Ursula von der Leyen wird nicht heute, sondern erst am kommenden Dienstag um 9 Uhr in Straßburg ihren Vorschlag für Portfolios und Struktur ihrer neuen Kommission öffentlich machen. Der Grund für die Verzögerung ist wohl technischer Natur: Das Parlament von Slowenien wird erst am Freitag seine Einschätzung zu der Kandidatin Marta Kos formulieren, die die slowenische Regierung kürzlich vorgeschlagen hat. Erst dann sei die Nominierung “vollständig und offiziell”, heißt es in Brüssel.
Dennoch liegen die Nerven in einigen Regierungs- und Parteizentralen offenbar blank. Nach Presseberichten mit einschlägigen Personalspekulationen riefen derzeit regelmäßig aufgeregte Regierungschefs in Brüssel an, heißt es.
Die Sozialisten verlangen gewichtigere Portfolios für ihre wenigen Vertreter in der neuen Kommission, allen voran für die Spanierin Teresa Ribera. Der Chef der sozialistischen Parteienfamilie, Stefan Löfven, warnte: “Als sozialistische Familie Europas ist es an der Zeit, eine klare Warnung für das nächste Mandat der Kommission auszusprechen.” Die Unterstützung der Sozis für von der Leyen sei nie ein “Blankoscheck” gewesen.
Der ehemalige schwedische Ministerpräsident fordert, dass Nicolas Schmit, Spitzenkandidat der Sozialisten bei der Europawahl, wieder Kommissar wird. Dieser müsste aber von Luxemburgs christdemokratischer Premier Luc Frieden nominiert werden. Zudem warnt Löfven vor einer geringeren Rolle von Frauen in der neuen Kommission und geißelt, dass ein Kommissar der “rechtsaußen” verorteten EKR leitender Vize-Präsident werden solle.
Ob all dies den Planungen der Kommissionspräsidentin entspricht, ist unklar. Ebenso wenig, ob der Widerstand der Sozialisten dazu führt, dass sie ihre Planungen noch einmal überdenkt. Von der Leyen hütet die Struktur ihrer Kommission wie ein Staatsgeheimnis. Nicht einmal Kabinettsmitglieder von bisherigen und künftigen Kommissaren wissen Bescheid. Sie bereiten vielmehr in diesen Tagen die “Bestätigungsanhörungen” ihrer Chefs zu drei unterschiedlichen Portfolios vor, wie auf den Fluren des Berlaymonts zu hören ist.
Kommen Sie gut durch den Tag!
Die Schlagzeilen zu Mario Draghis Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit der EU waren dominiert von der Diskussion um gemeinsame Schulden. Doch ein Großteil des Berichts handelt nicht von der Finanzierungsproblematik. Das Ziel des Berichts ist viel eher, die EU in die Lage zu bringen, effektivere Industriepolitik zu betreiben – europäische Schulden hin oder her.
“Der Bericht bietet ein starkes intellektuelles Fundament für eine europäische Industriestrategie. Das hatten wir so noch nicht”, sagt Sander Tordoir, Chefökonom beim Think-Tank Centre for European Reform (CER).
Das Fundament besteht aus vier möglichen industriepolitischen Strategien, die die EU verfolgen kann, je nach Ziel, das sie in einem spezifischen Sektor verfolgt.
Auch Nils Redeker, stellvertretender Direktor des Jacques Delors Centre, findet Draghis Auslegeordnung hilfreich. Damit die vorgeschlagenen Strategien effektiv ausgeführt werden können, müssten die Generaldirektorate in der Kommission stärker zusammenarbeiten, meint er. “Draghi stellt der Kommission eine wichtige Koordinierungsaufgabe”, sagt Redeker.
Im Prinzip könnte die Koordinierung durch eine entsprechende Zusammenlegung der verschiedenen Dossiers unter einem Kommissar erreicht werden. Aber politisch ist das schwierig, da mit den DGs Trade, Grow und Comp drei der mächtigsten DGs betroffen sind. Alternativ kann die Koordination durch eine stärkere Führung durch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen selbst erwirkt werden.
Die Koordinationsaufgabe stellt sich aber auch den anderen Gesetzgebern. Sowohl der EU-Rat wie das Parlament sind in Ratsformationen beziehungsweise Parlamentskomitees aufgeteilt, in denen Wirtschaft, Handel und Industrie bisher relativ unabhängig voneinander diskutiert wurden.
Der Vorsitzende der Europa-SPD, René Repasi, der Draghis “whole of government”-Ansatz begrüßt, spricht sich für horizontale Formate aus, in denen der Austausch gewährleistet werden kann. Das Parlament hat auf die neue Legislatur hin auch seine Geschäftsordnung angepasst, was die Kooperation zwischen den Komitees bei horizontalen Dossiers erleichtern soll.
Aber Repasi betont, dass vor allem die Kommission sich anzupassen habe. Schließlich liege das Initiativrecht bei ihr und beim Wettbewerbsrecht sogar die ausschließliche Handlungskompetenz.
Der Ball liegt also bei der Kommission. Sie müsse nun aus der großen Liste der Handlungsvorschläge eine Priorisierung vornehmen, sagt Redeker. Aber – das betonen Redeker sowie Tordoir – die Kommission kann einige der Vorschläge Draghis schon sehr bald ins Rollen bringen:
Einige dieser Schritte sind in der nächsten Kommission sehr wahrscheinlich. So hat von der Leyen in ihren politischen Leitlinien bereits eine Reform der öffentlichen Auftragsvergabe angekündigt, mit der sie europäische Produkte fördern will. Auch die Lancierung von zusätzlichen und einfacheren IPCEIs hat sie für 2025 angekündigt.
Zwei Gerichtsurteile an einem Tag retten das Vermächtnis von Margrethe Vestager als EU-Wettbewerbskommissarin. Der Europäische Gerichtshof bestätigte ihre Entscheidungen, Apple 13 Milliarden Euro an Steuernachzahlungen in Irland aufzuerlegen und im Falle Google Shopping eine Strafe von 2,4 Milliarden Euro für den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu verlangen.
Vestager hatte sich in ihrer ersten Amtszeit international einen Ruf als energische Wettbewerbshüterin gemacht. Mehrere ihrer aufsehenerregenden Entscheidungen waren aber später von den Gerichten kassiert worden.
Vestager war sich bewusst, dass eine weitere Niederlage insbesondere im spektakulären Apple-Fall ihre Bilanz ernsthaft beschädigt hätte. “Ich war bereit, die Niederlage zu akzeptieren, aber der Sieg hat mich zum Weinen gebracht“, sagte sie emotional. Sie räumte freimütig ein, von dem Urteil positiv überrascht worden zu sein. Die erste Instanz hatte noch der Beschwerde des Konzerns und der irischen Regierung stattgegeben. Das EuGH-Verdikt ist nun endgültig.
Vestager hatte Irland 2016 dazu verdonnert, 13 Milliarden Euro an Steuern (plus Zinsen) von Apple nachzufordern. Die irischen Steuerbehörden hätten dem US-Unternehmen in zwei Steuervorbescheiden rechtswidrig ermöglicht, seine Steuerlast am EU-Stammsitz seit 1991 künstlich zu senken. Apple habe so den Großteil der steuerpflichtigen Gewinne zwei Tochtergesellschaften zurechnen können, die nur auf dem Papier bestünden und nirgendwo besteuert würden. Die Kommission wertete dies als rechtswidrige staatliche Beihilfen.
Apple-Chef Tim Cook bezeichnete die Entscheidung damals als “politischen Mist”. Das Unternehmen argumentiert, die geistigen Eigentumsrechte lägen am Hauptquartier in Cupertino und die Gewinne daraus würden daher in den USA versteuert. Der EuGH urteilte nun, dass die von den beiden irischen Töchtern gehaltenen IP-Lizenzen und die damit verbundenen Gewinne, die durch den Verkauf von Apple-Produkten außerhalb der Vereinigten Staaten erwirtschaftet wurden, für Steuerzwecke den irischen Niederlassungen hätten zugerechnet werden müssen.
Vestager war auch gegen steuerliche Vorzugsbehandlungen von Großkonzernen wie Amazon oder Starbucks in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg vorgegangen, musste dabei aber einige Niederlagen vor Gericht einstecken. Mit dem Apple-Urteil erhalte die Kommission nun nicht nur Rückenwind vom EuGH, sondern habe “auch ein Stück Rechtssicherheit für ihr zukünftiges Vorgehen gegen Steuerpraktiken gewonnen“, sagt Sarah Blazek, Partnerin der Kanzlei Noerr. Für andere in der EU tätige Großkonzerne sei das Urteil ein klares Signal. Die Entscheidung sei zugleich “eine Warnung an die nationalen Finanzminister, die künftig mehr auf die Solidarität zwischen den 27 EU-Staaten achten müssen”, mahnte Andreas Schwab, binnenmarktpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion.
Vestager sagte, das Vorgehen der Kommission habe teilweise ein Umdenken eingeleitet. So hätten etwa Irland oder Luxemburg die beanstandeten Praktiken abgestellt. “Leider sind aggressive Steuerplanungspraktiken immer noch weit verbreitet”, kritisierte sie. Vier EU-Länder, nämlich Irland, die Niederlande, Luxemburg und Belgien spielten noch immer eine zentrale Rolle bei der Gewinnverlagerung der Konzerne zulasten der Steuerzahler.
Die Kommission hat noch einige Beihilfeverfahren wegen Steuerpraktiken in der Pipeline. Sie hat formelle Untersuchungen gegen IKEA, Nike und den finnischen Verpackungshersteller Huhtamäki eingeleitet. Ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin müsse entscheiden, wie er oder sie weiter vorgehe, sagte Vestager.
Als nicht weniger als historisch und wegweisend bezeichneten die Beteiligten im Google-Fall das Urteil. Dazu gehörten etwa der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) und der Medienverband der freien Presse (MVFP) ebenso wie die Preisvergleichsplattform Idealo. Das EuGH-Urteil zeige, “dass unser hartnäckiger Einsatz für Gerechtigkeit und faire Marktbedingungen sich ausgezahlt hat”, kommentierte Albrecht von Sonntag, Mitgründer und Beirat von Idealo die Entscheidung. Sie sei ein Sieg für den gesamten E-Commerce und vor allem die Verbraucher.
So sieht das auch die europäische Verbraucherorganisation BEUC. “Google schadete Millionen von europäischen Verbrauchern, indem es dafür sorgte, dass konkurrierende Shopping-Vergleichsdienste praktisch unsichtbar waren”, sagte BEUC-Generaldirektor Agustín Reyna.
