Table.Briefing: Europe

Westbalkan + Paket für Demokratie + Milliarden für Ungarn

Liebe Leserin, lieber Leser,

der Gipfel vor dem Gipfel soll mehr als ein Fototermin sein: Das Treffen am heutigen Mittwoch biete die Gelegenheit, die “zentrale Bedeutung der strategischen Partnerschaft zwischen der EU und dem westlichen Balkan zu bekräftigen”, schreibt EU-Ratspräsident Charles Michel in seinem Einladungsbrief. Bundeskanzler Olaf Scholz will trotz Haushaltsproblemen zu Hause anreisen, um vor dem EU-Gipfel die Amtskollegen aus Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina zu treffen.

Erweiterung sei eine “geopolitische Investition in Frieden, Sicherheit, Stabilität und Prosperität”, heißt es im Entwurf der Schlussfolgerungen zum Gipfel mit den Westbalkanstaaten. Spätestens seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine geht es bei der Aufnahme neuer Mitglieder auch um Geopolitik. Ein Vakuum auf dem Balkan wäre die Einladung für Russland, aber auch China oder die Türkei, sich dort breitzumachen. Die EU will deshalb den Beitrittsprozess beschleunigen, der aber gleichzeitig leistungsbasiert bleiben soll. Wie dieser Widerspruch aufgelöst werden kann, dürfte auch heute nicht geklärt werden.

Insbesondere Serbien nutzt die geopolitische Notlage für seine Schaukelpolitik zwischen Brüssel und Moskau aus. An die Adresse Belgrads gerichtet ist deshalb auch die deutliche Forderung an die Kandidatenländer, sich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU inklusive der Sanktionsregime gegen Russland endlich anzuschließen. Der Nachholbedarf wird für Belgrad bald noch größer werden. Das 12. Sanktionspaket der EU gegen Wladimir Putins Aggressionskrieg mit neuen Maßnahmen gegen Schlupflöcher fand im AstV am Dienstagabend breite Zustimmung. Ein Mitgliedstaat habe intern noch Klärungsbedarf, bevor das schriftliche Verfahren zur formellen Annahme beginnen könne, sagten Diplomaten.

Das wäre immerhin ein kleiner Erfolg vor dem EU-Gipfel, der durch Viktor Orbáns hartnäckiges Veto gegen den Start der Beitrittsverhandlungen und neue Milliardenhilfen für die Ukraine überschattet wird. Ein Ende der ungarischen Blockade war am Dienstag jedenfalls noch nicht absehbar.

Ihr
Stephan Israel
Bild von Stephan  Israel

Analyse

Kommission will den Einfluss Russlands und Chinas auf die europäische Politik begrenzen

Sechs Monate vor den Wahlen zum Europaparlament am 9. Juni 2024 hat die EU-Kommission am Mittwoch ein Maßnahmenpaket zur Verteidigung der Demokratie vorgelegt. Wichtigstes Element in dem Paket ist ein Gesetzesvorschlag, der die Transparenz und demokratische Rechenschaftspflicht von Interessenvertretungen regelt, die aus dem Ausland finanziert werden. So will die Kommission verhindern, dass Länder wie Russland, China oder die Türkei Einfluss auf die europäische Politik, die Entscheidungsfindung und das demokratische System nehmen. Das Gesetz soll auch Korruptionsfälle wie Katargate verhindern. 

Kritiker befürchten jedoch, dass Staaten wie Ungarn das Gesetz auch dazu einsetzen können, unliebsame zivilgesellschaftliche Organisationen oder NGOs, die Geld aus dem Ausland erhalten, zu diskreditieren oder mundtot zu machen. “Hier werden wir genau hinschauen müssen, dass die Balance gewährleistet ist”, sagte der Grünen-Abgeordnete Sergey Lagodinsky zu Table.Media. 

Ausländische Einmischung unerwünscht 

Europa sei eine offene Demokratie, sagte Věra Jourová, Kommissionsvizepräsidentin für Werte und Transparenz, bei der Vorstellung des Pakets in Brüssel. “Aber es wäre naiv zu glauben, dass die Demokratie keinen Schutz braucht.” Das Gegenteil sei der Fall. “Und wir sollten nicht zulassen, dass Putin oder ein anderer Autokrat sich heimlich in unseren demokratischen Prozess einmischt.” Dieser Gefahr einer ausländischen Einmischung wolle die Kommission mit dem neuen Gesetz begegnen. In dem Gesetz geht es um Transparenz, Jourová betonte mehrfach, dass es dabei nicht um die Verfolgung von Straftaten gehe. 

Das Paket zur Verteidigung der Demokratie baut auf früheren Initiativen der Kommission zum Schutz der europäischen Demokratie auf, darunter dem Europäischen Aktionsplan für Demokratie. Allerdings hatte das Gesetz einen schwierigen Start. Die Kommission hatte es bereits im Frühjahr vorlegen wollen. Abgeordnete des Europaparlaments kritisierten damals in einem offenen Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass die Richtlinie das Recht auf Vereinigungsfreiheit unverhältnismäßig stark beeinträchtigen könne und forderten eine Folgenabschätzung.

“Nach unserem Verständnis würde die geplante Richtlinie zivilgesellschaftliche Organisationen, die Finanzierung aus Nicht-EU-Quellen erhalten, einer Reihe von Registrierungs- und Berichtspflichten unterwerfen”, schrieben die Abgeordneten damals. “Wir sind besorgt, dass diese Verpflichtungen eine unverhältnismäßige Belastung für zivilgesellschaftliche Organisationen darstellen werden und gegen die Leitlinien der Venedig-Kommission/OSZE zur Vereinigungsfreiheit verstoßen.” 

Harmonisierte Regeln sollen Sonderwege verhindern 

Nun wollen die Parlamentarier den jetzt veröffentlichten Vorschlag prüfen. Der Vorschlag zielt darauf ab, EU-weit harmonisierte Regeln zu schaffen für ein hohes Maß an Transparenz über Lobbykampagnen und ähnliche Aktivitäten, die von Organisationen im Auftrag einer Regierung eines Drittlandes durchgeführt werden. Vorgesehen sind folgende Transparenzanforderungen: 

  • Registrierung in einem Transparenzregister: Wer Interessen im Auftrag eines Drittlandes vertritt, muss sich in einem Transparenzregister registrieren. Die Mitgliedstaaten werden gebeten, bestehende nationale Register zu diesem Zweck einzurichten oder anzupassen. 
  • Öffentlicher Zugang: Wesentliche Daten über die Art der Interessenvertretung müssen öffentlich zugänglich sein. Das bezieht sich zum Beispiel auf die erhaltenen Beträge aus Drittländern und die Hauptziele der Aktivitäten. 
  • Dokumentationspflicht: Interessenvertretungen im Auftrag eines Drittlandes sind verpflichtet, Aufzeichnungen über die wesentlichen Informationen oder Materialien für ihre Aktivitäten für einen Zeitraum von vier Jahren zu führen. 

Nach Angaben der Kommission umfasst der Vorschlag auch angemessene Regeln und Schutzmaßnahmen, um zu verhindern, dass Registrierungsanforderungen missbraucht werden, um grundlegende Rechte zu beschränken, wie die Freiheit der Meinungsäußerung. So sollen unabhängige Aufsichtsbehörden befugt sein, in begründeten Fällen nur eingeschränkte Aufzeichnungen anzufordern. Zudem müssen Behörden sicherstellen, dass keine nachteiligen Folgen aus der Registrierung entstehen. Auch soll die vollständige Harmonisierung nach dem Vorschlag verhindern, dass Mitgliedstaaten zusätzliche Anforderungen und Praktiken beibehalten oder einführen. Letzteres betonte Jourová am Dienstag in Brüssel.  

Stärkung der Wahlprozesse in der EU 

Die Einflussnahme von Drittstaaten will die Kommission auch durch Empfehlungen an die nationalen Regierungen und Parteien bekämpfen. Im “Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament im nächsten Jahr werden wir gemeinsam mit den Mitgliedstaaten die Integrität der Wahlen – offline und online – stärken”, kündigte Jourová an. So werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, Spenden aus Drittländern an Parteien, politische Stiftungen, Kandidaten und gegebenenfalls politische Bewegungen zu beschränken oder sogar ganz zu verbieten. Bisher mangelt es sogar noch an gemeinsamen Standards für “Spenden und andere Formen der Unterstützung aus Drittländern”. Die EU-Staaten sollen sie nun erarbeiten, um die Aufsicht zu verbessern. 

Es sagt einiges über den Zustand der Demokratie aus, dass die Kommission die Parteien auffordert, Verhaltenskodizes für “die Integrität der Wahlen und einen fairen Wahlkampf” zu beschließen. So sollen die Parteien “manipulative Verhaltensweisen” unterlassen: 

  • Verbreitung gefälschter, erfundener, unrechtmäßig erlangter oder gestohlener Daten oder Materialien, einschließlich KI-generierter Deep Fakes
  • Verbreitung irreführender oder bösartiger Inhalte
  • Einsatz manipulativer Taktiken zur Verbreitung oder Verstärkung politischer Botschaften, 
  • Vertretung nicht erklärter Interessen

Daneben finden sich in den “Empfehlungen für inklusive und stabile Wahlverfahren” aber auch gesellschaftspolitische Forderungen wie die paritätische Besetzung von Wahlleitungsgremien. Fördern sollen die Regierungen auch Schulungen für Bürger, die als Wahlbeobachter fungieren wollen. Die Cybersicherheit sollen die EU-Staaten unter anderem dadurch stärken, dass sie alle Einrichtungen ermitteln, die Infrastrukturen für die Wahl betreiben, und deren Abwehrfähigkeit verbessern. 

Regelmäßige Reports zum Thema

Über die Umsetzung der Empfehlungen sollen die Mitgliedstaaten künftig regelmäßig berichten. Eine Bilanz bisheriger Maßnahmen auf EU-Ebene und eine Vorschau auf noch zu lösende Aufgaben gibt die Kommission in einer neuen Mitteilung zur Verteidigung der Demokratie.

Die Beteiligung von Bürgern an politischen Entscheidungsprozessen will die Kommission ebenfalls stärken und gibt dazu Empfehlungen heraus. Wer sich in Bürgerversammlungen einbringen möchte, dem könnten beispielsweise die Teilnahmekosten erstattet werden. 

