Ursula von der Leyen hat sich viel Kritik anhören müssen für ihre klare Positionierung an der Seite Israels, demonstriert mit ihrem schnellen Solidaritätsbesuch in Tel Aviv vergangene Woche. Allerdings stets nur hinter vorgehaltener Hand: Bei der zweieinhalbstündigen Videokonferenz der EU-Staats- und Regierungschefs am Dienstagabend äußerte laut Diplomaten kein Teilnehmer direkte Kritik an der Kommissionspräsidentin.
Von der Leyen hatte auch reagiert und ihre Botschaft angepasst: “Es ist für jeden klar, dass Israel das Recht hat, sich zu verteidigen, im Einklang mit dem internationalen und humanitären Recht“, sagte sie auf der anschließenden Pressekonferenz. Es bestehe auch kein Widerspruch zwischen Solidarität mit Israel und humanitärer Hilfe für die Palästinenser.
In dieser Tonlage scheint sich die EU auch allmählich einzupegeln, nach einigen Tagen arger Kakophonie zwischen den Staaten, die sich nach den grausamen Angriffen der Hamas eindeutig an der Seite Israels positioniert hatten und jenen, die stärker die Perspektive der Palästinenser betonten. Klar zu ersten Gruppe zählt Bundeskanzler Olaf Scholz, der gestern selbst nach Tel Aviv gereist ist und sich zeitweise aus der deutschen Botschaft dort zuschaltete. Die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson, betonte er bei einem Auftritt mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Am Ende ihrer Besprechung erreichten die Staats- und Regierungschefs noch die Berichte, wonach laut Hamas bei einem israelischen Luftangriff auf ein Krankenhaus in Gaza mehrere Hundert Menschen getötet und verletzt worden seien. Der Vorfall löste scharfe Reaktionen etwa der ägyptischen Regierung und des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hervor. Auch Ratspräsident Charles Michel zeigte sich betroffen: “Angriffe auf zivile Infrastrukturen stehen nicht im Einklang mit dem Völkerrecht“, sagte er.
Von der Leyen wollte sich hingegen angesichts der unklaren Lage nicht äußern. Kurz darauf stritt Israels Militär denn auch die Verantwortung ab: Ein Sprecher berief sich auf Informationen, wonach ein fehlgeschlagener Raketenabschuss der Organisation Islamischer Dschihad verantwortlich sei. Welche Darstellung stimmt, blieb gestern offen. Womöglich tat die Kommissionspräsidentin gut daran, diesmal nicht vorgeprescht zu sein.
Nach dem Rat ist vor dem Trilog – wohl selten war diese EU-Binse so richtig wie nach dem gestrigen Treffen der Energieminister in Luxemburg zur Strommarktreform. Im Streit um die Förderung der französischen Atomkraftwerke gab es im Wesentlichen ein Patt zwischen Berlin und Paris. Die entscheidenden Streitpunkte werden wohl erst im Trilog mit dem Parlament geklärt, schon morgen soll es ein erstes Treffen geben.
Mit einem Kniff wurde gestern in der allgemeinen Ausrichtung der nach wie vor schwelende Streit um Differenzverträge (CfDs) für bestehende Kraftwerke verschleiert. Im nun geeinten Artikel 19b gilt zwar nur für Neuanlagen eine Pflicht, eine direkte Preisstützung nur über CfDs zu organisieren, die Abschnitte zur Laufzeitverlängerung von Altanlagen wurden dort gestrichen.
“Diese Sonderbehandlung, die ausschließlich Frankreich genutzt hätte, konnte nun komplett aus dem Entwurf der EU-Kommission gestrichen werden. Viele Mitgliedstaaten haben die deutsche Position unterstützt”, frohlockten Verhandlungskreise nach dem Beschluss. Doch die Bundesregierung hat ihre Ziele mitnichten erreicht.
Im neu gefassten Erwägungsgrund 30 erhalten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, auch das Repowering, die Kapazitätserhöhung und die Laufzeitverlängerung von Bestandskraftwerken über Differenzverträge zu fördern. Damit wäre für Paris auch ein subventionierter Industriestrompreis oder eine Umverteilung an Unternehmen grundsätzlich möglich.
Das Bundeswirtschaftsministerium hatte sich zuvor für klare Kriterien eingesetzt, nach denen die Subventionen begrenzt werden sollten – etwa durch eine Förderquote nach einem EU-Durchschnitt. Stattdessen wurde ein Zusatz aufgenommen, nach dem die EU-Kommission nun nach den üblichen Wettbewerbsregeln entscheiden soll – als ob die nicht ohnehin gelten würden. “Die Regelung ist unklar und es wird noch Streit geben“, sagt Michael Bloss voraus, der im Trilog für die Grünen-Abgeordneten verhandeln wird.