Die Geldbuße von etwa 2,4 Milliarden Euro hatte die Kommission 2017 gegen Google verhängt, weil das Unternehmen seine beherrschende Stellung auf mehreren nationalen Märkten für Online-Suchdienste missbraucht habe. Demnach habe Google den eigenen Preisvergleichsdienst zulasten der Wettbewerber begünstigt. Da das Gericht diesen Beschluss im Wesentlichen bestätigte, legte Google Rechtsmittel beim Gerichtshof ein. Der EuGH wies diese nun zurück, womit das Urteil jetzt rechtskräftig ist.
Dieser Fall stelle einen entscheidenden Wandel in der Art und Weise dar, wie digitale Unternehmen reguliert und auch wahrgenommen würden, sagte Vestager. Es sei ein Präzedenzfall geschaffen und der Weg für weitere Regulierungsmaßnahmen geebnet worden, darunter das Gesetz über digitale Märkte (DMA).
Google äußerte sich enttäuscht. Das Urteil beruhe auf einem sehr speziellen Sachverhalt. Bereits 2017 habe das Unternehmen Änderungen vorgenommen, um der Entscheidung der Brüsseler Behörde nachzukommen. “Unser Ansatz hat mehr als sieben Jahre lang erfolgreich funktioniert und Milliarden von Klicks für mehr als 800 Preisvergleichsdienste generiert”, sagte ein Sprecher.
Tatsächlich hat dieser Fall auch einen faden Beigeschmack. Denn die frühesten Beschwerden reichen bereits 17 Jahre zurück. 2007 reichte der britische Preisvergleichsdienst Foundem Beschwerde ein und beschuldigte Google, seine Suchergebnisse so zu manipulieren, dass eigene Dienste bevorzugt und Konkurrenten benachteiligt wurden. Selbstbevorzugung nennt die Kommission das heute.
Bereits kommende Woche entscheidet das Gericht der EU über einen ähnlich gelagerten Fall. Dabei geht es um die Frage, ob Google bei Suchmaschinen-Werbung im Dienst AdSense for Search andere Anbieter unzulässigerweise behinderte und die Geldbuße der EU-Kommission in Höhe von 1,49 Milliarden Euro gerechtfertigt war.
Kurze Hoffnung im Asylkonflikt, dann das Scheitern: Nach gut zwei Stunden verließen die Verhandler der Unionsfraktion das Bundesinnenministerium. Fürs Erste gibt es keine Einigung auf einen gemeinsamen Weg in der Asylpolitik. Schuldzuweisungen gab es auf beiden Seiten. Ampel wie Union warfen sich gegenseitig vor, Vorschläge zu machen, die entweder nicht schnell wirken oder juristisch nicht machbar seien. Ergebnis: Ampel und Union haben es fürs Erste nicht geschafft, ein für die Gesellschaft großes Problem zu lösen. Unübersehbarer Nebeneffekt: Der Druck der Union hat die notorisch zerstrittene Koalition zum ersten Mal seit langem wieder zusammengeführt.
CDU und CSU hatten verlangt, dass Bundespolizisten an der Grenze künftig alle Menschen zurückweisen, die aus einem anderen EU-Land kommen und Asyl wollen. Nach ihrer Auffassung sei das juristisch zwar nicht unumstritten, aber möglich – und es sei politisch unverzichtbar, weil nur dieser Schritt sicherstelle, dass sich sehr schnell und für alle spürbar etwas ändert. Im Vorfeld verwiesen sie mehrfach auf eine Rechtsprüfung, die im BMI unter dem früheren Minister Horst Seehofer durchgeführt wurde. Sie besage, dass dieser Schritt in Notlagen möglich sei.
Innenministerin Nancy Faeser wies die Forderung trotzdem zurück. Im Bündnis mit Justizminister Marco Buschmann und Außenministerin Annalena Baerbock erklärte sie, dass die Idee der Union rechtlich und politisch nicht vertretbar sei. Buschmann betonte, man könne von einer Bundesregierung nicht verlangen, “dass sie sich offen in Widerspruch zum Grundgesetz und zum europäischen Recht setzt”. Baerbock verwies auf erste Reaktionen aus Österreich und Polen, die die Unionspläne scharf kritisiert hätten. Die Ampel und auch die Grünen seien fest entschlossen, die illegale Migration mit allen legalen Mitteln zu bekämpfen, so Baerbock. Aber: “Wir würden den Terroristen nur einen großen Gefallen tun, wenn wir uns darüber in der EU zerstreiten.”
Die Ampel hatte der Union als Alternative angeboten, grenznahe Zentren für beschleunigte Asylverfahren zu errichten. In diesen sollen Asylgesuche schnell und rechtssicher durchgeführt werden. Faeser betonte, dass gerade illegale Migration, durch die zwangsweise Aufnahme in solche Zentren besser kontrolliert werden könne, als durch schlichtes Abweisen, bei dem niemand wisse, ob diese Menschen nicht sofort einen neuen Versuch über die grüne Grenze unternehmen würden. Ähnliche Forderungen aus der CSU in 2015 und den Jahren danach hatten FDP, Grüne und SPD damals noch vehement abgelehnt hatten. Nun reichte der Vorschlag der Union selbst nicht mehr aus. Sie kritisiert, dass dies zu lange dauern würde und die Menschen deshalb nicht schnell genug Änderungen vom Bisherigen erkennen könnten.
Beide Seiten wissen, was das Scheitern bedeutet. Die erste Botschaft lautet: Die demokratische Mitte hat es nicht geschafft, eine gemeinsame Lösung zu finden. Aus diesem Grund gab es aus der Ampel und aus der Union am Dienstagabend versöhnliche Töne. Aus der Unionsfraktion hieß es, man werde die Migrationspolitik der Ampel im Bundestag “kritisch konstruktiv begleiten und eigene konstruktive Vorschläge einbringen”. Die unmissverständliche Betonung lag auf: konstruktiv. Aus der Ampel war zu hören, man werde die eigenen Vorschläge umsetzen, sich aber weiteren Gesprächen auf keinen Fall verschließen.
Eine etwas andere Ton- und Lesart lieferte am Abend Christian Lindner. Er kritisierte den Abbruch der Migrationsgespräche durch die CDU scharf. “Hier ist der CDU ein taktischer Fehler unterlaufen. Die CDU fordert völlig zu Recht eine Zurückweisung an den deutschen Grenzen, und dazu ist die Ampel-Koalition auch bereit”, sagte Lindner Table.Briefings. “Wir sind bereit, das Modell der CDU zu übernehmen, aber dann müssen alle gemeinsam die verwaltungsrechtlichen Risiken übernehmen.” Damit spielte der FDP-Vorsitzende auf die rechtlichen Risiken einer möglichen Zurückweisung von Asylbewerbern an den deutschen Grenzen an.
Laut Lindner sei die CDU trotzdem aufgestanden und habe die Gespräche verlassen. “Es gab offenbar ein Drehbuch. Da muss man nachsichtig sein und der CDU eine Selbstkorrektur ermöglichen.” Keine Partei der Mitte profitiere davon, wenn das Thema Migration in den Bundestagswahlkampf gerate. “Es werden nur die Ränder profitieren.”
Die EU-Kommission wollte die deutschen Maßnahmen zunächst nicht kommentieren. Die Bundesregierung habe die Maßnahmen in Brüssel angemeldet und diese würden nun sorgfältig geprüft, erklärten Chefsprecher Eric Mamer und die für Migration zuständige Sprecherin Anitta Hipper am Dienstag in Brüssel. Man sei im Gespräch mit Berlin und wolle dem Ergebnis der Prüfung nicht vorgreifen.
Generell gelte, dass Grenzkontrollen “notwendig und verhältnismäßig” sein müssen und den Vorschriften des Schengener Grenzkodex entsprechen, erläuterte Hipper. “Daher sollten derartige Maßnahmen eine absolute Ausnahme bleiben“, betonte sie. Gegenüber nationalen Maßnahmen seien grenzüberschreitende Patrouillen vorzuziehen. Allerdings stehe Deutschland auch nicht allein dar.
Nach einer Aufstellung der EU-Kommission haben derzeit acht EU-Staaten zeitlich befristete Grenzkontrollen in Brüssel angemeldet. Neben Deutschland sind dies auch Frankreich, Italien, Schweden, Dänemark, Slowenien, Norwegen und Österreich. Die meisten Maßnahmen laufen allerdings Ende dieses Jahres aus. Nach dem Schengener Grenzkodex müssen die Kontrollen zwar notifiziert werden; ein Vetorecht hat die EU-Kommission jedoch nicht.
Zu der Frage, ob Asylbewerber an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden können, wenn sie in einem anderen EU-Staat einen Asylantrag gestellt haben, wollte sich die Kommission nicht äußern. Die Behördensprecher gingen auch nicht auf mögliche Dominoeffekte in anderen EU-Staaten ein. Das sei “Spekulation”, so Hipper. Österreich hat bereits angekündigt, dass man von Deutschland zurückgewiesene Geflüchtete nicht aufnehmen werde.
Andere Staaten wie Frankreich oder Belgien wollen offenbar zunächst abwarten. Die Bundesregierung habe die belgischen Behörden informiert, sagte Innenministerin Annelies Verlinden. Bisher gebe es keinen Handlungsbedarf. Polen nannte deutsche Grenzkontrollen dagegen inakzeptabel. Er werde schnellstmöglich mit allen Ländern Konsultationen aufnehmen, die von einem solchen Schritt betroffen wären, sagte Ministerpräsident Donald Tusk.
Eine Sondersitzung im Rat zeichnete sich am Dienstag aber noch nicht ab. Auch im Europaparlament gab man sich gelassen. Zurückweisungen an der deutschen Grenze seien eine “Interimsoption”, bis der neue Migrationspakt in Kraft tritt, hatte bereits EVP-Chef Manfred Weber am Sonntag im ARD-Europamagazin erklärt. Der CSU-Politiker stellte sich damit hinter den Vorstoß von CDU-Chef Friedrich Merz. Ob die Pläne von der Leyen (CDU) abgestimmt waren, blieb offen.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hält hohe Investitionen und tiefgreifende Strukturreformen für erforderlich, um Deutschland als Industriestandort zu erhalten. Anderenfalls seien bis zum Jahr 2030 rund 20 Prozent der deutschen Industriewertschöpfung gefährdet, heißt es in einer am Dienstag vorgestellten Studie, die die Boston Consulting Group und das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag des BDI erstellt haben. Besonders groß ist der Gefährdungsanteil demnach bei Kokereien und Mineralölverarbeitung mit rund 60 Prozent, in der Grundstoff-Chemie mit 40 Prozent und im Automobilbau mit 30 Prozent.
