große Worte fallen, wenn über die Bedeutung der Europawahl gesprochen wird. Zu Recht: Es ist ein Schlüsselmoment für die EU, die vor dem Hintergrund multipler Krisen und inmitten sozialer und wirtschaftlicher Spannungen neu aufgesetzt wird. Nicht wenige Menschen sorgen sich dabei über die wachsende Rolle euroskeptischer Parteien. In diesem Briefing möchten wir Sie über die Auswirkungen der Wahl auf den Bereich Wissenschaft und Forschung informieren.
Noch bis 2027 läuft Horizon Europe, das aktuelle neunte Rahmenprogramm für Forschung und Innovation der EU. Es hat ein Budget von 95 Milliarden Euro. Nicht nur den Namen des Nachfolgeprogramms und dessen Schwerpunkte, sondern auch die Höhe des Budgets wird die neue EU-Kommission vorschlagen. Aktuelle Mitglieder des EU-Parlaments sowie Verbände haben für das FP10 eine deutliche Erhöhung gefordert – auf 200 Milliarden Euro. Diese Verdopplung im Vergleich zu Horizon Europe halten viele für utopisch.
Auch die aktuelle EU-Forschungskommissarin Iliana Ivanova erklärte am Mittwoch bei ihrem Besuch im Forschungsausschuss, die Wahrscheinlichkeit, dass es mehr Geld geben wird, sei gering. Forschungsgelder müssten zudem effektiver ausgeben werden.
Durchaus optimistischer, was eine Erhöhung des Budgets angeht, zeigte sich Christian Ehler. Der CDU-Politiker ist seit 2014 Abgeordneter im EU-Forschungsausschuss ITRE. Der bisherige Berichterstatter für den Net-Zero Industry Act (NZIA) mahnt, “dass wir wahrscheinlich noch mehr Ausgaben benötigen werden, wenn wir eine Beschleunigung der Dekarbonisierung bis 2040 anstreben”.
Im Interview berichtete mir Christian Ehler über seine Ziele für eine neue Legislatur, eigene Erfolge, aber auch Fehler. Was aber erklären eigentlich die Parteien in Sachen europäischer Forschungspolitik? Wir haben die Wahlprogramme analysiert und deutliche Übereinstimmungen gefunden, aber auch interessante Differenzierungen.
Hier bleiben Sie weiterhin informiert: Es gibt einen Newsblog von Table.Briefings zu den Wahlen: Wir stellen Ihnen hier das Wichtigste aus allen Fachbriefings und die aktuellen News zu den Europawahlen zur Verfügung.
Ich wünsche Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre! Wir lesen uns wieder am Dienstag, nach der Wahl.
Bei der Europawahl am 9. Juni entscheidet sich, wie handlungsfähig die EU in den kommenden Jahren sein wird. Neben der wichtigen Frage, ob die pro-europäischen Parteien ihre klare Mehrheit im Europaparlament verteidigen können, interessiert die Wissenschaftscommunity natürlich besonders, welche Schwerpunkte sich im Bereich Forschung und Innovation für die nächste Legislaturperiode abzeichnen. Wie ändert sich absehbar die europäische Politik in Sachen Forschungsrahmenprogramm (FP10)? Wie geht es weiter mit dem EIT oder den Bestrebungen, den Dual-Use-Ansatz auszuweiten?
Die Hochschulrektorenkonferenz hat acht forschungspolitische Fragen an alle großen Parteien, die derzeit im Deutschen Bundestag vertreten sind, gestellt. Wird man sich für einen Mittelzuwachs bei Erasmus+ einsetzen? Wie sieht Ihre Vision für die European University Initiative aus? Wie steht die Partei zur grundgesetzlichen Verankerung der Wissenschaftsfreiheit? Hier geht es zu den Wahlprüfsteinen der HRK.
Wir haben darüber hinaus analysiert: Was steht zu Wissenschaft und Forschung in den Parteiprogrammen? Alle Parteien erkennen die wichtige und zukunftssichernde Rolle der Forschung an. Alle betonen, diese auch langfristig stärken zu wollen, im Detail gibt es aber unterschiedliche Schwerpunkte. Ein Überblick.
Das Wahlprogramm der SPD umfasst 50 Seiten, das Thema Forschung / Innovation hat kein eigenes Kapitel, der Begriff “Forschung” kommt insgesamt 13-mal vor, das Wort “Innovation” 19-mal.
Das denkt, erklärt und will die SPD für Forschung in Europa:
Das Wahlprogramm der Grünen ist beinahe dreimal so lang wie das der SPD: Es hat 113 Seiten, nach einer persönlichen Einleitung (Liebe Wählerinnen und Wähler) folgen sieben Kapitel. Der Bereich Forschung / Innovation hat ein eigenes Unterkapitel, der Begriff “Forschung” kommt insgesamt 37-mal vor, das Wort “Innovation“ 34-mal.
Das denken, erklären und fordern die Grünen zu Forschung und Innovation:
Das Wahlprogramm der CDU ist im Vergleich zu dem der Grünen eher kurz: Es umfasst 25 Seiten. In drei Kapiteln legt die Partei ihre Standpunkte und Pläne nieder, Forschung hat ein eigenes Unterkapitel: Unter II.2. heißt es “Forschung, Innovation, Digitalisierung” für ein souveränes Europa. Insgesamt kommt das Wort “Forschung” 19-mal im CDU-Wahlprogramm vor, der Begriff “Innovation” 16-mal.
