. Denn es gibt auch Juden, die keine Israelis sind – hier werden sie aber in eins gesetzt. Dabei gibt es Juden, die mit Israel gar nichts zu tun haben wollen.
So oder so: Deutsche Jüdinnen und Juden sollten ja wohl das Recht zur freien Meinungsäußerung haben und vor Anfeindungen geschützt werden – unabhängig davon, wie sie zu Israel stehen. In der Resolution ist aber nur die Rede davon, die israel-solidarischen Stimmen schützen zu wollen. Was heißt das dann bitte schön für die israel-kritischen Stimmen?
Empfinden Sie das als Bevormundung?
Was mich als Jüdin daran durchaus aufbringt ist der Eifer, mit dem nicht-jüdische Deutsche meinen zu wissen, wie Antisemitismus zu bekämpfen ist. Der Umgang mit linken jüdischen Stimmen ist in diesem Kontext sehr befremdlich. Wenn man es ernst meint mit dem Schutz jüdischen Lebens, muss man nicht einer Meinung sein mit denen, die man angeblich schützen möchte. Für deutsche Juden und linke Israelis, die hier leben, hat sich der Blick auf Israel durch die Regierung Netanjahu mit ihren rechtsextremen Ministern sehr verändert. Gelebte Israel-Solidarität bedeutet für mich, die protestierenden Israelis gegen ihre Regierung zu unterstützen und nicht, Netanjahus Politik zu verteidigen.
Wie erklären Sie sich die einseitige Perspektive in Deutschland?
Seit dem 7. Oktober 2023 haben sich zwei Lager gebildet. Es bleibt kein Raum für Differenzierung und auch kein Raum, sich nicht zu einer der beiden Seiten zu bekennen. Dieser Bekenntniszwang zeigt sich auch bei der Definition von Antisemitismus. Aus wissenschaftlicher Sicht ist klar, dass Definitionen schon veraltet sind, kaum dass sie zu Papier gebracht sind. Antisemitismus muss differenziert und immer neu betrachtet werden. Diese Perspektive scheint im politischen Raum gar nicht mehr gewünscht zu sein.
Warum lässt sich Antisemitismus so schwer definieren?
Weil es sich um eine diffuse Mischung aus individuellen Vorurteilen und einem großen, historisch weit zurückweisenden Bestand von Feindbildern handelt, die Juden kollektiv und abwertend beschreiben. Diese Feindbilder sind wandelbar und werden ständig neu angewandt. Was wir brauchen, sind differenzierende Betrachtungen und Anerkennung der Kontextabhängigkeit von als antisemitisch eingestuften Äußerungen.
Der Bundestag legt die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) veröffentlichte Arbeitsdefinition für Antisemitismus zugrunde. Warum gibt es daran so viel Kritik?
Die IHRA-Arbeitsdefinition ist recht vage und lässt sich politisch instrumentalisieren, um Kritik an Israel als antisemitisch zu kategorisieren. Schon in der Selbstbeschreibung der Definition wird ein überproportional starker Fokus auf israelkritische oder -feindliche Beispiele gelegt. Die große Mehrheit der anderen Formen von Antisemitismus wird disproportional vernachlässigt. Ein weiteres Problem ist, dass die Definition im politischen Raum einen quasi-rechtlichen Charakter angenommen hat. Sie wurde aber nicht als Regulierungs- sondern als Monitoring-Instrument entwickelt – für die Datenerhebung zu antisemitischen Vorfällen.
Oft wird als Alternative die Jerusalem Definition of Antisemitism (JDA) genannt. Was ist daran besser?
Sie wurde 2020/2021 vom Jerusalemer Van Leer-Institut als kritische Antwort auf die beobachtete Instrumentalisierung der IHRA-Definition erarbeitet. Mehr als 200 Wissenschaftler haben sich daran beteiligt. Die JDA versucht, anhand von 15 Leitlinien mit konkreten Beispielen zu verdeutlichen, wie wichtig der jeweilige Kontext für die Einstufung als antisemitisch/nicht-antisemitisch ist.
Warum beharren Bundesregierung und Politik trotzdem auf der IHRA-Definition?
Im Bundestag dominiert naheliegenderweise ein politisches Interesse. Und mit einer solchen Resolution möchte man politisch das Richtige tun. Leider ist dabei ein Bekenntnis zur IHRA fast ein politischer Fetisch geworden – dabei spräche ja nichts dagegen, auch andere Definitionsbemühungen zu berücksichtigen.
Die AfD hat die Resolution begrüßt und auch dafür gestimmt. Was steckt dahinter?
Die IHRA-Definition macht es leicht, den Antisemitismusvorwurf auf diejenigen zu lenken, die von außen kommen, die nichts mit der deutschen Geschichte zu tun haben. Der Fokus auf den “importierten” Antisemitismus kommt der AfD entgegen. Dass die Resolution ein solches Gewicht darauflegt, bringt zum einen alle Muslime in die Nähe des Generalverdachts. Zum anderen suggeriert es, dass unsere Gesellschaft ohne den Antisemitismus aus dem Ausland nicht mehr antisemitisch geprägt wäre.
Ein Indiz für diese Unausgewogenheit: Die Resolution nennt als Beispiele für Antisemitismus den Hamas-Überfall und Einwanderer aus muslimischen Ländern, auch der Kunstbereich wird erwähnt, nicht jedoch das Attentat im Jahr 2019 auf die Synagoge in Halle. Mit keinem Wort. Dabei war das in Deutschland der größte gewaltsame Übergriff auf Juden der letzten Jahre. Das finde ich auch ganz persönlich schockierend und geradezu verantwortungslos gegenüber der Gefahr, die uns als Gesellschaft von rechts bedroht. Es zeigt, dass wir es fast schon mit einer Exkulpationsstrategie zu tun haben.
Sie sprechen sich für einen erweiterten Begriff der deutschen Staatsräson aus, der die Rechte der palästinensischen Israelis und Palästinenser insgesamt genauso berücksichtigt wie die der jüdischen Israelis. Wie kommen solche Äußerungen an?
Zu diesen Aussagen habe ich viel Feedback bekommen, kritisches, aber auch positives. Mir ist wichtig: Die deutsche Gesellschaft muss sich für ein breiteres Portfolio an Folgen des Nationalsozialismus verantwortlich fühlen als ausschließlich für den Schutz von Jüdinnen und Juden. Der Staat Israel ist nach 1945 entstanden – und zwar auch unter dem Eindruck von NS-Verbrechen. Die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser, ist somit auch eine historische Folge der deutschen Geschichte.
Eine der Lehren sollte sein, sich so universell wie möglich für Menschenrechte einzusetzen. Der Einsatz für Völkerrecht muss die oberste Maxime sein. Deutschland ist verantwortlich für Jüdinnen und Juden in Deutschland, für die Sicherheit der Israelis – und auch für die Sicherheit der Palästinenser.
Von dieser Betrachtung scheinen Politik und Öffentlichkeit weit entfernt.
Als Historikerin werbe ich für diesen integrativen und differenzierten Blick. Aber solange der Krieg anhält, wird die Bereitschaft, diese Perspektive einzunehmen, vermutlich gering sein. In der Diskussion ist es zu einer Art von Lagerbildung gekommen, die fast schon die Frontstellung hierherbringt. Dabei dürfen wir doch gerade diese Spaltung nicht zulassen, wenn wir nicht die Hamas gewinnen lassen wollen.
Die Antisemitismusresolution des Bundestags wurde von Institutionen wie dem Zentralrat der Juden begrüßt, viele progressive Jüdinnen und Juden haben sich hingegen kritisch geäußert. Warum treten die Progressiven nur am Rande in Erscheinung?