Die Studie sei ein “lauter Weckruf” für die Politik, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm. Allerdings dürfte sich Wirtschaftsminister Robert Habeck durch viele BDI-Forderungen eher bestärkt fühlen – etwa nach niedrigeren Industriestrompreisen, die er in der Regierung nicht durchsetzen konnte, oder nach einem schnellen Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur, die die Regierung gerade auf den Weg gebracht hat. Zudem macht die Studie auch deutlich, dass viele der Probleme nicht allein von der deutschen Politik verursacht wurden – etwa die Demografiekrise, die gestiegenen Gaspreise oder wachsender Protektionismus.
Eine Abschwächung der Klimaziele fordert der BDI nicht, auch der aktuellen Kritik am Verbrenner-Aus schließt er sich nicht an, sondern stellt fest: “Die Zukunft des Automobilsektors hängt mehr als alles andere davon ab, ob deutsche Hersteller auch in Elektromobilität erfolgreich sind.”
Zur Stärkung des Standorts fordert der BDI eine “industriepolitische Agenda”. Zu dieser gehörten günstigere Energiepreise durch gezielte Entlastung, der Abbau von Bürokratie, eine schnellere Digitalisierung und die Modernisierung der Infrastruktur. Die zusätzlichen Investitionen dafür schätzt der Verband bis 2030 auf rund 1,4 Billionen Euro. Ein Drittel davon müsse vom Staat aufgebracht werden. Zur Finanzierung setzt der BDI dabei zunächst auf Priorisierung und effizienteren Mitteleinsatz; wenn dies erfolgt sei, hält der Verband zusätzliche Schulden in Form von zweckgebundenen Sondervermögen für vertretbar.
Die BDI-Studie argumentiert damit ähnlich wie der am Montag von der EU vorgestellte Report von Mario Draghi. Der ehemalige EZB-Präsident hatte in seinem Bericht eine neue Industriestrategie ausbuchstabiert, um die nachlassende Innovationskraft der europäischen Wirtschaft zu stärken. Laut Draghi erfordere der nötige “radikale Wandel” hin zu digitalen und grünen Technologien jährliche Zusatzinvestitionen von bis zu 800 Milliarden Euro. Einen Teil der nötigen staatlichen Investitionen will Draghi über gemeinsame Anleihen aufbringen.
Dieser Vorschlag war in Berlin umgehend auf Ablehnung gestoßen, etwa bei Finanzminister Christian Lindner. Kanzler Olaf Scholz sieht ein neues EU-Schuldenprogramm ebenfalls kritisch, während Wirtschaftsminister Robert Habeck aufgeschlossener ist. Habecks Staatssekretär Sven Giegold appellierte an die anderen Parteien, den Draghi-Bericht nicht auf einen Aspekt zu verkürzen: “Die Reaktionen in Deutschland sollten sich nicht in der üblichen reflexhaften Ablehnung einzelner Aussagen erschöpfen”, sagte er Table.Briefings. mkr/tho
VDA-Präsidentin Hildegard Müller wirft der Bundesregierung vor, nichts gegen eine Regelung zu tun, die die Hersteller von E-Autos in Deutschland massiv benachteiligen würde. “Die Zeit läuft ab – und weder Brüssel noch Berlin lenken beim delegierten Rechtsakt zur Berechnung des CO₂-Fußabdrucks im Zusammenhang mit der EU-Batterieverordnung ein”, sagte Müller.
Hintergrund ist: Die EU-Kommission hat einen Rechtsakt zur Batterieverordnung vorgelegt, der die Ökobilanz der Batterie pauschal nach dem nationalen Strommix berechnen und Erneuerbare-Energien-Zertifikate ablehnen will. Da der Strommix in Frankreich und Schweden wegen Atomstrom und Wasserkraft deutlich sauberer ist, würde der Batterieproduktion in Deutschland so der Stecker gezogen. “Berlin muss sich mit Mitgliedstaaten wie Polen vereinen, um einen elementaren Standort- und Wettbewerbsnachteil für deutsche Unternehmen abzuwenden.”
Die vorgeschlagene CO₂-Berechnung sei weder zielführend noch strategisch sinnvoll. Sie stehe im absoluten Widerspruch zum bisherigen Vorgehen der EU. “Damit würden in Deutschland produzierende Unternehmen de facto für die deutsche Energiepolitik bestraft”, betonte Müller. Statt gegen den Rechtsakt in Brüssel zu lobbyieren und Allianzen mit anderen Mitgliedstaaten zu schmieden, versuche die deutsche Politik die Sorgen der Industrie zu beschwichtigen. Etwa mit der Ankündigung, dass der Ausbau der Erneuerbaren Energien hierzulande in absehbarer Zeit zügig voranschreite. mgr
Die EU wird nach einem Bericht von Bloomberg die Zusatzzölle auf E-Autos für einige Hersteller noch einmal leicht senken. Die Zollsätze würden aufgrund neuer, von den Firmen vorgelegter Informationen, geringfügig nach unten korrigiert, schreibt die Nachrichtenagentur unter Berufung auf anonyme Quellen. Demnach soll der Sonderzollsatz für den US-Autobauer Tesla von neun Prozent auf knapp acht Prozent revidiert werden. Für den Geely liege der neue Satz bei 18,8 Prozent statt bei 19,3 Prozent, für BYD bleibe er bei 17 Prozent. Der Höchstsatz für chinesische Hersteller, die bei der EU-Subventionsuntersuchung nicht kooperiert haben, werde 35,3 Prozent betragen, gegenüber zuvor festgesetzten 36,3 Prozent. Bei der ersten Ankündigung hatte der Höchstsatz sogar bei gut 38 Prozent gelegen.
Die Zollsätze könnten in der Zukunft noch öfter angepasst werden, je nachdem, wie die Gespräche zwischen der EU und den betroffenen Parteien weitergehen, so der Bericht. Chinas Handelsministerium bekräftigte derweil seine Bereitschaft, Gespräche mit der EU-Kommission zu führen: “China ist bereit, weiterhin eng mit der europäischen Seite zusammenzuarbeiten, um eine Lösung zu finden, die den gemeinsamen Interessen beider Seiten entspricht und im Einklang mit den WTO-Regeln steht”, hieß es. Vergangene Woche hatte China signalisiert, es könne davon absehen, vorläufige Anti-Dumpingmaßnahmen für EU-Brandy einzuführen.
Mehrere chinesische Autobauer nehmen laut Reuters derzeit an der Messe Automechanika in Frankfurt teil, die gemeinsam mit dem China Council for the Promotion of International Trade,gestartet wurde und auch als “EV Expo” bekannt ist – darunter BYD, Geely und die Staatsfirmen Hongqi und Guangzhou Auto International. “Selbst wenn sich einige in Europa gegen uns wenden, werden wir uns niemals gegen den europäischen Markt wenden”, sagte Victor Yang, Senior Vice-President von Geely laut Reuters. Messe-Direktor Olaf Musshoff, betonte: “Wir wollen, dass die derzeit noch weitgehend unbekannten Elektroautos chinesischer Hersteller das Vertrauen der Branche gewinnen.” ck/rtr
Flexibilität fordert der Verband der Elektro- und Digitalindustrie ZVEI von der künftigen Kommission bei der Umsetzung der vielen Digitalgesetze, die die vergangene auf den Weg gebracht hat. “Die Herausforderung ist, dass die Beteiligten jetzt bei der Umsetzung offen bleiben“, sagte ZVEI-Geschäftsführer Wolfgang Weber im Gespräch mit Table.Briefings. Die Kommission müsse schnell reagieren und Anpassungen vornehmen, dort, wo sich jetzt die größten Schwierigkeiten auftäten. “Es geht also auch um eine Veränderung im Mindset.“
Die Herausforderungen hat der ZVEI seinerseits auch bereits identifiziert und in einem detaillierten Dokument die regulatorischen Widersprüche und Inkohärenzen zwischen den neuen sowie zwischen neuen und bereits bestehenden Rechtsakten aufgezeigt. Es müsse nun darum gehen, die Regulierungen so weiterzuentwickeln, “dass regulatorische Inkohärenzen und Doppelregulierungen beseitigt und Innovationen angereizt werden”.
Die “schwerwiegendsten regulatorischen Fälle” hat der ZVEI als “worst cases” und “heavy cases” eingeordnet. Hier sieht der Verband den dringlichsten Handlungsbedarf. Drei Beispiele:
Insgesamt hält der ZVEI es für wichtig, dass die Kommission in ihren sekundären Rechtsakten jetzt klare Vorgaben schafft. “Die Verunsicherung über die Rechtslage darf nicht dazu führen, dass die Unternehmen darauf verzichten, ihre Datenschätze zu heben”, sagte Weber. vis
Die Bundesregierung will der chemischen Industrie offenbar beim geplanten Verbot von per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS) entgegenkommen. Die industriell hergestellten organischen Verbindungen werden für Produkte wie Windkraftanlagen, Wärmepumpen, Smartphones und Kochgeräte benötigt. Doch die Rückstände gelten als gesundheitsgefährdend, sie sammeln sich in Pflanzen und Böden.
Die PFAS-Substanzen seien bei vielen modernen Industrieanlagen unverzichtbar, heißt es nun in Regierungskreisen. Man werde einen “pragmatischen Weg” finden, der die industrielle Entwicklung Deutschlands nicht behindere. Dabei soll es sich um einen risikobasierten Ansatz bei der Einschränkung der Substanzen handeln, nicht um ein pauschales Verbot. Zuvor hatten knapp 40 Wirtschaftsverbände einen Brief an den Kanzler und die zuständigen Ressorts geschrieben, in dem sie eine “stärker zielgerichtete” Vorgehensweise anmahnen und einen PFAS-Gipfel im Kanzleramt fordern. Im Chemie-Dreieck in Bayern sollen Unternehmen wegen der bevorstehenden Regulierung bereits angekündigt haben, den Standort zu verlassen.