Parlament will Spitzenkandidatensystem vor der Wahl

Auch das Parlament machte am Dienstag Vorschläge, wie es die europäische Demokratie will. Die Abgeordneten wollen, dass eine “klare und glaubwürdige Verbindung zwischen dem Wählerwillen und der Wahl des Kommissionspräsidenten” besteht. Mit anderen Worten, das Parlament (die gewählten Volksvertreter) soll die künftige Kommissionspräsidentin oder den künftigen Kommissionspräsidenten vorschlagen. 

In einer Entschließung forderte das Parlament eine verbindliche Vereinbarung zwischen dem Parlament und dem Europäischen Rat. So wollen die Abgeordneten dafür sorgen, dass die europäischen Parteien und die Fraktionen sofort nach der Wahl – und bevor der Europäische Rat einen Vorschlag macht – die Verhandlungen über einen gemeinsamen Kandidaten aufnehmen. So will das Parlament verhindern, dass erneut eine Kandidatin auf den Posten gelangt, die gar nicht zur Wahl gestanden hatte, wie Ursula von der Leyen. Diese wurde damals von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten als Kommissionspräsidentin durchgesetzt. 

Das Parlament will nun, dass der Spitzenkandidat der Partei mit den meisten Sitzen im Parlament das Verfahren in der ersten Verhandlungsrunde leitet. Außerdem sollten die Parteien und die Fraktionen eine “Legislaturvereinbarung” treffen, die als Grundlage für das Arbeitsprogramm der Kommission dienen könne und so garantiere, dass die Maßnahmen nach der Wahl auch mit dem Wählerwillen übereinstimmen. Darüber hinaus forderte das Parlament den Rat auf, das neue europäische Wahlrecht und die neuen Vorschriften für europäische politische Parteien und Stiftungen rasch zu verabschieden, damit zumindest letztere für die Wahl 2024 gelten.  Mit Manuel Berkel

  • Demokratie
  • Europäische Kommission
  • Europawahlen 2024
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Toxische Beziehung: Erdoğan ist für Putin ein unberechenbares Risiko

Großes Selbstbewusstsein, aber auch große Vorsicht. Das ist die Maxime des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan im Verhältnis zum Kreml-Chef Wladimir Putin seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Eine komplexe Schaukelpolitik zwischen den Großmächten. “Im derzeitigen Moment traue ich Russland genauso viel wie dem Westen”, sagte Erdoğan in einem denkwürdigen Interview mit der US-amerikanischen TV-Senderkette PBS im September.

Der Nato-Staat Türkei ist ein paradoxer “Freund” Russlands. Außenpolitisch kooperieren beide Länder, wo es möglich ist, bekämpfen sich aber militärisch auf verschiedenen Kriegsschauplätzen mit unterschiedlicher Intensität: in Syrien, in Libyen, im Kaukasus.

Infolge des Gaza-Kriegs hat Erdoğan nach einer Periode des Austestens roter Linien Putins derzeit wieder zu einem geopolitischen Gleichklang mit dem großen Nachbarn gefunden. Den israelisch-palästinensischen Konflikt instrumentalisieren beide Autokraten: Sie positionieren sich gegen Israel und den Westen und intensivieren gleichzeitig ihre eigenen Kriege – Russland in der Ukraine, die Türkei in Nordsyrien (Rojava).

Machtverschiebungen zugunsten Ankaras

Erdoğan kommt zugute, dass Russland durch seinen Krieg gebunden und geschwächt ist. Im Südkaukasus hat die Türkei spätestens seit dem Bergkarabach-Krieg vom September jene Vormachtrolle übernommen, die Russland bisher innehatte. Auch in Zentralasien profitiert Ankara von der Schwäche Moskau und verstärkt die geopolitische Rivalität mit dem Nachbarn, um die Beziehungen mit den Staaten Zentralasiens, die ihre Abhängigkeit von Russland reduzieren wollen, auszubauen.

Vor allem auf dem ukrainischen Schauplatz nutzt Erdoğan jede Schwäche Putins für machtpolitische und ökonomische Gewinne. Der Ukraine schickte Erdoğan gleich zu Beginn des Kriegs militärische Bayraktar-Drohnen, die wesentlich zur erfolgreichen Abwehr der russischen Angriffe beitrugen. Erdoğan sperrte den Bosporus für russische (und andere) Kriegsschiffe und forderte mehrfach die Rückgabe der Krim an die Ukraine. Zudem ist die Türkei stark im risikoreichen Handel mit ukrainischem Getreide engagiert. Nach dem einseitigen russischen Ausstieg aus dem Schwarzmeer-Getreideabkommen im Juli ließ Putin zwar Mitte August einen türkischen Frachter auf dem Weg zum ukrainischen Getreidehafen Ismajil mit Warnschüssen stoppen, die Lieferungen gingen trotzdem weiter.

Türkei und Zentralasien helfen, Sanktionen zu umgehen

Putin lässt Erdoğan notgedrungen gewähren, weil er letztlich von der Partnerschaft profitiert. Trotz ihrer Nato-Mitgliedschaft spielt die Türkei eine Schlüsselrolle beim Unterlaufen der westlichen Russland-Sanktionen, denen sie sich ausdrücklich nicht angeschlossen hat. Der Sanktionsbruch durch türkische Unternehmen ist spätestens seit Anfang September aktenkundig. Zu dem Zeitpunkt belegten die USA fünf führende türkische Handelsfirmen wegen der Ausfuhr militärisch verwendbarer Komponenten für Drohnen und Sensortechnik nach Russland mit Sanktionen.

Danach blockierte die Türkei zwar den Transit sanktionierter Waren ins Nachbarland, doch werden die türkischen Exporte lebenswichtiger High-Tech-Güter für Russlands Kriegsmaschine jetzt offenkundig über Lieferketten im Kaukausus und Zentralasien verschoben, wie die britische Financial Times jüngst berichtete. Laut dem Bericht werden “hochprioritäre” Komponenten für die Rüstungsindustrie über den Umweg der ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan verdeckt nach Russland geliefert. Sie beträfen 45 Warenkategorien wie Mikrochips, Kommunikationsgeräte oder Zielfernrohre. Das Volumen dieses Handels ist sprunghaft angestiegen und hat westliche Besorgnis deutlich verstärkt.

Washington erhöht Druck auf Türkei

Washington hat daher den politischen Druck auf Ankara noch einmal erhöht, um die fortgesetzte Obstruktion der Nato-Politik durch türkische Firmen zu unterbinden. Der stellvertretende US-Außenminister James O’Brien warnte Ankara vor zwei Wochen öffentlich, die westlichen Staaten wollten nicht, “dass einer unserer wichtigsten Partner zu einem Ort wird, an dem unsere Sanktionen umgangen werden”. Das türkische Außenministerium konterte wachsweich, es werde alles getan, um Sanktionsumgehungen zu verhindern, doch gebe es leider solche “Versuche” durch “obskure Unternehmen”.

Dazu erklärten Türkeiexperten auf einer internationalen Tagung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Nikosia im November, mit der Tolerierung des “Geisterhandels” sanktionierter Waren revanchiere sich Erdoğan auch für die massive Unterstützung Putins bei den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai. Damals habe sich Putin erstmals offen in Türkei-Wahlen eingemischt, indem er türkische Gas-Schulden in Höhe mehrerer hundert Millionen Dollar stundete und Erdoğan damit ermöglichte, seiner Wählerschaft kostenlose Gaslieferungen zu versprechen. Diese Intervention habe das ohnehin asymmetrische Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Autokraten zugunsten Putins weiter verstärkt.

Erdoğan hat Türkeis Abhängigkeit von Russland vergrößert

Der türkische Präsident hat ohnehin aus den Verwerfungen seit November 2015 seine Schlüsse gezogen, als die türkische Luftverteidigung ein russisches Flugzeug abschoss, das aus Syrien kommend in den türkischen Luftraum eingedrungen war. Russland verhängte Sanktionen gegen die Türkei; Erdoğan sah sich zu einer demütigenden Entschuldigung bei Putin gezwungen. Anschließend bestellte Ankara für zwei Milliarden Dollar russische S-400-Flugabwehrraketen und lässt Russland seit 2018 in der Südtürkei das Atomkraftwerk Akkuyu errichten, das die türkische Opposition als russische Basis mitten in der Türkei kritisiert.

Russland gab seinerseits grünes Licht für militärische Operationen der Türkei im Norden Syriens und nahm den Bau der Pipeline TurkStream wieder auf, durch die seit Januar 2020 russisches Gas in die Türkei fließt. Die stark gewachsene energiepolitische Abhängigkeit der Türkei von Russland hat Putin enormes Erpressungspotential in die Hände gespielt. Derzeit plant Moskau die Errichtung eines Erdgasknotenpunktes in der Türkei, um offenkundig russisches Gas für den Export in die EU zu türkischem Gas weißzuwaschen.

Der Handel mit Russland floriert

Das Handelsvolumen zwischen Russland und der Türkei hat sich seit Beginn des Ukraine-Kriegs stark erhöht und wird in diesem Jahr voraussichtlich 65 Milliarden US-Dollar übersteigen. Im vergangenen Jahr war Russland erstmals der wichtigste Importpartner der Türkei mit Waren im Wert von 58,85 Milliarden Dollar, eine Verdreifachung gegenüber 2021.

Trotzdem bleibt Erdoğan wegen seines Bestrebens nach “strategischer Autonomie” für Putin ein unberechenbares Risiko. Zumal der türkische Präsident Pragmatiker genug ist, um seine Nato-Partnerschaft nicht zu gefährden und Signale der Kulanz an den Westen zu senden, von dem die Türkei wegen ihrer gewaltigen finanziellen und wirtschaftlichen Probleme mehr denn je abhängt. So leitete er im November die Gesetzesvorlage zum schwedischen Nato-Beitritt endlich zur Ratifizierung ans Parlament in Ankara weiter. Trotzdem dürfte die Zustimmung dazu noch auf sich warten lassen. Erdoğan will für das Okay 40 F-16-Kampfjets und 40 Eurofighter von den Nato-Partnern haben.