Das denkt, erklärt und fordert die CDU zu Forschung und Innovation:
Das Wahlprogramm (Entfesseln wir Europas Energie für mehr Freiheit und mehr Wohlstand) ist 40 Seiten lang, keine Kapitel speziell für Forschung und Innovation. Das Wort “Forschung” kommt neunmal vor, der Begriff “Innovation” 21-mal.
Das denkt, erklärt und fordert die FDP zu Forschung und Innovation:
Das Wahlprogramm der Partei “Die Linke” umfasst 97 Seiten, darin sind fünf Kapitel, von “Wirtschaft sozial und ökologisch umbauen” bis “Mehr Demokratie, weniger Lobbyismus”. Der Bereich “Forschung & Innovation” hat kein eigenes Kapitel, der Begriff “Forschung” selbst kommt 31-mal vor, der Begriff “Innovation” siebenmal.
Das denkt, erklärt und fordert die Linke zu Forschung und Innovation:
Alle bisher erschienenen Texte zur Europawahl 2024 aus unseren Fachbriefings lesen Sie hier.
Im Juli ist erstmal Schluss – oder auch nicht: Die neunte Wahlperiode, die am 2. Juli 2019 begonnen hatte, endet mit Beginn der nächsten, geplant ist dies für den 16. Juli 2024. Christian Ehler wird sicher wieder dabei sein. In der vergangenen Legislatur hat Ehler über einen Entschließungsantrag eine EU-Verordnung zur Wissenschaftsfreiheit angestoßen und war Berichterstatter des Net-Zero Industry Act (NZIA). Mit seinen Entscheidungen will er nicht nur auf aktuelle Entwicklungen reagieren, sondern strategisch wichtige Weichen für die Zukunft stellen, erklärt er im Gespräch. Außerdem erklärt er, was aus seiner Sicht gut gelaufen und wo er nicht zufrieden ist.
Gut gelungen sei etwa die Verabschiedung des Net-Zero Industry Act, sagt Ehler. “Es war eine sehr bescheidene Reaktion auf die großen Herausforderungen, denen die europäische Industrie gegenübersteht, aber mit dem NZIA haben wir eine Richtung vorgegeben, die in der nächsten Amtszeit weiterentwickelt werden sollte”. Aus der Forschungsperspektive sei es beispielsweise sehr wichtig gewesen, dass die Plattform für strategische Technologien für Europa (STEP) nun eine gesetzliche Grundlage im NZIA bekommen habe. “Dies unterstreicht die Bedeutung eines gemeinsamen europäischen F&I-basierten Ansatzes zur Sicherung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie.”
In der kommenden Legislatur müssen man dringend ein Gleichgewicht im europäischen Rechtsrahmen schaffen. “In der grünen Agenda fehlt es an Realismus, weil Fragen zur Umsetzung als grundlegende Herausforderungen für die Ziele der Green Deal-Gesetze angesehen wurden.”
Auch er habe Fehler gemacht in der zurückliegenden Amtszeit. “Niemand ist perfekt – auch ich nicht”, sagt Ehler. So trage er als Co-Berichterstatter für das Forschungsrahmenprogramm Horizont Europa teilweise die Verantwortung dafür, dass Stakeholder das Programm als sehr komplex empfinden würden. “Wir haben neue Instrumente hinzugefügt und dadurch die Komplexität erhöht. Diesen Fehler sollten wir für FP10 nicht wiederholen.”
Dabei soll das FP10 durchaus den finanziellen Aufwuchs erhalten, den viele Parteien und Gruppen fordern, dies liege letztlich an den Mitgliedstaaten.
Im Interview äußert Ehler eine klare Einschätzung zum weiteren Vorgehen mit Dual-Use-Forschung. “Die Debatte über Dual-Use ist etwas verwirrend, weil Dual-Use ein Konzept ist, das für die Anwendung von Wissen und Technologie formuliert wurde, nicht für die Entwicklung”, sagt der CDU-Politiker. Dual Use werde nur dann zu einer relevanten Frage in F&I-Projekten, wenn man explizit den Anwendungsfall dessen, was man entwickelt, betrachtet.
“Sobald Wissen oder Technologien entwickelt werden, die einen Anwendungsfall im Bereich der Verteidigung einschließen, müssen die Forscher sofort nationale Sicherheitsmaßnahmen einhalten, um dieses Wissen zu schützen.” Dies wäre sehr störend für die zivile Forschung. “Daher scheint es sinnvoll, zivile und Verteidigungsforschung strikt zu trennen.” Das bedeute jedoch nicht, dass man nicht überprüfen sollte, wie der Austausch von Ideen zwischen den beiden Sektoren erleichtert werden kann.
Ehler äußert sich im Gespräch auch zur Idee der europäischen DARPA, dem Schicksal des EITs, der nächsten Roadmap des Europäischen Strategieforums für Forschungsinfrastrukturen (ESFRI) und zur weiteren Entwicklung des AI Act. Ob er gern der nächste EU-Forschungskommissar wäre? Nein, sagt Ehler. Und hat dafür einen guten Grund.
Das ganze Interview lesen Sie hier.