Der Zentralrat der Juden wird als eine Alleinvertretung der deutschen Juden wahrgenommen. Das war er tatsächlich lange Zeit, denn die jüdische Community war anfangs sehr klein. Spätestens seit den 1990er-Jahren hat sich das zunehmend verändert: Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist größer und differenzierter geworden. Wenn wir heute nur darauf schauen, was der Zentralrat äußert und nicht beachten, was andere jüdische Organisationen und Vereine sagen, sind wir immer noch dieser Nachkriegszeit verhaftet. Wir öffnen uns nicht genügend der jüdischen Pluralität in Deutschland.
Gibt es zu wenige Institutionen für diese Stimmen?
Diese Institutionen und Gruppierungen gibt es durchaus – etwa den in Gründung befindlichen Verein der Palästinensisch-Jüdischen Akademiker. Aber sie erheben nicht den Anspruch, für alle Jüdinnen und Juden in Deutschland zu sprechen. Bei der Erarbeitung der Antisemitismusresolution hätte man sie berücksichtigen können. Aber die Chance ist vertan. Die Resolution nimmt auf ein Judentum Bezug, das überhaupt nicht mehr der Gegenwart entspricht. Das jüdische Leben ist mehrstimmig. Der Schutz müsste darin bestehen, diese Mehrstimmigkeit zu stärken.
Sehen Sie die Wissenschaftsfreiheit durch die Resolution in Gefahr?
Die Resolution droht in ihren Folgen die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken, indem sie ein Klima der Selbstbeschränkung schafft. Um Skandalisierung zu vermeiden oder in Förderlinien von Ministerien eine Chance zu haben, könnten bestimmte Fragen unter den Tisch fallen. Die Resolution beschneidet damit auch meine Arbeit. Bestimmte israelische Kollegen, die sich eventuell in von Netanjahu inkriminierten besatzungskritischen Organisationen engagieren – darunter etwa ein Rabbiner aus Jerusalem – kann ich dann nicht mehr zu öffentlichen Vortragsveranstaltungen einladen, ohne befürchten zu müssen, dass das mit Verweis auf die Resolution skandalisiert wird.
Wie blicken internationale Wissenschaftler auf das Geschehen in Deutschland?
Aus meinen bisherigen Gesprächen und zahlreichen Nachrichten habe ich den Eindruck, dass man die natürlich historisch bedingte deutsche Spezifik der Diskussion über Israel in den USA und in Israel durchaus mit Befremden wahrnimmt. Ich gehe davon aus, dass internationale Kooperationen schwieriger werden. Viele israelische Kollegen erkundigen sich bei mir über die Situation in Deutschland. Viele tragen sich vermutlich mit dem Gedanken, aus Israel wegzugehen. Sie müssen gut überlegen, wo sie hingehen – und viele kommen gewiss nicht wegen, sondern höchstens trotz der Resolutionen hierher.
Miriam Rürup ist Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums in Potsdam. Die Historikerin leitet das interdisziplinäre Institut für europäisch-jüdische Studien seit Ende 2020. Sie hat Geschichte, Soziologie und Europäische Ethnologie an den Universitäten Göttingen und Tel Aviv studiert, am Deutschen Historischen Institut in Washington geforscht und war von 2012 bis 2020 Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. Das Moses Mendelssohn Zentrum ging 1992 aus der Universität Potsdam hervor.
Seit dem Beginn des Gaza-Kriegs erleben Universitäten eine Renaissance studentischer Mobilisierung. Universitäten sind Orte, an denen gesellschaftliche Werte verhandelt werden. Es überrascht daher kaum, dass sich der “Konflikt über den Konflikt in Nahost” auch auf Hochschulgeländen abspielt.
Deutschland erreichte die Protestwelle Ende 2023. Studentische Mahnwachen, Kundgebungen und Flashmobs finden zwar an deutschen Hochschulen seit Mitte Oktober letzten Jahres statt, doch erst die Besetzung eines Hörsaals der Freien Universität Berlin am 14. Dezember rief die Hochschule als zentrale Bühne für Protest zurück ins Bewusstsein. Gleichzeitig setzte die FU mit der polizeilichen Räumung der Besetzung den Ton für den Umgang mit studentischer Mobilisierung – auch über den eigenen Campus hinaus.
Politischen Druck machten dabei vor allem das BMBF um die (inzwischen zurückgetretene) Bundesministerin Bettina Stark-Watzinger und ihre (zuvor als Bauernopfer geschasste) Staatssekretärin Sabine Döring. Ausgerechnet im Wissenschaftsjahr “Freiheit” fielen diese beiden mit beispiellosen Interventionen in die Autonomie von Hochschulen auf und beteiligten sich zudem maßgeblich an der Diffamierungskampagne gegen Hochschullehrende, die in einem offenen Brief lediglich das Recht ihrer Studierenden auf friedlichen Protest betonten.
Hörsaalbesetzungen sind längst deutlich konfrontativeren Aktionen gewichen. Auf bedrückende Weise zeigte sich dies am 17. Oktober, als sich Vermummte im Präsidium der Freien Universität verbarrikadierten und dabei neben Sachbeschädigung auch Mitarbeitende physisch und psychisch bedrohten.
Aktionen wie diese, die sich nicht mehr als ziviler Ungehorsam rechtfertigen lassen, binden längst nicht mehr die gleichen Massen wie die Hörsaalbesetzungen. Sie stehen auch bei vielen palästina-solidarischen Studierenden in der Kritik. Doch spielt das für ihre öffentliche Wahrnehmung kaum eine Rolle: Indem sie die mediale Aufmerksamkeit bündeln und den Eindruck einer radikalen Studierendenbewegung ohne Interesse an Dialog zementieren, legitimieren sie ex post auch das frühere restriktive Vorgehen gegen Campus-Proteste und die politischen Interventionen in die Autonomie von Hochschulen.
Diese Entwicklung war nicht unvermeidbar. Wenige Tage nach der ersten Hörsaalbesetzung hatte das FU-Präsidium in einer Mail an die Universitätsgemeinschaft betont, dass eine respektvolle, dialogorientierte und verantwortungsbewusste Diskussionskultur auf dem Campus wichtig sei. In den darauffolgenden Monaten waren diesen Worten durchaus Taten gefolgt.
Während Bild-Zeitung und Bildungsministerium spätestens im Mai dieses Jahres mit der Räumung eines Protestcamps im Theaterhof der FU jede Differenzierung über Bord und Palästina-Solidarität mit Antisemitismus in einen Topf warfen, war das Frühjahr an den Berliner Universitäten geprägt von Bemühungen um eine dialogische Lösung. Es gab runde Tische mit Studierendengruppen, Austauschformate mit Autor*innen des “Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten,” sowie öffentliche Sensibilisierungsveranstaltungen zu Rassismus und Antisemitismus.
Abseits des medialen Schlaglichts fanden regelmäßig sowohl israel- als auch palästina-solidarische Kundgebungen statt. Studierende vernetzten sich dabei über die Grenzen der eigenen Häuser hinweg. Ihr Zusammenschluss in der “Student Coalition Berlin” wurde gewissermaßen zum palästina-solidarischen Pendant des Zusammenschlusses Berliner Hochschulen in der Berlin University Alliance. Vor dem Henry-Ford-Bau, dem Ort des ersten Sit-Ins der deutschen Geschichte, diskutierten Studierende aller Berliner Universitäten im Rahmen eines Protestcamps im Frühjahr dieses Jahres zwei Wochen lange konstruktiv mit Dozierenden und externen Gästen die Situation in Gaza sowie die Rolle der Universität im Kontext gewaltsamer Konflikte.
Diese Periode des Austauschs scheint lange her, so tief sind die Gräben, die sich mittlerweile durch die deutschen Universitäten ziehen, von der Studierendenschaft bis zum Kollegium. Zu viele Gesprächsformate fanden in immer wechselnden Konstellationen statt, ohne konkrete Ergebnisse für die angesichts des Leids in Gaza zunehmend verzweifelten Studierenden zu produzieren.
