Table.Briefing: Europe

Was aus dem Draghi-Report folgt + Tschechiens Vorschläge zum Binnenmarkt + Faesers Grenzkontrollen

Liebe Leserin, lieber Leser,

Ursula von der Leyen hält ihre Karten für ihre neue Kommission bis zum Schluss verdeckt. Wer von den Nominierten welches Portfolio bekommt, welcher Mann womöglich noch gegen eine Frau ausgetauscht wird? Im Europaparlament und in der Kommission selbst herrscht Rätselraten. Auch einen Tag, bevor die Kommissionspräsidentin ihre Liste den Fraktionschefs vorstellen will. Immerhin: Tschechiens Europaminister Martin Dvořák weiß offensichtlich, welches Portfolio Jozef Síkela bekommen soll, der von der Prager Regierung nominiert wurde. Er werde ein wirtschaftliches Portfolio bekommen, mit Schwerpunkt auf Handel.

Ob der nächste Handelskommissar aus Tschechien kommt? Es kursiert zudem die Spekulation, dass die Sozialdemokraten zwar zwei gewichtige Dossiers bekommen. Aber nicht so, wie von ihnen erwartet: Teresa Ribera könnte demnach für Wettbewerb zuständig werden und nicht für Klima, worauf die spanische Klimaministerin gesetzt hatte. Dafür könnte der Däne Dan Jørgensen das Umwelt- und Klimaressort besetzen.

Darüber dürften auch die 77 Abgeordneten der Renew-Fraktion spekulieren, die sich heute und morgen nach Ostende für ihre Studientage, so etwas wie eine Fraktionsklausur, zurückziehen. Die Fraktion will eine Erklärung verabschieden, in der sie ihre politischen Prioritäten für das neue Mandat benennt. Auch die Erwartungen der Liberalen an die künftigen Kommissare werden zu Wort kommen. Einen Tag müssen sich alle noch gedulden, dann legt Ursula von der Leyen ihre Karten auf den Tisch. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag!

Ihr
Markus Grabitz
Bild von Markus  Grabitz

Analyse

Wie Mario Draghi die EU wieder wettbewerbsfähig machen will

Mario Draghi will “radikale Veränderung”.

Mario Draghi wurde deutlich: Damit Europa wirtschaftlich nicht weiter zurückfalle, brauche es einen “radikalen Wandel” – und zwar “dringend und konkret”. Ansonsten drohe der EU ein “langsamer Niedergang”. So sei das Realeinkommen pro Kopf in den USA seit 2000 beinahe doppelt so schnell gestiegen wie in Europa.

Als Antwort auf die Malaise schlägt der frühere EZB-Präsident in seinem Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit eine neue Industriestrategie vor. Der Kern: das Produktivitätswachstum zu beschleunigen. Die Arbeitsproduktivität in der EU sei von 95 Prozent des US-Niveaus im Jahr 1995 auf weniger als 80 Prozent abgesackt. Das Problem seien weniger die Lohnkosten als die fehlende Innovationskraft: Vor allem bei der Entwicklung und Nutzung von digitalen Technologien hätten US-Unternehmen ihre europäischen Rivalen abgehängt – und der Rückstand drohe zu wachsen. Denn Europa stecke in einer “Middle technology trap”.

Das sind die wichtigsten Bausteine seiner Gegenstrategie:

  • Draghis Top-Priorität ist, die Hürden für bahnbrechende Innovationen zu beseitigen
  • Die Dekarbonisierung soll Innovationen und Wachstum treiben
  • Fokus auf STEM in Bildungspolitik
  • Selektive Lockerung und schnellere Verfahren in der Wettbewerbspolitik
  • Präferenzielle Handelsabkommen und Investitionen in Drittstaaten sollen Lieferketten sichern

Europas Innovationsproblem

Draghi warnt: Angesichts der alternden Bevölkerung drohe der EU jahrzehntelange Stagnation, wenn es ihr nicht gelinge, das Produktivitätswachstum wieder zu steigern. Die Hauptursache für die schwache Position Europas bei den digitalen Technologien sei, so der Bericht, “eine statische Industriestruktur, die einen Teufelskreis aus niedrigen Investitionen und geringer Innovation” hervorbringe. In den USA dominierten längst Techunternehmen die Ranglisten der größten die F&E-Budgets, in Europa sei es noch immer die Autoindustrie.

Die Hindernisse für innovative Unternehmen sind hinlänglich bekannt: zu wenig Spitzenforschung, zu wenig Kommerzialisierung der Ergebnisse, zu wenig Wagniskapital für Start-ups insbesondere in der Wachstumsphase, regulatorische Hürden im Binnenmarkt, zu geringe und ineffektive öffentliche Forschungsförderung und zu wenig Fokus auf bahnbrechende Innovationen.  

Um diese Mängel zu adressieren, schlägt Draghi eine ganze Reihe von Maßnahmen vor:

  • Bessere Förderung von Spitzentechnologien: Das EU-Rahmenprogramm soll in der nächsten Finanzperiode ab 2028 auf 200 Milliarden Euro verdoppelt werden und zugleich stärker auf disruptive Technologien ausgerichtet werden. Dafür soll der Europäische Innovationsrat zu einer Forschungsagentur nach dem US-Vorbild Darpa aufgewertet werden.
  • Bessere Koordinierung: Die EU-Staaten sollen in einer “Forschungs- und Innovationsunion” eine gemeinsame F&I-Strategie und -Politik entwickeln.
  • Mehr Spitzenforschung: Der Europäische Forschungsrat soll die Förderung der Grundlagenforschung verdoppeln und Spitzenforscher mit der Anstellung als EU-Beamte gelockt werden.
  • Einheitliche Regeln: Vielversprechende Start-ups sollen einen eigenen Rechtsstatus als “Innovative Europäische Unternehmen” bekommen können. Für sie soll statt 27 nationaler Regelwerke ein einheitliches 28. Regime etwa im Unternehmens- und Insolvenzrecht sowie bei bestimmten steuerlichen und arbeitsrechtlichen Aspekten gelten. Zudem sollen die Solvency-II-Regeln für Versicherungen überprüft werden, um in bestimmten Sektoren Investitionen in innovative Start-ups zu erleichtern.  
  • Zugang zu Rechenleistung: Um KI-Unternehmen das Training ihrer Modelle zu erleichtern, soll die EU-Kommission den Zugang zu den EU-Supercomputern weiter öffnen.

Fachkräfte: Mehr MINT und mehr Weiterbildung

Um den Fachkräftemangel zu beheben, der Europas Wirtschaft bedroht, soll der Bildungssektor neu ausgerichtet werden. Das Universitätsstudium etwa soll sich stärker an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts orientieren. Dazu will Draghi an die Curricula ran. Diese sollten ihren Fokus legen auf MINT-Kompetenzen, die wie Digitales auch in anderen Fachbereichen integriert werden sollen. Gerade bei den mathematisch-naturwissenschaftlichen Qualifikationen hinke die EU den USA derzeit hinterher. Nötig seien etwa gezielte Förderprogramme für Kinder aus armen Haushalten sowie Stipendien für Nicht-EU-Bürger, um sie nach Europa zu holen.

Dazu sollen Fähigkeiten für die Green Transition sowie Querschnittskompetenzen gefördert werden. Mit Letzterem sind etwa Teamarbeit, Kreativität, Anpassungsfähigkeit, Belastbarkeit und emotionale Intelligenz gemeint. Auch Unternehmertum solle fester Bestandteil der Lehrpläne werden. Die Finanzierung der Universitäten möchte Draghi so anpassen, dass innovative, transdisziplinäre Ansätze gefördert werden. Auch Ausbildungen sollen europaweit gestärkt werden, sowohl qualitativ als auch quantitativ.

Der ESF+, das zentrale Förderprogramm der Union für Beschäftigung und soziale Inklusion, soll deutlich umgestaltet werden. Die Förderung solle sich auf Bereiche konzentrieren, in denen der Effekt am größten ist. Dazu gehören laut Draghi saubere Technologien, digitale und fortschrittliche Technologien sowie die Automobilindustrie. Zudem sollten die Programme strikt evaluiert werden, um ihren Nutzen und ihre Wirksamkeit abschätzen zu können und um erfolgreiche Programme schnell auf andere Länder zu übertragen.

Wettbewerb soll Innovation stärker berücksichtigen

Draghis Vorschläge zur Wettbewerbsaufsicht waren mit besonderer Spannung erwartet worden. Doch der frühere italienische Ministerpräsident forderte keine weitreichende Reform der Fusionskontrollverordnung, um mehr nationale Champions zu ermöglichen. Vielmehr plädiert er für selektive Lockerung, schnellere Verfahren – und sogar für ein neues Instrument der Marktaufsicht.

Mehr Größe zulassen will Draghi namentlich im Telekomsektor: Hier spricht er sich dafür aus, Fusionen zu erleichtern, um höhere Investitionen in die Breitbandinfrastruktur zu ermöglichen. Dafür soll die Generaldirektion Wettbewerb der EU-Kommission die Märkte auf EU-Ebene statt auf Ebene der Mitgliedstaaten definieren und stärker mögliche positive Effekte auf Innovationen und Investitionen mit negativen Folgen für die Konsumenten abwägen. Bislang hat die Kommission Zusammenschlüsse untersagt, wenn dadurch weniger als vier Anbieter auf einem Markt übrigblieben.

Innovation im Fokus: Draghi plädiert generell dafür, bei der Prüfung von Firmenzusammenschlüssen stärker die zu erwartenden Innovationseffekte zu berücksichtigen. In Sektoren wie Verteidigung, Energie oder Raumfahrt soll die Kommission auch die Auswirkungen etwa einer Fusion auf Sicherheit und Resilienz berücksichtigen.

Überraschenderweise greift Draghi eine einst beerdigte Idee der EU-Kommission für ein “New Competition Tool” auf, die ein schnelleres Eingreifen erlauben soll. So soll die Kommission mithilfe des neuen Instruments strukturelle Wettbewerbshemmnisse in einzelnen Märkten untersuchen können und dann gemeinsam mit den Firmen angehen. Beschränkt werden soll der Einsatz des NCT auf bestimmte Fälle, etwa bei Abhängigkeit von einem oder wenigen Rohstofflieferanten. Der zuständige Wirtschaftsstaatssekretär Sven Giegold begrüßt das ausdrücklich.

Eine europäisierte Industriepolitik

Draghi will eine Europäisierung der Industriepolitik. Er schlägt vor, die aktuellen Ausnahmen der staatlichen Beihilferegelungen zu beenden, da sie den Binnenmarkt verzerren würden. “Staatliche Beihilfen sollten für gemeinsame Ziele eingesetzt werden”, sagte Draghi in der Pressekonferenz. Deshalb sollen Important Projects of Common European Interest (IPCEI) gestärkt werden. Laut Draghi sollen die Genehmigungsverfahren für IPCEI gestrafft und auf ein weiteres Gebiet von innovativen Technologien ausgeweitet werden.

Eine Chance für die europäische Industriepolitik sieht Draghi in der Dekarbonisierung. Durch sie könne die EU sowohl “die Führungsrolle in neuen, sauberen Technologien und bei Lösungen für die Kreislaufwirtschaft übernehmen”, schreibt er. “Aber damit Europa diese Chance nutzen kann, müssen alle politischen Maßnahmen mit den Dekarbonisierungszielen der EU synchronisiert sein.”

Für jeden Sektor brauche es einen anderen Policy-Mix, meinte Draghi, aber er unterscheidet zwischen vier verschiedenen Strategien:

  1. In Sektoren, in denen der europäische Kosten-Nachteil zu groß ist, um ein seriöser Wettbewerber zu sein, ergibt es Sinn, die Technologie weiterhin zu importieren.
  2. In Sektoren, in denen es der EU wichtig ist, dass in Europa produziert wird, die Herkunft der Technologie aber nicht sehr wichtig ist, soll die EU ausländische Investitionen in der EU fördern und gleichzeitig Handelsverteidigungsinstrumente einsetzen, um subventionierte Importe abzuwehren.
  3. In Sektoren, in denen es der EU wichtig ist, dass europäische Firmen Knowhow und Produktionskapazitäten behalten, sollte die EU die Attraktivität von Investitionen erhöhen, zum Beispiel, indem sie auf “local content requirements” setzt.
  4. In “infant industry”-Sektoren, in denen man großes Wachstumspotenzial sieht, könne die EU eine Reihe von handelsverzerrenden Maßnahmen in Kauf nehmen, bis der Sektor genügend etabliert sei. 