Forschung & Lehre. Genügend Geld und wissenschafts-freundliche Regeln. Christian Rebhahn von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) fordert im Hinblick auf die Europawahl vom neuen Parlament ausreichende Investitionen und die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen, wie dem Einsatz für die Wissenschaftsfreiheit und für einfache Mobilitätsregeln. Skeptisch blickt er auf die möglicherweise geringere Vertretung durch forschungsfreundliche Abgeordneter, was wichtige Entscheidungen zur Zukunft von Forschung und Innovation gefährden könnte. Insbesondere mahnt er an, dass die Auswirkungen von Gesetzen, wie der Datenschutzgrundverordnung, gravierende Auswirkungen auf die Forschung haben. Mehr
Times Higher Education. Science Europe head warns rise of far right could hurt research. Mari Sundli Tveit, Präsidentin von Science Europe, warnt davor, dass der Aufstieg rechtsextremer Parteien in Europa die Wissenschaft gefährden könnte. Sie betont, dass Wissenschaft auf Offenheit, grenzüberschreitender Zusammenarbeit und Mobilität angewiesen ist, während rechtsextreme Kräfte anti-wissenschaftliche Ansichten fördern – einschließlich der Leugnung des Klimawandels. Diese Entwicklungen untergraben die Werte, auf denen die Wissenschaft basiert, und könnten die wissenschaftliche Freiheit einschränken. Aufgrund dieser Herausforderungen sieht Tveit die Notwendigkeit, das europäische Forschungssystem weiterzuentwickeln, um gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen und das öffentliche Vertrauen in die Wissenschaft zu stärken. Mehr
Nun stehen sie also bevor, die Europawahlen. Selten wurde die Frage, wie stark die verschiedenen Fraktionen abschneiden und welche Mehrheiten im Europäischen Parlament nach der Wahl möglich sein würden, so stark diskutiert wie in diesem Jahr. Dafür gibt es gute Gründe, denn tatsächlich steht einiges auf dem Spiel. Diese letzte Sitzprojektion bietet eine Übersicht über den Stand der Umfragen – und einige Schlüsselfragen dieser Wahl.
Wer wird stärkste Kraft? Seit Einführung des Spitzenkandidatenverfahrens hat diese Frage an politischer Bedeutung gewonnen. Doch allzu spannend ist sie in diesem Jahr nicht. Mit 172 Sitzen hält die christdemokratische EVP-Fraktion im Basisszenario der Sitzprojektion einen soliden Vorsprung auf die sozialdemokratische S&D, die mit 136 Sitzen an zweiter Stelle folgt. Beide Parteien liegen auf ähnlichem Niveau wie im heutigen Parlament (EVP 176, S&D 139). Im dynamischen Szenario der Sitzprojektion, das auch mögliche Fraktionswechsel nach der Europawahl berücksichtigt, fällt der Vorsprung sogar noch etwas höher aus (EVP 186, S&D 137). Wird nun also Ursula von der Leyen automatisch wieder Kommissionspräsidentin? Dazu weiter unten mehr.
Wie sehr wächst der Rechtsaußen-Block? Das große Thema im Wahlkampf waren die erwarteten Zugewinne der beiden Rechtsaußenfraktionen EKR und ID. In der Sitzprojektion kommt die EKR auf 79 Abgeordnete (dynamisches Szenario: 80), die ID auf 66 (dynamisch: 78). Beide Fraktionen wären damit deutlich stärker als im heutigen Parlament (EKR 69, ID 49). Hinzu kommen noch rund 25 Sitze für fraktionslose Rechtsaußen-Parteien, etwa die jüngst aus der ID ausgeschlossene deutsche AfD oder die polnische Konfederacja. Insgesamt würde der Rechtsaußenblock damit gut ein Viertel der Sitze im gesamten Parlament einnehmen. Das wären mehr als je zuvor in der Geschichte des Parlaments – aber immer noch weit entfernt von einer eigenen Mehrheit.
Wird es neue Fraktionen geben? Auch wenn alle Stimmen ausgezählt sind, wird die genaue Sitzverteilung zwischen den Fraktionen noch nicht feststehen. Denn nach der Wahl kommt es regelmäßig zum großen “Transfermarkt”, auf dem neue und wechselwillige Parteien mit den Fraktionen über einen Beitritt verhandeln. Zudem könnte es diesmal zwei Versuche zur Gründung ganz neuer Fraktionen geben: eine links-konservative Gruppe um das deutsche BSW und ein neues Rechtsaußen-Bündnis um die deutsche AfD. Ob das klappt, ist fraglich. In der Sitzprojektion werden beide auch im dynamischen Szenario als fraktionslos eingestuft. Aber wer tiefer in Was-wäre-wenn-Szenarien einsteigen will, wird hier fündig.
Wer sind die Hauptverlierer? Bei der Europawahl 2019 gewannen die liberale Renew- und die grüne G/EFA-Fraktion dank Emmanuel Macron und Fridays for Future stark dazu und verbuchten jeweils einen neuen Sitzrekord im Europäischen Parlament. Der Projektion nach werden sie einen Großteil der damaligen Gewinne nun jedoch wieder verlieren. Renew droht ein Sturz von derzeit 102 auf 81 Sitze (dynamisch: 85).
Die Grünen haben im Wahlkampf noch einmal etwas Boden wettgemacht, würden aber dennoch von 72 auf 57 Sitze fallen (dynamisch: 58). Unter einer Langzeit-Perspektive liegen allerdings auch diese Ergebnisse noch im oberen Bereich. Für die Grünen wäre es nach 2019 das zweitbeste, für die Liberalen das drittbeste Europawahl-Resultat aller Zeiten. Problematischer sieht es aus dieser Sicht für EVP und S&D aus: Beide schnitten 2019 eher schwach ab und können sich dieses Jahr nicht nennenswert verbessern. Die Sozialdemokrat:innen könnten zum ersten Mal überhaupt auf weniger als ein Fünftel der Sitze im Parlament fallen.