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News

Tusk will führende Rolle für Polen in der EU

Donald Tusk will sein Land zurück in die europäische Familie führen und die Ukraine weiter im Krieg gegen Russland unterstützen. Das sagte der designierte Ministerpräsident Polens am Dienstag bei der Vorstellung seiner Regierungspläne am Dienstag im Abgeordnetenhaus Sejm. Polen werde ein starker Teil der Nato und ein starker Verbündeter der USA sein sowie eine Führungsposition in Europa erreichen, sagte Tusk. Wer Polens Platz in der EU infrage stelle, schädige die Interessen des Landes. Ein isoliertes Polen sei größten Risiken ausgesetzt.

Der ehemalige EU-Ratspräsident und bisherige Oppositionsführer hatte am Montag vom Parlament den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten. Er soll am Mittwoch als neuer Ministerpräsident vereidigt werden. Das Parlament hatte mit 248 zu 201 Stimmen für den 66-Jährigen vom liberal-konservativen Wahlbündnis Bürgerkoalition (KO) als neuen Regierungschef eines Dreier-Bündnisses zusammen mit dem “Dritten Weg” und der “Neuen Linken” gestimmt.

Tusk will noch in dieser Woche nach Brüssel

Tusk kündigte an, noch in dieser Woche nach Brüssel zu fahren und letztlich “Milliarden von Euros zurückzuholen”. Diese Gelder sind derzeit blockiert wegen eines Streits zwischen der vorigen rechtskonservativen Regierung und Brüssel über Rechtsstaatlichkeit. Tusk war bereits von 2007 bis 2014 Ministerpräsident sowie von 2014 bis 2019 Präsident des Europäischen Rates.

Mit dem Machtwechsel geht auch ein Kurswechsel einher, hin zu einer proeuropäischen Politik. Unter seiner Regierung werde Polen durch gute Zusammenarbeit die Position eines “Anführers innerhalb der EU” erreichen, sagte Tusk. “Wir sind umso stärker, umso souveräner, je stärker die Europäische Gemeinschaft ist.” Es sei auch ein Grund für den Sieg des proeuropäischen Dreierbündnisses bei der Parlamentswahl gewesen, dass viele Wähler in Polen sich gewünscht hätten, dass das Land in der EU eine entscheidende Rolle spiele.

Er betonte, dass er gegen alle Änderungen der EU-Verträge vorgehen würde, die Polen benachteiligen würden. “Alle Versuche, Verträge zu ändern, die unseren Interessen zuwiderlaufen, kommen nicht infrage“, erklärte Tusk im Parlament. “Niemand wird mich in der Europäischen Union übertrumpfen.” Dies dürfte als klarer Appell an seine politischen Gegner der langjährigen Regierungspartei PiS gelten. Denn diese hatten ihm wiederholt vorgeworfen, europäischen Interessen über polnische zu stellen.

Ebenfalls am Dienstag erklärte der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte, dass Polen gleichgeschlechtlichen Paaren das Recht auf Achtung des Privatlebens verwehrt habe. Die Nichtregierungsorganisation “Love Does Not Exclude Association”, die die Antragstellenden homosexuellen Paare vor Gericht unterstützt hatte, erklärte, das Gerichtsurteil übe “erheblichen Druck” auf die Regierung aus, gleichgeschlechtliche Partnerschaften einzuführen. dpa/rtr

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Kommission macht Weg frei für zehn Milliarden Euro an Ungarn

Die Kommission wird dem Vernehmen nach am Mittwoch den Weg frei machen für die Auszahlung von blockierten EU-Mitteln in Höhe von zehn Milliarden Euro an Ungarn. Die Gelder wurden blockiert, weil die ungarische Regierung gegen die Rechtsstaatlichkeit und andere EU-Werte verstoßen hat. Sobald am Mittwoch die Kommission den Beschluss fasst, können insgesamt zehn Milliarden Euro an Ungarn ausgezahlt werden. Ungarn hatte zuvor den Nachweis über die von der Kommission angemahnten Reformen für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz erbracht. Am Mittwoch läuft entsprechend eine Neun-Tages-Frist ab. Die Kommission sieht sich dann gezwungen, grünes Licht für die Auszahlung der Gelder zu geben. Andernfalls drohte eine Niederlage vor dem EuGH.

Die Budapester Regierung kann damit Projekte in elf EU-Programmen starten und die Rechnungen in Brüssel einreichen. Im Nachgang fließt dann Zug um Zug das Geld an Ungarn. Zu den Programmen gehören der Sozialfonds ESF+, der Regionalfonds ERDF, der Fonds für einen gerechten Übergang JTF, der Kohäsionsfonds und weitere Programme.

Die Regierung unter Viktor Orbán hat die von der Kommission in weiteren Bereichen angemahnten Reformen dagegen noch nicht erbracht. Hierbei geht es um die Unabhängigkeit der Universitäten, um den Schutz von Kindern sowie um Asylverfahren. Daher bleiben weiter EU-Mittel für Ungarn in Höhe von 21,2 Milliarden Euro blockiert. mgr

CRMA: Parlament nimmt Ergebnis der Verhandlungen an

Das Gesetz für eine sichere und nachhaltige Rohstoffversorgung in Europa, der Critical Raw Materials Act (CRMA), wird voraussichtlich im Januar in Kraft treten. Am Dienstagmittag hat das EU-Parlament in Straßburg das Ergebnis der Verhandlungen mit dem Rat und der Kommission formal angenommen. Auch der Rat muss noch zustimmen; dann wird die Verordnung im Amtsblatt der EU veröffentlicht und tritt 20 Tage später in Kraft. Laut Berichterstatterin Nicola Beer (Renew) könnte die EU-Kommission bereits im Sommer erste strategische Rohstoffprojekte auswählen.

Das Gesetz schreibt den Mitgliedstaaten vor, Genehmigungsverfahren für Bergbau-, Verarbeitungs- und Recyclingprojekte in den zuständigen Behörden stärker zu bündeln und zu beschleunigen. Auch Projekte, in denen einer der knapp 30 kritischen Rohstoffe durch alternative Materialien ersetzt wird, können sich bei der EU-Kommission bewerben. Bis 2030 soll die Rohstoffversorgung anhand von Zielvorgaben für Bergbau, Verarbeitung, Recycling und die Reduzierung der Importabhängigkeit von einzelnen Drittstaaten gestärkt werden. leo

  • Critical Raw Materials Act
  • CRMA
  • Rohstoffe

Ukraine-Beitritt: Europäer sind gespalten

Wenige Tage vor einer möglichen Entscheidung über den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zeigen sich die Bürger aus mehreren europäischen Staaten zwiegespalten, was die EU-Mitgliedschaft des Landes angeht. In Deutschland gibt es eine leichte Mehrheit gegen den Beitritt (39 zu 37 Prozent), zeigt eine am Dienstag veröffentlichte Umfrage von YouGov und Datapraxis im Auftrag des European Council on Foreign Relations (ECFR).

Befragt wurden Bürger aus insgesamt sechs EU-Staaten. Stärker als in Deutschland ist die Ablehnung eines Beitritts der Ukraine in Frankreich (35 zu 29 Prozent) und in Österreich (52 zu 28 Prozent). Deutliche Mehrheiten für einen Beitritt gibt es dagegen in Dänemark (50 Prozent) und in Polen (47 Prozent), dünner ist die Mehrheit für eine Erweiterung in Rumänien (32 zu 29 Prozent).

Mehrheit gegen Türkei-Beitritt

Eher ablehnend zeigt sich eine Mehrheit in den sechs Staaten auch zur Aufnahme der Westbalkanstaaten. Noch am positivsten ist die Stimmung gegenüber Bosnien-Herzegowina, die stärkste Ablehnung zeigte sich gegenüber dem Kosovo. Die Aufnahme der Türkei lehnen sogar 51 Prozent der Befragten ab.

Am Donnerstag und Freitag werden sich die Staats- und Regierungschefs beim Europäischen Rat mit der EU-Erweiterung beschäftigen. Das ECFR rief sie dazu auf, für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine und Moldova zu stimmen. Zusammen mit institutionellen Reformen würde dies dazu beitragen, die Skepsis der Bürger gegenüber der Erweiterungsfähigkeit der EU zu zerstreuen und deutlich zu machen, warum die Erweiterung “für die Zukunft Europas unerlässlich” ist, sagten die Policy Fellows Piotr Buras and Engjellushe Morina. ber

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EU will Umgehung von Sanktionen schärfer bestrafen

Wer Sanktionen umgeht, soll in der EU künftig härter bestraft werden. Unterhändler von Europaparlament und EU-Staaten einigten sich am Dienstag in Brüssel darauf, dass bestimmte Handlungen als Straftaten definiert werden müssen. Dazu zählt etwa der Handel mit sanktionierten Waren in ein betroffenes Land oder wenn man sanktionierten Personen dabei hilft, das Reiseverbot in die EU zu umgehen.

Außerdem soll bestraft werden, wer verbotene Finanzdienstleistungen bereitstellt oder verschleiert, dass Vermögen einer sanktionierten Person gehört. Auch die Anstiftung und Beihilfe dazu soll geahndet werden. Unternehmen sollen unter bestimmten Umständen für solche Taten ebenfalls zur Verantwortung gezogen werden können. Das Europaparlament und die EU-Staaten müssen dem Vorhaben noch zustimmen.

Diese geplanten Regelungen hätten besondere Bedeutung im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, hieß es. Die EU-Staaten bereiten derzeit ein neues Sanktionspaket gegen Russland vor. dpa

  • China-Sanktionen
  • Russland

Insider: Apple öffnet auf Druck der EU Bezahlsystem für Rivalen

Auf Druck der EU öffnet Apple Insidern zufolge sein Handybezahlsystem künftig konkurrierenden Zahlungsabwicklern. Damit wolle der US-Konzern einen Kartellstreit beilegen und eine drohende milliardenschwere Strafe vermeiden, sagten mehrere mit der Angelegenheit vertraute Personen am Dienstag der Nachrichtenagentur Reuters. Die europäischen Kartellwächter werfen dem iPhone-Anbieter vor, den Wettbewerb zu behindern, weil er den Zugang zu seiner Technologie für kontaktloses Bezahlen mit dem Mobiltelefon beschränke.