Handelspolitik soll Produktivität und Resilienz sichern

Auch die Handelspolitik soll laut Draghi im Dienst des europäischen Produktivitätswachstums stehen. Sie müsse deshalb gut mit den industrie- und finanzpolitischen Initiativen der EU koordiniert sein. Draghi nennt die Multi-Policy-Strategien der USA und China als Vorbild für das teilweise in der EU herrschende Silo-Denken.

Die Handelspolitik muss laut Draghi-Bericht primär auf unfaire Handelspraktiken im Ausland reagieren und essenzielle europäische Lieferketten absichern. Ersteres deutet auf eine intensivere Nutzung von Handelsverteidigungsinstrumenten wie zum Beispiel der Verordnung über Drittstaatssubventionen. Zudem fordert Draghi eine bessere Koordination beim FDI-Screening.

Das Ziel der Lieferkettenabsicherung will Draghi durch gezieltere Handelsabkommen erreichen. Sie sollen den europäischen Zugang zu kritischen Rohstoffen und anderen essenziellen Produkten gewährleisten. Das geht in dieselbe Richtung, die auch die Kommissionspräsidentin schon in ihren politischen Leitlinien ausformuliert hatte. Präferenzielle, auf einige Sektoren beschränkte Handelsabkommen widersprechen WTO-Regeln. Aber Draghi sieht die multilaterale Handelsordnung ohnehin in einer “tiefen Krise” und die EU müsse sich an die neue Realität anpassen.

“Die EU wird eine echte “Außenwirtschaftspolitik” entwickeln müssen, die präferenzielle Handelsabkommen und Direktinvestitionen mit ressourcenreichen Ländern, den Aufbau von Vorräten in ausgewählten kritischen Bereichen und die Schaffung von Industriepartnerschaften zur Sicherung der Lieferkette für Schlüsseltechnologien koordiniert”, schreibt Draghi. Mit Alexandra Endres und Alina Leimbach

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Draghi-Bericht: Der schwierige Weg zur Umsetzung

Die ersten Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten: Mario Draghi hatte seine Pressekonferenz am Mittag kaum beendet, da meldete sich bereits Bundesfinanzminister Christian Lindner zu Wort: “Mit einer gemeinsamen Schuldenaufnahme durch die EU lösen wir die strukturellen Probleme nicht”, erklärte der FDP-Chef. Deutschland werde dem nicht zustimmen.

Dabei hatte Draghi das sensible Thema weitgehend ausgeklammert: Nur vier der insgesamt rund 400 Seiten seines Berichts widmete er dem Thema Finanzierung. Der frühere italienische Ministerpräsident wusste natürlich, welche ablehnenden Reflexe Forderungen nach gemeinsamer Schuldenaufnahme in einigen Mitgliedsstaaten auslösen.

750 bis 800 Milliarden Euro Zusatzinvestitionen pro Jahr

Aber ignorieren kann er das Thema nicht. Zwischen 750 und 800 Milliarden Euro an jährlichen Zusatzinvestitionen sind laut Mario Draghi nötig, um die grüne und digitale Transformation zu meistern und gleichzeitig die Verteidigungskapazitäten zu erhöhen. Die Zahl setzt sich aus folgenden Budgetposten zusammen: 

  • Transformation des Energiesystems: 300 Milliarden Euro
  • Transformation des Transportsystems: 150 Milliarden Euro
  • Förderung digitaler Technologien: 150 Milliarden Euro
  • Stärkung der Verteidigungskapazitäten: 50 Milliarden Euro
  • Produktivitätssteigerungen durch Spitzeninnovationen: 100 bis 150 Milliarden Euro

Draghi gibt zu, dass diese Zusatzinvestitionen “massiv” sind – sie entsprechen 4,4 bis 4,7 Prozent des europäischen BIPs. Einwände, wonach ein solcher Investitionsschock inflationstreibend sei, lässt er aber nur teilweise gelten. Zu Beginn sei mit einem Inflationsanstieg zu rechnen, aber die positiven Auswirkungen der Innovationen auf Energiepreise und Produktivität sollten die Preise mittelfristig wieder beruhigen. 

Zu hohe Kapitalkosten: Privates Geld reicht nicht aus

Zudem betont Draghi, dass ein Teil der Zusatzinvestition aus der öffentlichen Kasse kommen müsse. “Selbst wenn die Kapitalmärkte stärker integriert werden, ist es unwahrscheinlich, dass eine verbesserte Marktfinanzierung Investitionen in der angestrebten Höhe freisetzt”, schreibt Draghi. Damit Privatinvestitionen dementsprechend freigesetzt würden, bräuchte es laut Kommissionsstudie um circa 250 Basispunkte tiefere Kapitalkosten. Obwohl Draghi die Integration der Kapitalmärkte befürwortet, so sagt er, dass die dadurch ausgelöste Reduktion der Kapitalkosten “substanziell kleiner” ist als die benötigten 250 Basispunkte. 

Mehr öffentliche Investitionen sind in Draghis Logik also unumgänglich. “Gemeinsame Finanzierung wird benötigt”, sagte Draghi an der Pressekonferenz. Und wenn gemeinsame Finanzierung benötigt wird, dann müsse man ein gemeinsames ,Safe Asset’ herausgeben. Dies sei auch hilfreich, um die Kapitalmarktunion voranzutreiben. Draghi betonte, dass er diese EU-Schulden als Instrument statt als Ziel der EU-Politik verstehe. Die politische Sensibilität dieses Themas stellt aber ein großes Fragezeichen hinter die Umsetzung von Draghis Investitionsvorschlägen.

Insgesamt positives Echo

Trotz der kontroversen Vorschläge zur Finanzierung: Insgesamt stieß Draghis Bericht in der deutschen Industrie auf ein positives Echo. “Der Bericht von Mario Draghi bringt es auf den Punkt”, kommentierte BDI-Hauptgeschäftsführerin Tanja Gönner. Nötig sei eine tiefere Integration des Binnenmarkts unter anderem in der Verteidigung, der Infrastruktur, der Telekommunikation und der Pharmazie. Die EU brauche in der neuen Legislatur einen genauso großen Aufschlag wie zuvor in der Klimapolitik.

Auch der European Roundtable of Industry (ERT) äußert sich positiv. Der Vorsitzende Jean-François van Boxmeer sagte, es sei nun an den Mitgliedstaaten, die Vorschläge des Berichts umzusetzen. “Wir fordern sie auf, in großen Dimensionen zu denken – über ihre nationalen Grenzen hinaus – und dabei die künftige Stellung Europas in der Welt zu berücksichtigen”, sagte der Vodafone-Verwaltungsratsvorsitzende in einer Pressemitteilung.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) nannte den Bericht einen “Weckruf an Europa”. Draghi habe recht, die EU brauche massive Investitionen, umfassende Reformen und eine Stärkung der Resilienz. Es gelte, jetzt nicht einfach zur Tagesordnung überzugehen, mahnte Habeck: Der Bericht sei eine Handlungsaufforderung an die neue Kommission und die EU insgesamt. “Ich sage gern meine Unterstützung zu”, erklärte er.

Welcher Rat soll sich kümmern?

Die einmal mehr widersprüchlichen Reaktionen aus Berlin demonstrieren, wie weit der Weg zur Umsetzung der Vorschläge Draghis ist. Zwar gibt es, wie Ursula von der Leyen bemerkte, in den EU-Institutionen “einen breiten Konsens”, dass die Wettbewerbsfähigkeit ganz oben auf die Agenda gehört. Draghis “Plan für Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit” decke sich weitgehend mit ihrem eigenen Vorhaben, einen Clean Industrial Deal vorzuschlagen. Dessen Vorschläge zu den Fähigkeiten oder zur Innovationspolitik würden Eingang finden in die Mission Letters der neuen Kommissare.

Auf die Kommission dürfte es entscheidend ankommen, um die vielen weitreichenden Vorschläge Draghis voranzutreiben. Denn der Rat tut sich schwer, ein solches Paket zu verarbeiten. Zwar gibt es mit dem Wettbewerbsfähigkeitsrat eine dem Namen nach passende Ratsformation. Doch der COMPET sei zu schwach, wendet ein EU-Diplomat ein, dort säßen üblicherweise nur Staatssekretäre. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs wiederum kann Gesetzesvorhaben mangels legislativer Kompetenz nicht selbst vorantreiben, zudem beeinträchtigt das Einstimmigkeitsprinzip dessen Handlungsfähigkeit.

Idealerweise würden nun Deutschland und Frankreich die Führung übernehmen und die Debatte anstoßen und weiterführen, sagt Lucas Guttenberg, Senior Advisor bei der Bertelsmann Stiftung. “Das sehe ich auch noch nicht, aber es wäre die Mühe wert.”

Draghi fordert neues Koordinierungsgremium

Draghi bemängelt in seinem Bericht selbst die unzureichenden Governance-Strukturen der EU auf dem Gebiet. Das Hauptinstrument, das Europäische Semester, erlaube keine Koordinierung der Wirtschaftspolitiken. Er schlägt vor, das Europäische Semester auf die Umsetzung der Fiskalregeln zu beschränken und ein neues Competitiveness Coordination Framework zu schaffen. In diesem Rahmen sollten von den Staats- und Regierungschefs identifizierte Prioritäten für die europäische Wettbewerbsfähigkeit umgesetzt werden. Je nach Aufgabengebiet solle ein passendes Vorgehen gewählt und in einem Aktionsplan festgehalten werden.

Ob sich die Mitgliedstaaten darauf einlassen, bleibt abzuwarten. Fredrik Persson, Präsident von Business Europe, gibt sich jedenfalls zuversichtlich: “Der Bericht wird zweifellos eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung künftiger EU-Strategien und -Politiken spielen.”

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  • Europäischer Rat
  • Industriepolitik
  • Mario Draghi
  • Wettbewerbsfähigkeit
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Termine

11.09.-12.09.2024, online
HBS, Workshop Scenarios for the Future of Work – Update 2040
Die Hans-Böckler-Stiftung (HBS) diskutiert vier alternative Szenarien für den israelischen und globalen Arbeitsmarkt im Jahr 2040. INFOS & REGISTRATION

11.09.2024 – 10:00-11:00 Uhr, online
TÜV, Seminar Wirtschaftliche Bewertung von Investitionen in Energieeffizienzmaßnahmen
Der TÜV stellt die Wirtschaftlichkeitsbewertung nach DIN EN 17463 vor. INFOS & ANMELDUNG

11.09.2024 – 15:30-20:00 Uhr, Brüssel (Belgien)
FZE, Conference Innovate & Connect – Bridging Politics and Industry
The Forum für Zukunftsenergien (FZE) presents several elevator pitches in the energy sector. INFOS & REGISTRATION

12.09.2024 – 19:00-20:00 Uhr, online
FNF, Vortrag Wirtschaft verstehen – Macht ChatGPT uns arbeitslos?
Die Friedrich-Naumann-Stiftung (FNF) beleuchtet die Rolle von Gen AI für die Wirtschaft und deren Auswirkungen. INFOS & ANMELDUNG

News

Draghi über die EU-Digitalpolitik: “Wir töten unsere kleinen Unternehmen”

Der Draghi-Report stellt der EU in den Bereichen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz ein schlechtes Zeugnis aus. In der Pressekonferenz sagte Mario Draghi auf die Frage, wo die Investitionen in diese Bereiche denn herkommen sollen, es mangele der EU an Fokus. “Wir verkünden, dass die Innovation im Mittelpunkt unseres Handelns steht, und dann tun wir im Grunde alles, was wir können, um sie auf einem niedrigen Niveau zu halten.”

