von Albert Christmann
Derzeit lassen sich zwei eingeschlagene Wege und eine gedankliche Option für einen Weg in die digitale Zukunft aufzeigen. Letztere wäre einer für Europa und Deutschland, während die beiden ersten Wege von den USA bzw. von China bereits beschritten werden. Beiden ist das angestrebte Ziel gemein, nämlich technologische Souveränität, die die entscheidende Voraussetzung für geopolitische Souveränität ist. In den USA verfolgen Politik und Unternehmen seit vielen Jahren eine gemeinsame KI-Roadmap, die sie eng mit den verteidigungspolitischen Interessen der USA verwoben haben. Das Zusammenwirken wirkt wie ein Innovationstreiber. Mit der Ära Trump – und getrieben von den Big-Tech-Unternehmern, allen voran Peter Thiel – ging eine Abkehr von jenen freiheitlichen Grundwerten einher, die Amerika einst groß machte, und auf denen die heutigen Erfolge der amerikanischen Tech-Konzerne beruhen (wie Freiheit, Chancengleichheit, Rechtstaatlichkeit und gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle). Inzwischen arbeiten Politik und Big-Tech an einem autoritär-libertären System, um im Wettstreit der Systeme freier und deswegen schneller agieren zu können, um das große Ziel im Zeitalter der digitalen Revolution, die Weltherrschaft, zu sichern. Diesem Ziel wird alles andere, das auf dem Weg behindern könnte, untergeordnet.
Dies gilt auch für manche demokratischen Werte. Während Amerikas Erfolg aus massiven öffentlichen und privaten Investitionen in Geschäftsmodelle der vertikalen Integration von Chips, Clouds, Daten und Algorithmen mit strategischer Koordination der Erfolgsfaktoren in wenigen unternehmerischen Händen fußt, geschah dasselbe in China zeitgleich - aber auf staatlicher Ebene, wobei hier die globale Wertschöpfungskette über die digitale Seidenstraße zusammengezogen wird. Während die USA ihre Stärke in den letzten Jahren aus der Vormachtstellung von Big Tech bezog, waren es in China Durchgriffsmacht, Zentralisierung mit Priorisierung, Bildung und schiere Größe. In den USA schaffen Politik und Big Tech wechselseitige Abhängigkeiten in einer libertär-autoritären Allianz bis hin zur Aushöhlung demokratischer Grundwerte.
Welche Rolle aber können in diesem intensiven duopolitischen Wettbewerb europäische Demokratien und die des Globalen Südens spielen, wenn die alles beherrschende technologische Weiterentwicklung nie wieder so langsam sein wird wie sie heute ist? Und wie sollen Demokratien mit dem sich ausbreitenden libertär-autoritären Gedankengut in den eigenen Gesellschaften umgehen, wenn demokratische Gesellschaften bei ihren Bürgerinnen und Bürgern zunehmend als entscheidungsschwach, langsam, bürokratisch und letztlich als unfähig zur Lösung der Probleme der heutigen Zeit angesehen werden? Hinzu kommt, dass mit der alles verändernden Technologie die Sorge der Menschen einhergeht, dass Arbeitsplätze vernichtet und Wohlstand gefährdet werden, was wiederum Ängste schürt. Die Antworten auf diese Fragen können nur im Kontext gegeben werden und wurzeln tief: 1990 hatten viele Menschen, gerade in Europa, den Zusammenbruch des Ostblocks als Beginn einer Ära der liberalen Demokratie mit einer freiheitlichen Rechtsordnung angesehen. Der Wohlstand aller wuchs. Es herrschte Zuversicht. Und wenn es kritische Situationen gab, wie etwa in der Finanzkrise 2008/9, sprang der Staat ein und half, wie zunehmend und auch bei immer weniger essenziellen Themen. Die Menschen vergaßen, dass Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist. Demokratien können zudem sterben, nämlich dann, wenn sie nicht gepflegt werden – schleichend, langsam, manchmal sogar unbemerkt. Deswegen…
Empfehlung 1: Es braucht die Einsicht, dass Demokratie verteidigt werden muss, tagtäglich und von jedem im Gespräch mit Zweiflern sowie durch Unterstützung kriegerisch angegriffener Demokratien.