Zahlungsabwickler haben wiederholt technologischen Zugang zum NFC-Chip von Apple Pay gefordert. Für Bezahlvorgänge müssen Smartphones oder Bankkarten mit diesen Chips nur kurz an entsprechende Terminals gehalten werden.

Die EU werde nun Stellungnahmen von Konkurrenten und Kunden einholen, sagten die Insider weiter. Von den Antworten hänge ab, ob sie das Zugeständnis von Apple als ausreichend akzeptieren. Die europäische Wettbewerbsaufsicht wollte sich zu diesem Thema nicht äußern. Apple war für einen Kommentar zunächst nicht zu erreichen. Bei Verstößen gegen EU-Kartellgesetze drohen Firmen Strafen von bis zu zehn Prozent des weltweiten jährlichen Umsatzes. rtr

  • Apple
  • Chips
  • Digitalisierung
  • Kartellrecht

Presseschau

Vor dem EU-Gipfel: Mögliches Spitzentreffen der Misserfolge DEUTSCHLANDFUNK
Tusk: Polen soll Anführer in der EU werden BADISCHE ZEITUNG
Einigung in Brüssel: EU will Umgehung von Sanktionen schärfer bestrafen BLICK
EU erwägt Sanktionen gegen gewalttätige israelische Siedler DW
Proteste im Iran: EU-Parlament ehrt Mahsa Amini posthum mit Sacharow-Preis ZEIT
Trotz Widerstand: EU-Staaten wollen Gesetz zu Pestiziden vorantreiben EURACTIV
EU legt Plan für eingefrorenes russisches Staatsvermögen vor HANDELSBLATT
EU bekräftigt Forderung nach “sofortiger” Freilassung von Kreml-Kritiker Nawalny STERN
Studie der Bertelsmann-Stiftung: Antisemitismus in Deutschland und Europa breitet sich aus – “vor allem unter Muslimen” DEUTSCHLANDFUNK
Medienfreiheitsgesetz in der EU: Die Freiheit, Journalisten auszuhorchen ZEIT
Trotz Haushaltsstreit: Deutschland würde für höhere EU-Ukraine-Hilfe mehr zahlen TAGESSPIEGEL
Bis zu 17 Prozent des EU-Haushalts – Studie berechnet Folgen des Ukraine-Beitritts WELT
Zehn Milliarden Euro für Budapest: Die EU-Kommission knickt vor Orban ein NZZ
“Mit Lügen gespickt”: Brüssel schimpft über Ungarns Anti-EU-Kampagne EURONEWS
Bürgerrechtlerin Veronika Tsepkalo: “Europa hat Belarus aufgegeben” DIE PRESSE
Britisches Parlament stimmt für Gesetz zu Ruanda-Abschiebungen DER STANDARD
Abkommen mit Tunesien, Niger, Albanien: Warum die EU-Flüchtlingsdeals nicht funktionieren TAGESSPIEGEL
Österreich plant “Schengen light” für Rumänien und Bulgarien WELT
Steigende Raten sexuell übertragbarer Infektionen in Europa AERZTEBLATT
Nachfrageschwäche in Europa belastet Exportbedingungen Deutschlands BOERSEN-ZEITUNG
EU will Einsatz von Bargeld einschränken – und hat eine Zahlungs-Obergrenze von 10.000 Euro im Visier MERKUR
EU-Vergleich: Deutsche produzieren besonders viel Verpackungsmüll SPIEGEL
EU-Kommission will Rechenzentren zu einem effizienteren Energieverbrauch verpflichten ENERGATE-MESSENGER
EU-Parlament fordert Gesetze gegen Suchtfaktoren sozialer Netzwerke STUTTGARTER NACHRICHTEN
Twitter-Alternative Threads startet in Europa FAZ
Honig, Marmelade und Saft: Das Ursprungsland soll aufs Etikett FAZ
Differenzen mit der EU drohen für die SBB in Deutschland Folgen zu haben NZZ
Apple öffnet auf Druck der EU offenbar Bezahlsystem für Rivalen DER STANDARD
Italiens Regierung von neuer Messung überrascht: Küste plötzlich tausende Kilometer länger FR

Standpunkt

Basismodell-Regulierung im AI Act: Richtiger Schritt, aber mit Lücken

Von Philip Fox
Philip Fox ist Analyst beim Thinktank Kira – Zentrum für KI-Risiken & -Auswirkungen in Berlin.

Ein 36-stündiger Verhandlungsmarathon zum europäischen AI Act endete am Freitag mit einer vorläufigen Einigung: Statt einer bloßen Selbstverpflichtung sollen die Entwickler von KI-Basismodellen wie GPT-4 oder Gemini verbindlichen Regeln unterliegen. Dazu zählen unter anderem Transparenz- und Dokumentationspflichten sowie – im Fall von Modellen mit sogenannten systemischen Risiken – zusätzliche Maßnahmen wie verpflichtende Evaluationen oder erhöhte Cybersicherheit.

Die Verhandler hatten darüber bis zuletzt gerungen. Insbesondere Deutschland, Frankreich und Italien waren in Sorge, dass eine verbindliche Basismodell-Regulierung eine Gefahr für den europäischen Wirtschaftsstandort sein würde. Die vorläufige Einigung hat nun das Potenzial, ökonomische und sicherheitspolitische Überlegungen miteinander in Einklang zu bringen. Sie sieht einen zweistufigen Ansatz vor, Tiered Approach genannt: Für größere und damit leistungsfähigere Basismodelle würden strengere Regeln gelten als für kleinere.

Als Unterscheidungskriterium ist die Rechenleistung vorgesehen, mit der ein Modell trainiert wurde, gemessen in sogenannten Flop (floating point operations). Weil die Grenze bei 1025 Flop verlaufen soll, und höchstens einige wenige US-amerikanische Modelle wie GPT-4 darüber liegen, wären europäische Basismodell-Entwickler wie das deutsche Aleph Alpha oder das französische Mistral von den strengeren Regeln befreit. Die vorläufige Einigung sieht vor, diese Grenze in der Zukunft flexibel an Fortschritte in der KI-Entwicklung anzupassen und, wenn nötig, um qualitative, von Fachleuten empfohlene Kriterien zu erweitern.

Zweistufiger Ansatz fördert Innovation – wenn er richtig gemacht ist

Abgesehen davon könnten von einer sinnvoll ausgestalteten und in die Praxis überführten Einigung vor allem europäische KI-Start-ups profitieren, deren Anwendungen auf Basismodellen aufbauen. Blieben Basismodelle unreguliert, wären diese Firmen womöglich übermäßig hohen Compliance-Kosten und Haftungsrisiken für Anwendungen in sogenannten Hochrisiko-Bereichen wie Bildung oder Verkehr ausgesetzt. Gemäß der vorläufigen Einigung würden stattdessen die großen, fast ausschließlich US-amerikanischen Tech-Konzerne in die Pflicht genommen – denen man den zusätzlichen Compliance-Aufwand durchaus zutrauen darf.

Aktuell steht die Einigung über den Tiered Approachunter Vorbehalt; diverse Details müssen noch ausgehandelt und der AI Act formal beschlossen werden. Eine verbindliche Basismodell-Regulierung, die durch die aktuelle Einigung in greifbare Nähe rückt, wäre jenseits wirtschaftlicher Überlegungen auch aus einer Sicherheitsperspektive dringend notwendig. Schon heute gehen von KI-Modellen akute Gefahren aus, wie diskriminierende Inhalte oder Deepfakes, die den öffentlichen Diskurs beeinflussen. Gleichzeitig ist der Fortschritt in Sachen KI rasant und Fachleute warnen davor, dass Modelle schon bald in der Lage sein könnten, ausgeklügelte Cyberangriffe durchzuführen oder Biowaffen zu synthetisieren. Diese Risiken ergeben sich aus den Basismodellen selbst, und nicht etwa erst aus den Anwendungen, die aus ihnen entstehen. Deshalb sind es allein die Entwickler der Basismodelle, die diese Risiken effektiv und umfassend begrenzen können.

Vergleichsweise laxe Regeln für weniger große Modelle

Die nun vorgesehenen Sicherheitsmaßnahmen sind ein wichtiger Schritt in Richtung sicherer und vertrauenswürdiger KI. Ob sie weit genug gehen, ist jedoch fraglich. Das betrifft vor allem den Grenzwert von 1025 Flop: Auch Modelle wie GPT-3.5, die nur mit 1024 Flop trainiert wurden, können jetzt schon bei Cyberangriffen und der Verbreitung von Desinformation assistieren, wie auch der Rechtswissenschaftler Philipp Hacker in einer Stellungnahme schreibt. Für diese Modelle gelten in der aktuellen Fassung vergleichsweise laxe Regeln. 

Diese bleiben weit hinter grundlegenden Sicherheitsvorschriften zurück, die in anderen Bereichen riskanter Technologie gang und gäbe sind. Wer mehrere Millionen Euro in das Training eines Modells mit 1024 Flop investieren kann, sollte auch die entsprechenden Compliance-Kosten aufbringen können. Eine Ausweitung dieser Common-Sense-Regeln auf einige weitere Basismodelle würde immer noch vor allem US-Anbieter treffen und den europäischen Forschungsstandort nicht in Gefahr bringen. Zumal die Entwicklung von Basismodellen nicht mit Grundlagenforschung zu verwechseln ist, die von den genannten Regeln ohnehin nicht betroffen ist.

Auch externe Evaluationen erforderlich

Gleichzeitig gibt es auch bei den Regeln für Modelle mit systemischen Risiken die eine oder andere Lücke. Zum Beispiel ist es zu begrüßen, dass diese Modelle im Rahmen eines internen Red Teaming auf Schwachstellen geprüft werden müssen. Darüber hinaus braucht es aber auch externe Evaluationen durch unabhängige Audit-Organisationen.

Verbindliche Regeln für Basismodelle sind daher sowohl im Interesse des europäischen KI-Standorts als auch der Sicherheit der europäischen Bevölkerung. Mit dem Tiered-Approach wäre eine gute Ausgangslage geschaffen, um beiden Dimensionen gerecht zu werden. Diesen gilt es jetzt nachzujustieren und anschließend zu formalisieren. Nur so erreicht die weltweit erste umfassende KI-Gesetzgebung jenen wegweisenden Charakter, der einst für sie vorgesehen war.