Draghi nennt mehrere Kritikpunkte:

  • Die regelmäßige Regulierungspolitik der EU gegenüber Technologieunternehmen hemme die Innovation. “Die EU hat fast 100 Gesetze, die sich auf den Technologiesektor beziehen, und viele dieser Gesetze verfolgen einen vorsorglichen Ansatz, indem sie bestimmte Geschäftspraktiken vorschreiben, um potenzielle, noch unbestimmte Risiken abzuwenden”, kritisiert Draghi. Ein Beispiel sei der AI Act.
  • Digitale Unternehmen würden davon abgehalten, über Tochtergesellschaften in der gesamten EU tätig zu werden, da sie mit heterogenen Anforderungen, einer Vielzahl von Regulierungsbehörden und einer Überfrachtung der EU-Gesetzgebung durch nationale Behörden konfrontiert sind.
  • Viertens verursachen die Beschränkungen der Datenspeicherung und -verarbeitung hohe Befolgungskosten. Schätzungen zufolge hat allein die DSGVO die Gewinne kleiner Technologieunternehmen um mehr als 15 Prozent geschmälert.

“Die Quintessenz ist also, dass ein Großteil dieser Gesetzgebung für die sehr, sehr großen Unternehmen gilt, die vier, fünf, sechs riesigen US-Unternehmen”, sagte Draghi. Die EU selbst habe dagegen kleine Unternehmen. “Mit dieser Gesetzgebung, die wir uns selbst gegeben haben, machen wir uns also selbst kaputt”, sagte Draghi. “Wir töten unsere kleinen Unternehmen.”

Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müsse Europa seine Anstrengungen in den Bereichen Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Innovation erheblich verstärken. Der Bericht hebt hervor, dass die EU im Bereich der digitalen Technologien, einschließlich Cloud-Computing und KI, gegenüber den USA und China zurückfällt und dringend aufholen muss. “Europa muss in Hochleistungsrechner investieren und ein föderiertes HPC-Modell etablieren”, fordert der Bericht, um die Rechenkapazitäten für die Entwicklung und den Einsatz von AI zu erweitern.

Digitaler Binnenmarkt als Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit

Besondere Aufmerksamkeit erhält der Digitale Binnenmarkt, dessen Vollendung “entscheidend für das wirtschaftliche Wachstum und die technologische Souveränität der EU” sei. Der Bericht fordert eine verstärkte Harmonisierung der Regulierungen, die Förderung offener Zugänge und Interoperabilität sowie die effektive Umsetzung neuer Gesetze wie dem Digital Markets Act (DMA). “Nutzen Sie die neuen Befugnisse, die mit der Durchsetzung des Digital Markets Act (DMA) verbunden sind, effektiv”, lautet der Appell an die Kommission, um den Wettbewerb zu stärken und europäische Plattformen zu fördern.

Organisationen, die Start-ups und die digitale Wirtschaft vertreten, begrüßten weitgehend den Draghi-Report. Viele der Probleme, die Draghi in seinem Bericht angesprochen hat, haben die europäische digitale Szene seit Jahren verärgert. Clark Parsons, CEO des European Startup Network, hob eine Empfehlung als besonders wertvoll hervor: Draghi schlug vor, die EU solle ein neues, europaweites Rechtsstatut namens “Innovative European Company” schaffen, das vielversprechenden Start-ups ermöglichen würde, in allen Mitgliedstaaten denselben Gesetzen zu folgen und vereinfachte Börsengang-Verfahren zu nutzen. Derzeit müssen Unternehmen sich in jedem Land separat eintragen lassen, was ein schnelleres Wachstum behindert. “Das ist die Ursache der Friktionen, die uns daran hindert, wettbewerbsfähig zu sein”, sagte Parsons. J.D. Capeluto, Corinna Visser

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  • Künstliche Intelligenz
  • Plattformen
  • Start-ups

Draghi-Report: So wird die Automotive-Branche wieder konkurrenzfähig

Um im Automotive-Bereich wieder wettbewerbsfähig zu werden, fordert Draghi, für konkurrenzfähige Kosten bei Löhnen und Energie zu sorgen. Stromabnahmevereinbarungen und eine weitere Automatisierung, also jenseits der Produktion, werden empfohlen. Es brauche eine EU-Strategie, um mit China und den USA gleichzuziehen, wo massiv Subventionen fließen. Die neue Industriestrategie müsse F&E, Rohstoffe, Veredelung, Komponenten, Datenaustausch, Herstellung und Recycling umfassen. Es müsse dafür gesorgt werden, dass die Rechtsvorschriften in der gesamten Lieferkette kohärent gemacht werden.

Bei der Überprüfung der CO₂-Flottengesetzgebung und der AFIR-Regulierung (Lade- und Tankinfrastruktur) mahnt der Bericht Technologieneutralität an. Das Potenzial von CO₂-neutralen Kraftstoffen (E-Fuels) solle in Zusammenarbeit mit der Industrie ermittelt werden. Für die Dekarbonierung der Bestandsflotten sollen Kraftstoffe mit einem niedrigeren CO₂-Fußabdruck genutzt werden. 2025 wird die Kommission eine Methodik zu Ökobilanzen (“von der Wiege bis zur Bahre”) der Treibhausgasemissionen von Pkw vorlegen. Diese wird umfassender sein als der bisherige “Tank-zu-Rad”-Vergleich (“Tank to wheel”). Die neue Methodik soll dazu beitragen, Hebel zur Reduzierung der Emissionen in der Branche zu finden.

Der Bericht mahnt fortgeschrittene Standards in folgenden Bereichen an:

  • Ladeprotokoll
  • Recycling
  • Neue Technologien wie Cybersicherheitssysteme, standardisierte Datenformate, autonome Fahrzeuge, standardisierte Software-Programmiersprachen
  • physische Schnittstellen und Touch-Points

Regionen für emissionsfreie Automotive-Industrie

Es sollen Regionen entstehen für die interdisziplinäre Entwicklung der emissionsfreien Automotive-Industrie (“Net Zero Acceleration Valleys”). Ziel soll sein, die nächste Generation von E-Autos und softwaredominierten Fahrzeugen zu entwickeln. Es soll sichergestellt werden, dass es eine in sich stimmige Digital-Regulierung im Automotive-Sektor gibt für:

  • Umgang mit Daten
  • Haftungsfragen
  • Interoperabilität von Daten und Systemen und gemeinsame Normen für die gemeinsame Nutzung von Daten

Kohärente Regulierung für autonomes Fahren 

Auch beim autonomen Fahren mahnt der Bericht eine abgestimmte und kohärente Regulierung an für:

  • Tests von Assistenz- und autonomen Fahrsystemen
  • Verkehrsregeln und Infrastruktur für autonomes Fahren und Assistenzsysteme einschließlich Datenschutz und Dateninfrastruktur
  • Zulassung und das Ausrollen von autonomem Fahren und Fahrassistenzsystemen

IPCEIs sollen gestartet werden für:

  • software-definierte Fahrzeuge und autonomes Fahren
  • Kreislaufwirtschaft von Fahrzeugen
  • kleine oder erschwingliche E-Autos mgr
  • Autoindustrie
  • Autonomes Fahren
  • E-Fuels
  • IPCEI
  • Mario Draghi

Verteidigungssektor: Wie Mario Draghi die strukturelle Integration vorantreiben will

Die Verteidigungsausgaben der EU-Staaten seien angesichts des geopolitischen Umfelds nach wie vor ungenügend, Europas Verteidigungsindustrie tue sich zusätzlich schwer mit dem Zugang zu privaten Investitionen und der Fragmentierung des Marktes. Mario Draghi ist bei der Analyse des Status quo schonungslos, aber letztlich wenig überraschend. Doppelte Strukturen, die Fragmentierung oder die großen Defizite bei der Standardisierung von Rüstungsgütern sind bekannt. Interessanter deshalb, die Empfehlungen im Bericht unter dem Kapitel Verteidigung. Mario Draghi plädiert unter anderem für eine weitere Integration und Konsolidierung der Verteidigungsindustrie, mit einer Konzentration auf kritische und strategische Bereiche.

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit

Dies, so der frühere italienische Regierungschef, würde die verteidigungsindustrielle Basis der EU stärken und ihre strategische Autonomie verbessern. Überschneidungen bei den Industriekapazitäten zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten müssten überwunden, eine grenzüberschreitende Integration das Ziel sein. Größenvorteile würden sich auch positiv auf die Verteidigungsausgaben auswirken.

Der Handlungsbedarf werde wachsen, weil die Zukunft der Verteidigungsgüter bei zunehmend komplexen Systemen liege, die in hohem Masse interoperabel sein müssten. Bisherige Initiativen seien oft an der mangelnden Bereitschaft von Mitgliedstaaten und deren Firmen gescheitert, nationale Fähigkeiten in bestimmten Bereichen zugunsten einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit aufzugeben.

Spezialisierungen und Schaffung von Kompetenzzentren

Mario Draghi zählt verschiedene Bedingungen auf, um die strukturelle Integration von Europas Verteidigungssektor voranzutreiben. Es brauche volle politische Unterstützung der Mitgliedstaaten für die technologische und industrielle Konsolidierung. Die Mitgliedstaaten müssten bereit sein, gegenseitige Abhängigkeiten in ausgewählten Sektoren der Rüstungsindustrie zu akzeptieren und die Versorgungssicherheit zu garantieren.

Die EU-Staaten müssten bereit sein, auf doppelte Strukturen bei bestimmten Fähigkeiten zu verzichten und wo nötig Kapazitäten abzubauen. Es brauche eine Einigung zwischen den Hauptstädten auf Spezialisierungen an bestimmten Industriestandorten. Es müssten Kompetenzzentren für bestimmte Produktionsbereiche, Technologien oder Teilsysteme geschaffen werden, um Größenvorteile und Synergieeffekte zu schaffen.

Gemeinsame Forschungsanstrengungen

Die Verteidigungsausgaben der EU-Staaten liegen laut Draghi-Bericht bei einem Drittel der Ausgaben der USA, während China zuletzt den Verteidigungshaushalt massiv ausgebaut habe. Die Tatsache, dass die EIB als Hausbank der EU Kredite für reine Rüstungsprojekte ausschließe, sende zudem ein negatives Signal an potenzielle Investoren an den Finanzmärkten.

Besonders hebt der Bericht die Defizite der EU hervor, wenn es um Investitionen in Forschung und Entwicklung geht. Während die USA im vergangenen Jahr für 140 Milliarden Dollar investiert hätten, hätten in der EU nur rund zehn Milliarden Euro an öffentlichen Geldern zur Verfügung gestanden. Die Verteidigungssysteme der nächsten Generation würden für alle strategischen Bereiche aber in Zukunft massive Forschungsinvestitionen nötig machen, außerhalb der Möglichkeiten jedes einzelnen Mitgliedstaats. Draghi plädiert dafür, die Ressourcen auf EU-Ebene stärker auf gemeinsame Forschungsanstrengungen zu konzentrieren. sti

  • Mario Draghi
  • Sicherheitspolitik
  • Verteidigung

Binnenmarktstrategie: Tschechien trommelt mit Non-Paper für Ehrgeiz

Die neue Binnenmarktstrategie, die die Kommission im kommenden Sommer vorlegen will, soll möglichst ehrgeizig ausfallen. Die Kommission soll konkrete Vorschläge machen, die kurz- und mittelfristig umzusetzen sind, damit der Handel im Binnenmarkt zulegen kann. Dies ist die grundlegende Forderung eines Non-Papers von Tschechien, dem sich bislang 13 Mitgliedstaaten angeschlossen haben. Das Papier liegt Table.Briefings vor.

Die Maßnahmen sollen die Freizügigkeit von Waren und Dienstleistungen verbessern. In diesem Bereich seien die nationalen Vorschriften immer noch stark zersplittert, schreiben die Autoren. Man erwarte, heißt es im Non-Paper weiter, einen Fahrplan mit Meilensteinen für dringende und konkrete Vorhaben. Der Marktzugang von Unternehmen solle durch eine bessere Konnektivität vereinfacht werden.