Zu lange schwebten überdies strafrechtliche Maßnahmen wie ein Damoklesschwert über allen Dialogangeboten der Universitätsleitung. Dies vermittelte bei den Studierenden zunächst den Eindruck, die Universität nutze ihre Strafanträge wegen Hausfriedensbruch vor allem als Faustpfand, um weitere Protestaktionen zu verhindern. Nachhaltige vertrauensbildende Maßnahmen waren so kaum möglich.
Schließlich riss im September der Gesprächsfaden vollends ab, als die Universitätsleitung entschied, grundsätzlich keine der Strafanzeigen im Zusammenhang mit den Hörsaalbesetzungen und den Protesten im Theaterhof zurückzunehmen. An Dialog glauben nur noch wenige.
Dies zeigt sich auch in den nun anlaufenden Verfahren: Am 6. November standen gleich drei der Studierenden, die an der Hörsaalbesetzung im Dezember 2023 teilgenommen hatten, vor Gericht. Der Großteil der Angeklagten muss sich nicht etwa wegen politischer Straftaten verantworten, sondern sie werden des Hausfriedensbruchs beschuldigt, in vielen Fällen von der eigenen Hochschule, wegen Protest auf dem eigenen Campus. “Was die FU am 14. Dezember bei der Hörsaalbesetzung und am 7. Mai im Theaterhof getan hat, ist nichts Geringeres als ein Angriff auf ihre Studierenden,” betonte die Verteidigung vor diesem Hintergrund in einem der Abschlussstatements. Zwei der drei Verfahren wurden eingestellt, eines wurde zunächst vertagt. Doch viele weitere Verfahren werden folgen.
Was bedeutet es, wenn Studierende, die sich auf friedliche Weise für internationale Solidarität und Menschenrechte einsetzen, strafrechtlich belangt werden? Und wenn Forschende, die sich vor das Recht ihrer Studierenden auf friedfertigen Protest stellen, mit öffentlicher Diffamierung und förderrechtlichen Konsequenzen rechnen müssen? In jedem Fall geben die “shrinking spaces” an Universitäten zu denken. Denn die Bereitschaft, auch kontroverse Proteste zuzulassen, ist nicht nur eine Frage der Toleranz, sondern essenziell für eine lebendige Demokratie.
Dies gilt besonders an Universitäten, die als Räume akademischer Freiheit im Grundgesetz gesondert geschützt sind und vom produktiven Umgang mit Dissens leben. Dieser Schutz ist das Ergebnis eines historischen Lernprozesses. Wahrheitsfragen sollten so bewusst der Verfügbarkeit durch die öffentliche Gewalt entzogen werden. Lehren aus der deutschen Geschichte zu ziehen muss heißen, diese Freiheit zu schützen.
Sicher: Auch Meinungs-, Versammlungs- und Wissenschaftsfreiheit haben Grenzen. Diese werden durch verfassungsimmanente Schranken wie die Grundrechte Dritter definiert, etwa deren Recht auf Selbstbestimmung und Sicherheit. Vor diesem Hintergrund ist kein Platz für Antisemitismus auf dem Campus, ebenso wenig wie für andere Ausprägungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Auch Gewalt ist als Mittel des politischen Ausdrucks im Kontext einer demokratischen Universität nicht legitimierbar. Doch dass studentische Rufe nach einem Ende von Kriegsverbrechen in Gaza und der Besatzung im Westjordanland jene Grenzen per se verletzen, ist weder rechtlich plausibel noch empirisch haltbar.
Die Forderungen palästina-solidarischer Protestierender haben klare völkerrechtliche Fundamente. Sie lassen sich als direkte Reaktion auf eine Regierungspolitik verstehen, die jene Fundamente nicht mehr ausreichend verteidigt. Die Studierendenproteste halten all jenen, die vorgeben, für eine völkerrechtszentrierte Weltordnung einzustehen, den Spiegel vor und uns alle davon ab, das menschliche Leid in Nahost einfach zu ignorieren. Damit übernehmen sie eine wichtige demokratische Impulsfunktion und stehen in einer langen Tradition des zivilen Ungehorsams an Universitäten. Wenn es dort keinen Platz mehr für Kritik an Gewalt und Unterdrückung gibt – wo denn dann?
Die Universität muss Rahmenbedingungen für eine verantwortungsvolle Diskussionskultur bieten, darf aber nicht selbst als politische Akteurin in Erscheinung treten. Das bedeutet – anders als immer wieder behauptet – keine “carte blanche” für Studierende. Politische Hasskriminalität und Menschenfeindlichkeit sind nicht hinnehmbar. Sie zerstören Universitäten als Orte des Austauschs und des Respekts.
Die pauschale Schließung akademischer Räume für studentische Proteste und die Billigung von Polizeigewalt gegenüber gewaltfreien Studierenden sind aber mit Sicherheit der falsche Weg, diesen Tendenzen entgegenzuwirken. Denn sie befördern eine gefährliche Dynamik: Eine Protestkultur, die nicht genügend Raum für moderate Ausdrucksformen bietet, bringt unweigerlich radikalere Gedanken und Aktionen hervor.
Die unverhohlenen Drohungen in roter Schrift auf Universitätsgebäuden, grenzverletzende Aktionen wie die Erstürmung des FU-Präsidiums – sie sind auch eine traurige Folge der geringen Beachtung, die die Anliegen der Protestierenden im vergangenen Jahr erfahren haben. Statt konstruktiver Auseinandersetzung erlebten Studierende überwiegend Pauschalisierung und Kriminalisierung. Dass nicht der Theaterhof der FU Berlin, sondern ausgerechnet die Gerichte nun die Bühne bieten, auf der die legitimen Anliegen der Studierenden artikuliert und verhandelt werden, grenzt an Zynismus.
Die Palästina-Proteste stellen uns vor die Wahl: Restriktionen hochfahren und die Türen schließen, wie dies in vielen autoritären Staaten geschieht. Oder für eine dialogorientierte und freie Uni kämpfen, die in Zeiten tiefer Betroffenheit auch bereit ist, disruptive Proteste auszuhalten. Wollen wir internationale Solidarität mit Gewaltbetroffenen wirklich unterbinden – in einem Land, wo aus historischen Gründen Unis offen zugänglich sind?
Die Existenzgrundlage von Universität als Raum, nicht nur für Wissensvermittlung, sondern auch für politisches Engagement, ist das Vertrauensverhältnis zwischen der Institution und ihren Studierenden. Dieses Vertrauen ist durch den Umgang mit Protesten im vergangenen Jahr gestört. Wenn viele moderate Stimmen lange kein Gehör finden und letztlich verstummen, werden radikale Stimmen unweigerlich lauter. Es braucht daher dringend eine Rückkehr zum Dialog.
Jannis Julien Grimm ist promovierter Politikwissenschaftler und leitet seit Oktober 2021 die Forschungsgruppe “Radical Spaces” am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung der Freien Universität Berlin. Er ist assoziierter Wissenschaftler des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) und Autor eines Standardwerks für Forschungsethik und -sicherheit im Kontext von Gewaltkonflikten. Im Rahmen mehrerer empirischer Erhebungen untersucht er derzeit die Vielfalt transnationaler Solidarisierungsdynamiken im Kontext des Nahostkonflikts.
außer der Reihe laden wir Sie zu einem ausführlichen Perspektivwechsel ein. In dieser Spezialausgabe beleuchten wir die Positionen der Akteure, deren offener Brief am Beginn der Fördermittelaffäre stand: die Unterzeichner des am 8. Mai veröffentlichten “Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten”, in dem die polizeiliche Räumung eines Pro-Palästina-Camps an der Freien Universität (FU) Berlin kritisiert wird.