Auch so mancher Mitgliedstaat setzt insgeheim darauf, dass Frankreich in den Verhandlungen mit dem Parlament stärker eingehegt wird. Im Trilog würden Safeguards und Kontrollen sicher noch einmal verstärkt, sagte gestern ein EU-Diplomat nach der Einigung.
Bloss schwebt nun eine Art Mindestpreis für die Industrie vor. “Die Franzosen können Laufzeitverlängerungen von AKWs durch CfDs finanzieren, aber sie dürfen den Preis nicht so weit runtersetzen, dass es den deutschen Industriestrompreis toppt“, sagt der Parteigenosse von Wirtschaftsminister Robert Habeck. Atomstrom müsse sich außerdem dem Kostenwettbewerb mit Erneuerbaren stellen.
Die Befürchtung der Gegenseite im Rat formulierte am klarsten der Vertreter der ungarischen Regierung. Die Regelungen für die Atomenergie dürften nicht so komplex sein, dass Investoren in der Praxis abgeschreckt würden. Deutschlands Verbündete wie Luxemburg hatten dagegen versucht klarzumachen, dass es nicht gegen die Atomenergie an sich gehe. Vielmehr verfüge kein anderes Land außer Frankreich über einen so großen AKW-Park und damit so große Möglichkeiten zur Preisstützung.
Auf Widerstand wird im Parlament auch die weitere Subventionierung polnischer Kohleverstromung treffen. Kapazitätszahlungen für besonders CO2-intensive Kraftwerke waren eigentlich bereits 2019 EU-weit ausgelaufen. Polen war jedoch eine Verlängerung bis Mitte 2025 eingeräumt worden.
Die Regierung in Warschau versäumte es trotzdem, für ausreichend neue Kraftwerke zu sorgen und sah deshalb die Versorgung gefährdet. Der Rat will nun eine weitere Ausnahme bis Ende 2028 gewähren. Man werde die Schlupflöcher für “Polens dreckige Kohleschleudern” nicht hinnehmen, kündigte Bloss aber an.
Frau Thun, wie ist es der Opposition gelungen, die Wahl zu gewinnen, obwohl die Staatsmedien für die PiS geworben haben und der Wahlkampf sehr schmutzig war?
Nicht nur der Wahlkampf war schmutzig. Es waren acht schmutzige Jahre. Die PiS und ihre Helfer haben aus den öffentlichen Medien, für die alle in Polen zahlen, Propagandainstrumente gegen die Demokratie gemacht. Sie haben auch die lokale Presse, Zeitungen und Radiosender gekauft und für ihre Zwecke instrumentalisiert. Sie haben scheußliche Wochenzeitungen subventioniert. Es war Meinungsmache gegen Deutschland, gegen Europa, gegen die Opposition. Das hat Milliarden gekostet. Im Unterschied zu Ungarn gibt es aber in Polen zum Glück noch zwei unabhängige überregionale Tageszeitungen und einen TV-Sender.
Die hohe Wahlbeteiligung von 74 Prozent ist ein Hinweis, dass die Polen die PiS wirklich loswerden wollten.
Die Wahlbeteiligung war sensationell. Ich hatte nicht damit gerechnet. Ich wusste, die Menschen sind wütend. Zugleich habe ich befürchtet, dass sie etwas verloren sind, weil die Gesellschaft sehr gespalten ist, die Desinformation immens war und in Zeiten von Social Media jeder in seiner Blase unterwegs ist. Leider war auch ein Großteil der Kirche auf Seiten der PiS. Meine Sorge war, dass die Wähler zu Hause bleiben. Endlich einmal haben aber die Menschen in diesem postkommunistischen Land begriffen, was auf dem Spiel stand. Der Erfolg ist auch dadurch zu erklären, dass die Frauen zur Wahl gegangen sind und sehr viele junge Leute.
Wird die PiS die Macht abgeben?
PiS hat zusammen mit der faschistischen Partei Konfederacia (Kon) einfach zu wenige Abgeordnete im Sejm und auch im Senat. Es wird ihr nichts anderes übrigbleiben als zu weichen. Die Stimmung in Polen ist so euphorisch über den Sieg der Opposition, dass die PiS das Land destabilisieren würde, wenn sie sich jetzt zu lange ziert.
Ist das Bündnis vorbereitet, die Regierung zu übernehmen?