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Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

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    Liebe Leserin, lieber Leser,

    der Gipfel vor dem Gipfel soll mehr als ein Fototermin sein: Das Treffen am heutigen Mittwoch biete die Gelegenheit, die “zentrale Bedeutung der strategischen Partnerschaft zwischen der EU und dem westlichen Balkan zu bekräftigen”, schreibt EU-Ratspräsident Charles Michel in seinem Einladungsbrief. Bundeskanzler Olaf Scholz will trotz Haushaltsproblemen zu Hause anreisen, um vor dem EU-Gipfel die Amtskollegen aus Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina zu treffen.

    Erweiterung sei eine “geopolitische Investition in Frieden, Sicherheit, Stabilität und Prosperität”, heißt es im Entwurf der Schlussfolgerungen zum Gipfel mit den Westbalkanstaaten. Spätestens seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine geht es bei der Aufnahme neuer Mitglieder auch um Geopolitik. Ein Vakuum auf dem Balkan wäre die Einladung für Russland, aber auch China oder die Türkei, sich dort breitzumachen. Die EU will deshalb den Beitrittsprozess beschleunigen, der aber gleichzeitig leistungsbasiert bleiben soll. Wie dieser Widerspruch aufgelöst werden kann, dürfte auch heute nicht geklärt werden.

    Insbesondere Serbien nutzt die geopolitische Notlage für seine Schaukelpolitik zwischen Brüssel und Moskau aus. An die Adresse Belgrads gerichtet ist deshalb auch die deutliche Forderung an die Kandidatenländer, sich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU inklusive der Sanktionsregime gegen Russland endlich anzuschließen. Der Nachholbedarf wird für Belgrad bald noch größer werden. Das 12. Sanktionspaket der EU gegen Wladimir Putins Aggressionskrieg mit neuen Maßnahmen gegen Schlupflöcher fand im AstV am Dienstagabend breite Zustimmung. Ein Mitgliedstaat habe intern noch Klärungsbedarf, bevor das schriftliche Verfahren zur formellen Annahme beginnen könne, sagten Diplomaten.

    Das wäre immerhin ein kleiner Erfolg vor dem EU-Gipfel, der durch Viktor Orbáns hartnäckiges Veto gegen den Start der Beitrittsverhandlungen und neue Milliardenhilfen für die Ukraine überschattet wird. Ein Ende der ungarischen Blockade war am Dienstag jedenfalls noch nicht absehbar.

    Ihr
    Stephan Israel
    Bild von Stephan  Israel

    Analyse

    Kommission will den Einfluss Russlands und Chinas auf die europäische Politik begrenzen

    Sechs Monate vor den Wahlen zum Europaparlament am 9. Juni 2024 hat die EU-Kommission am Mittwoch ein Maßnahmenpaket zur Verteidigung der Demokratie vorgelegt. Wichtigstes Element in dem Paket ist ein Gesetzesvorschlag, der die Transparenz und demokratische Rechenschaftspflicht von Interessenvertretungen regelt, die aus dem Ausland finanziert werden. So will die Kommission verhindern, dass Länder wie Russland, China oder die Türkei Einfluss auf die europäische Politik, die Entscheidungsfindung und das demokratische System nehmen. Das Gesetz soll auch Korruptionsfälle wie Katargate verhindern. 

    Kritiker befürchten jedoch, dass Staaten wie Ungarn das Gesetz auch dazu einsetzen können, unliebsame zivilgesellschaftliche Organisationen oder NGOs, die Geld aus dem Ausland erhalten, zu diskreditieren oder mundtot zu machen. “Hier werden wir genau hinschauen müssen, dass die Balance gewährleistet ist”, sagte der Grünen-Abgeordnete Sergey Lagodinsky zu Table.Media. 

    Ausländische Einmischung unerwünscht 

    Europa sei eine offene Demokratie, sagte Věra Jourová, Kommissionsvizepräsidentin für Werte und Transparenz, bei der Vorstellung des Pakets in Brüssel. “Aber es wäre naiv zu glauben, dass die Demokratie keinen Schutz braucht.” Das Gegenteil sei der Fall. “Und wir sollten nicht zulassen, dass Putin oder ein anderer Autokrat sich heimlich in unseren demokratischen Prozess einmischt.” Dieser Gefahr einer ausländischen Einmischung wolle die Kommission mit dem neuen Gesetz begegnen. In dem Gesetz geht es um Transparenz, Jourová betonte mehrfach, dass es dabei nicht um die Verfolgung von Straftaten gehe. 

    Das Paket zur Verteidigung der Demokratie baut auf früheren Initiativen der Kommission zum Schutz der europäischen Demokratie auf, darunter dem Europäischen Aktionsplan für Demokratie. Allerdings hatte das Gesetz einen schwierigen Start. Die Kommission hatte es bereits im Frühjahr vorlegen wollen. Abgeordnete des Europaparlaments kritisierten damals in einem offenen Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass die Richtlinie das Recht auf Vereinigungsfreiheit unverhältnismäßig stark beeinträchtigen könne und forderten eine Folgenabschätzung.

    “Nach unserem Verständnis würde die geplante Richtlinie zivilgesellschaftliche Organisationen, die Finanzierung aus Nicht-EU-Quellen erhalten, einer Reihe von Registrierungs- und Berichtspflichten unterwerfen”, schrieben die Abgeordneten damals. “Wir sind besorgt, dass diese Verpflichtungen eine unverhältnismäßige Belastung für zivilgesellschaftliche Organisationen darstellen werden und gegen die Leitlinien der Venedig-Kommission/OSZE zur Vereinigungsfreiheit verstoßen.” 

    Harmonisierte Regeln sollen Sonderwege verhindern 

    Nun wollen die Parlamentarier den jetzt veröffentlichten Vorschlag prüfen. Der Vorschlag zielt darauf ab, EU-weit harmonisierte Regeln zu schaffen für ein hohes Maß an Transparenz über Lobbykampagnen und ähnliche Aktivitäten, die von Organisationen im Auftrag einer Regierung eines Drittlandes durchgeführt werden. Vorgesehen sind folgende Transparenzanforderungen: 

    • Registrierung in einem Transparenzregister: Wer Interessen im Auftrag eines Drittlandes vertritt, muss sich in einem Transparenzregister registrieren. Die Mitgliedstaaten werden gebeten, bestehende nationale Register zu diesem Zweck einzurichten oder anzupassen. 
    • Öffentlicher Zugang: Wesentliche Daten über die Art der Interessenvertretung müssen öffentlich zugänglich sein. Das bezieht sich zum Beispiel auf die erhaltenen Beträge aus Drittländern und die Hauptziele der Aktivitäten. 
    • Dokumentationspflicht: Interessenvertretungen im Auftrag eines Drittlandes sind verpflichtet, Aufzeichnungen über die wesentlichen Informationen oder Materialien für ihre Aktivitäten für einen Zeitraum von vier Jahren zu führen. 

    Nach Angaben der Kommission umfasst der Vorschlag auch angemessene Regeln und Schutzmaßnahmen, um zu verhindern, dass Registrierungsanforderungen missbraucht werden, um grundlegende Rechte zu beschränken, wie die Freiheit der Meinungsäußerung. So sollen unabhängige Aufsichtsbehörden befugt sein, in begründeten Fällen nur eingeschränkte Aufzeichnungen anzufordern. Zudem müssen Behörden sicherstellen, dass keine nachteiligen Folgen aus der Registrierung entstehen. Auch soll die vollständige Harmonisierung nach dem Vorschlag verhindern, dass Mitgliedstaaten zusätzliche Anforderungen und Praktiken beibehalten oder einführen. Letzteres betonte Jourová am Dienstag in Brüssel.  

    Stärkung der Wahlprozesse in der EU 

    Die Einflussnahme von Drittstaaten will die Kommission auch durch Empfehlungen an die nationalen Regierungen und Parteien bekämpfen. Im “Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament im nächsten Jahr werden wir gemeinsam mit den Mitgliedstaaten die Integrität der Wahlen – offline und online – stärken”, kündigte Jourová an. So werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, Spenden aus Drittländern an Parteien, politische Stiftungen, Kandidaten und gegebenenfalls politische Bewegungen zu beschränken oder sogar ganz zu verbieten. Bisher mangelt es sogar noch an gemeinsamen Standards für “Spenden und andere Formen der Unterstützung aus Drittländern”. Die EU-Staaten sollen sie nun erarbeiten, um die Aufsicht zu verbessern. 

    Es sagt einiges über den Zustand der Demokratie aus, dass die Kommission die Parteien auffordert, Verhaltenskodizes für “die Integrität der Wahlen und einen fairen Wahlkampf” zu beschließen. So sollen die Parteien “manipulative Verhaltensweisen” unterlassen: 

    • Verbreitung gefälschter, erfundener, unrechtmäßig erlangter oder gestohlener Daten oder Materialien, einschließlich KI-generierter Deep Fakes
    • Verbreitung irreführender oder bösartiger Inhalte
    • Einsatz manipulativer Taktiken zur Verbreitung oder Verstärkung politischer Botschaften, 
    • Vertretung nicht erklärter Interessen

    Daneben finden sich in den “Empfehlungen für inklusive und stabile Wahlverfahren” aber auch gesellschaftspolitische Forderungen wie die paritätische Besetzung von Wahlleitungsgremien. Fördern sollen die Regierungen auch Schulungen für Bürger, die als Wahlbeobachter fungieren wollen. Die Cybersicherheit sollen die EU-Staaten unter anderem dadurch stärken, dass sie alle Einrichtungen ermitteln, die Infrastrukturen für die Wahl betreiben, und deren Abwehrfähigkeit verbessern. 

    Regelmäßige Reports zum Thema

    Über die Umsetzung der Empfehlungen sollen die Mitgliedstaaten künftig regelmäßig berichten. Eine Bilanz bisheriger Maßnahmen auf EU-Ebene und eine Vorschau auf noch zu lösende Aufgaben gibt die Kommission in einer neuen Mitteilung zur Verteidigung der Demokratie.

    Die Beteiligung von Bürgern an politischen Entscheidungsprozessen will die Kommission ebenfalls stärken und gibt dazu Empfehlungen heraus. Wer sich in Bürgerversammlungen einbringen möchte, dem könnten beispielsweise die Teilnahmekosten erstattet werden. 