Insbesondere seit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine ist das vorherrschende Lebensgefühl in vielen europäischen Demokratien ein „die fetten Jahre sind vorbei“. Vielerorts wächst ein Pessimismus, der die politisch extremen Ränder anwachsen lässt, weil sich die jeweiligen demokratisch legitimierten Regierungsparteien der politischen Mitte zerreiben und große Themen unserer Zeit (wie Klima, Soziale Systeme, Digitalisierung, Arbeitskräfte, Energie oder Europa als demokratisches Alternativmodell zu den USA und China …) nicht angehen – und schon gar nicht lösen. Deswegen…
Empfehlung 2: Es braucht eine europäische Kapitalmarktreform, um attraktive Bedingungen für Investitionen in historische Kern- und Zukunfts-Geschäfte Europas zu schaffen (wie Cybersecurity, Cloud- und Quantencomputing, Klimatechnologie, Gesundheitswesen, …). So wird nachhaltiges Wirtschaftswachstum ermöglicht und Geld in Europa gehalten, das bislang in Geschäftsmodelle im Ausland floss. Auch das Lösen der Schuldenbremse hilft – sofern das Triple-A-Reporting Deutschlands nicht gefährdet wird: Deutschland sollte (im Sinne aller Europäer) als „Kapitalgeber der letzten Instanz“ erhalten bleiben.
Um neue Zuversicht bei Menschen zu entfachen sind sichtbare Zeichen und eigenes Erleben notwendig. Aufgabe des Staates ist ausschließlich, wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen und passgenaue Grundlagen zu schaffen, wie beispielsweise eine zukunftsgerichtete Bildung für alle, der Aufbau einer leistungsfähigen Verkehrs- und europäischen Energie-Infrastruktur sowie die Etablierung einer bürgernahen und effizienten Bürokratie. Ganz wichtig dabei: Der Staat sollte die Menschen machen lassen, anstatt ihnen vorschreiben zu wollen, was sie wie zu machen haben – das lähmt, frustriert und zerstört Vertrauen. Deswegen…
Empfehlung 3: Es braucht klares Prioritätensetzen mit einer kommunizierbaren, auf breiter Basis getragenen und gleichlautenden strategischen (Digital-, Verteidigungs-, Energie-, Klima-, Kapitalmarkt- …) Agenda in Europa, in Deutschland und in den Bundesländern, um die knappen Mittel zielgerichtet und effizient einzusetzen.
Mario Draghi brachte es treffend auf den Punkt, wenn er einen „radikalen Wandel“ mit einer gemeinsamen strategischen Vision für Europa fordert, um die existierenden globalen Herausforderungen zu bewältigen, weil diese das Potential hätten, die „Freiheit Europas“ zu gefährden. Beim dritten denkbaren, dem europäischen (und damit deutschen) Weg in eine wettbewerbsfähige digitale Zukunft sind die zu verteidigenden demokratischen Werte Ausgangspunkt und Differenzierungsmerkmal: Sowohl der unter Trump eingeschlagene amerikanische Weg größtmöglicher Freiheit für die KI-Industrie (mit maximaler Deregulierung) als auch der chinesische Weg umfassender staatlicher Kontrolle lässt Raum zu Etablierung eines Weges liberaler Demokratien, die Vielfalt wertschätzen und fördern, um Cluster wie das Silicon Valley, Stadtstaaten wie Singapur oder Länder wie Israel erst zu ermöglichen. Deswegen…
Empfehlung 4: Es braucht Diversität und weltoffene Bildung, weil nur so technischer Fortschritt langfristig erwirtschaftet wird – und attraktiv für Menschen ist.