Die Parteien arbeiten schon seit langer Zeit zusammen. Ihre Experten schreiben seit geraumer Zeit an den nun notwendigen Gesetzentwürfen, etwa um die Unabhängigkeit der Justiz wiederherzustellen. Die vier Chefs der beteiligten Parteien von Bürgerkoalition (KO), Dritter Weg und der Linken kennen sich sehr gut. Abgesehen von Tusk, der bereits 66 Jahre alt ist, sind die anderen drei jung, Anfang 40. Sie kooperieren seit Jahren. Im Wahlkampf haben sie sich eher gegenseitig unterstützt als gegeneinander Politik gemacht.
Die künftigen Koalitionspartner werden sich also schnell auf ein Regierungsprogramm einigen können?
Allen Beteiligten ist klar, wir haben keine andere Wahl. Wenn so ein großes Land wie Polen regiert wird von Populisten und Anti-Europäern, dann ist das eine Bedrohung für die ganze EU. Die Chefs der beteiligten Parteien sind allesamt proeuropäisch. Sie sind dazu verdammt, gut zusammenzuarbeiten. In den wesentlichen Fragen sind sie sich einig: Unabhängigkeit der Justiz, Pressefreiheit, Trennung von Staat und Kirche, Hinwendung zu Europa.
Tusk hat versprochen, die zurückgehaltenen Mittel aus dem Corona-Wiederaufbaufonds (ARF) in Brüssel loszueisen. Es geht um 23 Milliarden Euro an Zuschüssen und elf Milliarden an Darlehen. Voraussetzung ist die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz.
Es fehlt nicht mehr viel. PiS wurde bereits von der EU-Kommission gezwungen, Reformen einzuleiten. Ich sage: Mir sind die Reformen, die die Kommission fordert, noch nicht weitgehend genug. Die letzten Schritte sind jetzt aber nicht mehr schwierig. Polens Juristen – Anwälte, Richter und Staatsanwälte – waren schon aktiv und haben die fälligen Gesetzentwürfe in der Schublade. Die Kommission wird auch glücklich sein, wenn sie endlich das Geld loswerden kann.
Wie soll die Pressefreiheit wiederhergestellt werden?
Die Lokalzeitungen gehörten früher zur Passauer Neuen Presse. Mit Orlen hat sie dann ein großer staatlich kontrollierter Konzern gekauft, der Tankstellen und Raffinerien hält. Die Herausgeber der Zeitungen wurden herausgeschmissen und auf Linie gebracht. Es würde reichen, wenn man Orlen in andere Hände gibt und dafür sorgt, dass die Blätter politisch unabhängig werden. Dann muss dafür gesorgt werden, dass die öffentlichen Sender nicht mehr weiter Hass schüren, sondern das Informationsbedürfnis der Menschen wieder stillen.
In der EU-Agrarpolitik hat sich Polen gegen Brüssel bei den Importen aus der Ukraine gestellt. Bleibt es dabei?
Hier braucht es eine Kurskorrektur. Die Regierung muss dafür sorgen, dass die Produkte aus der Ukraine nicht auf den lokalen Märkten verkauft werden. Polen soll Transitland sein. Rumänien hat das gut hinbekommen. Ich verstehe, dass Polens Bauern verärgert sind über die Billigimporte. Auch der polnische EU-Kommissar Janusz Wojciechowski, der von der PiS geschickt wurde, ist ein Ärgernis.
Die PiS hat zuletzt angekündigt, keine weiteren Waffen an die Ukraine zu liefern.
Sie haben so etwas gesagt. Aber diese Regierung ist nicht ernst zu nehmen.
Die beiden höchstrangigen polnischen Soldaten sind wenige Tage vor der Wahl zurückgetreten.
Auch zehn weitere Offiziere sind zurückgetreten. Niemand weiß, was dahintersteht. Sie schweigen. Klar ist, dass der Verteidigungsminister ein sehr schlechter Minister ist. Er hat etwa versucht, das Militär im Wahlkampf zu instrumentalisieren. Auch bei der Polizei war es so. In Polizei und Militär muss der Einfluss der PiS beseitigt werden. Polen muss in der Sicherheitspolitik zurück nach Europa finden.
Polen klagt vor dem EuGH gegen den Green Deal, wird auch die Klimapolitik korrigiert?
Ich denke, dass die Klagen zurückgezogen werden. Dennoch muss man sagen, dass die Klimapolitik in der künftigen Regierung nicht ganz leicht wird. Meine Partei, Polen 2050, ist die grünste Partei in dem Bündnis. Die Tusk-Partei, die zur christdemokratischen Parteienfamilie gehört, ist aber der Meinung, dass der Green Deal aus Brüssel zu ambitioniert ist.