In der Aufregung – über eine Bundesministerin, die nichts preisgibt, interne Chatgruppen sowie geschasste und linientreue Staatssekretäre – sind ihre Motive in den Hintergrund gerückt. Nach dem Rücktritt Stark-Watzingers ist zudem nicht klar, ob sich ihr Nachfolger Cem Özdemir weiter mit den Vorgängen befassen wird oder nicht. Ein Grund mehr für eine Bestandsaufnahme. Table.Briefings hat mehrere Erstunterzeichner kontaktiert. Wir wollten wissen: Wie denken sie heute über den offenen Brief? Hat Bettina Stark-Watzinger als Forschungsministerin je das Gespräch mit ihnen gesucht? Sind ihnen berufliche Nachteile entstanden? Ein Kondensat der Antworten finden Sie in der heutigen Ausgabe.
In einem Standpunkt legt einer der Unterzeichner, der Berliner Politologe Jannis Julien Grimm, darüber hinaus dar, was an der FU Berlin im zurückliegenden Jahr im Umgang mit Protesten gut lief – und was nicht. Sein dringender Appell: Rückkehr zum Dialog statt Restriktionen. Außerdem bieten wir Ihnen Kontext. Denn die Fördermittelaffäre ist so etwas wie ein Symptom des Nahost-Konflikts und der spezifisch deutschen Probleme damit. Verkürzt gesagt ist die gedankliche Schlusskette so: Wer für Palästina die Stimme erhebt, ist gegen Israel und demnach antisemitisch.
Derartiges Pochen auf die deutsche Staatsräson führt unweigerlich zu Konflikten. Die Historikerin Miriam Rürup vom Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam erläutert im Interview, warum die Staatsräson weiter gefasst werden muss. Sie hält die Antisemitismusresolution des Bundestags in dieser Hinsicht für eine vertane Chance und erklärt, was es mit der Kritik an der IHRA-Definition auf sich hat.
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Nach einer Woche waren es 350 Unterschriften, bis heute haben mehr als tausend Hochschulangehörige das “Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten” unterzeichnet. Der offene Brief, der für so viel Furore sorgte, entstand binnen weniger Stunden nach der polizeilichen Räumung eines Pro-Palästina-Protestcamps auf dem Campus der Freien Universität (FU) Berlin am 7. Mai. Zunächst unterzeichneten nur Lehrende von Berliner Hochschulen, später auch aus anderen Städten.
Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger reagierte mit einem Statement in der Bild-Zeitung. Der offene Brief mache sie “fassungslos”, statt sich klar gegen Israel- und Judenhass zu stellen, würden Uni-Besetzer zu Opfern gemacht und Gewalt verharmlost, erklärte sie. In einem weiteren Artikel verurteilte die Bild-Zeitung die Unterzeichner unter dem Titel “Die UniversiTÄTER” als “Israel-Hasser” und zeigte zwölf von ihnen mit Fotos. Die Fördermittelaffäre nahm ihren Lauf.
Was mit Bettina Stark-Watzinger und ihrer Staatssekretärin Sabine Döring passierte, blieb im Licht der Öffentlichkeit. Wie es den Angeprangerten ging, rückte in den Hintergrund. Table.Briefings hat 14 Erstunterzeichner des offenen Briefs kontaktiert. Wir wollten wissen, wie sie heute über den Brief denken und ob ihnen berufliche Nachteile entstanden sind. Neun haben geantwortet, einige von ihnen möchten anonym bleiben. Wir skizzieren das Bild, das sich daraus ergibt.
Die Haltung dazu ist eindeutig: Keiner der Befragten bereut, das Statement unterzeichnet zu haben. Es geht ihnen um grundgesetzlich geschützte Rechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit, aber auch um die Hochschulautonomie. Alle würden erneut so handeln, die meisten jedoch würden einzelne Passagen anders formulieren. Gleichwohl geben sie zu bedenken, dass der Brief binnen weniger Stunden entstand.
Allerdings machen sich die Lehrenden auch keine Illusionen, dass präzisere Wortwahl die Skandalisierung vermieden hätte. Er zweifle, dass “andere Formulierungen etwas an der Rezeption ändern würden. Zu klar und antagonistisch sind hier die Lager der unschönen Diskussion sortiert”, sagt Peter Ullrich.
Einige Personen, darunter die Ministerin, hätten “Inhalte wiederholt falsch dargestellt, indem etwa Aussagen zugeschrieben wurden, die gar nicht im offenen Brief standen”, sagt der Politologe Jan Wilkens, der als Senior Researcher an der Universität Hamburg tätig ist. “Durch die gezielte Diffamierung durch die Bild-Zeitung, die durch die Ministerin weiterverbreitet wurde, wurde der Eindruck erweckt, der Brief würde ,Israelhass’ unterstützen oder die UnterzeichnerInnen würden nicht ,auf dem Boden des Grundgesetzes stehen’, moniert er.
Viele der im Nachhinein genannten Kritikpunkte an dem Brief scheinen entweder aus einer mutwillig problematischen Auslegung des Briefes oder einer Nichtbeachtung der Adressaten und des Kontextes zu resultieren, findet auch Ilyas Saliba. “So wurden oftmals die Proteste an der HU herangezogen, um unseren Brief zu kritisieren, obwohl diese erst Wochen nach unserem Brief geschahen.”
Die inzwischen zurückgetretene Bundesministerin hat die Briefunterzeichner öffentlich kritisiert und diffamiert, aber offenbar nie das persönliche Gespräch mit ihnen gesucht. Dabei hatte sie das Medienberichten zufolge im Gespräch mit den Spitzen der Allianz der Wissenschaftsorganisationen zugesichert. “Es gab weder eine Entschuldigung noch eine Einladung zu einem Gespräch seitens des BMBF”, sagt Ilyas Saliba. “Alle Gesprächsangebote von mir und anderen Mitzeichner:innen wurden meines Wissens ignoriert.” Obwohl immer wieder Behauptungen über Gesprächsangebote kursierten, habe es keine derartigen Reaktionen des Ministeriums gegeben, bestätigt Peter Ullrich.
Auf Anfragen der Unterzeichner hat das BMBF äußerst langsam und schmallippig reagiert. “Auf die Antwort des BMBF auf meine Frage nach der erstellten Liste nach Art. 15 DSGVO habe ich vier Monate gewartet und dann lediglich eine Kopie des offenen Briefs bekommen mit Google als Quellenangabe, in dem alle Namen außer meinem geschwärzt waren. Das ist Realsatire”, berichtet Jannis Julien Grimm. Dazu habe es lediglich geheißen: “Zu anderen Vorgängen werden Auskunft und Datenkopie zur Zeit noch zusammengestellt.”
Die fragwürdige Liste, deren Existenz durch Leaks aus dem BMBF bekannt wurde und die nicht nur die Unterzeichner auflistet, sondern auch Informationen über aktuelle Förderungen, hat bisher keiner der Unterzeichner zu Gesicht bekommen, geschweige denn etwas über ihren Verbleib erfahren. Zudem finden sich in der geleakten ministeriumsinternen Konversation Anhaltspunkte dafür, dass sie auch an weitere Projektträger und begutachtende Institutionen des BMBF weitergeleitet wurde.
Zwar sei das deutsche Wissenschaftssystem nicht autoritär, dennoch sehen die meisten Befragten eine Gefährdung oder Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit. Angela Harutyunyan, Professorin an der Universität der Künste in Berlin, sieht die akademische Freiheit in Deutschland “auf dem tiefsten Stand seit den dunklen Jahren des letzten Jahrhunderts”.
Die von den Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und CDU/CSU gemeinsam erarbeitete Resolution “Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken” wurde am 7. November beschlossen. Ob es ein ergänzender Fachantrag, der Antisemitismus an Schulen und Hochschulen adressiert, noch in den Bundestag schafft, ist nach dem Koalitions-Aus aber ungewiss.