Davon ausgehend, dass die KI-Revolution nicht aufzuhalten ist, Chips nicht nur immer effizienter und damit kostengünstiger produziert werden können, sondern zudem auch immer leistungsfähiger werden, dann ist Europa (will es im weltweiten Spiel mithalten) zu radikaler Innovation verpflichtet. Nur wenn diese gelingt, werden andere Länder perspektivisch auf den fahrenden europäischen Zug aufspringen müssen – und nicht umgekehrt. Ray Kurzweil geht davon aus, dass in wenigen Jahren die künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz erstmals übertreffen wird. Diese großen bevorstehenden Veränderungen spüren heute bereits viele Menschen, was ihnen Angst macht, weil sie ahnen, schon bald in einer völlig anderen Welt leben zu müssen. Damit Menschen mit dieser technischen Entwicklung Schritt halten und diese noch beherrschen können, ist es im Interesse der Menschen mit den Maschinen selbstverständlich zu interagieren, sozusagen „eins“ zu werden. Deswegen…
Empfehlung 5: Alle Menschen brauchen das Gefühl, auf diesem Weg in das digitale Zeitalter nicht allein gelassen zu werden. Es braucht Zuversicht für und Freude auf eine „bessere“ (wenn auch ganz andere) Welt, so dass aus Unwissenheit und Hilflosigkeit aufkommende Ängste einen Gegenpart haben. Hier sind insbesondere Politik, Wissenschaft, Kirchen und Wirtschaft aufgefordert, im wahrsten Sinne des Wortes „vorbildlich“ voranzugehen.
Auf künstlicher Intelligenz fußende Geschäftsmodelle arbeiten mit Datenmustern, erfassen und werten deswegen Daten oft besser aus als Menschen selbst. Das ist dann kein Problem, solange die digitale Welt die analoge Realität nicht beeinflusst. Dem ist aber (schon lange) nicht mehr so, weil viele KI-basierte Geschäftsmodelle auf einem Kreislauf (des Sammelns, Auswertens und gewinnbringend Nutzens aufsetzen), der den technischen Fortschritt immer weiter antreibt. Daten sind eben deswegen so wertvoll, weil sie mehr über den Menschen preisgeben als wir selbst über uns wissen. Diesen Umstand anerkennend und akzeptierend braucht es das Zusammenspiel von Mensch und Maschine im Sinne einer digitalen (sozialen) Marktwirtschaft, ähnlich wie es die soziale Marktwirtschaft nach der letzten industriellen Revolution brauchte. Mit anderen Worten, es braucht eine ethische Grundlage für alle digitalen und datenbasierten KI-Geschäftsmodellen, die mit jeder Weiterentwicklung auf dieser „ethischen Grundlage“ aufbaut, trainiert und weiterentwickelt wird. Deswegen…
Empfehlung 6: Es braucht auf demokratischen Werten basierende ethische Grundlagen bei jeder digitalen Innovation und bei allen Weiterentwicklungen mit interdisziplinärem Denken und ökonomischer Klarheit entlang der gesamten technologischen Wertschöpfungskette. Diese ist über den Staat finanziell zu fördern, und zwar mit Zugang (zu eigenen) Datenzentren (um Abhängigkeiten zu reduzieren), mit gemeinsamen Datenspeichern (um die demokratischen Grundwerte immer wieder einfließen zu lassen) und mit internationalen Partnerschaften der demokratisch „Willigen“ (wie viele Länder Europas oder Japan, Kanada, …).
All diese Themen überfordern einzelne demokratische Länder im internationalen Wettbewerb, so auch Deutschland, weil die anderen Herausforderungen, wie etwa die des Klimas, der Verteidigung, …, zur gleichen Zeit angegangen werden müssen. Deswegen…
Empfehlung 7: Deutschland (und damit alle politisch und in der Wirtschaft Verantwortung Tragenden) muss größer denken, stringenter und priorisierter in Europa vorangehen, die eigenen Bürgerinnen und Bürger bzw. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im digitalen Zeitalter nicht allein lassen, sie ermutigen, sich den digitalen Themen zu stellen und ihnen das hohe Gut der Freiheit vor Augen führen. Und es gilt anzupacken, nicht bald, sondern jetzt! Die Welt und die anderen Wege in die digitale Zukunft warten nicht auf Europa und unsere Demokratie.
Autor: Dr. Albert Christmann ist Beiratsmitglied der Dr. August Oetker KG. Bis März 2025 war er Vorsitzender der Geschäftsführung.
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