    Parlament will Spitzenkandidatensystem vor der Wahl

    Auch das Parlament machte am Dienstag Vorschläge, wie es die europäische Demokratie will. Die Abgeordneten wollen, dass eine “klare und glaubwürdige Verbindung zwischen dem Wählerwillen und der Wahl des Kommissionspräsidenten” besteht. Mit anderen Worten, das Parlament (die gewählten Volksvertreter) soll die künftige Kommissionspräsidentin oder den künftigen Kommissionspräsidenten vorschlagen. 

    In einer Entschließung forderte das Parlament eine verbindliche Vereinbarung zwischen dem Parlament und dem Europäischen Rat. So wollen die Abgeordneten dafür sorgen, dass die europäischen Parteien und die Fraktionen sofort nach der Wahl – und bevor der Europäische Rat einen Vorschlag macht – die Verhandlungen über einen gemeinsamen Kandidaten aufnehmen. So will das Parlament verhindern, dass erneut eine Kandidatin auf den Posten gelangt, die gar nicht zur Wahl gestanden hatte, wie Ursula von der Leyen. Diese wurde damals von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten als Kommissionspräsidentin durchgesetzt. 

    Das Parlament will nun, dass der Spitzenkandidat der Partei mit den meisten Sitzen im Parlament das Verfahren in der ersten Verhandlungsrunde leitet. Außerdem sollten die Parteien und die Fraktionen eine “Legislaturvereinbarung” treffen, die als Grundlage für das Arbeitsprogramm der Kommission dienen könne und so garantiere, dass die Maßnahmen nach der Wahl auch mit dem Wählerwillen übereinstimmen. Darüber hinaus forderte das Parlament den Rat auf, das neue europäische Wahlrecht und die neuen Vorschriften für europäische politische Parteien und Stiftungen rasch zu verabschieden, damit zumindest letztere für die Wahl 2024 gelten.  Mit Manuel Berkel

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    Toxische Beziehung: Erdoğan ist für Putin ein unberechenbares Risiko

    Großes Selbstbewusstsein, aber auch große Vorsicht. Das ist die Maxime des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan im Verhältnis zum Kreml-Chef Wladimir Putin seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Eine komplexe Schaukelpolitik zwischen den Großmächten. “Im derzeitigen Moment traue ich Russland genauso viel wie dem Westen”, sagte Erdoğan in einem denkwürdigen Interview mit der US-amerikanischen TV-Senderkette PBS im September.

    Der Nato-Staat Türkei ist ein paradoxer “Freund” Russlands. Außenpolitisch kooperieren beide Länder, wo es möglich ist, bekämpfen sich aber militärisch auf verschiedenen Kriegsschauplätzen mit unterschiedlicher Intensität: in Syrien, in Libyen, im Kaukasus.

    Infolge des Gaza-Kriegs hat Erdoğan nach einer Periode des Austestens roter Linien Putins derzeit wieder zu einem geopolitischen Gleichklang mit dem großen Nachbarn gefunden. Den israelisch-palästinensischen Konflikt instrumentalisieren beide Autokraten: Sie positionieren sich gegen Israel und den Westen und intensivieren gleichzeitig ihre eigenen Kriege – Russland in der Ukraine, die Türkei in Nordsyrien (Rojava).

    Machtverschiebungen zugunsten Ankaras

    Erdoğan kommt zugute, dass Russland durch seinen Krieg gebunden und geschwächt ist. Im Südkaukasus hat die Türkei spätestens seit dem Bergkarabach-Krieg vom September jene Vormachtrolle übernommen, die Russland bisher innehatte. Auch in Zentralasien profitiert Ankara von der Schwäche Moskau und verstärkt die geopolitische Rivalität mit dem Nachbarn, um die Beziehungen mit den Staaten Zentralasiens, die ihre Abhängigkeit von Russland reduzieren wollen, auszubauen.

    Vor allem auf dem ukrainischen Schauplatz nutzt Erdoğan jede Schwäche Putins für machtpolitische und ökonomische Gewinne. Der Ukraine schickte Erdoğan gleich zu Beginn des Kriegs militärische Bayraktar-Drohnen, die wesentlich zur erfolgreichen Abwehr der russischen Angriffe beitrugen. Erdoğan sperrte den Bosporus für russische (und andere) Kriegsschiffe und forderte mehrfach die Rückgabe der Krim an die Ukraine. Zudem ist die Türkei stark im risikoreichen Handel mit ukrainischem Getreide engagiert. Nach dem einseitigen russischen Ausstieg aus dem Schwarzmeer-Getreideabkommen im Juli ließ Putin zwar Mitte August einen türkischen Frachter auf dem Weg zum ukrainischen Getreidehafen Ismajil mit Warnschüssen stoppen, die Lieferungen gingen trotzdem weiter.

    Türkei und Zentralasien helfen, Sanktionen zu umgehen

    Putin lässt Erdoğan notgedrungen gewähren, weil er letztlich von der Partnerschaft profitiert. Trotz ihrer Nato-Mitgliedschaft spielt die Türkei eine Schlüsselrolle beim Unterlaufen der westlichen Russland-Sanktionen, denen sie sich ausdrücklich nicht angeschlossen hat. Der Sanktionsbruch durch türkische Unternehmen ist spätestens seit Anfang September aktenkundig. Zu dem Zeitpunkt belegten die USA fünf führende türkische Handelsfirmen wegen der Ausfuhr militärisch verwendbarer Komponenten für Drohnen und Sensortechnik nach Russland mit Sanktionen.

    Danach blockierte die Türkei zwar den Transit sanktionierter Waren ins Nachbarland, doch werden die türkischen Exporte lebenswichtiger High-Tech-Güter für Russlands Kriegsmaschine jetzt offenkundig über Lieferketten im Kaukausus und Zentralasien verschoben, wie die britische Financial Times jüngst berichtete. Laut dem Bericht werden “hochprioritäre” Komponenten für die Rüstungsindustrie über den Umweg der ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan verdeckt nach Russland geliefert. Sie beträfen 45 Warenkategorien wie Mikrochips, Kommunikationsgeräte oder Zielfernrohre. Das Volumen dieses Handels ist sprunghaft angestiegen und hat westliche Besorgnis deutlich verstärkt.

    Washington erhöht Druck auf Türkei

    Washington hat daher den politischen Druck auf Ankara noch einmal erhöht, um die fortgesetzte Obstruktion der Nato-Politik durch türkische Firmen zu unterbinden. Der stellvertretende US-Außenminister James O’Brien warnte Ankara vor zwei Wochen öffentlich, die westlichen Staaten wollten nicht, “dass einer unserer wichtigsten Partner zu einem Ort wird, an dem unsere Sanktionen umgangen werden”. Das türkische Außenministerium konterte wachsweich, es werde alles getan, um Sanktionsumgehungen zu verhindern, doch gebe es leider solche “Versuche” durch “obskure Unternehmen”.

    Dazu erklärten Türkeiexperten auf einer internationalen Tagung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Nikosia im November, mit der Tolerierung des “Geisterhandels” sanktionierter Waren revanchiere sich Erdoğan auch für die massive Unterstützung Putins bei den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai. Damals habe sich Putin erstmals offen in Türkei-Wahlen eingemischt, indem er türkische Gas-Schulden in Höhe mehrerer hundert Millionen Dollar stundete und Erdoğan damit ermöglichte, seiner Wählerschaft kostenlose Gaslieferungen zu versprechen. Diese Intervention habe das ohnehin asymmetrische Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Autokraten zugunsten Putins weiter verstärkt.

    Erdoğan hat Türkeis Abhängigkeit von Russland vergrößert

    Der türkische Präsident hat ohnehin aus den Verwerfungen seit November 2015 seine Schlüsse gezogen, als die türkische Luftverteidigung ein russisches Flugzeug abschoss, das aus Syrien kommend in den türkischen Luftraum eingedrungen war. Russland verhängte Sanktionen gegen die Türkei; Erdoğan sah sich zu einer demütigenden Entschuldigung bei Putin gezwungen. Anschließend bestellte Ankara für zwei Milliarden Dollar russische S-400-Flugabwehrraketen und lässt Russland seit 2018 in der Südtürkei das Atomkraftwerk Akkuyu errichten, das die türkische Opposition als russische Basis mitten in der Türkei kritisiert.

    Russland gab seinerseits grünes Licht für militärische Operationen der Türkei im Norden Syriens und nahm den Bau der Pipeline TurkStream wieder auf, durch die seit Januar 2020 russisches Gas in die Türkei fließt. Die stark gewachsene energiepolitische Abhängigkeit der Türkei von Russland hat Putin enormes Erpressungspotential in die Hände gespielt. Derzeit plant Moskau die Errichtung eines Erdgasknotenpunktes in der Türkei, um offenkundig russisches Gas für den Export in die EU zu türkischem Gas weißzuwaschen.

    Der Handel mit Russland floriert

    Das Handelsvolumen zwischen Russland und der Türkei hat sich seit Beginn des Ukraine-Kriegs stark erhöht und wird in diesem Jahr voraussichtlich 65 Milliarden US-Dollar übersteigen. Im vergangenen Jahr war Russland erstmals der wichtigste Importpartner der Türkei mit Waren im Wert von 58,85 Milliarden Dollar, eine Verdreifachung gegenüber 2021.

    Trotzdem bleibt Erdoğan wegen seines Bestrebens nach “strategischer Autonomie” für Putin ein unberechenbares Risiko. Zumal der türkische Präsident Pragmatiker genug ist, um seine Nato-Partnerschaft nicht zu gefährden und Signale der Kulanz an den Westen zu senden, von dem die Türkei wegen ihrer gewaltigen finanziellen und wirtschaftlichen Probleme mehr denn je abhängt. So leitete er im November die Gesetzesvorlage zum schwedischen Nato-Beitritt endlich zur Ratifizierung ans Parlament in Ankara weiter. Trotzdem dürfte die Zustimmung dazu noch auf sich warten lassen. Erdoğan will für das Okay 40 F-16-Kampfjets und 40 Eurofighter von den Nato-Partnern haben.