Róża Maria Gräfin von Thun und Hohenstein gehört seit 2009 dem Europaparlament an. Zunächst war sie Mitglied der christdemokratischen EVP-Fraktion im Europaparlament und der Bürgerplattform in Polen. 2021 trat sie aus der Bürgerplattform aus, wechselte in die Partei Polska 2050, die mit der Bauernpartei zum Dritten Weg gehört. Im Europaparlament gehört sie jetzt der liberalen Renew-Fraktion an. Sie hat sich stark im Wahlkampf engagiert, schließt aber aus, in die künftige Regierung zu gehen. Ob sie noch einmal für das Europaparlament kandidiert, hat sie noch nicht entschieden.
Die EU-Mitgliedstaaten wollen bei der Reform der europäischen Schuldenregeln auf die Schlussgerade einbiegen. Die amtierende Ratsvorsitzende Nadia Calviño sagte nach den Ecofin-Beratungen in Luxemburg, für das nächste Treffen der Finanzminister im November werde man einen Entwurf vorlegen. Der soll die Grundlage für die abschließenden Verhandlungen bilden.
Calviño unterstrich, alle Mitgliedstaaten seien entschlossen, eine Einigung bis Jahresende zu erreichen. Die Einigung ist nötig, da dann die aktuellen Ausnahmeregelungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts auslaufen.
Der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) betonte nach dem Treffen, es herrsche Übereinstimmung im Kreis der Kollegen, dass die Schuldenstände in der EU reduziert werden müssten. Die Rahmenbedingungen hätten sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert, alle Staaten hätten es mit höheren Zinsen zu tun, die die öffentlichen Haushalte belasteten. Unterschiede gebe es allerdings unter den Mitgliedstaaten hinsichtlich der jährlichen Defizitausrichtung und ihrer Rolle zur Rückführung der Schuldenquoten.
Lindner unterstrich in diesem Zusammenhang: “Ein glaubwürdiger, langfristiger Abbau der Staatsschuldenquote gelingt nur, wenn auch die jährlichen Defizite reduziert werden.” Für Deutschland sei das Drei-Prozent-Kriterium dabei “das obere Limit beim jährlichen Defizit” und nicht ein Zielwert.
Nach Angaben des Ministers sind weitere technische Arbeiten erforderlich, die sich vor allem auf eine notwendige Sicherheitsmarge unterhalb des Drei-Prozent-Limits konzentrieren sollen, um einen glaubwürdigen und nachhaltigen Schuldenabbau zu gewährleisten. cr
China und Serbien haben ein Freihandelsabkommen unterzeichnet. Die Zeremonie mit dem chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping und Serbiens Präsident Aleksandar Vučić fand am Dienstag am Rande des Seidenstraßen-Gipfels in Peking statt, wie das staatliche serbische Fernsehen RTS berichtete.
Das Abkommen werde neue Perspektiven für die Beziehungen eröffnen, sagte Vučić. “Wir verzeichnen Fortschritte in allen Bereichen.” An dem zweitägigen Seidenstraßen-Gipfel nimmt auch der russische Präsident Wladimir Putin teil.
Serbien verhandelt seit 2014 über einen EU-Beitritt. Spätestens bis zu einem Beitritt müsste das Balkanland seine Freihandelsabkommen mit Drittstaaten aufkündigen. Belgrad lässt allerdings wenig Reformbereitschaft erkennen. Die EU-Verhandlungen treten deshalb seit Jahren auf der Stelle. Unter Vučić hat Serbien seine Beziehungen vor allem zu China und Russland ausgebaut. Auch schloss sich Belgrad als einziger EU-Beitrittskandidat nicht den Sanktionen gegen Russland an.
Auch Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán reiste zum Gipfel nach Peking. Xi lobte Ungarn für seine aktive Teilnahme an der Neuen Seidenstraße. “Wir betrachten Sie als Freund”, sagte er zu Orbán. Die chinesisch-ungarischen Beziehungen hätten sich ungeachtet der sich ändernden internationalen Lage auf hohem Niveau entwickelt.