Die Fachpolitiker der Ampel haben ein Stärkungspaket für die Chemieindustrie vereinbart, der beim Chemie & Pharma Summit an diesem Donnerstag in Berlin präsentiert werden soll. Neben der Abschwächung bei der PFAS-Regulierung gehören angeblich weitere Maßnahmen zum Bürokratieabbau und ein Level Playing Field in Europa bei der Lieferkettengesetzgebung dazu. Die jüngste Wachstumsinitiative der Bundesregierung wird als stützende Maßnahme für die Branche benannt, heißt es. Nach dem Chemie-Gipfel im Herbst 2023 war der Druck der Industrie gestiegen, angesichts hoher Energiepreise und schwächelnder Wirtschaft die Branche zu stützen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hält die zentrale Rede bei der Veranstaltung des Verbands der Chemischen Industrie. Auch CDU-Chef Friedrich Merz und FDP-Finanzminister Christian Lindner haben sich angekündigt. Deutschland ist der viertgrößte Chemiestandort der Welt nach den USA, China und Japan. Table.Briefings ist Medienpartner der Konferenz. In der Bundesregierung hält man die Aufregung der Branche für übertrieben. Ein Vorschlag der EU-Kommission zum Umgang mit den PFAS-Substanzen werde frühestens 2026 erwartet. Brö
Christian Baukhage, der engste Mitarbeiter des deutschen EU-Botschafters Michael Clauß, ist am Wochenende völlig unerwartet gestorben. “Die Nachricht vom plötzlichen und unerwarteten Tod unseres Kollegen Christian Baukhage hat uns alle tief getroffen und macht uns unendlich traurig“, sagte ein Sprecher der Ständigen Vertretung. Baukhage wurde nur 48 Jahre alt.
Der Diplomat hatte seit April 2022 als sogenannter Antici für Clauß die Sitzungen des Ausschusses der Ständigen Vertreter bei der EU vor (AStV 2) vorbereitet. Er galt als sehr kompetent und kollegial. “Christian Baukhage war sehr viel mehr für uns als nur ein Kollege”, sagte der Sprecher. “Er wird uns allen sehr fehlen.” tho
Deutschland will bis 2045 klimaneutral sein. Die Automobilindustrie steht entschlossen hinter diesem Ziel. Wir sind überzeugt, dass Innovationen und Investitionen auf dem Weg dorthin zentral sind und investieren daher allein von 2024 bis 2028 rund 280 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung.
Um die gesetzten Klimaziele zu erreichen, brauchen wir jede Technologie. Der Hochlauf der Elektromobilität wird dabei sicher den entscheidenden Beitrag leisten – erneuerbare Kraftstoffe und Wasserstoff sind aber weitere interessante Optionen. Hinzu kommt insbesondere für die Defossilisierung des Fahrzeugbestands: Mit erneuerbaren Kraftstoffen kann die bestehende Flotte weitgehend klimaneutral betrieben werden.
Damit dieser Hebel genutzt werden kann, müssen nun die richtigen Entscheidungen getroffen und Anreize gesetzt werden. Ein zentraler Hebel für den Klimaschutz im Verkehrssektor ist die Treibhausgasminderungsquote (THG-Quote). Richtig ausgestaltet, kann sie Milliardeninvestitionen in erneuerbare Energieträger für den Verkehrssektor auslösen. In der aktuellen Form ist sie allerdings nicht ambitioniert genug und wirkt daher inzwischen eher Investitionen hemmend.
Um dies zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Funktionsweise: Die THG-Quote gibt der Mineralölwirtschaft jährliche CO₂-Einsparungsziele vor. So müssen die CO₂-Emissionen in diesem Jahr um 9,25 Prozent sinken; bis zum Jahr 2030 steigt der Wert auf 25,1 Prozent an. Die Ziele können durch das Inverkehrbringen von Ladestrom, Biokraftstoffen, Wasserstoff und E-Fuels erreicht werden.
Alternativ können verpflichtete Unternehmen die Ziele durch Dritte mittels Zertifikate am THG-Quotenhandel erreichen. Diese Zertifikate werden über Dienstleister bei Haltern von E-Autos, E-Lkw und E-Bussen generiert und an die Mineralölwirtschaft verkauft. So entstehen Investitionshebel mit Blick auf die Ladesäuleninfrastruktur sowie für die Produktion von Biokraftstoffen, Wasserstoff und E-Fuels.
Der THG-Quotenpreis bildet sich frei am Markt – die Einflussfaktoren dabei sind Angebot und Nachfrage erneuerbarer Energieträger im Verkehrssektor, die Höhe der THG-Quote und ihre mögliche Übererfüllung. Im Grundsatz gilt also, dass gerade in Zeiten der aktuell angespannten Haushaltslage die THG-Quote ein geeignetes Instrument zur CO₂-Reduktion ist, da sie ohne finanzielle Subventionen und Steuergelder auskommt.
Doch was hat die Höhe der THG-Quote damit zu tun? Dass die THG-Quote jüngst übererfüllt wurde, ist nur teilweise auf ausreichend erneuerbare Energieträger zurückzuführen. Bestimmte Energieträger werden nämlich beim Inverkehrbringen mehrfach angerechnet – bei Ladestrom, Wasserstoff und E-Fuels sogar mit dreifachem Faktor. Im Klartext: Eine Kilowattstunde Strom, ein Kilogramm Wasserstoff und ein Liter E-Fuel zählen jeweils so viel wie drei. Auf dem Papier ist der Klimaschutz somit deutlich größer als in der Realität.
Für die Phase des Markthochlaufs ist dieses Prinzip sinnvoll, weil es Investitionen in die jeweiligen Technologien anreizt. Doch bei steigenden Mengen erneuerbarer Energieträger geht die Schere zwischen realem und schöngerechnetem Klimaschutz immer weiter auf. Fakt ist allerdings: Das Klimaschutzgesetz schreibt für 2045 reale Netto-Treibhausgasneutralität vor! Deshalb ist der langfristige Einsatz von Mehrfachanrechnungen nicht zielführend, im Gegenteil: Jetzt braucht es Investitionen in realen Klimaschutz.
Bei einer zu hohen Verfügbarkeit erneuerbarer Energieträger im Verkehrssektor wirkt die THG-Quote wie ein Deckel, der Investitionen bremst und den THG-Quotenpreis sinken lässt. Sind die Ziele erfüllt, besteht kein Anreiz mehr, darüber hinaus zu investieren. Mehrfachanrechnungen verstärken diesen Effekt, weil sie die Zielerfüllung ohne Substanz beschleunigen. Übersteigt die Anzahl verfügbarer Zertifikate die Nachfrage am Markt, sinkt der Quotenpreis. Das ist gleich aus zweifacher Hinsicht problematisch: Zum einen kann das Inverkehrbringen fossiler Energieträger durch den Zukauf von Zertifikaten bilanziell ausgeglichen werden. Das hält das fossile Geschäft am Leben.
Zum anderen hemmt ein zu niedriger Quotenpreis den Hochlauf von Null-Emissions-Fahrzeugen, beispielsweise Brennstoffzellen-Lkw. Diese sind gegenwärtig noch teurer als Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Null-Emissions-Fahrzeuge können am THG-Quotenhandel partizipieren. Der THG-Quotenpreise liegen derzeit bei ca. 100 Euro für Pkw, 1.100 Euro für Nutzfahrzeuge und 2.400 Euro für Busse. Im letzten Jahr waren die THG-Quotenpreise etwa dreimal so hoch. Grund für den Preisverfall ist eine Übererfüllung der THG-Quote. Durch Teilnahme am THG-Quotenhandel kann über die Haltungsdauer der Fahrzeuge ein erheblicher Teil der Mehrkosten kompensiert werden. Heißt: Über die Einnahmen der THG-Quote werden saubere Fahrzeuge finanziert.
Aus diesen Mechanismen leiten sich drei Schlussfolgerungen ab: Erstens muss die THG-Quote ambitionierter sein. Hohe Ziele mobilisieren langfristig Investitionen in erneuerbare Energieträger. Unter Berücksichtigung von Mehrfachanrechnungen muss auch die THG-Quote entsprechend zusätzlich ansteigen, um den realen Anteil erneuerbarer Energieträger anzureizen. Die aktuelle THG-Quote steigt bis 2030 auf 25,1 Prozent; die EU plant eine CO₂-Reduzierung von 90 Prozent bis 2040, Deutschland von 100 Prozent bis 2045. Der Sprung von 25 Prozent 2030 auf 90 Prozent in 2040 ist kaum zu erreichen, wenn wir jetzt nicht investieren.
Zweitens muss die THG-Quote nach oben dynamisch sein. Bei Übererfüllung muss sie durch einen festgelegten Mechanismus automatisch ansteigen, um Investitionsanreize in erneuerbare Energieträger aufrechtzuerhalten. Sonst wirkt die THG-Quote bei unerwartet großen Mengen erneuerbarer Energieträger wie ein Deckel, der Investitionen bremst und den THG-Quotenpreis sinken lässt. Die Erfüllung der THG-Quote der vergangenen Jahre hat gezeigt, dass vor allem die verfügbaren Energiemengen, etwa bei Ladestrom und fortschrittlichen Biokraftstoffen, deutlich unterschätzt wurden.
Drittens müssen Mehrfachanrechnungen schrittweise reduziert werden. Dadurch wird die Diskrepanz zwischen realem und virtuellem Klimaschutz verkleinert. Der Klimaschutz darf nicht mehr nur auf dem Papier stattfinden. Der geplante Review 2027 wäre ein guter Zeitpunkt, Mehrfachanrechnungen schrittweise zurückzufahren, um die Schere zwischen virtuellem und realem Klimaschutz idealerweise bis 2030 zu schließen. Eine Ausnahme sollte für Wasserstoff gelten, der sich tatsächlich noch im Markthochlauf befindet. Da es auch 2030 noch keine signifikanten Mengen an grünem Wasserstoff im Verkehrssektor geben wird, sollten Mehrfachanrechnungen hier in Stufen bis Ende der 2030er Jahre entfallen.
Klar ist jedoch auch: Quoten allein begünstigen noch nicht den Hochlauf erneuerbarer Energieträger. Daneben braucht es flankierende Maßnahmen, beispielsweise eine Reform der Energiesteuerrichtlinie und einen langfristigen Zielpfad bis 2045.
Als marktbasiertes Instrument kommt die THG-Quote ohne einen einzigen Cent Steuergeld aus. Mit einem entsprechenden Ambitionsniveau und Dynamik bei der Erfüllung wird sie Milliardeninvestitionen in erneuerbare Energieträger auslösen. Bei einer Neugestaltung der THG-Quote ist es entscheidend, Investitionsanreize für den Hochlauf erneuerbarer Energieträger im Verkehrssektor zu setzen – und den Hochlauf von Null-Emissions-Fahrzeugen sicherzustellen.
Andreas Rade ist Geschäftsführer Politik und Gesellschaft beim Verband der Automobilindustrie (VDA).