Die Kommission solle zudem mehr überflüssige Bürokratie abschaffen als bisher angekündigt. Bislang hatte sie versprochen, 25 Prozent der Auflagen für Unternehmen zu streichen. Nun soll noch mehr wegfallen. “Die Digitalisierung wird unweigerlich eine wichtige Rolle bei der Verwirklichung der Freizügigkeit spielen“, heißt es wörtlich in dem Papier. Um die Qualität des Binnenmarktes zu verbessern, solle sich die EU konzentrieren auf “die Qualität, Kohärenz und Umsetzung und nicht die Quantität der Vorschriften.” Bislang unterstützen das Non-Paper Tschechiens:

  • Estland
  • Finnland
  • Irland
  • Lettland
  • Litauen
  • Luxemburg
  • Malta
  • Niederlande
  • Polen
  • Portugal
  • Slowakei
  • Slowenien
  • Schweden mgr
  • Digitalisierung
  • EU-Binnenmarkt
  • Europäische Kommission
  • Freizügigkeit
  • Tschechien

Grenzkontrollen und Zurückweisungen: Faeser öffnet den Weg für Gespräche mit der Union 

Vor wenigen Wochen wäre das wahrscheinlich undenkbar gewesen. Jetzt aber hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser in der Asyl- und Sicherheitspolitik eine massive Kehrtwende vollzogen und sofortige Grenzkontrollen an den deutschen Grenzen angeordnet. Nicht nur mit dem Verweis auf sportliche Großveranstaltungen und auch nicht mehr nur an ausgewählten Stellen, sondern an allen Außengrenzen. Auch wenn Faeser von einer “konsequenten Weiterentwicklung” ihrer Politik spricht – es ist eine nahezu komplette Neuausrichtung.  

Der Kurswechsel hat viele Gründe. Ganz besonders ins Kontor geschlagen hat aber das Attentat von Solingen, verübt von einem ausreisepflichtigen, aber nicht abgeschobenen Asylbewerber. In der SPD-Spitze und im Kanzleramt hat sich längst die Überzeugung verfestigt, dass die Probleme im Umgang mit straffälligen Asylbewerbern keine Petitesse mehr sind, sondern ein großes Problem, das die Glaubwürdigkeit des Staates zu untergraben droht.   

“Olaf Scholz kämpft”

Der Kanzler verteidigte den Schritt in der Fraktion. Er sei wichtig und angebracht. Zugleich sei aber auch klar, dass “smarte Grenzkontrollen” keine Grenzschließungen seien. Aus der Fraktion hieß es: “Olaf kämpft! Auf seine leise Art, aber er tut es.” Fraktionsvize Dirk Wiese unterstützte den Schritt, betonte aber, dass Grenzkontrollen im Schengen-Raum “keine dauerhafte Lösung sein sollten und dürften”.

Aus der Grünen-Fraktion hieß es, man habe “differenziert diskutiert”, und manche hätten Bedenken geäußert. Ein Argument: Sorge um Europa; ein zweites: Sorge um Geflüchtete und Migranten, die angesichts der Debatte große Angst hätten. Allerdings war man sich offenbar einig, erstmal nicht laut Nein zu rufen. Niemand will vor der Wahl in Brandenburg als Blockierer erscheinen.   

Klares Motiv der SPD-Führung: Auf die CDU zugehen

Scholz und die Genossen wollen in der aktuellen Lage offenkundig lieber mit der Union sprechen, statt sich von ihr unentwegt als zu lasch und zu unentschlossen attackieren zu lassen. Faeser betonte, sie habe sich am Montag “sehr vertrauensvoll, sehr gut” mit Thorsten Frei ausgetauscht. Und sie versicherte: “Wir haben Mittel und Wege für effektive Zurückweisungen gefunden.” Die werde man morgen gerne erstmal vertraulich CDU und CSU vorstellen, um dann hoffentlich gemeinsam zu einem Konsens zu kommen. Auch Hessen und Niedersachsen werden dann als Vertreter der Länder am Tisch sitzen.  

Bis zuletzt galt der Schritt, den Faeser nun geht, als zwingende Voraussetzung der CDU-Spitze für intensivere Gespräche. Friedrich Merz sagte in der Fraktion, er wolle die Entscheidung erstmal schriftlich sehen, bevor er endgültige Entscheidungen treffe. Er gab sich verhalten optimistisch, dass die Ampel auf die Forderungen der Union eingehen könnte. “Wir haben erste Indikationen, dass sich etwas bewegt”, sagte Merz.  

Zugleich blieb die CDU-Spitze betont vorsichtig. Sie trat Meldungen entgegen, man habe sich mit der Koalition schon geeinigt. “So ist es nicht”, hieß es aus der Fraktionsführung. Mancher fühlt sich schon an die Konflikte um die Zeitenwende erinnert, als der Kanzler und die Ampel frühzeitig versucht hätten, die Union schon vor einer Einigung für sich zu vereinnahmen. Dem will man offenkundig entgegentreten. Ob die Union Faesers Einladung fürs Gespräch am Dienstagnachmittag annimmt, ließ sie deshalb bewusst offen. Stefan Braun, Michael Bröcker und Franziska Klemenz

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Standpunkt

Fragmentierte Stärkung: Die rechte Neuordnung im Europäischen Parlament

Von Nicolai von Ondarza und Max Becker
Nicolai von Ondarza, Stiftung Wissenschaft und Politik
Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Nach den Europawahlen 2024 hat sich die politische Rechtsaußenlandschaft im Europäischen Parlament (EP) neu aufgestellt. Parteien rechts der Europäischen Volkspartei (EVP) konnten in 23 EU-Staaten Zuwächse erzielen, allen voran in Deutschland und Frankreich. Den Wahlerfolgen folgte die Fragmentierung, statt zwei gibt es nun drei Rechtsaußenfraktionen im EP: die seit 2009 bestehende nationalkonservative EKR und die beiden neu gegründeten, weiter rechts außen stehenden Fraktionen Patrioten für Europa (PfE) und Europa der Souveränen Nationen (ESN).

Fragmentierung schwächt den Einfluss von rechts außen

Der wohl wichtigste Coup gelang Viktor Orbán und Marine Le Pen, deren Parteien sich mit Partnern aus der früheren Rechtsaußenfraktion Identität und Demokratie (ID) zu den Patrioten für Europa zusammenschlossen. Hierfür gewannen sie unter anderem die tschechische ANO (früher Teil der liberalen Renew), die spanische Vox (aus der EKR) und den Großteil der früheren ID-Fraktion. Zusammen sind sie mit 84 Abgeordneten drittstärkste Fraktion.

Die EKR gewann einige kleinere Partner hinzu, und ist mit 78 Parlamentariern knapp viertstärkste Fraktion, wird nun aber von Melonis Brüdern Italiens dominiert. Zuletzt gelang es der AfD, die selbst für die ID und nun PfE zu radikal geworden war, vor allem mit neu ins EP gewählten Parteien die ESN zu gründen, die jetzt mit 25 Abgeordneten die mit Abstand kleinste Fraktion im EP stellt.  Weitere Bewegungen oder gar ein Zusammenschluss von PfE und ESN sind dabei nicht ausgeschlossen – zumindest programmatisch gibt es zwischen den beiden kaum Unterschiede.

Die ersten Beschlüsse im Parlament zeigen dabei, dass diese Fragmentierung der Rechtsaußenparteien ein zentrales Hindernis für ihre politische Durchschlagskraft sein wird. Auch als drittgrößte Fraktion ist die PfE von allen zentralen Ämtern im EP (ebenso wie die ESN) ausgeschlossen. Die moderater auftretende EKR erhielt einige gewichtige Positionen, wurde aber für die Erlangung der Mehrheit für die Wahl von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin nicht gebraucht. Zumindest in dieser Legislaturperiode ist die Handlungsfähigkeit des EP nicht gefährdet. Der Druck zur Bildung supergroßer Koalitionen der Mitte hat aber zugenommen.

Der eigentliche Fokus: Macht im Rat und im Europäischen Rat

Der eigentliche Machtzuwachs der Rechtsaußenparteien vollzieht sich jedoch ohnehin abseits des Parlaments – im Rat und Europäischen Rat. Hier dürfte das eigentliche Kalkül insbesondere der PfE-Gründung liegen. Denn: Hier sitzen bereits die italienische Meloni-Regierung (EKR) oder die von Viktor Orbán (PfE) mit am Tisch. Auch in den Niederlanden übt die Freiheitspartei von Geert Wilders (PfE), trotz eines parteilosen Ministerpräsidenten, erheblichen Einfluss auf die Regierungskoalition aus. In Zukunft hoffen die PfE auf weitere Regierungsbeteiligungen, etwa von der FPÖ, Vox oder ANO.

Für die PfE und ihre Mitgliedsparteien bietet der Rat somit eine wichtige Bühne, um ihre Agenda möglicherweise koordinierter als bisher durchzusetzen. Sie könnten bei Entscheidungen, die Einstimmigkeit erfordern, ihr Veto einlegen. Auch eine Sperrminorität bei Mehrheitsentscheidungen könnte bei den anhaltenden Wahlerfolgen von Rechtsaußenparteien in Europa in greifbare Nähe rücken. Spätestens dann können Regierungen mit Rechtsaußenparteien allen zentralen EU-Entscheidungen ihren Stempel aufdrücken.

Der Cordon sanitaire bekommt Risse

Denn insbesondere im Rat erodiert der lange praktizierte Cordon sanitaire gegenüber Rechtsaußenparteien zusehends. War die Beteiligung der FPÖ an der österreichischen Regierung im Jahr 2000 noch Grund für diplomatische Sanktionen, werden Meloni und Co heute pragmatisch eingebunden.

Schon seit einigen Jahren bildet sich eher ein Cordon sélectif heraus: Während die radikaleren Kräfte, nun in Gestalt von PfE und ESN, weitgehend von Schlüsselpositionen im Parlament ausgeschlossen bleiben, erhält die EKR Zugang zu wichtigen Ausschussvorsitzen und Vize-Präsidentenposten. Innerhalb der Europäischen Volkspartei (EVP) mehren sich zudem Stimmen, die eine Zusammenarbeit mit der EKR auch bei der Mehrheitsbildung in der Gesetzgebung fordern. Dies birgt das Risiko, dass die bisherige Abgrenzung weiter aufgeweicht wird und die Grenzen nach rechts außen zunehmend verschwimmen.

Europäische Sozialdemokraten und Liberale hingegen wollen auch die EKR ausgrenzen und haben erst Ursula von der Leyen aufgefordert, ihre Mehrheit im EP ohne die EKR aufzubauen, und verlangen nun, dass Personen aus allen Rechtsaußenparteien keine gewichtigen Portfolios in der neuen Kommission bekommen – einschließlich des italienischen Vorschlags aus Melonis Partei.

EVP und von der Leyen stehen vor einem Dilemma

So stehen die EVP und Ursula von der Leyen vor dem Dilemma, welches den meisten Mitte-Rechtsparteien in Europa droht: Grenzen sie sich scharf von Rechtsaußen ab, einschließlich der EKR, sind sie zu Kompromissen weit nach links gezwungen, um Mehrheiten zu organisieren, und riskieren die verschiedenen Rechtsaußenkräfte zusammenzubringen. Gehen sie hingegen auf die (teilweise) moderateren Kräfte zu, normalisieren sie die Zusammenarbeit mit Rechtsaußen und legitimieren ihre Positionen. Wie diese Entscheidungen ausfallen, wird die EU-Politik auf Jahre prägen, mit der Besetzung der wichtigen Kommissionsposten als nächstem Gradmesser.

Nicolai von Ondarza leitet die Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Max Becker ist Forschungsassistent EU/Europe bei der SWP.