Behält die Große Koalition eine Mehrheit? Schon seit 2019 sind EVP und S&D für eine Mehrheit auf Unterstützung von Renew und/oder Grünen angewiesen. Diese “Von-der-Leyen-Koalition” erreicht im Parlament eine solide Mehrheit, was trotz der Verluste von Liberalen und Grünen wohl auch nach der Wahl so bleiben wird. EVP, S&D und Renew erreichen zusammen 57 Prozent der Sitze, gegenüber 59 Prozent im bisherigen Parlament. EVP, S&D und Grüne stehen bei 53 Prozent (bisher 55 Prozent). Tun sich das gesamte Mitte-Lager zusammen, erreicht es sogar 66 Prozent (bisher 69 Prozent). Auch wenn die Fraktionsdisziplin im Europäischen Parlament niedriger ist als in nationalen Parlamenten, könnten die Parteien der Mitte den Rechtsaußen-Block also weiterhin überstimmen.
Was passiert mit der Mitte-links-Mehrheit? Starke Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse wird allerdings die Frage haben, wie stark die vier Fraktionen links der EVP gemeinsam abschneiden. Dazu gehört neben S&D, RE und den Grünen noch die Linke, die sich in der Sitzprojektion zufolge weitgehend unverändert hält (37 Sitze / dynamisch: 40 / bisher: 37). Zuletzt kamen diese vier Fraktionen sehr nahe an eine Mehrheit (49,6 Prozent) und bildeten etwa in der Klima- und in der Sozialpolitik eine wichtige Alternative zur Großen Koalition. Nach der Sitzprojektion wäre das Mitte-links-Bündnis künftig jedoch so schwach wie noch nie zuvor in der Geschichte des Parlaments (44 Prozent). Das stärkt vor allem die EVP, ohne die nach der Wahl wohl keine plausiblen Mehrheiten mehr möglich sind.
Kommt es zum Bündnis zwischen EVP und Rechten? Um ihre neue zentrale Position optimal auszunutzen, versucht die EVP sich auch nach rechts hin Kooperationsmöglichkeiten zu eröffnen. Doch sowohl ein Bündnis aus EVP, Renew und EKR als auch eines aus EVP, EKR und ID sind nicht nur politisch problematisch, sondern erreichen auch keine Mehrheit im Parlament. Die EVP wird sich also auch künftig zur Großen Koalition der Mitte hin orientieren müssen. Allenfalls könnte ihr die Einbeziehung einiger Rechtsaußen-Parteien erlauben, bei der Mehrheitsbildung auf die Grünen und auf den linken Flügel von S&D und Renew zu verzichten. Sozialdemokrat:innen, Liberale und Grüne drängten die EVP deshalb im Wahlkampf, eine Zusammenarbeit mit Rechtsaußen-Parteien in möglichst verbindlicher Form auszuschließen – was diese verweigerte.
Bleibt Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin? Zum Showdown um den Umgang der EVP mit Rechtsaußen könnte es schon kurz nach der Wahl kommen, wenn Ursula von der Leyen sich um ihre Wiederwahl bemüht. Anders als 2019 – als etliche Abgeordnete sie schon deshalb ablehnten, weil sie zuvor nicht als Europawahl-Spitzenkandidatin angetreten war – dürfte es bei S&D, Renew und Grünen inzwischen nur noch wenige geben, die sie unter gar keinen Umständen zu wählen bereit sind. Doch die drei Fraktionen haben von der Leyens Wiederwahl zuletzt davon abhängig gemacht, dass diese eine Zusammenarbeit mit EKR und ID ausschließt, und auch inhaltliche Zugeständnisse gefordert. Nach der Wahl könnte das zu einem zähen Machtpoker führen, im besten Fall aber auch zum ersten echten Koalitionsvertrag auf europäischer Ebene.
Steigt die Wahlbeteiligung? Selten waren die Mehrheitsverhältnisse im neuen Europäischen Parlament so umkämpft, selten war die politische Tragweite der Wahl so klar wie in diesem Jahr. Auch in Umfragen sagen deshalb deutlich mehr Menschen als früher, dass sie an den Europawahlen interessiert sind und daran teilnehmen wollen. Ob es dazu kommt? Am Sonntag wissen wir mehr.
Da es keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert die Sitzprojektion auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Im Basisszenario sind alle nationalen Parteien jeweils ihrer aktuellen Fraktion (bzw. der Fraktion ihrer europäischen Dachpartei) zugeordnet; Parteien ohne eindeutige Zuordnung sind als “Sonstige” ausgewiesen. Das dynamische Szenario weist alle “sonstigen” Parteien jeweils einer Fraktion zu, der diese plausiblerweise beitreten könnten, und bezieht auch andere mögliche Veränderungen der Fraktionen ein. Nähere Hinweise zu Datengrundlage und Methodik der Projektion sowie eine genauere Aufschlüsselung der Ergebnisse finden sich auf dem Blog Der (europäische) Föderalist.
Europe.Table. Das sind die möglichen Kommissare nach den Europawahlen. Table.Briefings wagt einen Ausblick auf die mögliche Zusammensetzung der künftigen Kommission. Wen Emmanuel Macron oder Giorgia Meloni nominieren könnten. Mehr.