Ursula von der Leyen wird nicht heute, sondern erst am kommenden Dienstag um 9 Uhr in Straßburg ihren Vorschlag für Portfolios und Struktur ihrer neuen Kommission öffentlich machen. Der Grund für die Verzögerung ist wohl technischer Natur: Das Parlament von Slowenien wird erst am Freitag seine Einschätzung zu der Kandidatin Marta Kos formulieren, die die slowenische Regierung kürzlich vorgeschlagen hat. Erst dann sei die Nominierung “vollständig und offiziell”, heißt es in Brüssel.
Dennoch liegen die Nerven in einigen Regierungs- und Parteizentralen offenbar blank. Nach Presseberichten mit einschlägigen Personalspekulationen riefen derzeit regelmäßig aufgeregte Regierungschefs in Brüssel an, heißt es.
Die Sozialisten verlangen gewichtigere Portfolios für ihre wenigen Vertreter in der neuen Kommission, allen voran für die Spanierin Teresa Ribera. Der Chef der sozialistischen Parteienfamilie, Stefan Löfven, warnte: “Als sozialistische Familie Europas ist es an der Zeit, eine klare Warnung für das nächste Mandat der Kommission auszusprechen.” Die Unterstützung der Sozis für von der Leyen sei nie ein “Blankoscheck” gewesen.
Der ehemalige schwedische Ministerpräsident fordert, dass Nicolas Schmit, Spitzenkandidat der Sozialisten bei der Europawahl, wieder Kommissar wird. Dieser müsste aber von Luxemburgs christdemokratischer Premier Luc Frieden nominiert werden. Zudem warnt Löfven vor einer geringeren Rolle von Frauen in der neuen Kommission und geißelt, dass ein Kommissar der “rechtsaußen” verorteten EKR leitender Vize-Präsident werden solle.
Ob all dies den Planungen der Kommissionspräsidentin entspricht, ist unklar. Ebenso wenig, ob der Widerstand der Sozialisten dazu führt, dass sie ihre Planungen noch einmal überdenkt. Von der Leyen hütet die Struktur ihrer Kommission wie ein Staatsgeheimnis. Nicht einmal Kabinettsmitglieder von bisherigen und künftigen Kommissaren wissen Bescheid. Sie bereiten vielmehr in diesen Tagen die “Bestätigungsanhörungen” ihrer Chefs zu drei unterschiedlichen Portfolios vor, wie auf den Fluren des Berlaymonts zu hören ist.
Kommen Sie gut durch den Tag!
Die Schlagzeilen zu Mario Draghis Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit der EU waren dominiert von der Diskussion um gemeinsame Schulden. Doch ein Großteil des Berichts handelt nicht von der Finanzierungsproblematik. Das Ziel des Berichts ist viel eher, die EU in die Lage zu bringen, effektivere Industriepolitik zu betreiben – europäische Schulden hin oder her.
“Der Bericht bietet ein starkes intellektuelles Fundament für eine europäische Industriestrategie. Das hatten wir so noch nicht”, sagt Sander Tordoir, Chefökonom beim Think-Tank Centre for European Reform (CER).
Das Fundament besteht aus vier möglichen industriepolitischen Strategien, die die EU verfolgen kann, je nach Ziel, das sie in einem spezifischen Sektor verfolgt.
Auch Nils Redeker, stellvertretender Direktor des Jacques Delors Centre, findet Draghis Auslegeordnung hilfreich. Damit die vorgeschlagenen Strategien effektiv ausgeführt werden können, müssten die Generaldirektorate in der Kommission stärker zusammenarbeiten, meint er. “Draghi stellt der Kommission eine wichtige Koordinierungsaufgabe”, sagt Redeker.
Im Prinzip könnte die Koordinierung durch eine entsprechende Zusammenlegung der verschiedenen Dossiers unter einem Kommissar erreicht werden. Aber politisch ist das schwierig, da mit den DGs Trade, Grow und Comp drei der mächtigsten DGs betroffen sind. Alternativ kann die Koordination durch eine stärkere Führung durch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen selbst erwirkt werden.
Die Koordinationsaufgabe stellt sich aber auch den anderen Gesetzgebern. Sowohl der EU-Rat wie das Parlament sind in Ratsformationen beziehungsweise Parlamentskomitees aufgeteilt, in denen Wirtschaft, Handel und Industrie bisher relativ unabhängig voneinander diskutiert wurden.
Der Vorsitzende der Europa-SPD, René Repasi, der Draghis “whole of government”-Ansatz begrüßt, spricht sich für horizontale Formate aus, in denen der Austausch gewährleistet werden kann. Das Parlament hat auf die neue Legislatur hin auch seine Geschäftsordnung angepasst, was die Kooperation zwischen den Komitees bei horizontalen Dossiers erleichtern soll.
Aber Repasi betont, dass vor allem die Kommission sich anzupassen habe. Schließlich liege das Initiativrecht bei ihr und beim Wettbewerbsrecht sogar die ausschließliche Handlungskompetenz.
Der Ball liegt also bei der Kommission. Sie müsse nun aus der großen Liste der Handlungsvorschläge eine Priorisierung vornehmen, sagt Redeker. Aber – das betonen Redeker sowie Tordoir – die Kommission kann einige der Vorschläge Draghis schon sehr bald ins Rollen bringen:
Einige dieser Schritte sind in der nächsten Kommission sehr wahrscheinlich. So hat von der Leyen in ihren politischen Leitlinien bereits eine Reform der öffentlichen Auftragsvergabe angekündigt, mit der sie europäische Produkte fördern will. Auch die Lancierung von zusätzlichen und einfacheren IPCEIs hat sie für 2025 angekündigt.
Zwei Gerichtsurteile an einem Tag retten das Vermächtnis von Margrethe Vestager als EU-Wettbewerbskommissarin. Der Europäische Gerichtshof bestätigte ihre Entscheidungen, Apple 13 Milliarden Euro an Steuernachzahlungen in Irland aufzuerlegen und im Falle Google Shopping eine Strafe von 2,4 Milliarden Euro für den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu verlangen.
Vestager hatte sich in ihrer ersten Amtszeit international einen Ruf als energische Wettbewerbshüterin gemacht. Mehrere ihrer aufsehenerregenden Entscheidungen waren aber später von den Gerichten kassiert worden.
Vestager war sich bewusst, dass eine weitere Niederlage insbesondere im spektakulären Apple-Fall ihre Bilanz ernsthaft beschädigt hätte. “Ich war bereit, die Niederlage zu akzeptieren, aber der Sieg hat mich zum Weinen gebracht“, sagte sie emotional. Sie räumte freimütig ein, von dem Urteil positiv überrascht worden zu sein. Die erste Instanz hatte noch der Beschwerde des Konzerns und der irischen Regierung stattgegeben. Das EuGH-Verdikt ist nun endgültig.
Vestager hatte Irland 2016 dazu verdonnert, 13 Milliarden Euro an Steuern (plus Zinsen) von Apple nachzufordern. Die irischen Steuerbehörden hätten dem US-Unternehmen in zwei Steuervorbescheiden rechtswidrig ermöglicht, seine Steuerlast am EU-Stammsitz seit 1991 künstlich zu senken. Apple habe so den Großteil der steuerpflichtigen Gewinne zwei Tochtergesellschaften zurechnen können, die nur auf dem Papier bestünden und nirgendwo besteuert würden. Die Kommission wertete dies als rechtswidrige staatliche Beihilfen.
Apple-Chef Tim Cook bezeichnete die Entscheidung damals als “politischen Mist”. Das Unternehmen argumentiert, die geistigen Eigentumsrechte lägen am Hauptquartier in Cupertino und die Gewinne daraus würden daher in den USA versteuert. Der EuGH urteilte nun, dass die von den beiden irischen Töchtern gehaltenen IP-Lizenzen und die damit verbundenen Gewinne, die durch den Verkauf von Apple-Produkten außerhalb der Vereinigten Staaten erwirtschaftet wurden, für Steuerzwecke den irischen Niederlassungen hätten zugerechnet werden müssen.
Vestager war auch gegen steuerliche Vorzugsbehandlungen von Großkonzernen wie Amazon oder Starbucks in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg vorgegangen, musste dabei aber einige Niederlagen vor Gericht einstecken. Mit dem Apple-Urteil erhalte die Kommission nun nicht nur Rückenwind vom EuGH, sondern habe “auch ein Stück Rechtssicherheit für ihr zukünftiges Vorgehen gegen Steuerpraktiken gewonnen“, sagt Sarah Blazek, Partnerin der Kanzlei Noerr. Für andere in der EU tätige Großkonzerne sei das Urteil ein klares Signal. Die Entscheidung sei zugleich “eine Warnung an die nationalen Finanzminister, die künftig mehr auf die Solidarität zwischen den 27 EU-Staaten achten müssen”, mahnte Andreas Schwab, binnenmarktpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion.
Vestager sagte, das Vorgehen der Kommission habe teilweise ein Umdenken eingeleitet. So hätten etwa Irland oder Luxemburg die beanstandeten Praktiken abgestellt. “Leider sind aggressive Steuerplanungspraktiken immer noch weit verbreitet”, kritisierte sie. Vier EU-Länder, nämlich Irland, die Niederlande, Luxemburg und Belgien spielten noch immer eine zentrale Rolle bei der Gewinnverlagerung der Konzerne zulasten der Steuerzahler.
Die Kommission hat noch einige Beihilfeverfahren wegen Steuerpraktiken in der Pipeline. Sie hat formelle Untersuchungen gegen IKEA, Nike und den finnischen Verpackungshersteller Huhtamäki eingeleitet. Ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin müsse entscheiden, wie er oder sie weiter vorgehe, sagte Vestager.
Als nicht weniger als historisch und wegweisend bezeichneten die Beteiligten im Google-Fall das Urteil. Dazu gehörten etwa der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) und der Medienverband der freien Presse (MVFP) ebenso wie die Preisvergleichsplattform Idealo. Das EuGH-Urteil zeige, “dass unser hartnäckiger Einsatz für Gerechtigkeit und faire Marktbedingungen sich ausgezahlt hat”, kommentierte Albrecht von Sonntag, Mitgründer und Beirat von Idealo die Entscheidung. Sie sei ein Sieg für den gesamten E-Commerce und vor allem die Verbraucher.
So sieht das auch die europäische Verbraucherorganisation BEUC. “Google schadete Millionen von europäischen Verbrauchern, indem es dafür sorgte, dass konkurrierende Shopping-Vergleichsdienste praktisch unsichtbar waren”, sagte BEUC-Generaldirektor Agustín Reyna.