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Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

Licenses:
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    Ursula von der Leyen hält ihre Karten für ihre neue Kommission bis zum Schluss verdeckt. Wer von den Nominierten welches Portfolio bekommt, welcher Mann womöglich noch gegen eine Frau ausgetauscht wird? Im Europaparlament und in der Kommission selbst herrscht Rätselraten. Auch einen Tag, bevor die Kommissionspräsidentin ihre Liste den Fraktionschefs vorstellen will. Immerhin: Tschechiens Europaminister Martin Dvořák weiß offensichtlich, welches Portfolio Jozef Síkela bekommen soll, der von der Prager Regierung nominiert wurde. Er werde ein wirtschaftliches Portfolio bekommen, mit Schwerpunkt auf Handel.

    Ob der nächste Handelskommissar aus Tschechien kommt? Es kursiert zudem die Spekulation, dass die Sozialdemokraten zwar zwei gewichtige Dossiers bekommen. Aber nicht so, wie von ihnen erwartet: Teresa Ribera könnte demnach für Wettbewerb zuständig werden und nicht für Klima, worauf die spanische Klimaministerin gesetzt hatte. Dafür könnte der Däne Dan Jørgensen das Umwelt- und Klimaressort besetzen.

    Darüber dürften auch die 77 Abgeordneten der Renew-Fraktion spekulieren, die sich heute und morgen nach Ostende für ihre Studientage, so etwas wie eine Fraktionsklausur, zurückziehen. Die Fraktion will eine Erklärung verabschieden, in der sie ihre politischen Prioritäten für das neue Mandat benennt. Auch die Erwartungen der Liberalen an die künftigen Kommissare werden zu Wort kommen. Einen Tag müssen sich alle noch gedulden, dann legt Ursula von der Leyen ihre Karten auf den Tisch. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag!

    Ihr
    Markus Grabitz
    Bild von Markus  Grabitz

    Analyse

    Wie Mario Draghi die EU wieder wettbewerbsfähig machen will

    Mario Draghi will “radikale Veränderung”.

    Mario Draghi wurde deutlich: Damit Europa wirtschaftlich nicht weiter zurückfalle, brauche es einen “radikalen Wandel” – und zwar “dringend und konkret”. Ansonsten drohe der EU ein “langsamer Niedergang”. So sei das Realeinkommen pro Kopf in den USA seit 2000 beinahe doppelt so schnell gestiegen wie in Europa.

    Als Antwort auf die Malaise schlägt der frühere EZB-Präsident in seinem Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit eine neue Industriestrategie vor. Der Kern: das Produktivitätswachstum zu beschleunigen. Die Arbeitsproduktivität in der EU sei von 95 Prozent des US-Niveaus im Jahr 1995 auf weniger als 80 Prozent abgesackt. Das Problem seien weniger die Lohnkosten als die fehlende Innovationskraft: Vor allem bei der Entwicklung und Nutzung von digitalen Technologien hätten US-Unternehmen ihre europäischen Rivalen abgehängt – und der Rückstand drohe zu wachsen. Denn Europa stecke in einer “Middle technology trap”.

    Das sind die wichtigsten Bausteine seiner Gegenstrategie:

    • Draghis Top-Priorität ist, die Hürden für bahnbrechende Innovationen zu beseitigen
    • Die Dekarbonisierung soll Innovationen und Wachstum treiben
    • Fokus auf STEM in Bildungspolitik
    • Selektive Lockerung und schnellere Verfahren in der Wettbewerbspolitik
    • Präferenzielle Handelsabkommen und Investitionen in Drittstaaten sollen Lieferketten sichern

    Europas Innovationsproblem

    Draghi warnt: Angesichts der alternden Bevölkerung drohe der EU jahrzehntelange Stagnation, wenn es ihr nicht gelinge, das Produktivitätswachstum wieder zu steigern. Die Hauptursache für die schwache Position Europas bei den digitalen Technologien sei, so der Bericht, “eine statische Industriestruktur, die einen Teufelskreis aus niedrigen Investitionen und geringer Innovation” hervorbringe. In den USA dominierten längst Techunternehmen die Ranglisten der größten die F&E-Budgets, in Europa sei es noch immer die Autoindustrie.

    Die Hindernisse für innovative Unternehmen sind hinlänglich bekannt: zu wenig Spitzenforschung, zu wenig Kommerzialisierung der Ergebnisse, zu wenig Wagniskapital für Start-ups insbesondere in der Wachstumsphase, regulatorische Hürden im Binnenmarkt, zu geringe und ineffektive öffentliche Forschungsförderung und zu wenig Fokus auf bahnbrechende Innovationen.  

    Um diese Mängel zu adressieren, schlägt Draghi eine ganze Reihe von Maßnahmen vor:

    • Bessere Förderung von Spitzentechnologien: Das EU-Rahmenprogramm soll in der nächsten Finanzperiode ab 2028 auf 200 Milliarden Euro verdoppelt werden und zugleich stärker auf disruptive Technologien ausgerichtet werden. Dafür soll der Europäische Innovationsrat zu einer Forschungsagentur nach dem US-Vorbild Darpa aufgewertet werden.
    • Bessere Koordinierung: Die EU-Staaten sollen in einer “Forschungs- und Innovationsunion” eine gemeinsame F&I-Strategie und -Politik entwickeln.
    • Mehr Spitzenforschung: Der Europäische Forschungsrat soll die Förderung der Grundlagenforschung verdoppeln und Spitzenforscher mit der Anstellung als EU-Beamte gelockt werden.
    • Einheitliche Regeln: Vielversprechende Start-ups sollen einen eigenen Rechtsstatus als “Innovative Europäische Unternehmen” bekommen können. Für sie soll statt 27 nationaler Regelwerke ein einheitliches 28. Regime etwa im Unternehmens- und Insolvenzrecht sowie bei bestimmten steuerlichen und arbeitsrechtlichen Aspekten gelten. Zudem sollen die Solvency-II-Regeln für Versicherungen überprüft werden, um in bestimmten Sektoren Investitionen in innovative Start-ups zu erleichtern.  
    • Zugang zu Rechenleistung: Um KI-Unternehmen das Training ihrer Modelle zu erleichtern, soll die EU-Kommission den Zugang zu den EU-Supercomputern weiter öffnen.

    Fachkräfte: Mehr MINT und mehr Weiterbildung

    Um den Fachkräftemangel zu beheben, der Europas Wirtschaft bedroht, soll der Bildungssektor neu ausgerichtet werden. Das Universitätsstudium etwa soll sich stärker an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts orientieren. Dazu will Draghi an die Curricula ran. Diese sollten ihren Fokus legen auf MINT-Kompetenzen, die wie Digitales auch in anderen Fachbereichen integriert werden sollen. Gerade bei den mathematisch-naturwissenschaftlichen Qualifikationen hinke die EU den USA derzeit hinterher. Nötig seien etwa gezielte Förderprogramme für Kinder aus armen Haushalten sowie Stipendien für Nicht-EU-Bürger, um sie nach Europa zu holen.

    Dazu sollen Fähigkeiten für die Green Transition sowie Querschnittskompetenzen gefördert werden. Mit Letzterem sind etwa Teamarbeit, Kreativität, Anpassungsfähigkeit, Belastbarkeit und emotionale Intelligenz gemeint. Auch Unternehmertum solle fester Bestandteil der Lehrpläne werden. Die Finanzierung der Universitäten möchte Draghi so anpassen, dass innovative, transdisziplinäre Ansätze gefördert werden. Auch Ausbildungen sollen europaweit gestärkt werden, sowohl qualitativ als auch quantitativ.

    Der ESF+, das zentrale Förderprogramm der Union für Beschäftigung und soziale Inklusion, soll deutlich umgestaltet werden. Die Förderung solle sich auf Bereiche konzentrieren, in denen der Effekt am größten ist. Dazu gehören laut Draghi saubere Technologien, digitale und fortschrittliche Technologien sowie die Automobilindustrie. Zudem sollten die Programme strikt evaluiert werden, um ihren Nutzen und ihre Wirksamkeit abschätzen zu können und um erfolgreiche Programme schnell auf andere Länder zu übertragen.

    Wettbewerb soll Innovation stärker berücksichtigen

    Draghis Vorschläge zur Wettbewerbsaufsicht waren mit besonderer Spannung erwartet worden. Doch der frühere italienische Ministerpräsident forderte keine weitreichende Reform der Fusionskontrollverordnung, um mehr nationale Champions zu ermöglichen. Vielmehr plädiert er für selektive Lockerung, schnellere Verfahren – und sogar für ein neues Instrument der Marktaufsicht.

    Mehr Größe zulassen will Draghi namentlich im Telekomsektor: Hier spricht er sich dafür aus, Fusionen zu erleichtern, um höhere Investitionen in die Breitbandinfrastruktur zu ermöglichen. Dafür soll die Generaldirektion Wettbewerb der EU-Kommission die Märkte auf EU-Ebene statt auf Ebene der Mitgliedstaaten definieren und stärker mögliche positive Effekte auf Innovationen und Investitionen mit negativen Folgen für die Konsumenten abwägen. Bislang hat die Kommission Zusammenschlüsse untersagt, wenn dadurch weniger als vier Anbieter auf einem Markt übrigblieben.

    Innovation im Fokus: Draghi plädiert generell dafür, bei der Prüfung von Firmenzusammenschlüssen stärker die zu erwartenden Innovationseffekte zu berücksichtigen. In Sektoren wie Verteidigung, Energie oder Raumfahrt soll die Kommission auch die Auswirkungen etwa einer Fusion auf Sicherheit und Resilienz berücksichtigen.

    Überraschenderweise greift Draghi eine einst beerdigte Idee der EU-Kommission für ein “New Competition Tool” auf, die ein schnelleres Eingreifen erlauben soll. So soll die Kommission mithilfe des neuen Instruments strukturelle Wettbewerbshemmnisse in einzelnen Märkten untersuchen können und dann gemeinsam mit den Firmen angehen. Beschränkt werden soll der Einsatz des NCT auf bestimmte Fälle, etwa bei Abhängigkeit von einem oder wenigen Rohstofflieferanten. Der zuständige Wirtschaftsstaatssekretär Sven Giegold begrüßt das ausdrücklich.

    Eine europäisierte Industriepolitik

    Draghi will eine Europäisierung der Industriepolitik. Er schlägt vor, die aktuellen Ausnahmen der staatlichen Beihilferegelungen zu beenden, da sie den Binnenmarkt verzerren würden. “Staatliche Beihilfen sollten für gemeinsame Ziele eingesetzt werden”, sagte Draghi in der Pressekonferenz. Deshalb sollen Important Projects of Common European Interest (IPCEI) gestärkt werden. Laut Draghi sollen die Genehmigungsverfahren für IPCEI gestrafft und auf ein weiteres Gebiet von innovativen Technologien ausgeweitet werden.

    Eine Chance für die europäische Industriepolitik sieht Draghi in der Dekarbonisierung. Durch sie könne die EU sowohl “die Führungsrolle in neuen, sauberen Technologien und bei Lösungen für die Kreislaufwirtschaft übernehmen”, schreibt er. “Aber damit Europa diese Chance nutzen kann, müssen alle politischen Maßnahmen mit den Dekarbonisierungszielen der EU synchronisiert sein.”

    Für jeden Sektor brauche es einen anderen Policy-Mix, meinte Draghi, aber er unterscheidet zwischen vier verschiedenen Strategien:

    1. In Sektoren, in denen der europäische Kosten-Nachteil zu groß ist, um ein seriöser Wettbewerber zu sein, ergibt es Sinn, die Technologie weiterhin zu importieren.
    2. In Sektoren, in denen es der EU wichtig ist, dass in Europa produziert wird, die Herkunft der Technologie aber nicht sehr wichtig ist, soll die EU ausländische Investitionen in der EU fördern und gleichzeitig Handelsverteidigungsinstrumente einsetzen, um subventionierte Importe abzuwehren.
    3. In Sektoren, in denen es der EU wichtig ist, dass europäische Firmen Knowhow und Produktionskapazitäten behalten, sollte die EU die Attraktivität von Investitionen erhöhen, zum Beispiel, indem sie auf “local content requirements” setzt.
    4. In “infant industry”-Sektoren, in denen man großes Wachstumspotenzial sieht, könne die EU eine Reihe von handelsverzerrenden Maßnahmen in Kauf nehmen, bis der Sektor genügend etabliert sei. 