Europe.Table. Das sind die möglichen Kommissare nach der Europawahl – Teil II. Table.Briefings wagt einen Ausblick auf die mögliche Zusammensetzung der künftigen Kommission. Im zweiten Teil wird analysiert, wen Donald Tusk für Polen und Pedro Sánchez für Spanien vorschlagen werden. Mehr
Europa.Table. Frankreich: Welche Folgen Macrons herbe Wahlniederlage haben könnte. Die rechtsextreme Partei Rassemblement National (RN) dürfte am Sonntag als stärkste Kraft Frankreichs aus den Europawahlen hervorgehen. Die Partei von Präsident Emmanuel Macron könnte sogar auf dem dritten Platz landen – hinter einem Kandidaten, der überraschend erfolgreich ist. Mehr
Berlin.Table. Scholz’ Mahnung an von der Leyen: “Das ist mein bitterer Ernst”. Wenige Tage vor der Europawahl hat sich Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer Spargelfahrt zu von der Leyen und der Abgrenzung zu Rechts geäußert. Auch Lars Klingbeil fordert klare Worte von Friedrich Merz. Mehr
große Worte fallen, wenn über die Bedeutung der Europawahl gesprochen wird. Zu Recht: Es ist ein Schlüsselmoment für die EU, die vor dem Hintergrund multipler Krisen und inmitten sozialer und wirtschaftlicher Spannungen neu aufgesetzt wird. Nicht wenige Menschen sorgen sich dabei über die wachsende Rolle euroskeptischer Parteien. In diesem Briefing möchten wir Sie über die Auswirkungen der Wahl auf den Bereich Wissenschaft und Forschung informieren.
Noch bis 2027 läuft Horizon Europe, das aktuelle neunte Rahmenprogramm für Forschung und Innovation der EU. Es hat ein Budget von 95 Milliarden Euro. Nicht nur den Namen des Nachfolgeprogramms und dessen Schwerpunkte, sondern auch die Höhe des Budgets wird die neue EU-Kommission vorschlagen. Aktuelle Mitglieder des EU-Parlaments sowie Verbände haben für das FP10 eine deutliche Erhöhung gefordert – auf 200 Milliarden Euro. Diese Verdopplung im Vergleich zu Horizon Europe halten viele für utopisch.
Auch die aktuelle EU-Forschungskommissarin Iliana Ivanova erklärte am Mittwoch bei ihrem Besuch im Forschungsausschuss, die Wahrscheinlichkeit, dass es mehr Geld geben wird, sei gering. Forschungsgelder müssten zudem effektiver ausgeben werden.
Durchaus optimistischer, was eine Erhöhung des Budgets angeht, zeigte sich Christian Ehler. Der CDU-Politiker ist seit 2014 Abgeordneter im EU-Forschungsausschuss ITRE. Der bisherige Berichterstatter für den Net-Zero Industry Act (NZIA) mahnt, “dass wir wahrscheinlich noch mehr Ausgaben benötigen werden, wenn wir eine Beschleunigung der Dekarbonisierung bis 2040 anstreben”.
Im Interview berichtete mir Christian Ehler über seine Ziele für eine neue Legislatur, eigene Erfolge, aber auch Fehler. Was aber erklären eigentlich die Parteien in Sachen europäischer Forschungspolitik? Wir haben die Wahlprogramme analysiert und deutliche Übereinstimmungen gefunden, aber auch interessante Differenzierungen.
Hier bleiben Sie weiterhin informiert: Es gibt einen Newsblog von Table.Briefings zu den Wahlen: Wir stellen Ihnen hier das Wichtigste aus allen Fachbriefings und die aktuellen News zu den Europawahlen zur Verfügung.
Ich wünsche Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre! Wir lesen uns wieder am Dienstag, nach der Wahl.
Bei der Europawahl am 9. Juni entscheidet sich, wie handlungsfähig die EU in den kommenden Jahren sein wird. Neben der wichtigen Frage, ob die pro-europäischen Parteien ihre klare Mehrheit im Europaparlament verteidigen können, interessiert die Wissenschaftscommunity natürlich besonders, welche Schwerpunkte sich im Bereich Forschung und Innovation für die nächste Legislaturperiode abzeichnen. Wie ändert sich absehbar die europäische Politik in Sachen Forschungsrahmenprogramm (FP10)? Wie geht es weiter mit dem EIT oder den Bestrebungen, den Dual-Use-Ansatz auszuweiten?
Die Hochschulrektorenkonferenz hat acht forschungspolitische Fragen an alle großen Parteien, die derzeit im Deutschen Bundestag vertreten sind, gestellt. Wird man sich für einen Mittelzuwachs bei Erasmus+ einsetzen? Wie sieht Ihre Vision für die European University Initiative aus? Wie steht die Partei zur grundgesetzlichen Verankerung der Wissenschaftsfreiheit? Hier geht es zu den Wahlprüfsteinen der HRK.
Wir haben darüber hinaus analysiert: Was steht zu Wissenschaft und Forschung in den Parteiprogrammen? Alle Parteien erkennen die wichtige und zukunftssichernde Rolle der Forschung an. Alle betonen, diese auch langfristig stärken zu wollen, im Detail gibt es aber unterschiedliche Schwerpunkte. Ein Überblick.
Das Wahlprogramm der SPD umfasst 50 Seiten, das Thema Forschung / Innovation hat kein eigenes Kapitel, der Begriff “Forschung” kommt insgesamt 13-mal vor, das Wort “Innovation” 19-mal.
Das denkt, erklärt und will die SPD für Forschung in Europa:
Das Wahlprogramm der Grünen ist beinahe dreimal so lang wie das der SPD: Es hat 113 Seiten, nach einer persönlichen Einleitung (Liebe Wählerinnen und Wähler) folgen sieben Kapitel. Der Bereich Forschung / Innovation hat ein eigenes Unterkapitel, der Begriff “Forschung” kommt insgesamt 37-mal vor, das Wort “Innovation“ 34-mal.