Die Geldbuße von etwa 2,4 Milliarden Euro hatte die Kommission 2017 gegen Google verhängt, weil das Unternehmen seine beherrschende Stellung auf mehreren nationalen Märkten für Online-Suchdienste missbraucht habe. Demnach habe Google den eigenen Preisvergleichsdienst zulasten der Wettbewerber begünstigt. Da das Gericht diesen Beschluss im Wesentlichen bestätigte, legte Google Rechtsmittel beim Gerichtshof ein. Der EuGH wies diese nun zurück, womit das Urteil jetzt rechtskräftig ist.
Dieser Fall stelle einen entscheidenden Wandel in der Art und Weise dar, wie digitale Unternehmen reguliert und auch wahrgenommen würden, sagte Vestager. Es sei ein Präzedenzfall geschaffen und der Weg für weitere Regulierungsmaßnahmen geebnet worden, darunter das Gesetz über digitale Märkte (DMA).
Google äußerte sich enttäuscht. Das Urteil beruhe auf einem sehr speziellen Sachverhalt. Bereits 2017 habe das Unternehmen Änderungen vorgenommen, um der Entscheidung der Brüsseler Behörde nachzukommen. “Unser Ansatz hat mehr als sieben Jahre lang erfolgreich funktioniert und Milliarden von Klicks für mehr als 800 Preisvergleichsdienste generiert”, sagte ein Sprecher.
Tatsächlich hat dieser Fall auch einen faden Beigeschmack. Denn die frühesten Beschwerden reichen bereits 17 Jahre zurück. 2007 reichte der britische Preisvergleichsdienst Foundem Beschwerde ein und beschuldigte Google, seine Suchergebnisse so zu manipulieren, dass eigene Dienste bevorzugt und Konkurrenten benachteiligt wurden. Selbstbevorzugung nennt die Kommission das heute.
Bereits kommende Woche entscheidet das Gericht der EU über einen ähnlich gelagerten Fall. Dabei geht es um die Frage, ob Google bei Suchmaschinen-Werbung im Dienst AdSense for Search andere Anbieter unzulässigerweise behinderte und die Geldbuße der EU-Kommission in Höhe von 1,49 Milliarden Euro gerechtfertigt war.
Kurze Hoffnung im Asylkonflikt, dann das Scheitern: Nach gut zwei Stunden verließen die Verhandler der Unionsfraktion das Bundesinnenministerium. Fürs Erste gibt es keine Einigung auf einen gemeinsamen Weg in der Asylpolitik. Schuldzuweisungen gab es auf beiden Seiten. Ampel wie Union warfen sich gegenseitig vor, Vorschläge zu machen, die entweder nicht schnell wirken oder juristisch nicht machbar seien. Ergebnis: Ampel und Union haben es fürs Erste nicht geschafft, ein für die Gesellschaft großes Problem zu lösen. Unübersehbarer Nebeneffekt: Der Druck der Union hat die notorisch zerstrittene Koalition zum ersten Mal seit langem wieder zusammengeführt.
CDU und CSU hatten verlangt, dass Bundespolizisten an der Grenze künftig alle Menschen zurückweisen, die aus einem anderen EU-Land kommen und Asyl wollen. Nach ihrer Auffassung sei das juristisch zwar nicht unumstritten, aber möglich – und es sei politisch unverzichtbar, weil nur dieser Schritt sicherstelle, dass sich sehr schnell und für alle spürbar etwas ändert. Im Vorfeld verwiesen sie mehrfach auf eine Rechtsprüfung, die im BMI unter dem früheren Minister Horst Seehofer durchgeführt wurde. Sie besage, dass dieser Schritt in Notlagen möglich sei.
Innenministerin Nancy Faeser wies die Forderung trotzdem zurück. Im Bündnis mit Justizminister Marco Buschmann und Außenministerin Annalena Baerbock erklärte sie, dass die Idee der Union rechtlich und politisch nicht vertretbar sei. Buschmann betonte, man könne von einer Bundesregierung nicht verlangen, “dass sie sich offen in Widerspruch zum Grundgesetz und zum europäischen Recht setzt”. Baerbock verwies auf erste Reaktionen aus Österreich und Polen, die die Unionspläne scharf kritisiert hätten. Die Ampel und auch die Grünen seien fest entschlossen, die illegale Migration mit allen legalen Mitteln zu bekämpfen, so Baerbock. Aber: “Wir würden den Terroristen nur einen großen Gefallen tun, wenn wir uns darüber in der EU zerstreiten.”
Die Ampel hatte der Union als Alternative angeboten, grenznahe Zentren für beschleunigte Asylverfahren zu errichten. In diesen sollen Asylgesuche schnell und rechtssicher durchgeführt werden. Faeser betonte, dass gerade illegale Migration, durch die zwangsweise Aufnahme in solche Zentren besser kontrolliert werden könne, als durch schlichtes Abweisen, bei dem niemand wisse, ob diese Menschen nicht sofort einen neuen Versuch über die grüne Grenze unternehmen würden. Ähnliche Forderungen aus der CSU in 2015 und den Jahren danach hatten FDP, Grüne und SPD damals noch vehement abgelehnt hatten. Nun reichte der Vorschlag der Union selbst nicht mehr aus. Sie kritisiert, dass dies zu lange dauern würde und die Menschen deshalb nicht schnell genug Änderungen vom Bisherigen erkennen könnten.
Beide Seiten wissen, was das Scheitern bedeutet. Die erste Botschaft lautet: Die demokratische Mitte hat es nicht geschafft, eine gemeinsame Lösung zu finden. Aus diesem Grund gab es aus der Ampel und aus der Union am Dienstagabend versöhnliche Töne. Aus der Unionsfraktion hieß es, man werde die Migrationspolitik der Ampel im Bundestag “kritisch konstruktiv begleiten und eigene konstruktive Vorschläge einbringen”. Die unmissverständliche Betonung lag auf: konstruktiv. Aus der Ampel war zu hören, man werde die eigenen Vorschläge umsetzen, sich aber weiteren Gesprächen auf keinen Fall verschließen.
Eine etwas andere Ton- und Lesart lieferte am Abend Christian Lindner. Er kritisierte den Abbruch der Migrationsgespräche durch die CDU scharf. “Hier ist der CDU ein taktischer Fehler unterlaufen. Die CDU fordert völlig zu Recht eine Zurückweisung an den deutschen Grenzen, und dazu ist die Ampel-Koalition auch bereit”, sagte Lindner Table.Briefings. “Wir sind bereit, das Modell der CDU zu übernehmen, aber dann müssen alle gemeinsam die verwaltungsrechtlichen Risiken übernehmen.” Damit spielte der FDP-Vorsitzende auf die rechtlichen Risiken einer möglichen Zurückweisung von Asylbewerbern an den deutschen Grenzen an.
Laut Lindner sei die CDU trotzdem aufgestanden und habe die Gespräche verlassen. “Es gab offenbar ein Drehbuch. Da muss man nachsichtig sein und der CDU eine Selbstkorrektur ermöglichen.” Keine Partei der Mitte profitiere davon, wenn das Thema Migration in den Bundestagswahlkampf gerate. “Es werden nur die Ränder profitieren.”
Die EU-Kommission wollte die deutschen Maßnahmen zunächst nicht kommentieren. Die Bundesregierung habe die Maßnahmen in Brüssel angemeldet und diese würden nun sorgfältig geprüft, erklärten Chefsprecher Eric Mamer und die für Migration zuständige Sprecherin Anitta Hipper am Dienstag in Brüssel. Man sei im Gespräch mit Berlin und wolle dem Ergebnis der Prüfung nicht vorgreifen.
Generell gelte, dass Grenzkontrollen “notwendig und verhältnismäßig” sein müssen und den Vorschriften des Schengener Grenzkodex entsprechen, erläuterte Hipper. “Daher sollten derartige Maßnahmen eine absolute Ausnahme bleiben“, betonte sie. Gegenüber nationalen Maßnahmen seien grenzüberschreitende Patrouillen vorzuziehen. Allerdings stehe Deutschland auch nicht allein dar.
Nach einer Aufstellung der EU-Kommission haben derzeit acht EU-Staaten zeitlich befristete Grenzkontrollen in Brüssel angemeldet. Neben Deutschland sind dies auch Frankreich, Italien, Schweden, Dänemark, Slowenien, Norwegen und Österreich. Die meisten Maßnahmen laufen allerdings Ende dieses Jahres aus. Nach dem Schengener Grenzkodex müssen die Kontrollen zwar notifiziert werden; ein Vetorecht hat die EU-Kommission jedoch nicht.
Zu der Frage, ob Asylbewerber an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden können, wenn sie in einem anderen EU-Staat einen Asylantrag gestellt haben, wollte sich die Kommission nicht äußern. Die Behördensprecher gingen auch nicht auf mögliche Dominoeffekte in anderen EU-Staaten ein. Das sei “Spekulation”, so Hipper. Österreich hat bereits angekündigt, dass man von Deutschland zurückgewiesene Geflüchtete nicht aufnehmen werde.
Andere Staaten wie Frankreich oder Belgien wollen offenbar zunächst abwarten. Die Bundesregierung habe die belgischen Behörden informiert, sagte Innenministerin Annelies Verlinden. Bisher gebe es keinen Handlungsbedarf. Polen nannte deutsche Grenzkontrollen dagegen inakzeptabel. Er werde schnellstmöglich mit allen Ländern Konsultationen aufnehmen, die von einem solchen Schritt betroffen wären, sagte Ministerpräsident Donald Tusk.
Eine Sondersitzung im Rat zeichnete sich am Dienstag aber noch nicht ab. Auch im Europaparlament gab man sich gelassen. Zurückweisungen an der deutschen Grenze seien eine “Interimsoption”, bis der neue Migrationspakt in Kraft tritt, hatte bereits EVP-Chef Manfred Weber am Sonntag im ARD-Europamagazin erklärt. Der CSU-Politiker stellte sich damit hinter den Vorstoß von CDU-Chef Friedrich Merz. Ob die Pläne von der Leyen (CDU) abgestimmt waren, blieb offen.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hält hohe Investitionen und tiefgreifende Strukturreformen für erforderlich, um Deutschland als Industriestandort zu erhalten. Anderenfalls seien bis zum Jahr 2030 rund 20 Prozent der deutschen Industriewertschöpfung gefährdet, heißt es in einer am Dienstag vorgestellten Studie, die die Boston Consulting Group und das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag des BDI erstellt haben. Besonders groß ist der Gefährdungsanteil demnach bei Kokereien und Mineralölverarbeitung mit rund 60 Prozent, in der Grundstoff-Chemie mit 40 Prozent und im Automobilbau mit 30 Prozent.