Zu Beidem gab es mahnende Stimmen aus der Wissenschaft, die das Vorhaben zwar grundsätzlich unterstützen, aber die gewählten Mittel kritisieren. Am Dienstag hat sich auch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) kritisch zu dem Fachantrag geäußert. Die derzeit angedachte, hochschulspezifische Resolution könnte in ihrer Umsetzung zu einer Beeinträchtigung der Wissenschaftsfreiheit und der Hochschulautonomie führen, warnt sie.
Die beiden Resolutionen zugrundeliegende IHRA-Arbeitsdefinition für Antisemitismus erwähnt die HRK in ihrer Entschließung nicht. Dabei gibt es aus der Wissenschaft viel Kritik an der politischen Festlegung auf diese Definition.
Auf der Leitungsebene von Wissenschaftseinrichtungen ist Barbara Stollberg-Rilinger hierzulande eine der wenigen, die zur Festlegung auf die IHRA-Definition und zur beschlossenen Bundestagsresolution öffentlich eine kritische Position vertreten. Die Historikerin und Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin sah schon im Jahr 2020, als der Bundestag die BDS-Resolution verabschiedet hat, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft in Gefahr und äußerte ihre Bedenken unter anderem in einem FAZ-Beitrag.
Kurz vor der Verabschiedung der Antisemitismusresolution hat sie sich in einer Pressekonferenz für alternative Formulierungsvorschläge ausgesprochen und erläutert, warum auch der geplante Hochschulantrag die Wissenschaftsfreiheit gefährdet. Sie wusste, worauf sie sich einlässt, sagt sie im Gespräch mit Table.Briefings. Damals wie heute habe ihr die Positionierung diffamierende Kommentare eingebracht. Aber sie erhalte auch viel Zuspruch aus der Scientific Community und fühle sich schlicht verpflichtet, auf die Gefahren hinzuweisen.
Dass sich viele Forschende und Wissenschaftsinstitutionen zum Thema Antisemitismusresolution bedeckt halten, wundert Stollberg-Rilinger nicht. Schließlich riskiere man, selbst als antisemitisch verunglimpft zu werden. “Sich als Deutscher den Vorwurf des Antisemitismus zuzuziehen, ist so ein abschreckender Gedanke, dass viele lieber schweigen.” Aber gerade deswegen sei es so wichtig, an die Öffentlichkeit zu gehen. “Die Nebenwirkungen der Resolution sind fatal. Die vage und unbestimmte IHRA-Definition lässt sich instrumentalisieren, um missliebige Stimmen zum Verstummen zu bringen.”
“Ich würde mir auch von den Wissenschaftsorganisationen hierzulande noch etwas deutlichere Worte wünschen”, sagt sie. Denn die Fördermittelaffäre habe gezeigt, wie leicht die Wissenschaftsfreiheit gefährdet werden könne. Dass sich ein solcher Vorgang im BMBF wiederholt, hält sie aber für unwahrscheinlich. “Es hat sich schließlich gezeigt, dass es auf der mittleren Ebene des Ministeriums Beamte gibt, denen klar ist, was Wissenschaftsfreiheit bedeutet.”
Die Gefahr sei eher, dass Wissenschaft und Zivilgesellschaft vor dem Hintergrund der Antisemitismusresolution vorauseilende Selbstzensur üben und das Thema Israel/Palästina meiden. Das habe zur Folge, dass sich Räume schließen, in denen dieses Thema kontrovers diskutiert, erforscht oder verhandelt werden kann.
Besonders bedenklich findet die Historikerin, dass eine solche Entwicklung einer rechten Partei wie der AfD höchst willkommen ist, wie auch am 7. November in der Bundestagsdebatte über den Antrag zu beobachten gewesen sei. Dass die Politiker der demokratischen Parteien dieses Missbrauchspotenzial nicht erkennen, beunruhige sie sehr.
Als im Mai über den Umgang mit pro-palästinensischen Protesten an Hochschulen gestritten wurde, hat Miriam Rürup sich für das Recht auf Protest eingesetzt. Im Interview kritisiert die Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums in Potsdam die Polarisierung in Deutschland infolge des Nahostkonflikts. Die Historikerin plädiert dafür, beim Schutz jüdischen Lebens die Mehrstimmigkeit zu bedenken.
Frau Rürup, warum hat der offene Brief, in dem sich Berliner Hochschullehrende für das Recht auf friedlichen Protest stark gemacht haben, die einen “fassungslos” gemacht und andere dazu gebracht, sich für die Unterzeichner einzusetzen?
Warum jemand darauf mit Fassungslosigkeit reagiert, ist schwer zu erklären. An dem Brief ist nichts Skandalträchtiges. Es sei denn, es geht nicht um die Sache. Die Entrüstung rührt vermutlich daher, dass der Protest von vornherein als illegitim angesehen wurde – und eigentlich wäre DAS ja besorgniserregend. Denn dann werden alle diskreditiert, die das Recht auf Protest betonen.
Sie haben sich für die Briefunterzeichner und die Protestierenden eingesetzt, zum Beispiel in der Bundespressekonferenz am 21. Mai. Warum war Ihnen das wichtig?
Wenn wir eine offene, nicht-autoritäre Gesellschaft sein wollen, müssen wir auch Proteste aushalten, mit deren Inhalten wir nicht übereinstimmen – wobei ich in diesem konkreten Fall doch betonen möchte, wie sehr ich das Bedürfnis der Studierenden verstehe, gegen den anhaltenden und sich ausweitenden Krieg in Gaza zu protestieren. Eine Befreiung der Geiseln ist doch so lange kaum denkbar, wie dieser Krieg fortgeführt wird. Die Polizei zur Räumung von friedlichen Protesten hinzuziehen, sollte Ultima Ratio sein.
Zum anderen können wir nicht die Augen davor verschließen, dass wir es hierzulande mit einer Vielzahl von Positionen zu tun haben. Es gibt gesellschaftliche Gruppen, die von dem israelisch-palästinensischen Konflikt durch persönliche Beziehungen unmittelbar betroffen sind – und das sind Juden genauso wie Israelis und Palästinenserinnen. Dass sich das auch in den Unis zeigt, ist erwartbar. Gerade deshalb müssen wir an Hochschulen die Räume dafür schaffen, in denen diese Konflikte ausgehandelt werden können.
Besagtes Camp war Anfang Mai. In der Zeit danach kam es zu zerstörerischen und mit Gewalt verbundenen Protestaktionen, etwa an der Berliner Humboldt-Universität und an der FU mit der versuchten Besetzung des Präsidiums. Hat das Ihre Sicht auf die Dinge verändert?
Natürlich gibt es rote Linien. Grundsätzlich sehe ich gewaltfreien Protest weiterhin als Zeichen für gelebte Debattenkultur – wer auf das Ringen um das bessere Argument mit Repression und Diffamierung reagiert, hält sich hier ebenso wenig an die demokratischen Spielregeln wie derjenige, der Vandalismus betreibt. Die Räume für Diskurs müssen erhalten bleiben oder sogar aktiv geöffnet werden.
An der Antisemitismusresolution des Bundestags und der geplanten Hochschulresolution haben sie ebenfalls Kritik geäußert. Auch dabei geht es darum, wie viel Israel-Kritik oder Palästina-Solidarität sein darf. Was läuft da falsch?
Seit dem Überfall der Hamas auf Israel beobachte ich eine Engführung dessen, was wir unter Bekämpfung von Antisemitismus verstehen. Das kulminierte in der inzwischen beschlossenen Resolution zum Schutz jüdischen Lebens und dem Entwurf der Schul- und Hochschulresolution, den ja auch die HRK kritisiert.
Was ist falsch an dem darin skizzierten Weg?