Das denken, erklären und fordern die Grünen zu Forschung und Innovation:
Das Wahlprogramm der CDU ist im Vergleich zu dem der Grünen eher kurz: Es umfasst 25 Seiten. In drei Kapiteln legt die Partei ihre Standpunkte und Pläne nieder, Forschung hat ein eigenes Unterkapitel: Unter II.2. heißt es “Forschung, Innovation, Digitalisierung” für ein souveränes Europa. Insgesamt kommt das Wort “Forschung” 19-mal im CDU-Wahlprogramm vor, der Begriff “Innovation” 16-mal.
Das denkt, erklärt und fordert die CDU zu Forschung und Innovation:
Das Wahlprogramm (Entfesseln wir Europas Energie für mehr Freiheit und mehr Wohlstand) ist 40 Seiten lang, keine Kapitel speziell für Forschung und Innovation. Das Wort “Forschung” kommt neunmal vor, der Begriff “Innovation” 21-mal.
Das denkt, erklärt und fordert die FDP zu Forschung und Innovation:
Das Wahlprogramm der Partei “Die Linke” umfasst 97 Seiten, darin sind fünf Kapitel, von “Wirtschaft sozial und ökologisch umbauen” bis “Mehr Demokratie, weniger Lobbyismus”. Der Bereich “Forschung & Innovation” hat kein eigenes Kapitel, der Begriff “Forschung” selbst kommt 31-mal vor, der Begriff “Innovation” siebenmal.
Das denkt, erklärt und fordert die Linke zu Forschung und Innovation:
Alle bisher erschienenen Texte zur Europawahl 2024 aus unseren Fachbriefings lesen Sie hier.
Im Juli ist erstmal Schluss – oder auch nicht: Die neunte Wahlperiode, die am 2. Juli 2019 begonnen hatte, endet mit Beginn der nächsten, geplant ist dies für den 16. Juli 2024. Christian Ehler wird sicher wieder dabei sein. In der vergangenen Legislatur hat Ehler über einen Entschließungsantrag eine EU-Verordnung zur Wissenschaftsfreiheit angestoßen und war Berichterstatter des Net-Zero Industry Act (NZIA). Mit seinen Entscheidungen will er nicht nur auf aktuelle Entwicklungen reagieren, sondern strategisch wichtige Weichen für die Zukunft stellen, erklärt er im Gespräch. Außerdem erklärt er, was aus seiner Sicht gut gelaufen und wo er nicht zufrieden ist.
Gut gelungen sei etwa die Verabschiedung des Net-Zero Industry Act, sagt Ehler. “Es war eine sehr bescheidene Reaktion auf die großen Herausforderungen, denen die europäische Industrie gegenübersteht, aber mit dem NZIA haben wir eine Richtung vorgegeben, die in der nächsten Amtszeit weiterentwickelt werden sollte”. Aus der Forschungsperspektive sei es beispielsweise sehr wichtig gewesen, dass die Plattform für strategische Technologien für Europa (STEP) nun eine gesetzliche Grundlage im NZIA bekommen habe. “Dies unterstreicht die Bedeutung eines gemeinsamen europäischen F&I-basierten Ansatzes zur Sicherung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie.”
In der kommenden Legislatur müssen man dringend ein Gleichgewicht im europäischen Rechtsrahmen schaffen. “In der grünen Agenda fehlt es an Realismus, weil Fragen zur Umsetzung als grundlegende Herausforderungen für die Ziele der Green Deal-Gesetze angesehen wurden.”
Auch er habe Fehler gemacht in der zurückliegenden Amtszeit. “Niemand ist perfekt – auch ich nicht”, sagt Ehler. So trage er als Co-Berichterstatter für das Forschungsrahmenprogramm Horizont Europa teilweise die Verantwortung dafür, dass Stakeholder das Programm als sehr komplex empfinden würden. “Wir haben neue Instrumente hinzugefügt und dadurch die Komplexität erhöht. Diesen Fehler sollten wir für FP10 nicht wiederholen.”
Dabei soll das FP10 durchaus den finanziellen Aufwuchs erhalten, den viele Parteien und Gruppen fordern, dies liege letztlich an den Mitgliedstaaten.
Im Interview äußert Ehler eine klare Einschätzung zum weiteren Vorgehen mit Dual-Use-Forschung. “Die Debatte über Dual-Use ist etwas verwirrend, weil Dual-Use ein Konzept ist, das für die Anwendung von Wissen und Technologie formuliert wurde, nicht für die Entwicklung”, sagt der CDU-Politiker. Dual Use werde nur dann zu einer relevanten Frage in F&I-Projekten, wenn man explizit den Anwendungsfall dessen, was man entwickelt, betrachtet.
“Sobald Wissen oder Technologien entwickelt werden, die einen Anwendungsfall im Bereich der Verteidigung einschließen, müssen die Forscher sofort nationale Sicherheitsmaßnahmen einhalten, um dieses Wissen zu schützen.” Dies wäre sehr störend für die zivile Forschung. “Daher scheint es sinnvoll, zivile und Verteidigungsforschung strikt zu trennen.” Das bedeute jedoch nicht, dass man nicht überprüfen sollte, wie der Austausch von Ideen zwischen den beiden Sektoren erleichtert werden kann.
Ehler äußert sich im Gespräch auch zur Idee der europäischen DARPA, dem Schicksal des EITs, der nächsten Roadmap des Europäischen Strategieforums für Forschungsinfrastrukturen (ESFRI) und zur weiteren Entwicklung des AI Act. Ob er gern der nächste EU-Forschungskommissar wäre? Nein, sagt Ehler. Und hat dafür einen guten Grund.