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    Tusk will führende Rolle für Polen in der EU

    Donald Tusk will sein Land zurück in die europäische Familie führen und die Ukraine weiter im Krieg gegen Russland unterstützen. Das sagte der designierte Ministerpräsident Polens am Dienstag bei der Vorstellung seiner Regierungspläne am Dienstag im Abgeordnetenhaus Sejm. Polen werde ein starker Teil der Nato und ein starker Verbündeter der USA sein sowie eine Führungsposition in Europa erreichen, sagte Tusk. Wer Polens Platz in der EU infrage stelle, schädige die Interessen des Landes. Ein isoliertes Polen sei größten Risiken ausgesetzt.

    Der ehemalige EU-Ratspräsident und bisherige Oppositionsführer hatte am Montag vom Parlament den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten. Er soll am Mittwoch als neuer Ministerpräsident vereidigt werden. Das Parlament hatte mit 248 zu 201 Stimmen für den 66-Jährigen vom liberal-konservativen Wahlbündnis Bürgerkoalition (KO) als neuen Regierungschef eines Dreier-Bündnisses zusammen mit dem “Dritten Weg” und der “Neuen Linken” gestimmt.

    Tusk will noch in dieser Woche nach Brüssel

    Tusk kündigte an, noch in dieser Woche nach Brüssel zu fahren und letztlich “Milliarden von Euros zurückzuholen”. Diese Gelder sind derzeit blockiert wegen eines Streits zwischen der vorigen rechtskonservativen Regierung und Brüssel über Rechtsstaatlichkeit. Tusk war bereits von 2007 bis 2014 Ministerpräsident sowie von 2014 bis 2019 Präsident des Europäischen Rates.

    Mit dem Machtwechsel geht auch ein Kurswechsel einher, hin zu einer proeuropäischen Politik. Unter seiner Regierung werde Polen durch gute Zusammenarbeit die Position eines “Anführers innerhalb der EU” erreichen, sagte Tusk. “Wir sind umso stärker, umso souveräner, je stärker die Europäische Gemeinschaft ist.” Es sei auch ein Grund für den Sieg des proeuropäischen Dreierbündnisses bei der Parlamentswahl gewesen, dass viele Wähler in Polen sich gewünscht hätten, dass das Land in der EU eine entscheidende Rolle spiele.

    Er betonte, dass er gegen alle Änderungen der EU-Verträge vorgehen würde, die Polen benachteiligen würden. “Alle Versuche, Verträge zu ändern, die unseren Interessen zuwiderlaufen, kommen nicht infrage“, erklärte Tusk im Parlament. “Niemand wird mich in der Europäischen Union übertrumpfen.” Dies dürfte als klarer Appell an seine politischen Gegner der langjährigen Regierungspartei PiS gelten. Denn diese hatten ihm wiederholt vorgeworfen, europäischen Interessen über polnische zu stellen.

    Ebenfalls am Dienstag erklärte der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte, dass Polen gleichgeschlechtlichen Paaren das Recht auf Achtung des Privatlebens verwehrt habe. Die Nichtregierungsorganisation “Love Does Not Exclude Association”, die die Antragstellenden homosexuellen Paare vor Gericht unterstützt hatte, erklärte, das Gerichtsurteil übe “erheblichen Druck” auf die Regierung aus, gleichgeschlechtliche Partnerschaften einzuführen. dpa/rtr

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    Kommission macht Weg frei für zehn Milliarden Euro an Ungarn

    Die Kommission wird dem Vernehmen nach am Mittwoch den Weg frei machen für die Auszahlung von blockierten EU-Mitteln in Höhe von zehn Milliarden Euro an Ungarn. Die Gelder wurden blockiert, weil die ungarische Regierung gegen die Rechtsstaatlichkeit und andere EU-Werte verstoßen hat. Sobald am Mittwoch die Kommission den Beschluss fasst, können insgesamt zehn Milliarden Euro an Ungarn ausgezahlt werden. Ungarn hatte zuvor den Nachweis über die von der Kommission angemahnten Reformen für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz erbracht. Am Mittwoch läuft entsprechend eine Neun-Tages-Frist ab. Die Kommission sieht sich dann gezwungen, grünes Licht für die Auszahlung der Gelder zu geben. Andernfalls drohte eine Niederlage vor dem EuGH.

    Die Budapester Regierung kann damit Projekte in elf EU-Programmen starten und die Rechnungen in Brüssel einreichen. Im Nachgang fließt dann Zug um Zug das Geld an Ungarn. Zu den Programmen gehören der Sozialfonds ESF+, der Regionalfonds ERDF, der Fonds für einen gerechten Übergang JTF, der Kohäsionsfonds und weitere Programme.

    Die Regierung unter Viktor Orbán hat die von der Kommission in weiteren Bereichen angemahnten Reformen dagegen noch nicht erbracht. Hierbei geht es um die Unabhängigkeit der Universitäten, um den Schutz von Kindern sowie um Asylverfahren. Daher bleiben weiter EU-Mittel für Ungarn in Höhe von 21,2 Milliarden Euro blockiert. mgr

    CRMA: Parlament nimmt Ergebnis der Verhandlungen an

    Das Gesetz für eine sichere und nachhaltige Rohstoffversorgung in Europa, der Critical Raw Materials Act (CRMA), wird voraussichtlich im Januar in Kraft treten. Am Dienstagmittag hat das EU-Parlament in Straßburg das Ergebnis der Verhandlungen mit dem Rat und der Kommission formal angenommen. Auch der Rat muss noch zustimmen; dann wird die Verordnung im Amtsblatt der EU veröffentlicht und tritt 20 Tage später in Kraft. Laut Berichterstatterin Nicola Beer (Renew) könnte die EU-Kommission bereits im Sommer erste strategische Rohstoffprojekte auswählen.

    Das Gesetz schreibt den Mitgliedstaaten vor, Genehmigungsverfahren für Bergbau-, Verarbeitungs- und Recyclingprojekte in den zuständigen Behörden stärker zu bündeln und zu beschleunigen. Auch Projekte, in denen einer der knapp 30 kritischen Rohstoffe durch alternative Materialien ersetzt wird, können sich bei der EU-Kommission bewerben. Bis 2030 soll die Rohstoffversorgung anhand von Zielvorgaben für Bergbau, Verarbeitung, Recycling und die Reduzierung der Importabhängigkeit von einzelnen Drittstaaten gestärkt werden. leo

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    Ukraine-Beitritt: Europäer sind gespalten

    Wenige Tage vor einer möglichen Entscheidung über den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zeigen sich die Bürger aus mehreren europäischen Staaten zwiegespalten, was die EU-Mitgliedschaft des Landes angeht. In Deutschland gibt es eine leichte Mehrheit gegen den Beitritt (39 zu 37 Prozent), zeigt eine am Dienstag veröffentlichte Umfrage von YouGov und Datapraxis im Auftrag des European Council on Foreign Relations (ECFR).

    Befragt wurden Bürger aus insgesamt sechs EU-Staaten. Stärker als in Deutschland ist die Ablehnung eines Beitritts der Ukraine in Frankreich (35 zu 29 Prozent) und in Österreich (52 zu 28 Prozent). Deutliche Mehrheiten für einen Beitritt gibt es dagegen in Dänemark (50 Prozent) und in Polen (47 Prozent), dünner ist die Mehrheit für eine Erweiterung in Rumänien (32 zu 29 Prozent).

    Mehrheit gegen Türkei-Beitritt

    Eher ablehnend zeigt sich eine Mehrheit in den sechs Staaten auch zur Aufnahme der Westbalkanstaaten. Noch am positivsten ist die Stimmung gegenüber Bosnien-Herzegowina, die stärkste Ablehnung zeigte sich gegenüber dem Kosovo. Die Aufnahme der Türkei lehnen sogar 51 Prozent der Befragten ab.

    Am Donnerstag und Freitag werden sich die Staats- und Regierungschefs beim Europäischen Rat mit der EU-Erweiterung beschäftigen. Das ECFR rief sie dazu auf, für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine und Moldova zu stimmen. Zusammen mit institutionellen Reformen würde dies dazu beitragen, die Skepsis der Bürger gegenüber der Erweiterungsfähigkeit der EU zu zerstreuen und deutlich zu machen, warum die Erweiterung “für die Zukunft Europas unerlässlich” ist, sagten die Policy Fellows Piotr Buras and Engjellushe Morina. ber

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    EU will Umgehung von Sanktionen schärfer bestrafen

    Wer Sanktionen umgeht, soll in der EU künftig härter bestraft werden. Unterhändler von Europaparlament und EU-Staaten einigten sich am Dienstag in Brüssel darauf, dass bestimmte Handlungen als Straftaten definiert werden müssen. Dazu zählt etwa der Handel mit sanktionierten Waren in ein betroffenes Land oder wenn man sanktionierten Personen dabei hilft, das Reiseverbot in die EU zu umgehen.

    Außerdem soll bestraft werden, wer verbotene Finanzdienstleistungen bereitstellt oder verschleiert, dass Vermögen einer sanktionierten Person gehört. Auch die Anstiftung und Beihilfe dazu soll geahndet werden. Unternehmen sollen unter bestimmten Umständen für solche Taten ebenfalls zur Verantwortung gezogen werden können. Das Europaparlament und die EU-Staaten müssen dem Vorhaben noch zustimmen.

    Diese geplanten Regelungen hätten besondere Bedeutung im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, hieß es. Die EU-Staaten bereiten derzeit ein neues Sanktionspaket gegen Russland vor. dpa

    • China-Sanktionen
    • Russland

    Insider: Apple öffnet auf Druck der EU Bezahlsystem für Rivalen

    Auf Druck der EU öffnet Apple Insidern zufolge sein Handybezahlsystem künftig konkurrierenden Zahlungsabwicklern. Damit wolle der US-Konzern einen Kartellstreit beilegen und eine drohende milliardenschwere Strafe vermeiden, sagten mehrere mit der Angelegenheit vertraute Personen am Dienstag der Nachrichtenagentur Reuters. Die europäischen Kartellwächter werfen dem iPhone-Anbieter vor, den Wettbewerb zu behindern, weil er den Zugang zu seiner Technologie für kontaktloses Bezahlen mit dem Mobiltelefon beschränke.

    Zahlungsabwickler haben wiederholt technologischen Zugang zum NFC-Chip von Apple Pay gefordert. Für Bezahlvorgänge müssen Smartphones oder Bankkarten mit diesen Chips nur kurz an entsprechende Terminals gehalten werden.