    Handelspolitik soll Produktivität und Resilienz sichern

    Auch die Handelspolitik soll laut Draghi im Dienst des europäischen Produktivitätswachstums stehen. Sie müsse deshalb gut mit den industrie- und finanzpolitischen Initiativen der EU koordiniert sein. Draghi nennt die Multi-Policy-Strategien der USA und China als Vorbild für das teilweise in der EU herrschende Silo-Denken.

    Die Handelspolitik muss laut Draghi-Bericht primär auf unfaire Handelspraktiken im Ausland reagieren und essenzielle europäische Lieferketten absichern. Ersteres deutet auf eine intensivere Nutzung von Handelsverteidigungsinstrumenten wie zum Beispiel der Verordnung über Drittstaatssubventionen. Zudem fordert Draghi eine bessere Koordination beim FDI-Screening.

    Das Ziel der Lieferkettenabsicherung will Draghi durch gezieltere Handelsabkommen erreichen. Sie sollen den europäischen Zugang zu kritischen Rohstoffen und anderen essenziellen Produkten gewährleisten. Das geht in dieselbe Richtung, die auch die Kommissionspräsidentin schon in ihren politischen Leitlinien ausformuliert hatte. Präferenzielle, auf einige Sektoren beschränkte Handelsabkommen widersprechen WTO-Regeln. Aber Draghi sieht die multilaterale Handelsordnung ohnehin in einer “tiefen Krise” und die EU müsse sich an die neue Realität anpassen.

    “Die EU wird eine echte “Außenwirtschaftspolitik” entwickeln müssen, die präferenzielle Handelsabkommen und Direktinvestitionen mit ressourcenreichen Ländern, den Aufbau von Vorräten in ausgewählten kritischen Bereichen und die Schaffung von Industriepartnerschaften zur Sicherung der Lieferkette für Schlüsseltechnologien koordiniert”, schreibt Draghi. Mit Alexandra Endres und Alina Leimbach

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    Draghi-Bericht: Der schwierige Weg zur Umsetzung

    Die ersten Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten: Mario Draghi hatte seine Pressekonferenz am Mittag kaum beendet, da meldete sich bereits Bundesfinanzminister Christian Lindner zu Wort: “Mit einer gemeinsamen Schuldenaufnahme durch die EU lösen wir die strukturellen Probleme nicht”, erklärte der FDP-Chef. Deutschland werde dem nicht zustimmen.

    Dabei hatte Draghi das sensible Thema weitgehend ausgeklammert: Nur vier der insgesamt rund 400 Seiten seines Berichts widmete er dem Thema Finanzierung. Der frühere italienische Ministerpräsident wusste natürlich, welche ablehnenden Reflexe Forderungen nach gemeinsamer Schuldenaufnahme in einigen Mitgliedsstaaten auslösen.

    750 bis 800 Milliarden Euro Zusatzinvestitionen pro Jahr

    Aber ignorieren kann er das Thema nicht. Zwischen 750 und 800 Milliarden Euro an jährlichen Zusatzinvestitionen sind laut Mario Draghi nötig, um die grüne und digitale Transformation zu meistern und gleichzeitig die Verteidigungskapazitäten zu erhöhen. Die Zahl setzt sich aus folgenden Budgetposten zusammen: 

    • Transformation des Energiesystems: 300 Milliarden Euro
    • Transformation des Transportsystems: 150 Milliarden Euro
    • Förderung digitaler Technologien: 150 Milliarden Euro
    • Stärkung der Verteidigungskapazitäten: 50 Milliarden Euro
    • Produktivitätssteigerungen durch Spitzeninnovationen: 100 bis 150 Milliarden Euro

    Draghi gibt zu, dass diese Zusatzinvestitionen “massiv” sind – sie entsprechen 4,4 bis 4,7 Prozent des europäischen BIPs. Einwände, wonach ein solcher Investitionsschock inflationstreibend sei, lässt er aber nur teilweise gelten. Zu Beginn sei mit einem Inflationsanstieg zu rechnen, aber die positiven Auswirkungen der Innovationen auf Energiepreise und Produktivität sollten die Preise mittelfristig wieder beruhigen. 

    Zu hohe Kapitalkosten: Privates Geld reicht nicht aus

    Zudem betont Draghi, dass ein Teil der Zusatzinvestition aus der öffentlichen Kasse kommen müsse. “Selbst wenn die Kapitalmärkte stärker integriert werden, ist es unwahrscheinlich, dass eine verbesserte Marktfinanzierung Investitionen in der angestrebten Höhe freisetzt”, schreibt Draghi. Damit Privatinvestitionen dementsprechend freigesetzt würden, bräuchte es laut Kommissionsstudie um circa 250 Basispunkte tiefere Kapitalkosten. Obwohl Draghi die Integration der Kapitalmärkte befürwortet, so sagt er, dass die dadurch ausgelöste Reduktion der Kapitalkosten “substanziell kleiner” ist als die benötigten 250 Basispunkte. 

    Mehr öffentliche Investitionen sind in Draghis Logik also unumgänglich. “Gemeinsame Finanzierung wird benötigt”, sagte Draghi an der Pressekonferenz. Und wenn gemeinsame Finanzierung benötigt wird, dann müsse man ein gemeinsames ,Safe Asset’ herausgeben. Dies sei auch hilfreich, um die Kapitalmarktunion voranzutreiben. Draghi betonte, dass er diese EU-Schulden als Instrument statt als Ziel der EU-Politik verstehe. Die politische Sensibilität dieses Themas stellt aber ein großes Fragezeichen hinter die Umsetzung von Draghis Investitionsvorschlägen.

    Insgesamt positives Echo

    Trotz der kontroversen Vorschläge zur Finanzierung: Insgesamt stieß Draghis Bericht in der deutschen Industrie auf ein positives Echo. “Der Bericht von Mario Draghi bringt es auf den Punkt”, kommentierte BDI-Hauptgeschäftsführerin Tanja Gönner. Nötig sei eine tiefere Integration des Binnenmarkts unter anderem in der Verteidigung, der Infrastruktur, der Telekommunikation und der Pharmazie. Die EU brauche in der neuen Legislatur einen genauso großen Aufschlag wie zuvor in der Klimapolitik.

    Auch der European Roundtable of Industry (ERT) äußert sich positiv. Der Vorsitzende Jean-François van Boxmeer sagte, es sei nun an den Mitgliedstaaten, die Vorschläge des Berichts umzusetzen. “Wir fordern sie auf, in großen Dimensionen zu denken – über ihre nationalen Grenzen hinaus – und dabei die künftige Stellung Europas in der Welt zu berücksichtigen”, sagte der Vodafone-Verwaltungsratsvorsitzende in einer Pressemitteilung.

    Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) nannte den Bericht einen “Weckruf an Europa”. Draghi habe recht, die EU brauche massive Investitionen, umfassende Reformen und eine Stärkung der Resilienz. Es gelte, jetzt nicht einfach zur Tagesordnung überzugehen, mahnte Habeck: Der Bericht sei eine Handlungsaufforderung an die neue Kommission und die EU insgesamt. “Ich sage gern meine Unterstützung zu”, erklärte er.

    Welcher Rat soll sich kümmern?

    Die einmal mehr widersprüchlichen Reaktionen aus Berlin demonstrieren, wie weit der Weg zur Umsetzung der Vorschläge Draghis ist. Zwar gibt es, wie Ursula von der Leyen bemerkte, in den EU-Institutionen “einen breiten Konsens”, dass die Wettbewerbsfähigkeit ganz oben auf die Agenda gehört. Draghis “Plan für Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit” decke sich weitgehend mit ihrem eigenen Vorhaben, einen Clean Industrial Deal vorzuschlagen. Dessen Vorschläge zu den Fähigkeiten oder zur Innovationspolitik würden Eingang finden in die Mission Letters der neuen Kommissare.

    Auf die Kommission dürfte es entscheidend ankommen, um die vielen weitreichenden Vorschläge Draghis voranzutreiben. Denn der Rat tut sich schwer, ein solches Paket zu verarbeiten. Zwar gibt es mit dem Wettbewerbsfähigkeitsrat eine dem Namen nach passende Ratsformation. Doch der COMPET sei zu schwach, wendet ein EU-Diplomat ein, dort säßen üblicherweise nur Staatssekretäre. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs wiederum kann Gesetzesvorhaben mangels legislativer Kompetenz nicht selbst vorantreiben, zudem beeinträchtigt das Einstimmigkeitsprinzip dessen Handlungsfähigkeit.

    Idealerweise würden nun Deutschland und Frankreich die Führung übernehmen und die Debatte anstoßen und weiterführen, sagt Lucas Guttenberg, Senior Advisor bei der Bertelsmann Stiftung. “Das sehe ich auch noch nicht, aber es wäre die Mühe wert.”

    Draghi fordert neues Koordinierungsgremium

    Draghi bemängelt in seinem Bericht selbst die unzureichenden Governance-Strukturen der EU auf dem Gebiet. Das Hauptinstrument, das Europäische Semester, erlaube keine Koordinierung der Wirtschaftspolitiken. Er schlägt vor, das Europäische Semester auf die Umsetzung der Fiskalregeln zu beschränken und ein neues Competitiveness Coordination Framework zu schaffen. In diesem Rahmen sollten von den Staats- und Regierungschefs identifizierte Prioritäten für die europäische Wettbewerbsfähigkeit umgesetzt werden. Je nach Aufgabengebiet solle ein passendes Vorgehen gewählt und in einem Aktionsplan festgehalten werden.

    Ob sich die Mitgliedstaaten darauf einlassen, bleibt abzuwarten. Fredrik Persson, Präsident von Business Europe, gibt sich jedenfalls zuversichtlich: “Der Bericht wird zweifellos eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung künftiger EU-Strategien und -Politiken spielen.”

    • Clean Industrial Deal
    • Europäischer Rat
    • Industriepolitik
    • Mario Draghi
    • Wettbewerbsfähigkeit
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    Termine

    11.09.-12.09.2024, online
    HBS, Workshop Scenarios for the Future of Work – Update 2040
    Die Hans-Böckler-Stiftung (HBS) diskutiert vier alternative Szenarien für den israelischen und globalen Arbeitsmarkt im Jahr 2040. INFOS & REGISTRATION

    11.09.2024 – 10:00-11:00 Uhr, online
    TÜV, Seminar Wirtschaftliche Bewertung von Investitionen in Energieeffizienzmaßnahmen
    Der TÜV stellt die Wirtschaftlichkeitsbewertung nach DIN EN 17463 vor. INFOS & ANMELDUNG

    11.09.2024 – 15:30-20:00 Uhr, Brüssel (Belgien)
    FZE, Conference Innovate & Connect – Bridging Politics and Industry
    The Forum für Zukunftsenergien (FZE) presents several elevator pitches in the energy sector. INFOS & REGISTRATION

    12.09.2024 – 19:00-20:00 Uhr, online
    FNF, Vortrag Wirtschaft verstehen – Macht ChatGPT uns arbeitslos?
    Die Friedrich-Naumann-Stiftung (FNF) beleuchtet die Rolle von Gen AI für die Wirtschaft und deren Auswirkungen. INFOS & ANMELDUNG

    News

    Draghi über die EU-Digitalpolitik: “Wir töten unsere kleinen Unternehmen”

    Der Draghi-Report stellt der EU in den Bereichen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz ein schlechtes Zeugnis aus. In der Pressekonferenz sagte Mario Draghi auf die Frage, wo die Investitionen in diese Bereiche denn herkommen sollen, es mangele der EU an Fokus. “Wir verkünden, dass die Innovation im Mittelpunkt unseres Handelns steht, und dann tun wir im Grunde alles, was wir können, um sie auf einem niedrigen Niveau zu halten.”