Das ganze Interview lesen Sie hier.
Forschung & Lehre. Genügend Geld und wissenschafts-freundliche Regeln. Christian Rebhahn von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) fordert im Hinblick auf die Europawahl vom neuen Parlament ausreichende Investitionen und die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen, wie dem Einsatz für die Wissenschaftsfreiheit und für einfache Mobilitätsregeln. Skeptisch blickt er auf die möglicherweise geringere Vertretung durch forschungsfreundliche Abgeordneter, was wichtige Entscheidungen zur Zukunft von Forschung und Innovation gefährden könnte. Insbesondere mahnt er an, dass die Auswirkungen von Gesetzen, wie der Datenschutzgrundverordnung, gravierende Auswirkungen auf die Forschung haben. Mehr
Times Higher Education. Science Europe head warns rise of far right could hurt research. Mari Sundli Tveit, Präsidentin von Science Europe, warnt davor, dass der Aufstieg rechtsextremer Parteien in Europa die Wissenschaft gefährden könnte. Sie betont, dass Wissenschaft auf Offenheit, grenzüberschreitender Zusammenarbeit und Mobilität angewiesen ist, während rechtsextreme Kräfte anti-wissenschaftliche Ansichten fördern – einschließlich der Leugnung des Klimawandels. Diese Entwicklungen untergraben die Werte, auf denen die Wissenschaft basiert, und könnten die wissenschaftliche Freiheit einschränken. Aufgrund dieser Herausforderungen sieht Tveit die Notwendigkeit, das europäische Forschungssystem weiterzuentwickeln, um gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen und das öffentliche Vertrauen in die Wissenschaft zu stärken. Mehr
Nun stehen sie also bevor, die Europawahlen. Selten wurde die Frage, wie stark die verschiedenen Fraktionen abschneiden und welche Mehrheiten im Europäischen Parlament nach der Wahl möglich sein würden, so stark diskutiert wie in diesem Jahr. Dafür gibt es gute Gründe, denn tatsächlich steht einiges auf dem Spiel. Diese letzte Sitzprojektion bietet eine Übersicht über den Stand der Umfragen – und einige Schlüsselfragen dieser Wahl.
Wer wird stärkste Kraft? Seit Einführung des Spitzenkandidatenverfahrens hat diese Frage an politischer Bedeutung gewonnen. Doch allzu spannend ist sie in diesem Jahr nicht. Mit 172 Sitzen hält die christdemokratische EVP-Fraktion im Basisszenario der Sitzprojektion einen soliden Vorsprung auf die sozialdemokratische S&D, die mit 136 Sitzen an zweiter Stelle folgt. Beide Parteien liegen auf ähnlichem Niveau wie im heutigen Parlament (EVP 176, S&D 139). Im dynamischen Szenario der Sitzprojektion, das auch mögliche Fraktionswechsel nach der Europawahl berücksichtigt, fällt der Vorsprung sogar noch etwas höher aus (EVP 186, S&D 137). Wird nun also Ursula von der Leyen automatisch wieder Kommissionspräsidentin? Dazu weiter unten mehr.
Wie sehr wächst der Rechtsaußen-Block? Das große Thema im Wahlkampf waren die erwarteten Zugewinne der beiden Rechtsaußenfraktionen EKR und ID. In der Sitzprojektion kommt die EKR auf 79 Abgeordnete (dynamisches Szenario: 80), die ID auf 66 (dynamisch: 78). Beide Fraktionen wären damit deutlich stärker als im heutigen Parlament (EKR 69, ID 49). Hinzu kommen noch rund 25 Sitze für fraktionslose Rechtsaußen-Parteien, etwa die jüngst aus der ID ausgeschlossene deutsche AfD oder die polnische Konfederacja. Insgesamt würde der Rechtsaußenblock damit gut ein Viertel der Sitze im gesamten Parlament einnehmen. Das wären mehr als je zuvor in der Geschichte des Parlaments – aber immer noch weit entfernt von einer eigenen Mehrheit.
Wird es neue Fraktionen geben? Auch wenn alle Stimmen ausgezählt sind, wird die genaue Sitzverteilung zwischen den Fraktionen noch nicht feststehen. Denn nach der Wahl kommt es regelmäßig zum großen “Transfermarkt”, auf dem neue und wechselwillige Parteien mit den Fraktionen über einen Beitritt verhandeln. Zudem könnte es diesmal zwei Versuche zur Gründung ganz neuer Fraktionen geben: eine links-konservative Gruppe um das deutsche BSW und ein neues Rechtsaußen-Bündnis um die deutsche AfD. Ob das klappt, ist fraglich. In der Sitzprojektion werden beide auch im dynamischen Szenario als fraktionslos eingestuft. Aber wer tiefer in Was-wäre-wenn-Szenarien einsteigen will, wird hier fündig.
Wer sind die Hauptverlierer? Bei der Europawahl 2019 gewannen die liberale Renew- und die grüne G/EFA-Fraktion dank Emmanuel Macron und Fridays for Future stark dazu und verbuchten jeweils einen neuen Sitzrekord im Europäischen Parlament. Der Projektion nach werden sie einen Großteil der damaligen Gewinne nun jedoch wieder verlieren. Renew droht ein Sturz von derzeit 102 auf 81 Sitze (dynamisch: 85).