    Die EU werde nun Stellungnahmen von Konkurrenten und Kunden einholen, sagten die Insider weiter. Von den Antworten hänge ab, ob sie das Zugeständnis von Apple als ausreichend akzeptieren. Die europäische Wettbewerbsaufsicht wollte sich zu diesem Thema nicht äußern. Apple war für einen Kommentar zunächst nicht zu erreichen. Bei Verstößen gegen EU-Kartellgesetze drohen Firmen Strafen von bis zu zehn Prozent des weltweiten jährlichen Umsatzes. rtr

    • Apple
    • Chips
    • Digitalisierung
    • Kartellrecht

    Presseschau

    Vor dem EU-Gipfel: Mögliches Spitzentreffen der Misserfolge DEUTSCHLANDFUNK
    Tusk: Polen soll Anführer in der EU werden BADISCHE ZEITUNG
    Einigung in Brüssel: EU will Umgehung von Sanktionen schärfer bestrafen BLICK
    EU erwägt Sanktionen gegen gewalttätige israelische Siedler DW
    Proteste im Iran: EU-Parlament ehrt Mahsa Amini posthum mit Sacharow-Preis ZEIT
    Trotz Widerstand: EU-Staaten wollen Gesetz zu Pestiziden vorantreiben EURACTIV
    EU legt Plan für eingefrorenes russisches Staatsvermögen vor HANDELSBLATT
    EU bekräftigt Forderung nach “sofortiger” Freilassung von Kreml-Kritiker Nawalny STERN
    Studie der Bertelsmann-Stiftung: Antisemitismus in Deutschland und Europa breitet sich aus – “vor allem unter Muslimen” DEUTSCHLANDFUNK
    Medienfreiheitsgesetz in der EU: Die Freiheit, Journalisten auszuhorchen ZEIT
    Trotz Haushaltsstreit: Deutschland würde für höhere EU-Ukraine-Hilfe mehr zahlen TAGESSPIEGEL
    Bis zu 17 Prozent des EU-Haushalts – Studie berechnet Folgen des Ukraine-Beitritts WELT
    Zehn Milliarden Euro für Budapest: Die EU-Kommission knickt vor Orban ein NZZ
    “Mit Lügen gespickt”: Brüssel schimpft über Ungarns Anti-EU-Kampagne EURONEWS
    Bürgerrechtlerin Veronika Tsepkalo: “Europa hat Belarus aufgegeben” DIE PRESSE
    Britisches Parlament stimmt für Gesetz zu Ruanda-Abschiebungen DER STANDARD
    Abkommen mit Tunesien, Niger, Albanien: Warum die EU-Flüchtlingsdeals nicht funktionieren TAGESSPIEGEL
    Österreich plant “Schengen light” für Rumänien und Bulgarien WELT
    Steigende Raten sexuell übertragbarer Infektionen in Europa AERZTEBLATT
    Nachfrageschwäche in Europa belastet Exportbedingungen Deutschlands BOERSEN-ZEITUNG
    EU will Einsatz von Bargeld einschränken – und hat eine Zahlungs-Obergrenze von 10.000 Euro im Visier MERKUR
    EU-Vergleich: Deutsche produzieren besonders viel Verpackungsmüll SPIEGEL
    EU-Kommission will Rechenzentren zu einem effizienteren Energieverbrauch verpflichten ENERGATE-MESSENGER
    EU-Parlament fordert Gesetze gegen Suchtfaktoren sozialer Netzwerke STUTTGARTER NACHRICHTEN
    Twitter-Alternative Threads startet in Europa FAZ
    Honig, Marmelade und Saft: Das Ursprungsland soll aufs Etikett FAZ
    Differenzen mit der EU drohen für die SBB in Deutschland Folgen zu haben NZZ
    Apple öffnet auf Druck der EU offenbar Bezahlsystem für Rivalen DER STANDARD
    Italiens Regierung von neuer Messung überrascht: Küste plötzlich tausende Kilometer länger FR

    Standpunkt

    Basismodell-Regulierung im AI Act: Richtiger Schritt, aber mit Lücken

    Von Philip Fox
    Philip Fox ist Analyst beim Thinktank Kira – Zentrum für KI-Risiken & -Auswirkungen in Berlin.

    Ein 36-stündiger Verhandlungsmarathon zum europäischen AI Act endete am Freitag mit einer vorläufigen Einigung: Statt einer bloßen Selbstverpflichtung sollen die Entwickler von KI-Basismodellen wie GPT-4 oder Gemini verbindlichen Regeln unterliegen. Dazu zählen unter anderem Transparenz- und Dokumentationspflichten sowie – im Fall von Modellen mit sogenannten systemischen Risiken – zusätzliche Maßnahmen wie verpflichtende Evaluationen oder erhöhte Cybersicherheit.

    Die Verhandler hatten darüber bis zuletzt gerungen. Insbesondere Deutschland, Frankreich und Italien waren in Sorge, dass eine verbindliche Basismodell-Regulierung eine Gefahr für den europäischen Wirtschaftsstandort sein würde. Die vorläufige Einigung hat nun das Potenzial, ökonomische und sicherheitspolitische Überlegungen miteinander in Einklang zu bringen. Sie sieht einen zweistufigen Ansatz vor, Tiered Approach genannt: Für größere und damit leistungsfähigere Basismodelle würden strengere Regeln gelten als für kleinere.

    Als Unterscheidungskriterium ist die Rechenleistung vorgesehen, mit der ein Modell trainiert wurde, gemessen in sogenannten Flop (floating point operations). Weil die Grenze bei 1025 Flop verlaufen soll, und höchstens einige wenige US-amerikanische Modelle wie GPT-4 darüber liegen, wären europäische Basismodell-Entwickler wie das deutsche Aleph Alpha oder das französische Mistral von den strengeren Regeln befreit. Die vorläufige Einigung sieht vor, diese Grenze in der Zukunft flexibel an Fortschritte in der KI-Entwicklung anzupassen und, wenn nötig, um qualitative, von Fachleuten empfohlene Kriterien zu erweitern.

    Zweistufiger Ansatz fördert Innovation – wenn er richtig gemacht ist

    Abgesehen davon könnten von einer sinnvoll ausgestalteten und in die Praxis überführten Einigung vor allem europäische KI-Start-ups profitieren, deren Anwendungen auf Basismodellen aufbauen. Blieben Basismodelle unreguliert, wären diese Firmen womöglich übermäßig hohen Compliance-Kosten und Haftungsrisiken für Anwendungen in sogenannten Hochrisiko-Bereichen wie Bildung oder Verkehr ausgesetzt. Gemäß der vorläufigen Einigung würden stattdessen die großen, fast ausschließlich US-amerikanischen Tech-Konzerne in die Pflicht genommen – denen man den zusätzlichen Compliance-Aufwand durchaus zutrauen darf.

    Aktuell steht die Einigung über den Tiered Approachunter Vorbehalt; diverse Details müssen noch ausgehandelt und der AI Act formal beschlossen werden. Eine verbindliche Basismodell-Regulierung, die durch die aktuelle Einigung in greifbare Nähe rückt, wäre jenseits wirtschaftlicher Überlegungen auch aus einer Sicherheitsperspektive dringend notwendig. Schon heute gehen von KI-Modellen akute Gefahren aus, wie diskriminierende Inhalte oder Deepfakes, die den öffentlichen Diskurs beeinflussen. Gleichzeitig ist der Fortschritt in Sachen KI rasant und Fachleute warnen davor, dass Modelle schon bald in der Lage sein könnten, ausgeklügelte Cyberangriffe durchzuführen oder Biowaffen zu synthetisieren. Diese Risiken ergeben sich aus den Basismodellen selbst, und nicht etwa erst aus den Anwendungen, die aus ihnen entstehen. Deshalb sind es allein die Entwickler der Basismodelle, die diese Risiken effektiv und umfassend begrenzen können.

    Vergleichsweise laxe Regeln für weniger große Modelle

    Die nun vorgesehenen Sicherheitsmaßnahmen sind ein wichtiger Schritt in Richtung sicherer und vertrauenswürdiger KI. Ob sie weit genug gehen, ist jedoch fraglich. Das betrifft vor allem den Grenzwert von 1025 Flop: Auch Modelle wie GPT-3.5, die nur mit 1024 Flop trainiert wurden, können jetzt schon bei Cyberangriffen und der Verbreitung von Desinformation assistieren, wie auch der Rechtswissenschaftler Philipp Hacker in einer Stellungnahme schreibt. Für diese Modelle gelten in der aktuellen Fassung vergleichsweise laxe Regeln. 

    Diese bleiben weit hinter grundlegenden Sicherheitsvorschriften zurück, die in anderen Bereichen riskanter Technologie gang und gäbe sind. Wer mehrere Millionen Euro in das Training eines Modells mit 1024 Flop investieren kann, sollte auch die entsprechenden Compliance-Kosten aufbringen können. Eine Ausweitung dieser Common-Sense-Regeln auf einige weitere Basismodelle würde immer noch vor allem US-Anbieter treffen und den europäischen Forschungsstandort nicht in Gefahr bringen. Zumal die Entwicklung von Basismodellen nicht mit Grundlagenforschung zu verwechseln ist, die von den genannten Regeln ohnehin nicht betroffen ist.

    Auch externe Evaluationen erforderlich

    Gleichzeitig gibt es auch bei den Regeln für Modelle mit systemischen Risiken die eine oder andere Lücke. Zum Beispiel ist es zu begrüßen, dass diese Modelle im Rahmen eines internen Red Teaming auf Schwachstellen geprüft werden müssen. Darüber hinaus braucht es aber auch externe Evaluationen durch unabhängige Audit-Organisationen.

    Verbindliche Regeln für Basismodelle sind daher sowohl im Interesse des europäischen KI-Standorts als auch der Sicherheit der europäischen Bevölkerung. Mit dem Tiered-Approach wäre eine gute Ausgangslage geschaffen, um beiden Dimensionen gerecht zu werden. Diesen gilt es jetzt nachzujustieren und anschließend zu formalisieren. Nur so erreicht die weltweit erste umfassende KI-Gesetzgebung jenen wegweisenden Charakter, der einst für sie vorgesehen war.

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