Zurzeit wird der Schutz jüdischen Lebens gleichgesetzt mit der deutschen Staatsräson und – etwas überspitzt gesagt – dem Schutz Israels vor Kritik. Wer sich etwa kritisch zur israelischen Kriegsführung äußert, riskiert, des verbrämten Antisemitismus bezichtigt zu werden. Diese Gleichsetzung hat fast schon wieder eine antisemitische Grundierung. Denn es gibt auch Juden, die keine Israelis sind – hier werden sie aber in eins gesetzt. Dabei gibt es Juden, die mit Israel gar nichts zu tun haben wollen.
So oder so: Deutsche Jüdinnen und Juden sollten ja wohl das Recht zur freien Meinungsäußerung haben und vor Anfeindungen geschützt werden – unabhängig davon, wie sie zu Israel stehen. In der Resolution ist aber nur die Rede davon, die israel-solidarischen Stimmen schützen zu wollen. Was heißt das dann bitte schön für die israel-kritischen Stimmen?
Empfinden Sie das als Bevormundung?
Was mich als Jüdin daran durchaus aufbringt ist der Eifer, mit dem nicht-jüdische Deutsche meinen zu wissen, wie Antisemitismus zu bekämpfen ist. Der Umgang mit linken jüdischen Stimmen ist in diesem Kontext sehr befremdlich. Wenn man es ernst meint mit dem Schutz jüdischen Lebens, muss man nicht einer Meinung sein mit denen, die man angeblich schützen möchte. Für deutsche Juden und linke Israelis, die hier leben, hat sich der Blick auf Israel durch die Regierung Netanjahu mit ihren rechtsextremen Ministern sehr verändert. Gelebte Israel-Solidarität bedeutet für mich, die protestierenden Israelis gegen ihre Regierung zu unterstützen und nicht, Netanjahus Politik zu verteidigen.
Wie erklären Sie sich die einseitige Perspektive in Deutschland?
Seit dem 7. Oktober 2023 haben sich zwei Lager gebildet. Es bleibt kein Raum für Differenzierung und auch kein Raum, sich nicht zu einer der beiden Seiten zu bekennen. Dieser Bekenntniszwang zeigt sich auch bei der Definition von Antisemitismus. Aus wissenschaftlicher Sicht ist klar, dass Definitionen schon veraltet sind, kaum dass sie zu Papier gebracht sind. Antisemitismus muss differenziert und immer neu betrachtet werden. Diese Perspektive scheint im politischen Raum gar nicht mehr gewünscht zu sein.
Warum lässt sich Antisemitismus so schwer definieren?
Weil es sich um eine diffuse Mischung aus individuellen Vorurteilen und einem großen, historisch weit zurückweisenden Bestand von Feindbildern handelt, die Juden kollektiv und abwertend beschreiben. Diese Feindbilder sind wandelbar und werden ständig neu angewandt. Was wir brauchen, sind differenzierende Betrachtungen und Anerkennung der Kontextabhängigkeit von als antisemitisch eingestuften Äußerungen.
Der Bundestag legt die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) veröffentlichte Arbeitsdefinition für Antisemitismus zugrunde. Warum gibt es daran so viel Kritik?
Die IHRA-Arbeitsdefinition ist recht vage und lässt sich politisch instrumentalisieren, um Kritik an Israel als antisemitisch zu kategorisieren. Schon in der Selbstbeschreibung der Definition wird ein überproportional starker Fokus auf israelkritische oder -feindliche Beispiele gelegt. Die große Mehrheit der anderen Formen von Antisemitismus wird disproportional vernachlässigt. Ein weiteres Problem ist, dass die Definition im politischen Raum einen quasi-rechtlichen Charakter angenommen hat. Sie wurde aber nicht als Regulierungs- sondern als Monitoring-Instrument entwickelt – für die Datenerhebung zu antisemitischen Vorfällen.
Oft wird als Alternative die Jerusalem Definition of Antisemitism (JDA) genannt. Was ist daran besser?
Sie wurde 2020/2021 vom Jerusalemer Van Leer-Institut als kritische Antwort auf die beobachtete Instrumentalisierung der IHRA-Definition erarbeitet. Mehr als 200 Wissenschaftler haben sich daran beteiligt. Die JDA versucht, anhand von 15 Leitlinien mit konkreten Beispielen zu verdeutlichen, wie wichtig der jeweilige Kontext für die Einstufung als antisemitisch/nicht-antisemitisch ist.
Warum beharren Bundesregierung und Politik trotzdem auf der IHRA-Definition?
Im Bundestag dominiert naheliegenderweise ein politisches Interesse. Und mit einer solchen Resolution möchte man politisch das Richtige tun. Leider ist dabei ein Bekenntnis zur IHRA fast ein politischer Fetisch geworden – dabei spräche ja nichts dagegen, auch andere Definitionsbemühungen zu berücksichtigen.
Die AfD hat die Resolution begrüßt und auch dafür gestimmt. Was steckt dahinter?
Die IHRA-Definition macht es leicht, den Antisemitismusvorwurf auf diejenigen zu lenken, die von außen kommen, die nichts mit der deutschen Geschichte zu tun haben. Der Fokus auf den “importierten” Antisemitismus kommt der AfD entgegen. Dass die Resolution ein solches Gewicht darauflegt, bringt zum einen alle Muslime in die Nähe des Generalverdachts. Zum anderen suggeriert es, dass unsere Gesellschaft ohne den Antisemitismus aus dem Ausland nicht mehr antisemitisch geprägt wäre.
Ein Indiz für diese Unausgewogenheit: Die Resolution nennt als Beispiele für Antisemitismus den Hamas-Überfall und Einwanderer aus muslimischen Ländern, auch der Kunstbereich wird erwähnt, nicht jedoch das Attentat im Jahr 2019 auf die Synagoge in Halle. Mit keinem Wort. Dabei war das in Deutschland der größte gewaltsame Übergriff auf Juden der letzten Jahre. Das finde ich auch ganz persönlich schockierend und geradezu verantwortungslos gegenüber der Gefahr, die uns als Gesellschaft von rechts bedroht. Es zeigt, dass wir es fast schon mit einer Exkulpationsstrategie zu tun haben.
Sie sprechen sich für einen erweiterten Begriff der deutschen Staatsräson aus, der die Rechte der palästinensischen Israelis und Palästinenser insgesamt genauso berücksichtigt wie die der jüdischen Israelis. Wie kommen solche Äußerungen an?
Zu diesen Aussagen habe ich viel Feedback bekommen, kritisches, aber auch positives. Mir ist wichtig: Die deutsche Gesellschaft muss sich für ein breiteres Portfolio an Folgen des Nationalsozialismus verantwortlich fühlen als ausschließlich für den Schutz von Jüdinnen und Juden. Der Staat Israel ist nach 1945 entstanden – und zwar auch unter dem Eindruck von NS-Verbrechen. Die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser, ist somit auch eine historische Folge der deutschen Geschichte.
Eine der Lehren sollte sein, sich so universell wie möglich für Menschenrechte einzusetzen. Der Einsatz für Völkerrecht muss die oberste Maxime sein. Deutschland ist verantwortlich für Jüdinnen und Juden in Deutschland, für die Sicherheit der Israelis – und auch für die Sicherheit der Palästinenser.
Von dieser Betrachtung scheinen Politik und Öffentlichkeit weit entfernt.
Als Historikerin werbe ich für diesen integrativen und differenzierten Blick. Aber solange der Krieg anhält, wird die Bereitschaft, diese Perspektive einzunehmen, vermutlich gering sein. In der Diskussion ist es zu einer Art von Lagerbildung gekommen, die fast schon die Frontstellung hierherbringt. Dabei dürfen wir doch gerade diese Spaltung nicht zulassen, wenn wir nicht die Hamas gewinnen lassen wollen.