    Draghi nennt mehrere Kritikpunkte:

    • Die regelmäßige Regulierungspolitik der EU gegenüber Technologieunternehmen hemme die Innovation. “Die EU hat fast 100 Gesetze, die sich auf den Technologiesektor beziehen, und viele dieser Gesetze verfolgen einen vorsorglichen Ansatz, indem sie bestimmte Geschäftspraktiken vorschreiben, um potenzielle, noch unbestimmte Risiken abzuwenden”, kritisiert Draghi. Ein Beispiel sei der AI Act.
    • Digitale Unternehmen würden davon abgehalten, über Tochtergesellschaften in der gesamten EU tätig zu werden, da sie mit heterogenen Anforderungen, einer Vielzahl von Regulierungsbehörden und einer Überfrachtung der EU-Gesetzgebung durch nationale Behörden konfrontiert sind.
    • Viertens verursachen die Beschränkungen der Datenspeicherung und -verarbeitung hohe Befolgungskosten. Schätzungen zufolge hat allein die DSGVO die Gewinne kleiner Technologieunternehmen um mehr als 15 Prozent geschmälert.

    “Die Quintessenz ist also, dass ein Großteil dieser Gesetzgebung für die sehr, sehr großen Unternehmen gilt, die vier, fünf, sechs riesigen US-Unternehmen”, sagte Draghi. Die EU selbst habe dagegen kleine Unternehmen. “Mit dieser Gesetzgebung, die wir uns selbst gegeben haben, machen wir uns also selbst kaputt”, sagte Draghi. “Wir töten unsere kleinen Unternehmen.”

    Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müsse Europa seine Anstrengungen in den Bereichen Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Innovation erheblich verstärken. Der Bericht hebt hervor, dass die EU im Bereich der digitalen Technologien, einschließlich Cloud-Computing und KI, gegenüber den USA und China zurückfällt und dringend aufholen muss. “Europa muss in Hochleistungsrechner investieren und ein föderiertes HPC-Modell etablieren”, fordert der Bericht, um die Rechenkapazitäten für die Entwicklung und den Einsatz von AI zu erweitern.

    Digitaler Binnenmarkt als Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit

    Besondere Aufmerksamkeit erhält der Digitale Binnenmarkt, dessen Vollendung “entscheidend für das wirtschaftliche Wachstum und die technologische Souveränität der EU” sei. Der Bericht fordert eine verstärkte Harmonisierung der Regulierungen, die Förderung offener Zugänge und Interoperabilität sowie die effektive Umsetzung neuer Gesetze wie dem Digital Markets Act (DMA). “Nutzen Sie die neuen Befugnisse, die mit der Durchsetzung des Digital Markets Act (DMA) verbunden sind, effektiv”, lautet der Appell an die Kommission, um den Wettbewerb zu stärken und europäische Plattformen zu fördern.

    Organisationen, die Start-ups und die digitale Wirtschaft vertreten, begrüßten weitgehend den Draghi-Report. Viele der Probleme, die Draghi in seinem Bericht angesprochen hat, haben die europäische digitale Szene seit Jahren verärgert. Clark Parsons, CEO des European Startup Network, hob eine Empfehlung als besonders wertvoll hervor: Draghi schlug vor, die EU solle ein neues, europaweites Rechtsstatut namens “Innovative European Company” schaffen, das vielversprechenden Start-ups ermöglichen würde, in allen Mitgliedstaaten denselben Gesetzen zu folgen und vereinfachte Börsengang-Verfahren zu nutzen. Derzeit müssen Unternehmen sich in jedem Land separat eintragen lassen, was ein schnelleres Wachstum behindert. “Das ist die Ursache der Friktionen, die uns daran hindert, wettbewerbsfähig zu sein”, sagte Parsons. J.D. Capeluto, Corinna Visser

    • Digital Markets Act
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    Draghi-Report: So wird die Automotive-Branche wieder konkurrenzfähig

    Um im Automotive-Bereich wieder wettbewerbsfähig zu werden, fordert Draghi, für konkurrenzfähige Kosten bei Löhnen und Energie zu sorgen. Stromabnahmevereinbarungen und eine weitere Automatisierung, also jenseits der Produktion, werden empfohlen. Es brauche eine EU-Strategie, um mit China und den USA gleichzuziehen, wo massiv Subventionen fließen. Die neue Industriestrategie müsse F&E, Rohstoffe, Veredelung, Komponenten, Datenaustausch, Herstellung und Recycling umfassen. Es müsse dafür gesorgt werden, dass die Rechtsvorschriften in der gesamten Lieferkette kohärent gemacht werden.

    Bei der Überprüfung der CO₂-Flottengesetzgebung und der AFIR-Regulierung (Lade- und Tankinfrastruktur) mahnt der Bericht Technologieneutralität an. Das Potenzial von CO₂-neutralen Kraftstoffen (E-Fuels) solle in Zusammenarbeit mit der Industrie ermittelt werden. Für die Dekarbonierung der Bestandsflotten sollen Kraftstoffe mit einem niedrigeren CO₂-Fußabdruck genutzt werden. 2025 wird die Kommission eine Methodik zu Ökobilanzen (“von der Wiege bis zur Bahre”) der Treibhausgasemissionen von Pkw vorlegen. Diese wird umfassender sein als der bisherige “Tank-zu-Rad”-Vergleich (“Tank to wheel”). Die neue Methodik soll dazu beitragen, Hebel zur Reduzierung der Emissionen in der Branche zu finden.

    Der Bericht mahnt fortgeschrittene Standards in folgenden Bereichen an:

    • Ladeprotokoll
    • Recycling
    • Neue Technologien wie Cybersicherheitssysteme, standardisierte Datenformate, autonome Fahrzeuge, standardisierte Software-Programmiersprachen
    • physische Schnittstellen und Touch-Points

    Regionen für emissionsfreie Automotive-Industrie

    Es sollen Regionen entstehen für die interdisziplinäre Entwicklung der emissionsfreien Automotive-Industrie (“Net Zero Acceleration Valleys”). Ziel soll sein, die nächste Generation von E-Autos und softwaredominierten Fahrzeugen zu entwickeln. Es soll sichergestellt werden, dass es eine in sich stimmige Digital-Regulierung im Automotive-Sektor gibt für:

    • Umgang mit Daten
    • Haftungsfragen
    • Interoperabilität von Daten und Systemen und gemeinsame Normen für die gemeinsame Nutzung von Daten

    Kohärente Regulierung für autonomes Fahren 

    Auch beim autonomen Fahren mahnt der Bericht eine abgestimmte und kohärente Regulierung an für:

    • Tests von Assistenz- und autonomen Fahrsystemen
    • Verkehrsregeln und Infrastruktur für autonomes Fahren und Assistenzsysteme einschließlich Datenschutz und Dateninfrastruktur
    • Zulassung und das Ausrollen von autonomem Fahren und Fahrassistenzsystemen

    IPCEIs sollen gestartet werden für:

    • software-definierte Fahrzeuge und autonomes Fahren
    • Kreislaufwirtschaft von Fahrzeugen
    • kleine oder erschwingliche E-Autos mgr
    • Autoindustrie
    • Autonomes Fahren
    • E-Fuels
    • IPCEI
    • Mario Draghi

    Verteidigungssektor: Wie Mario Draghi die strukturelle Integration vorantreiben will

    Die Verteidigungsausgaben der EU-Staaten seien angesichts des geopolitischen Umfelds nach wie vor ungenügend, Europas Verteidigungsindustrie tue sich zusätzlich schwer mit dem Zugang zu privaten Investitionen und der Fragmentierung des Marktes. Mario Draghi ist bei der Analyse des Status quo schonungslos, aber letztlich wenig überraschend. Doppelte Strukturen, die Fragmentierung oder die großen Defizite bei der Standardisierung von Rüstungsgütern sind bekannt. Interessanter deshalb, die Empfehlungen im Bericht unter dem Kapitel Verteidigung. Mario Draghi plädiert unter anderem für eine weitere Integration und Konsolidierung der Verteidigungsindustrie, mit einer Konzentration auf kritische und strategische Bereiche.

    Grenzüberschreitende Zusammenarbeit

    Dies, so der frühere italienische Regierungschef, würde die verteidigungsindustrielle Basis der EU stärken und ihre strategische Autonomie verbessern. Überschneidungen bei den Industriekapazitäten zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten müssten überwunden, eine grenzüberschreitende Integration das Ziel sein. Größenvorteile würden sich auch positiv auf die Verteidigungsausgaben auswirken.

    Der Handlungsbedarf werde wachsen, weil die Zukunft der Verteidigungsgüter bei zunehmend komplexen Systemen liege, die in hohem Masse interoperabel sein müssten. Bisherige Initiativen seien oft an der mangelnden Bereitschaft von Mitgliedstaaten und deren Firmen gescheitert, nationale Fähigkeiten in bestimmten Bereichen zugunsten einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit aufzugeben.

    Spezialisierungen und Schaffung von Kompetenzzentren

    Mario Draghi zählt verschiedene Bedingungen auf, um die strukturelle Integration von Europas Verteidigungssektor voranzutreiben. Es brauche volle politische Unterstützung der Mitgliedstaaten für die technologische und industrielle Konsolidierung. Die Mitgliedstaaten müssten bereit sein, gegenseitige Abhängigkeiten in ausgewählten Sektoren der Rüstungsindustrie zu akzeptieren und die Versorgungssicherheit zu garantieren.

    Die EU-Staaten müssten bereit sein, auf doppelte Strukturen bei bestimmten Fähigkeiten zu verzichten und wo nötig Kapazitäten abzubauen. Es brauche eine Einigung zwischen den Hauptstädten auf Spezialisierungen an bestimmten Industriestandorten. Es müssten Kompetenzzentren für bestimmte Produktionsbereiche, Technologien oder Teilsysteme geschaffen werden, um Größenvorteile und Synergieeffekte zu schaffen.

    Gemeinsame Forschungsanstrengungen

    Die Verteidigungsausgaben der EU-Staaten liegen laut Draghi-Bericht bei einem Drittel der Ausgaben der USA, während China zuletzt den Verteidigungshaushalt massiv ausgebaut habe. Die Tatsache, dass die EIB als Hausbank der EU Kredite für reine Rüstungsprojekte ausschließe, sende zudem ein negatives Signal an potenzielle Investoren an den Finanzmärkten.

    Besonders hebt der Bericht die Defizite der EU hervor, wenn es um Investitionen in Forschung und Entwicklung geht. Während die USA im vergangenen Jahr für 140 Milliarden Dollar investiert hätten, hätten in der EU nur rund zehn Milliarden Euro an öffentlichen Geldern zur Verfügung gestanden. Die Verteidigungssysteme der nächsten Generation würden für alle strategischen Bereiche aber in Zukunft massive Forschungsinvestitionen nötig machen, außerhalb der Möglichkeiten jedes einzelnen Mitgliedstaats. Draghi plädiert dafür, die Ressourcen auf EU-Ebene stärker auf gemeinsame Forschungsanstrengungen zu konzentrieren. sti

    • Mario Draghi
    • Sicherheitspolitik
    • Verteidigung

    Binnenmarktstrategie: Tschechien trommelt mit Non-Paper für Ehrgeiz

    Die neue Binnenmarktstrategie, die die Kommission im kommenden Sommer vorlegen will, soll möglichst ehrgeizig ausfallen. Die Kommission soll konkrete Vorschläge machen, die kurz- und mittelfristig umzusetzen sind, damit der Handel im Binnenmarkt zulegen kann. Dies ist die grundlegende Forderung eines Non-Papers von Tschechien, dem sich bislang 13 Mitgliedstaaten angeschlossen haben. Das Papier liegt Table.Briefings vor.

    Die Maßnahmen sollen die Freizügigkeit von Waren und Dienstleistungen verbessern. In diesem Bereich seien die nationalen Vorschriften immer noch stark zersplittert, schreiben die Autoren. Man erwarte, heißt es im Non-Paper weiter, einen Fahrplan mit Meilensteinen für dringende und konkrete Vorhaben. Der Marktzugang von Unternehmen solle durch eine bessere Konnektivität vereinfacht werden.