Die Studie sei ein “lauter Weckruf” für die Politik, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm. Allerdings dürfte sich Wirtschaftsminister Robert Habeck durch viele BDI-Forderungen eher bestärkt fühlen – etwa nach niedrigeren Industriestrompreisen, die er in der Regierung nicht durchsetzen konnte, oder nach einem schnellen Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur, die die Regierung gerade auf den Weg gebracht hat. Zudem macht die Studie auch deutlich, dass viele der Probleme nicht allein von der deutschen Politik verursacht wurden – etwa die Demografiekrise, die gestiegenen Gaspreise oder wachsender Protektionismus.
Eine Abschwächung der Klimaziele fordert der BDI nicht, auch der aktuellen Kritik am Verbrenner-Aus schließt er sich nicht an, sondern stellt fest: “Die Zukunft des Automobilsektors hängt mehr als alles andere davon ab, ob deutsche Hersteller auch in Elektromobilität erfolgreich sind.”
Zur Stärkung des Standorts fordert der BDI eine “industriepolitische Agenda”. Zu dieser gehörten günstigere Energiepreise durch gezielte Entlastung, der Abbau von Bürokratie, eine schnellere Digitalisierung und die Modernisierung der Infrastruktur. Die zusätzlichen Investitionen dafür schätzt der Verband bis 2030 auf rund 1,4 Billionen Euro. Ein Drittel davon müsse vom Staat aufgebracht werden. Zur Finanzierung setzt der BDI dabei zunächst auf Priorisierung und effizienteren Mitteleinsatz; wenn dies erfolgt sei, hält der Verband zusätzliche Schulden in Form von zweckgebundenen Sondervermögen für vertretbar.
Die BDI-Studie argumentiert damit ähnlich wie der am Montag von der EU vorgestellte Report von Mario Draghi. Der ehemalige EZB-Präsident hatte in seinem Bericht eine neue Industriestrategie ausbuchstabiert, um die nachlassende Innovationskraft der europäischen Wirtschaft zu stärken. Laut Draghi erfordere der nötige “radikale Wandel” hin zu digitalen und grünen Technologien jährliche Zusatzinvestitionen von bis zu 800 Milliarden Euro. Einen Teil der nötigen staatlichen Investitionen will Draghi über gemeinsame Anleihen aufbringen.
Dieser Vorschlag war in Berlin umgehend auf Ablehnung gestoßen, etwa bei Finanzminister Christian Lindner. Kanzler Olaf Scholz sieht ein neues EU-Schuldenprogramm ebenfalls kritisch, während Wirtschaftsminister Robert Habeck aufgeschlossener ist. Habecks Staatssekretär Sven Giegold appellierte an die anderen Parteien, den Draghi-Bericht nicht auf einen Aspekt zu verkürzen: “Die Reaktionen in Deutschland sollten sich nicht in der üblichen reflexhaften Ablehnung einzelner Aussagen erschöpfen”, sagte er Table.Briefings. mkr/tho
VDA-Präsidentin Hildegard Müller wirft der Bundesregierung vor, nichts gegen eine Regelung zu tun, die die Hersteller von E-Autos in Deutschland massiv benachteiligen würde. “Die Zeit läuft ab – und weder Brüssel noch Berlin lenken beim delegierten Rechtsakt zur Berechnung des CO₂-Fußabdrucks im Zusammenhang mit der EU-Batterieverordnung ein”, sagte Müller.
Hintergrund ist: Die EU-Kommission hat einen Rechtsakt zur Batterieverordnung vorgelegt, der die Ökobilanz der Batterie pauschal nach dem nationalen Strommix berechnen und Erneuerbare-Energien-Zertifikate ablehnen will. Da der Strommix in Frankreich und Schweden wegen Atomstrom und Wasserkraft deutlich sauberer ist, würde der Batterieproduktion in Deutschland so der Stecker gezogen. “Berlin muss sich mit Mitgliedstaaten wie Polen vereinen, um einen elementaren Standort- und Wettbewerbsnachteil für deutsche Unternehmen abzuwenden.”
Die vorgeschlagene CO₂-Berechnung sei weder zielführend noch strategisch sinnvoll. Sie stehe im absoluten Widerspruch zum bisherigen Vorgehen der EU. “Damit würden in Deutschland produzierende Unternehmen de facto für die deutsche Energiepolitik bestraft”, betonte Müller. Statt gegen den Rechtsakt in Brüssel zu lobbyieren und Allianzen mit anderen Mitgliedstaaten zu schmieden, versuche die deutsche Politik die Sorgen der Industrie zu beschwichtigen. Etwa mit der Ankündigung, dass der Ausbau der Erneuerbaren Energien hierzulande in absehbarer Zeit zügig voranschreite. mgr
Die EU wird nach einem Bericht von Bloomberg die Zusatzzölle auf E-Autos für einige Hersteller noch einmal leicht senken. Die Zollsätze würden aufgrund neuer, von den Firmen vorgelegter Informationen, geringfügig nach unten korrigiert, schreibt die Nachrichtenagentur unter Berufung auf anonyme Quellen. Demnach soll der Sonderzollsatz für den US-Autobauer Tesla von neun Prozent auf knapp acht Prozent revidiert werden. Für den Geely liege der neue Satz bei 18,8 Prozent statt bei 19,3 Prozent, für BYD bleibe er bei 17 Prozent. Der Höchstsatz für chinesische Hersteller, die bei der EU-Subventionsuntersuchung nicht kooperiert haben, werde 35,3 Prozent betragen, gegenüber zuvor festgesetzten 36,3 Prozent. Bei der ersten Ankündigung hatte der Höchstsatz sogar bei gut 38 Prozent gelegen.
Die Zollsätze könnten in der Zukunft noch öfter angepasst werden, je nachdem, wie die Gespräche zwischen der EU und den betroffenen Parteien weitergehen, so der Bericht. Chinas Handelsministerium bekräftigte derweil seine Bereitschaft, Gespräche mit der EU-Kommission zu führen: “China ist bereit, weiterhin eng mit der europäischen Seite zusammenzuarbeiten, um eine Lösung zu finden, die den gemeinsamen Interessen beider Seiten entspricht und im Einklang mit den WTO-Regeln steht”, hieß es. Vergangene Woche hatte China signalisiert, es könne davon absehen, vorläufige Anti-Dumpingmaßnahmen für EU-Brandy einzuführen.
Mehrere chinesische Autobauer nehmen laut Reuters derzeit an der Messe Automechanika in Frankfurt teil, die gemeinsam mit dem China Council for the Promotion of International Trade,gestartet wurde und auch als “EV Expo” bekannt ist – darunter BYD, Geely und die Staatsfirmen Hongqi und Guangzhou Auto International. “Selbst wenn sich einige in Europa gegen uns wenden, werden wir uns niemals gegen den europäischen Markt wenden”, sagte Victor Yang, Senior Vice-President von Geely laut Reuters. Messe-Direktor Olaf Musshoff, betonte: “Wir wollen, dass die derzeit noch weitgehend unbekannten Elektroautos chinesischer Hersteller das Vertrauen der Branche gewinnen.” ck/rtr
Flexibilität fordert der Verband der Elektro- und Digitalindustrie ZVEI von der künftigen Kommission bei der Umsetzung der vielen Digitalgesetze, die die vergangene auf den Weg gebracht hat. “Die Herausforderung ist, dass die Beteiligten jetzt bei der Umsetzung offen bleiben“, sagte ZVEI-Geschäftsführer Wolfgang Weber im Gespräch mit Table.Briefings. Die Kommission müsse schnell reagieren und Anpassungen vornehmen, dort, wo sich jetzt die größten Schwierigkeiten auftäten. “Es geht also auch um eine Veränderung im Mindset.“
Die Herausforderungen hat der ZVEI seinerseits auch bereits identifiziert und in einem detaillierten Dokument die regulatorischen Widersprüche und Inkohärenzen zwischen den neuen sowie zwischen neuen und bereits bestehenden Rechtsakten aufgezeigt. Es müsse nun darum gehen, die Regulierungen so weiterzuentwickeln, “dass regulatorische Inkohärenzen und Doppelregulierungen beseitigt und Innovationen angereizt werden”.
Die “schwerwiegendsten regulatorischen Fälle” hat der ZVEI als “worst cases” und “heavy cases” eingeordnet. Hier sieht der Verband den dringlichsten Handlungsbedarf. Drei Beispiele:
Insgesamt hält der ZVEI es für wichtig, dass die Kommission in ihren sekundären Rechtsakten jetzt klare Vorgaben schafft. “Die Verunsicherung über die Rechtslage darf nicht dazu führen, dass die Unternehmen darauf verzichten, ihre Datenschätze zu heben”, sagte Weber. vis
Die Bundesregierung will der chemischen Industrie offenbar beim geplanten Verbot von per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS) entgegenkommen. Die industriell hergestellten organischen Verbindungen werden für Produkte wie Windkraftanlagen, Wärmepumpen, Smartphones und Kochgeräte benötigt. Doch die Rückstände gelten als gesundheitsgefährdend, sie sammeln sich in Pflanzen und Böden.
Die PFAS-Substanzen seien bei vielen modernen Industrieanlagen unverzichtbar, heißt es nun in Regierungskreisen. Man werde einen “pragmatischen Weg” finden, der die industrielle Entwicklung Deutschlands nicht behindere. Dabei soll es sich um einen risikobasierten Ansatz bei der Einschränkung der Substanzen handeln, nicht um ein pauschales Verbot. Zuvor hatten knapp 40 Wirtschaftsverbände einen Brief an den Kanzler und die zuständigen Ressorts geschrieben, in dem sie eine “stärker zielgerichtete” Vorgehensweise anmahnen und einen PFAS-Gipfel im Kanzleramt fordern. Im Chemie-Dreieck in Bayern sollen Unternehmen wegen der bevorstehenden Regulierung bereits angekündigt haben, den Standort zu verlassen.