Die Antisemitismusresolution des Bundestags wurde von Institutionen wie dem Zentralrat der Juden begrüßt, viele progressive Jüdinnen und Juden haben sich hingegen kritisch geäußert. Warum treten die Progressiven nur am Rande in Erscheinung?
Der Zentralrat der Juden wird als eine Alleinvertretung der deutschen Juden wahrgenommen. Das war er tatsächlich lange Zeit, denn die jüdische Community war anfangs sehr klein. Spätestens seit den 1990er-Jahren hat sich das zunehmend verändert: Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist größer und differenzierter geworden. Wenn wir heute nur darauf schauen, was der Zentralrat äußert und nicht beachten, was andere jüdische Organisationen und Vereine sagen, sind wir immer noch dieser Nachkriegszeit verhaftet. Wir öffnen uns nicht genügend der jüdischen Pluralität in Deutschland.
Gibt es zu wenige Institutionen für diese Stimmen?
Diese Institutionen und Gruppierungen gibt es durchaus – etwa den in Gründung befindlichen Verein der Palästinensisch-Jüdischen Akademiker. Aber sie erheben nicht den Anspruch, für alle Jüdinnen und Juden in Deutschland zu sprechen. Bei der Erarbeitung der Antisemitismusresolution hätte man sie berücksichtigen können. Aber die Chance ist vertan. Die Resolution nimmt auf ein Judentum Bezug, das überhaupt nicht mehr der Gegenwart entspricht. Das jüdische Leben ist mehrstimmig. Der Schutz müsste darin bestehen, diese Mehrstimmigkeit zu stärken.
Sehen Sie die Wissenschaftsfreiheit durch die Resolution in Gefahr?
Die Resolution droht in ihren Folgen die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken, indem sie ein Klima der Selbstbeschränkung schafft. Um Skandalisierung zu vermeiden oder in Förderlinien von Ministerien eine Chance zu haben, könnten bestimmte Fragen unter den Tisch fallen. Die Resolution beschneidet damit auch meine Arbeit. Bestimmte israelische Kollegen, die sich eventuell in von Netanjahu inkriminierten besatzungskritischen Organisationen engagieren – darunter etwa ein Rabbiner aus Jerusalem – kann ich dann nicht mehr zu öffentlichen Vortragsveranstaltungen einladen, ohne befürchten zu müssen, dass das mit Verweis auf die Resolution skandalisiert wird.
Wie blicken internationale Wissenschaftler auf das Geschehen in Deutschland?
Aus meinen bisherigen Gesprächen und zahlreichen Nachrichten habe ich den Eindruck, dass man die natürlich historisch bedingte deutsche Spezifik der Diskussion über Israel in den USA und in Israel durchaus mit Befremden wahrnimmt. Ich gehe davon aus, dass internationale Kooperationen schwieriger werden. Viele israelische Kollegen erkundigen sich bei mir über die Situation in Deutschland. Viele tragen sich vermutlich mit dem Gedanken, aus Israel wegzugehen. Sie müssen gut überlegen, wo sie hingehen – und viele kommen gewiss nicht wegen, sondern höchstens trotz der Resolutionen hierher.
Miriam Rürup ist Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums in Potsdam. Die Historikerin leitet das interdisziplinäre Institut für europäisch-jüdische Studien seit Ende 2020. Sie hat Geschichte, Soziologie und Europäische Ethnologie an den Universitäten Göttingen und Tel Aviv studiert, am Deutschen Historischen Institut in Washington geforscht und war von 2012 bis 2020 Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. Das Moses Mendelssohn Zentrum ging 1992 aus der Universität Potsdam hervor.
Seit dem Beginn des Gaza-Kriegs erleben Universitäten eine Renaissance studentischer Mobilisierung. Universitäten sind Orte, an denen gesellschaftliche Werte verhandelt werden. Es überrascht daher kaum, dass sich der “Konflikt über den Konflikt in Nahost” auch auf Hochschulgeländen abspielt.
Deutschland erreichte die Protestwelle Ende 2023. Studentische Mahnwachen, Kundgebungen und Flashmobs finden zwar an deutschen Hochschulen seit Mitte Oktober letzten Jahres statt, doch erst die Besetzung eines Hörsaals der Freien Universität Berlin am 14. Dezember rief die Hochschule als zentrale Bühne für Protest zurück ins Bewusstsein. Gleichzeitig setzte die FU mit der polizeilichen Räumung der Besetzung den Ton für den Umgang mit studentischer Mobilisierung – auch über den eigenen Campus hinaus.
Politischen Druck machten dabei vor allem das BMBF um die (inzwischen zurückgetretene) Bundesministerin Bettina Stark-Watzinger und ihre (zuvor als Bauernopfer geschasste) Staatssekretärin Sabine Döring. Ausgerechnet im Wissenschaftsjahr “Freiheit” fielen diese beiden mit beispiellosen Interventionen in die Autonomie von Hochschulen auf und beteiligten sich zudem maßgeblich an der Diffamierungskampagne gegen Hochschullehrende, die in einem offenen Brief lediglich das Recht ihrer Studierenden auf friedlichen Protest betonten.
Hörsaalbesetzungen sind längst deutlich konfrontativeren Aktionen gewichen. Auf bedrückende Weise zeigte sich dies am 17. Oktober, als sich Vermummte im Präsidium der Freien Universität verbarrikadierten und dabei neben Sachbeschädigung auch Mitarbeitende physisch und psychisch bedrohten.
Aktionen wie diese, die sich nicht mehr als ziviler Ungehorsam rechtfertigen lassen, binden längst nicht mehr die gleichen Massen wie die Hörsaalbesetzungen. Sie stehen auch bei vielen palästina-solidarischen Studierenden in der Kritik. Doch spielt das für ihre öffentliche Wahrnehmung kaum eine Rolle: Indem sie die mediale Aufmerksamkeit bündeln und den Eindruck einer radikalen Studierendenbewegung ohne Interesse an Dialog zementieren, legitimieren sie ex post auch das frühere restriktive Vorgehen gegen Campus-Proteste und die politischen Interventionen in die Autonomie von Hochschulen.
Diese Entwicklung war nicht unvermeidbar. Wenige Tage nach der ersten Hörsaalbesetzung hatte das FU-Präsidium in einer Mail an die Universitätsgemeinschaft betont, dass eine respektvolle, dialogorientierte und verantwortungsbewusste Diskussionskultur auf dem Campus wichtig sei. In den darauffolgenden Monaten waren diesen Worten durchaus Taten gefolgt.
Während Bild-Zeitung und Bildungsministerium spätestens im Mai dieses Jahres mit der Räumung eines Protestcamps im Theaterhof der FU jede Differenzierung über Bord und Palästina-Solidarität mit Antisemitismus in einen Topf warfen, war das Frühjahr an den Berliner Universitäten geprägt von Bemühungen um eine dialogische Lösung. Es gab runde Tische mit Studierendengruppen, Austauschformate mit Autor*innen des “Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten,” sowie öffentliche Sensibilisierungsveranstaltungen zu Rassismus und Antisemitismus.
Abseits des medialen Schlaglichts fanden regelmäßig sowohl israel- als auch palästina-solidarische Kundgebungen statt. Studierende vernetzten sich dabei über die Grenzen der eigenen Häuser hinweg. Ihr Zusammenschluss in der “Student Coalition Berlin” wurde gewissermaßen zum palästina-solidarischen Pendant des Zusammenschlusses Berliner Hochschulen in der Berlin University Alliance. Vor dem Henry-Ford-Bau, dem Ort des ersten Sit-Ins der deutschen Geschichte, diskutierten Studierende aller Berliner Universitäten im Rahmen eines Protestcamps im Frühjahr dieses Jahres zwei Wochen lange konstruktiv mit Dozierenden und externen Gästen die Situation in Gaza sowie die Rolle der Universität im Kontext gewaltsamer Konflikte.