    Die Kommission solle zudem mehr überflüssige Bürokratie abschaffen als bisher angekündigt. Bislang hatte sie versprochen, 25 Prozent der Auflagen für Unternehmen zu streichen. Nun soll noch mehr wegfallen. “Die Digitalisierung wird unweigerlich eine wichtige Rolle bei der Verwirklichung der Freizügigkeit spielen“, heißt es wörtlich in dem Papier. Um die Qualität des Binnenmarktes zu verbessern, solle sich die EU konzentrieren auf “die Qualität, Kohärenz und Umsetzung und nicht die Quantität der Vorschriften.” Bislang unterstützen das Non-Paper Tschechiens:

    • Estland
    • Finnland
    • Irland
    • Lettland
    • Litauen
    • Luxemburg
    • Malta
    • Niederlande
    • Polen
    • Portugal
    • Slowakei
    • Slowenien
    • Schweden mgr
    • Digitalisierung
    • EU-Binnenmarkt
    • Europäische Kommission
    • Freizügigkeit
    • Tschechien

    Grenzkontrollen und Zurückweisungen: Faeser öffnet den Weg für Gespräche mit der Union 

    Vor wenigen Wochen wäre das wahrscheinlich undenkbar gewesen. Jetzt aber hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser in der Asyl- und Sicherheitspolitik eine massive Kehrtwende vollzogen und sofortige Grenzkontrollen an den deutschen Grenzen angeordnet. Nicht nur mit dem Verweis auf sportliche Großveranstaltungen und auch nicht mehr nur an ausgewählten Stellen, sondern an allen Außengrenzen. Auch wenn Faeser von einer “konsequenten Weiterentwicklung” ihrer Politik spricht – es ist eine nahezu komplette Neuausrichtung.  

    Der Kurswechsel hat viele Gründe. Ganz besonders ins Kontor geschlagen hat aber das Attentat von Solingen, verübt von einem ausreisepflichtigen, aber nicht abgeschobenen Asylbewerber. In der SPD-Spitze und im Kanzleramt hat sich längst die Überzeugung verfestigt, dass die Probleme im Umgang mit straffälligen Asylbewerbern keine Petitesse mehr sind, sondern ein großes Problem, das die Glaubwürdigkeit des Staates zu untergraben droht.   

    “Olaf Scholz kämpft”

    Der Kanzler verteidigte den Schritt in der Fraktion. Er sei wichtig und angebracht. Zugleich sei aber auch klar, dass “smarte Grenzkontrollen” keine Grenzschließungen seien. Aus der Fraktion hieß es: “Olaf kämpft! Auf seine leise Art, aber er tut es.” Fraktionsvize Dirk Wiese unterstützte den Schritt, betonte aber, dass Grenzkontrollen im Schengen-Raum “keine dauerhafte Lösung sein sollten und dürften”.

    Aus der Grünen-Fraktion hieß es, man habe “differenziert diskutiert”, und manche hätten Bedenken geäußert. Ein Argument: Sorge um Europa; ein zweites: Sorge um Geflüchtete und Migranten, die angesichts der Debatte große Angst hätten. Allerdings war man sich offenbar einig, erstmal nicht laut Nein zu rufen. Niemand will vor der Wahl in Brandenburg als Blockierer erscheinen.   

    Klares Motiv der SPD-Führung: Auf die CDU zugehen

    Scholz und die Genossen wollen in der aktuellen Lage offenkundig lieber mit der Union sprechen, statt sich von ihr unentwegt als zu lasch und zu unentschlossen attackieren zu lassen. Faeser betonte, sie habe sich am Montag “sehr vertrauensvoll, sehr gut” mit Thorsten Frei ausgetauscht. Und sie versicherte: “Wir haben Mittel und Wege für effektive Zurückweisungen gefunden.” Die werde man morgen gerne erstmal vertraulich CDU und CSU vorstellen, um dann hoffentlich gemeinsam zu einem Konsens zu kommen. Auch Hessen und Niedersachsen werden dann als Vertreter der Länder am Tisch sitzen.  

    Bis zuletzt galt der Schritt, den Faeser nun geht, als zwingende Voraussetzung der CDU-Spitze für intensivere Gespräche. Friedrich Merz sagte in der Fraktion, er wolle die Entscheidung erstmal schriftlich sehen, bevor er endgültige Entscheidungen treffe. Er gab sich verhalten optimistisch, dass die Ampel auf die Forderungen der Union eingehen könnte. “Wir haben erste Indikationen, dass sich etwas bewegt”, sagte Merz.  

    Zugleich blieb die CDU-Spitze betont vorsichtig. Sie trat Meldungen entgegen, man habe sich mit der Koalition schon geeinigt. “So ist es nicht”, hieß es aus der Fraktionsführung. Mancher fühlt sich schon an die Konflikte um die Zeitenwende erinnert, als der Kanzler und die Ampel frühzeitig versucht hätten, die Union schon vor einer Einigung für sich zu vereinnahmen. Dem will man offenkundig entgegentreten. Ob die Union Faesers Einladung fürs Gespräch am Dienstagnachmittag annimmt, ließ sie deshalb bewusst offen. Stefan Braun, Michael Bröcker und Franziska Klemenz

    • Asyl
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    Standpunkt

    Fragmentierte Stärkung: Die rechte Neuordnung im Europäischen Parlament

    Von Nicolai von Ondarza und Max Becker
    Nicolai von Ondarza, Stiftung Wissenschaft und Politik
    Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.

    Nach den Europawahlen 2024 hat sich die politische Rechtsaußenlandschaft im Europäischen Parlament (EP) neu aufgestellt. Parteien rechts der Europäischen Volkspartei (EVP) konnten in 23 EU-Staaten Zuwächse erzielen, allen voran in Deutschland und Frankreich. Den Wahlerfolgen folgte die Fragmentierung, statt zwei gibt es nun drei Rechtsaußenfraktionen im EP: die seit 2009 bestehende nationalkonservative EKR und die beiden neu gegründeten, weiter rechts außen stehenden Fraktionen Patrioten für Europa (PfE) und Europa der Souveränen Nationen (ESN).

    Fragmentierung schwächt den Einfluss von rechts außen

    Der wohl wichtigste Coup gelang Viktor Orbán und Marine Le Pen, deren Parteien sich mit Partnern aus der früheren Rechtsaußenfraktion Identität und Demokratie (ID) zu den Patrioten für Europa zusammenschlossen. Hierfür gewannen sie unter anderem die tschechische ANO (früher Teil der liberalen Renew), die spanische Vox (aus der EKR) und den Großteil der früheren ID-Fraktion. Zusammen sind sie mit 84 Abgeordneten drittstärkste Fraktion.

    Die EKR gewann einige kleinere Partner hinzu, und ist mit 78 Parlamentariern knapp viertstärkste Fraktion, wird nun aber von Melonis Brüdern Italiens dominiert. Zuletzt gelang es der AfD, die selbst für die ID und nun PfE zu radikal geworden war, vor allem mit neu ins EP gewählten Parteien die ESN zu gründen, die jetzt mit 25 Abgeordneten die mit Abstand kleinste Fraktion im EP stellt.  Weitere Bewegungen oder gar ein Zusammenschluss von PfE und ESN sind dabei nicht ausgeschlossen – zumindest programmatisch gibt es zwischen den beiden kaum Unterschiede.

    Die ersten Beschlüsse im Parlament zeigen dabei, dass diese Fragmentierung der Rechtsaußenparteien ein zentrales Hindernis für ihre politische Durchschlagskraft sein wird. Auch als drittgrößte Fraktion ist die PfE von allen zentralen Ämtern im EP (ebenso wie die ESN) ausgeschlossen. Die moderater auftretende EKR erhielt einige gewichtige Positionen, wurde aber für die Erlangung der Mehrheit für die Wahl von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin nicht gebraucht. Zumindest in dieser Legislaturperiode ist die Handlungsfähigkeit des EP nicht gefährdet. Der Druck zur Bildung supergroßer Koalitionen der Mitte hat aber zugenommen.

    Der eigentliche Fokus: Macht im Rat und im Europäischen Rat

    Der eigentliche Machtzuwachs der Rechtsaußenparteien vollzieht sich jedoch ohnehin abseits des Parlaments – im Rat und Europäischen Rat. Hier dürfte das eigentliche Kalkül insbesondere der PfE-Gründung liegen. Denn: Hier sitzen bereits die italienische Meloni-Regierung (EKR) oder die von Viktor Orbán (PfE) mit am Tisch. Auch in den Niederlanden übt die Freiheitspartei von Geert Wilders (PfE), trotz eines parteilosen Ministerpräsidenten, erheblichen Einfluss auf die Regierungskoalition aus. In Zukunft hoffen die PfE auf weitere Regierungsbeteiligungen, etwa von der FPÖ, Vox oder ANO.

    Für die PfE und ihre Mitgliedsparteien bietet der Rat somit eine wichtige Bühne, um ihre Agenda möglicherweise koordinierter als bisher durchzusetzen. Sie könnten bei Entscheidungen, die Einstimmigkeit erfordern, ihr Veto einlegen. Auch eine Sperrminorität bei Mehrheitsentscheidungen könnte bei den anhaltenden Wahlerfolgen von Rechtsaußenparteien in Europa in greifbare Nähe rücken. Spätestens dann können Regierungen mit Rechtsaußenparteien allen zentralen EU-Entscheidungen ihren Stempel aufdrücken.

    Der Cordon sanitaire bekommt Risse

    Denn insbesondere im Rat erodiert der lange praktizierte Cordon sanitaire gegenüber Rechtsaußenparteien zusehends. War die Beteiligung der FPÖ an der österreichischen Regierung im Jahr 2000 noch Grund für diplomatische Sanktionen, werden Meloni und Co heute pragmatisch eingebunden.

    Schon seit einigen Jahren bildet sich eher ein Cordon sélectif heraus: Während die radikaleren Kräfte, nun in Gestalt von PfE und ESN, weitgehend von Schlüsselpositionen im Parlament ausgeschlossen bleiben, erhält die EKR Zugang zu wichtigen Ausschussvorsitzen und Vize-Präsidentenposten. Innerhalb der Europäischen Volkspartei (EVP) mehren sich zudem Stimmen, die eine Zusammenarbeit mit der EKR auch bei der Mehrheitsbildung in der Gesetzgebung fordern. Dies birgt das Risiko, dass die bisherige Abgrenzung weiter aufgeweicht wird und die Grenzen nach rechts außen zunehmend verschwimmen.

    Europäische Sozialdemokraten und Liberale hingegen wollen auch die EKR ausgrenzen und haben erst Ursula von der Leyen aufgefordert, ihre Mehrheit im EP ohne die EKR aufzubauen, und verlangen nun, dass Personen aus allen Rechtsaußenparteien keine gewichtigen Portfolios in der neuen Kommission bekommen – einschließlich des italienischen Vorschlags aus Melonis Partei.

    EVP und von der Leyen stehen vor einem Dilemma

    So stehen die EVP und Ursula von der Leyen vor dem Dilemma, welches den meisten Mitte-Rechtsparteien in Europa droht: Grenzen sie sich scharf von Rechtsaußen ab, einschließlich der EKR, sind sie zu Kompromissen weit nach links gezwungen, um Mehrheiten zu organisieren, und riskieren die verschiedenen Rechtsaußenkräfte zusammenzubringen. Gehen sie hingegen auf die (teilweise) moderateren Kräfte zu, normalisieren sie die Zusammenarbeit mit Rechtsaußen und legitimieren ihre Positionen. Wie diese Entscheidungen ausfallen, wird die EU-Politik auf Jahre prägen, mit der Besetzung der wichtigen Kommissionsposten als nächstem Gradmesser.

    Nicolai von Ondarza leitet die Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
    Max Becker ist Forschungsassistent EU/Europe bei der SWP.

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