Die Fachpolitiker der Ampel haben ein Stärkungspaket für die Chemieindustrie vereinbart, der beim Chemie & Pharma Summit an diesem Donnerstag in Berlin präsentiert werden soll. Neben der Abschwächung bei der PFAS-Regulierung gehören angeblich weitere Maßnahmen zum Bürokratieabbau und ein Level Playing Field in Europa bei der Lieferkettengesetzgebung dazu. Die jüngste Wachstumsinitiative der Bundesregierung wird als stützende Maßnahme für die Branche benannt, heißt es. Nach dem Chemie-Gipfel im Herbst 2023 war der Druck der Industrie gestiegen, angesichts hoher Energiepreise und schwächelnder Wirtschaft die Branche zu stützen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hält die zentrale Rede bei der Veranstaltung des Verbands der Chemischen Industrie. Auch CDU-Chef Friedrich Merz und FDP-Finanzminister Christian Lindner haben sich angekündigt. Deutschland ist der viertgrößte Chemiestandort der Welt nach den USA, China und Japan. Table.Briefings ist Medienpartner der Konferenz. In der Bundesregierung hält man die Aufregung der Branche für übertrieben. Ein Vorschlag der EU-Kommission zum Umgang mit den PFAS-Substanzen werde frühestens 2026 erwartet. Brö
Christian Baukhage, der engste Mitarbeiter des deutschen EU-Botschafters Michael Clauß, ist am Wochenende völlig unerwartet gestorben. “Die Nachricht vom plötzlichen und unerwarteten Tod unseres Kollegen Christian Baukhage hat uns alle tief getroffen und macht uns unendlich traurig“, sagte ein Sprecher der Ständigen Vertretung. Baukhage wurde nur 48 Jahre alt.
Der Diplomat hatte seit April 2022 als sogenannter Antici für Clauß die Sitzungen des Ausschusses der Ständigen Vertreter bei der EU vor (AStV 2) vorbereitet. Er galt als sehr kompetent und kollegial. “Christian Baukhage war sehr viel mehr für uns als nur ein Kollege”, sagte der Sprecher. “Er wird uns allen sehr fehlen.” tho
Deutschland will bis 2045 klimaneutral sein. Die Automobilindustrie steht entschlossen hinter diesem Ziel. Wir sind überzeugt, dass Innovationen und Investitionen auf dem Weg dorthin zentral sind und investieren daher allein von 2024 bis 2028 rund 280 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung.
Um die gesetzten Klimaziele zu erreichen, brauchen wir jede Technologie. Der Hochlauf der Elektromobilität wird dabei sicher den entscheidenden Beitrag leisten – erneuerbare Kraftstoffe und Wasserstoff sind aber weitere interessante Optionen. Hinzu kommt insbesondere für die Defossilisierung des Fahrzeugbestands: Mit erneuerbaren Kraftstoffen kann die bestehende Flotte weitgehend klimaneutral betrieben werden.
Damit dieser Hebel genutzt werden kann, müssen nun die richtigen Entscheidungen getroffen und Anreize gesetzt werden. Ein zentraler Hebel für den Klimaschutz im Verkehrssektor ist die Treibhausgasminderungsquote (THG-Quote). Richtig ausgestaltet, kann sie Milliardeninvestitionen in erneuerbare Energieträger für den Verkehrssektor auslösen. In der aktuellen Form ist sie allerdings nicht ambitioniert genug und wirkt daher inzwischen eher Investitionen hemmend.
Um dies zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Funktionsweise: Die THG-Quote gibt der Mineralölwirtschaft jährliche CO₂-Einsparungsziele vor. So müssen die CO₂-Emissionen in diesem Jahr um 9,25 Prozent sinken; bis zum Jahr 2030 steigt der Wert auf 25,1 Prozent an. Die Ziele können durch das Inverkehrbringen von Ladestrom, Biokraftstoffen, Wasserstoff und E-Fuels erreicht werden.
Alternativ können verpflichtete Unternehmen die Ziele durch Dritte mittels Zertifikate am THG-Quotenhandel erreichen. Diese Zertifikate werden über Dienstleister bei Haltern von E-Autos, E-Lkw und E-Bussen generiert und an die Mineralölwirtschaft verkauft. So entstehen Investitionshebel mit Blick auf die Ladesäuleninfrastruktur sowie für die Produktion von Biokraftstoffen, Wasserstoff und E-Fuels.
Der THG-Quotenpreis bildet sich frei am Markt – die Einflussfaktoren dabei sind Angebot und Nachfrage erneuerbarer Energieträger im Verkehrssektor, die Höhe der THG-Quote und ihre mögliche Übererfüllung. Im Grundsatz gilt also, dass gerade in Zeiten der aktuell angespannten Haushaltslage die THG-Quote ein geeignetes Instrument zur CO₂-Reduktion ist, da sie ohne finanzielle Subventionen und Steuergelder auskommt.
Doch was hat die Höhe der THG-Quote damit zu tun? Dass die THG-Quote jüngst übererfüllt wurde, ist nur teilweise auf ausreichend erneuerbare Energieträger zurückzuführen. Bestimmte Energieträger werden nämlich beim Inverkehrbringen mehrfach angerechnet – bei Ladestrom, Wasserstoff und E-Fuels sogar mit dreifachem Faktor. Im Klartext: Eine Kilowattstunde Strom, ein Kilogramm Wasserstoff und ein Liter E-Fuel zählen jeweils so viel wie drei. Auf dem Papier ist der Klimaschutz somit deutlich größer als in der Realität.
Für die Phase des Markthochlaufs ist dieses Prinzip sinnvoll, weil es Investitionen in die jeweiligen Technologien anreizt. Doch bei steigenden Mengen erneuerbarer Energieträger geht die Schere zwischen realem und schöngerechnetem Klimaschutz immer weiter auf. Fakt ist allerdings: Das Klimaschutzgesetz schreibt für 2045 reale Netto-Treibhausgasneutralität vor! Deshalb ist der langfristige Einsatz von Mehrfachanrechnungen nicht zielführend, im Gegenteil: Jetzt braucht es Investitionen in realen Klimaschutz.
Bei einer zu hohen Verfügbarkeit erneuerbarer Energieträger im Verkehrssektor wirkt die THG-Quote wie ein Deckel, der Investitionen bremst und den THG-Quotenpreis sinken lässt. Sind die Ziele erfüllt, besteht kein Anreiz mehr, darüber hinaus zu investieren. Mehrfachanrechnungen verstärken diesen Effekt, weil sie die Zielerfüllung ohne Substanz beschleunigen. Übersteigt die Anzahl verfügbarer Zertifikate die Nachfrage am Markt, sinkt der Quotenpreis. Das ist gleich aus zweifacher Hinsicht problematisch: Zum einen kann das Inverkehrbringen fossiler Energieträger durch den Zukauf von Zertifikaten bilanziell ausgeglichen werden. Das hält das fossile Geschäft am Leben.
Zum anderen hemmt ein zu niedriger Quotenpreis den Hochlauf von Null-Emissions-Fahrzeugen, beispielsweise Brennstoffzellen-Lkw. Diese sind gegenwärtig noch teurer als Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Null-Emissions-Fahrzeuge können am THG-Quotenhandel partizipieren. Der THG-Quotenpreise liegen derzeit bei ca. 100 Euro für Pkw, 1.100 Euro für Nutzfahrzeuge und 2.400 Euro für Busse. Im letzten Jahr waren die THG-Quotenpreise etwa dreimal so hoch. Grund für den Preisverfall ist eine Übererfüllung der THG-Quote. Durch Teilnahme am THG-Quotenhandel kann über die Haltungsdauer der Fahrzeuge ein erheblicher Teil der Mehrkosten kompensiert werden. Heißt: Über die Einnahmen der THG-Quote werden saubere Fahrzeuge finanziert.
Aus diesen Mechanismen leiten sich drei Schlussfolgerungen ab: Erstens muss die THG-Quote ambitionierter sein. Hohe Ziele mobilisieren langfristig Investitionen in erneuerbare Energieträger. Unter Berücksichtigung von Mehrfachanrechnungen muss auch die THG-Quote entsprechend zusätzlich ansteigen, um den realen Anteil erneuerbarer Energieträger anzureizen. Die aktuelle THG-Quote steigt bis 2030 auf 25,1 Prozent; die EU plant eine CO₂-Reduzierung von 90 Prozent bis 2040, Deutschland von 100 Prozent bis 2045. Der Sprung von 25 Prozent 2030 auf 90 Prozent in 2040 ist kaum zu erreichen, wenn wir jetzt nicht investieren.
Zweitens muss die THG-Quote nach oben dynamisch sein. Bei Übererfüllung muss sie durch einen festgelegten Mechanismus automatisch ansteigen, um Investitionsanreize in erneuerbare Energieträger aufrechtzuerhalten. Sonst wirkt die THG-Quote bei unerwartet großen Mengen erneuerbarer Energieträger wie ein Deckel, der Investitionen bremst und den THG-Quotenpreis sinken lässt. Die Erfüllung der THG-Quote der vergangenen Jahre hat gezeigt, dass vor allem die verfügbaren Energiemengen, etwa bei Ladestrom und fortschrittlichen Biokraftstoffen, deutlich unterschätzt wurden.
Drittens müssen Mehrfachanrechnungen schrittweise reduziert werden. Dadurch wird die Diskrepanz zwischen realem und virtuellem Klimaschutz verkleinert. Der Klimaschutz darf nicht mehr nur auf dem Papier stattfinden. Der geplante Review 2027 wäre ein guter Zeitpunkt, Mehrfachanrechnungen schrittweise zurückzufahren, um die Schere zwischen virtuellem und realem Klimaschutz idealerweise bis 2030 zu schließen. Eine Ausnahme sollte für Wasserstoff gelten, der sich tatsächlich noch im Markthochlauf befindet. Da es auch 2030 noch keine signifikanten Mengen an grünem Wasserstoff im Verkehrssektor geben wird, sollten Mehrfachanrechnungen hier in Stufen bis Ende der 2030er Jahre entfallen.
Klar ist jedoch auch: Quoten allein begünstigen noch nicht den Hochlauf erneuerbarer Energieträger. Daneben braucht es flankierende Maßnahmen, beispielsweise eine Reform der Energiesteuerrichtlinie und einen langfristigen Zielpfad bis 2045.
Als marktbasiertes Instrument kommt die THG-Quote ohne einen einzigen Cent Steuergeld aus. Mit einem entsprechenden Ambitionsniveau und Dynamik bei der Erfüllung wird sie Milliardeninvestitionen in erneuerbare Energieträger auslösen. Bei einer Neugestaltung der THG-Quote ist es entscheidend, Investitionsanreize für den Hochlauf erneuerbarer Energieträger im Verkehrssektor zu setzen – und den Hochlauf von Null-Emissions-Fahrzeugen sicherzustellen.
Andreas Rade ist Geschäftsführer Politik und Gesellschaft beim Verband der Automobilindustrie (VDA).