Diese Periode des Austauschs scheint lange her, so tief sind die Gräben, die sich mittlerweile durch die deutschen Universitäten ziehen, von der Studierendenschaft bis zum Kollegium. Zu viele Gesprächsformate fanden in immer wechselnden Konstellationen statt, ohne konkrete Ergebnisse für die angesichts des Leids in Gaza zunehmend verzweifelten Studierenden zu produzieren.
Zu lange schwebten überdies strafrechtliche Maßnahmen wie ein Damoklesschwert über allen Dialogangeboten der Universitätsleitung. Dies vermittelte bei den Studierenden zunächst den Eindruck, die Universität nutze ihre Strafanträge wegen Hausfriedensbruch vor allem als Faustpfand, um weitere Protestaktionen zu verhindern. Nachhaltige vertrauensbildende Maßnahmen waren so kaum möglich.
Schließlich riss im September der Gesprächsfaden vollends ab, als die Universitätsleitung entschied, grundsätzlich keine der Strafanzeigen im Zusammenhang mit den Hörsaalbesetzungen und den Protesten im Theaterhof zurückzunehmen. An Dialog glauben nur noch wenige.
Dies zeigt sich auch in den nun anlaufenden Verfahren: Am 6. November standen gleich drei der Studierenden, die an der Hörsaalbesetzung im Dezember 2023 teilgenommen hatten, vor Gericht. Der Großteil der Angeklagten muss sich nicht etwa wegen politischer Straftaten verantworten, sondern sie werden des Hausfriedensbruchs beschuldigt, in vielen Fällen von der eigenen Hochschule, wegen Protest auf dem eigenen Campus. “Was die FU am 14. Dezember bei der Hörsaalbesetzung und am 7. Mai im Theaterhof getan hat, ist nichts Geringeres als ein Angriff auf ihre Studierenden,” betonte die Verteidigung vor diesem Hintergrund in einem der Abschlussstatements. Zwei der drei Verfahren wurden eingestellt, eines wurde zunächst vertagt. Doch viele weitere Verfahren werden folgen.
Was bedeutet es, wenn Studierende, die sich auf friedliche Weise für internationale Solidarität und Menschenrechte einsetzen, strafrechtlich belangt werden? Und wenn Forschende, die sich vor das Recht ihrer Studierenden auf friedfertigen Protest stellen, mit öffentlicher Diffamierung und förderrechtlichen Konsequenzen rechnen müssen? In jedem Fall geben die “shrinking spaces” an Universitäten zu denken. Denn die Bereitschaft, auch kontroverse Proteste zuzulassen, ist nicht nur eine Frage der Toleranz, sondern essenziell für eine lebendige Demokratie.
Dies gilt besonders an Universitäten, die als Räume akademischer Freiheit im Grundgesetz gesondert geschützt sind und vom produktiven Umgang mit Dissens leben. Dieser Schutz ist das Ergebnis eines historischen Lernprozesses. Wahrheitsfragen sollten so bewusst der Verfügbarkeit durch die öffentliche Gewalt entzogen werden. Lehren aus der deutschen Geschichte zu ziehen muss heißen, diese Freiheit zu schützen.
Sicher: Auch Meinungs-, Versammlungs- und Wissenschaftsfreiheit haben Grenzen. Diese werden durch verfassungsimmanente Schranken wie die Grundrechte Dritter definiert, etwa deren Recht auf Selbstbestimmung und Sicherheit. Vor diesem Hintergrund ist kein Platz für Antisemitismus auf dem Campus, ebenso wenig wie für andere Ausprägungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Auch Gewalt ist als Mittel des politischen Ausdrucks im Kontext einer demokratischen Universität nicht legitimierbar. Doch dass studentische Rufe nach einem Ende von Kriegsverbrechen in Gaza und der Besatzung im Westjordanland jene Grenzen per se verletzen, ist weder rechtlich plausibel noch empirisch haltbar.
Die Forderungen palästina-solidarischer Protestierender haben klare völkerrechtliche Fundamente. Sie lassen sich als direkte Reaktion auf eine Regierungspolitik verstehen, die jene Fundamente nicht mehr ausreichend verteidigt. Die Studierendenproteste halten all jenen, die vorgeben, für eine völkerrechtszentrierte Weltordnung einzustehen, den Spiegel vor und uns alle davon ab, das menschliche Leid in Nahost einfach zu ignorieren. Damit übernehmen sie eine wichtige demokratische Impulsfunktion und stehen in einer langen Tradition des zivilen Ungehorsams an Universitäten. Wenn es dort keinen Platz mehr für Kritik an Gewalt und Unterdrückung gibt – wo denn dann?
Die Universität muss Rahmenbedingungen für eine verantwortungsvolle Diskussionskultur bieten, darf aber nicht selbst als politische Akteurin in Erscheinung treten. Das bedeutet – anders als immer wieder behauptet – keine “carte blanche” für Studierende. Politische Hasskriminalität und Menschenfeindlichkeit sind nicht hinnehmbar. Sie zerstören Universitäten als Orte des Austauschs und des Respekts.
Die pauschale Schließung akademischer Räume für studentische Proteste und die Billigung von Polizeigewalt gegenüber gewaltfreien Studierenden sind aber mit Sicherheit der falsche Weg, diesen Tendenzen entgegenzuwirken. Denn sie befördern eine gefährliche Dynamik: Eine Protestkultur, die nicht genügend Raum für moderate Ausdrucksformen bietet, bringt unweigerlich radikalere Gedanken und Aktionen hervor.
Die unverhohlenen Drohungen in roter Schrift auf Universitätsgebäuden, grenzverletzende Aktionen wie die Erstürmung des FU-Präsidiums – sie sind auch eine traurige Folge der geringen Beachtung, die die Anliegen der Protestierenden im vergangenen Jahr erfahren haben. Statt konstruktiver Auseinandersetzung erlebten Studierende überwiegend Pauschalisierung und Kriminalisierung. Dass nicht der Theaterhof der FU Berlin, sondern ausgerechnet die Gerichte nun die Bühne bieten, auf der die legitimen Anliegen der Studierenden artikuliert und verhandelt werden, grenzt an Zynismus.
Die Palästina-Proteste stellen uns vor die Wahl: Restriktionen hochfahren und die Türen schließen, wie dies in vielen autoritären Staaten geschieht. Oder für eine dialogorientierte und freie Uni kämpfen, die in Zeiten tiefer Betroffenheit auch bereit ist, disruptive Proteste auszuhalten. Wollen wir internationale Solidarität mit Gewaltbetroffenen wirklich unterbinden – in einem Land, wo aus historischen Gründen Unis offen zugänglich sind?
Die Existenzgrundlage von Universität als Raum, nicht nur für Wissensvermittlung, sondern auch für politisches Engagement, ist das Vertrauensverhältnis zwischen der Institution und ihren Studierenden. Dieses Vertrauen ist durch den Umgang mit Protesten im vergangenen Jahr gestört. Wenn viele moderate Stimmen lange kein Gehör finden und letztlich verstummen, werden radikale Stimmen unweigerlich lauter. Es braucht daher dringend eine Rückkehr zum Dialog.
Jannis Julien Grimm ist promovierter Politikwissenschaftler und leitet seit Oktober 2021 die Forschungsgruppe “Radical Spaces” am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung der Freien Universität Berlin. Er ist assoziierter Wissenschaftler des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) und Autor eines Standardwerks für Forschungsethik und -sicherheit im Kontext von Gewaltkonflikten. Im Rahmen mehrerer empirischer Erhebungen untersucht er derzeit die Vielfalt transnationaler Solidarisierungsdynamiken im Kontext des Nahostkonflikts.