Die Grünen haben im Wahlkampf noch einmal etwas Boden wettgemacht, würden aber dennoch von 72 auf 57 Sitze fallen (dynamisch: 58). Unter einer Langzeit-Perspektive liegen allerdings auch diese Ergebnisse noch im oberen Bereich. Für die Grünen wäre es nach 2019 das zweitbeste, für die Liberalen das drittbeste Europawahl-Resultat aller Zeiten. Problematischer sieht es aus dieser Sicht für EVP und S&D aus: Beide schnitten 2019 eher schwach ab und können sich dieses Jahr nicht nennenswert verbessern. Die Sozialdemokrat:innen könnten zum ersten Mal überhaupt auf weniger als ein Fünftel der Sitze im Parlament fallen.
Behält die Große Koalition eine Mehrheit? Schon seit 2019 sind EVP und S&D für eine Mehrheit auf Unterstützung von Renew und/oder Grünen angewiesen. Diese “Von-der-Leyen-Koalition” erreicht im Parlament eine solide Mehrheit, was trotz der Verluste von Liberalen und Grünen wohl auch nach der Wahl so bleiben wird. EVP, S&D und Renew erreichen zusammen 57 Prozent der Sitze, gegenüber 59 Prozent im bisherigen Parlament. EVP, S&D und Grüne stehen bei 53 Prozent (bisher 55 Prozent). Tun sich das gesamte Mitte-Lager zusammen, erreicht es sogar 66 Prozent (bisher 69 Prozent). Auch wenn die Fraktionsdisziplin im Europäischen Parlament niedriger ist als in nationalen Parlamenten, könnten die Parteien der Mitte den Rechtsaußen-Block also weiterhin überstimmen.
Was passiert mit der Mitte-links-Mehrheit? Starke Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse wird allerdings die Frage haben, wie stark die vier Fraktionen links der EVP gemeinsam abschneiden. Dazu gehört neben S&D, RE und den Grünen noch die Linke, die sich in der Sitzprojektion zufolge weitgehend unverändert hält (37 Sitze / dynamisch: 40 / bisher: 37). Zuletzt kamen diese vier Fraktionen sehr nahe an eine Mehrheit (49,6 Prozent) und bildeten etwa in der Klima- und in der Sozialpolitik eine wichtige Alternative zur Großen Koalition. Nach der Sitzprojektion wäre das Mitte-links-Bündnis künftig jedoch so schwach wie noch nie zuvor in der Geschichte des Parlaments (44 Prozent). Das stärkt vor allem die EVP, ohne die nach der Wahl wohl keine plausiblen Mehrheiten mehr möglich sind.
Kommt es zum Bündnis zwischen EVP und Rechten? Um ihre neue zentrale Position optimal auszunutzen, versucht die EVP sich auch nach rechts hin Kooperationsmöglichkeiten zu eröffnen. Doch sowohl ein Bündnis aus EVP, Renew und EKR als auch eines aus EVP, EKR und ID sind nicht nur politisch problematisch, sondern erreichen auch keine Mehrheit im Parlament. Die EVP wird sich also auch künftig zur Großen Koalition der Mitte hin orientieren müssen. Allenfalls könnte ihr die Einbeziehung einiger Rechtsaußen-Parteien erlauben, bei der Mehrheitsbildung auf die Grünen und auf den linken Flügel von S&D und Renew zu verzichten. Sozialdemokrat:innen, Liberale und Grüne drängten die EVP deshalb im Wahlkampf, eine Zusammenarbeit mit Rechtsaußen-Parteien in möglichst verbindlicher Form auszuschließen – was diese verweigerte.
Bleibt Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin? Zum Showdown um den Umgang der EVP mit Rechtsaußen könnte es schon kurz nach der Wahl kommen, wenn Ursula von der Leyen sich um ihre Wiederwahl bemüht. Anders als 2019 – als etliche Abgeordnete sie schon deshalb ablehnten, weil sie zuvor nicht als Europawahl-Spitzenkandidatin angetreten war – dürfte es bei S&D, Renew und Grünen inzwischen nur noch wenige geben, die sie unter gar keinen Umständen zu wählen bereit sind. Doch die drei Fraktionen haben von der Leyens Wiederwahl zuletzt davon abhängig gemacht, dass diese eine Zusammenarbeit mit EKR und ID ausschließt, und auch inhaltliche Zugeständnisse gefordert. Nach der Wahl könnte das zu einem zähen Machtpoker führen, im besten Fall aber auch zum ersten echten Koalitionsvertrag auf europäischer Ebene.
Steigt die Wahlbeteiligung? Selten waren die Mehrheitsverhältnisse im neuen Europäischen Parlament so umkämpft, selten war die politische Tragweite der Wahl so klar wie in diesem Jahr. Auch in Umfragen sagen deshalb deutlich mehr Menschen als früher, dass sie an den Europawahlen interessiert sind und daran teilnehmen wollen. Ob es dazu kommt? Am Sonntag wissen wir mehr.
Da es keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert die Sitzprojektion auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Im Basisszenario sind alle nationalen Parteien jeweils ihrer aktuellen Fraktion (bzw. der Fraktion ihrer europäischen Dachpartei) zugeordnet; Parteien ohne eindeutige Zuordnung sind als “Sonstige” ausgewiesen. Das dynamische Szenario weist alle “sonstigen” Parteien jeweils einer Fraktion zu, der diese plausiblerweise beitreten könnten, und bezieht auch andere mögliche Veränderungen der Fraktionen ein. Nähere Hinweise zu Datengrundlage und Methodik der Projektion sowie eine genauere Aufschlüsselung der Ergebnisse finden sich auf dem Blog Der (europäische) Föderalist.
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