Orbán traf am Dienstag auch Chinas Ministerpräsidenten Li Qiang. In dem Gespräch sagte er nach chinesischen Angaben, dass sich Ungarn weiter aktiv an der Neuen Seidenstraße beteiligen wolle. Li sagte demnach, China sei gewillt, sein Investitions- und Infrastrukturprojekt an der ungarischen Politik der “Öffnung nach Osten” auszurichten. Außerdem wolle die Volksrepublik den Bau der etwa 350 Kilometer langen Eisenbahnverbindung zwischen Budapest und Belgrad intensivieren. dpa
Das Europaparlament fordert von Peking mehr Transparenz über die chinesische Hochseefischerei. Die chinesischen Behörden seien nicht offen in Bezug auf die Hochseefischereiflotte der Volksrepublik, kritisierten die EU-Abgeordneten am Dienstag in einer Resolution. Auch die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) bestehe auf transparente Angaben zu den Flotten, betonten die EU-Parlamentarier. Schätzungen gingen von Zahlen von 2.900 bis zu 16.966 Schiffen aus, heißt es in dem Text. Chinas Hochseeflotte stelle eine “Bedrohung für die Lebensfähigkeit des europäischen Fischereisektors” dar.
Das EU-Parlament zeigte sich zudem besorgt, dass Teile des Südchinesischen Meeres, eines der am meisten befischten Meere der Welt, von China als “inländische Gewässer” betrachtet würden. So müssten Schiffe, die dort fischten, nicht zur Fernwasserflotte gezählt werden. “Das hat schwerwiegende wirtschaftliche und arbeitsrechtliche Auswirkungen auf die Unternehmen in der Branche und in der gesamten Lieferkette”, heißt es in der Resolution.
In einer Rede am Montag sagte der Kommissar für Haushalt und Verwaltung, Johannes Hahn, dass die Kommission eine Studie zu Billigflaggen in die Wege leiten werde. Dabei geht es um den Vorwurf an chinesische Fischereischiffe, unter nicht-chinesischen Flaggen zu fahren, um illegale Fischerei zu erleichtern. Die Intransparenz sowie Subventionen an die chinesische Fischereiindustrie würden “die Wettbewerbsfähigkeit des EU-Binnenmarkts erheblich untergraben”, sagte Hahn.
Chinas Fischerei war auch Thema in der Debatte zu einem Einfuhrverbot für Produkte aus Zwangsarbeit. Jüngst veröffentlichte Berichte legten nahe, dass beispielsweise Uiguren zur Arbeit auf chinesischen Fischereischiffen gezwungen werden. Am Montagabend stimmten die Abgeordnete der Ausschüsse für Außen- und Innenhandel im Parlament nun für einen Entwurf, nach dem entsprechende Produkte an den EU-Grenzen aus dem Verkehr gezogen werden sollen.
“Zwangsarbeit ist eine schwere Menschenrechtsverletzung”, erklärte die niederländische Berichterstatterin im Parlament, Samira Rafaela, bei einer Pressekonferenz am Dienstag. Das Verbot sei unerlässlich, um gegen “moderne Sklaverei” in Lieferketten vorzugehen. Die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission sollen demnach Untersuchungen einleiten, wenn sie in der Lieferkette eines Produktes Zwangsarbeit vermuten. Bestätigt sich der Verdacht, sollen Waren an den EU-Grenzen beschlagnahmt und vom europäischen Markt zurückgezogen werden.
Die Kommission soll dem Parlamentsvorschlag zufolge eine Liste von Regionen und Wirtschaftsbereichen erstellen, in denen das Risiko für Zwangsarbeit besonders hoch ist. Kommt ein Produkt aus einer solchen Region, soll sich die Beweislast umkehren. Unternehmen müssten dann nachweisen, dass es in ihrer Lieferkette keine Zwangsarbeit gibt. Eine betroffene Region könnte etwa die chinesische Provinz Xinjiang sein. Das EU-Parlament muss noch über den Vorschlag abstimmen, bevor das EU-Parlament mit den anderen EU-Institutionen in Verhandlung treten kann. ari
Die Entscheidung Bulgariens, eine Transitsteuer auf russisches Gas zu erheben, wird von Ungarn und Serbien in einer gemeinsamen Erklärung am Dienstag als “feindlichen” Akt betrachtet, der die Sicherheit der Versorgung gefährdet.
Während Länder in Westeuropa große Anstrengungen unternommen haben, um unabhängig von russischem Gas zu werden, erhält das Binnenland Ungarn unter einem im Jahr 2021 unterzeichneten Abkommen hauptsächlich über Bulgarien und Serbien jährlich 4,5 Milliarden Kubikmeter Gas aus Russland.
“Die Entscheidung Bulgariens, eine Steuerlast auf den Transit von Erdgas aus Russland zu legen, ist ein feindseliger Schritt gegen Ungarn und Serbien”, heißt es in der Erklärung, die von Sinisa Mali, dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Serbiens, und Peter Szijjarto, dem ungarischen Außenminister, unterzeichnet wurde.
“Diese neue bulgarische Regelung gefährdet die sichere Energieversorgung sowohl in Ungarn als auch in Serbien“, heißt es in der Erklärung. “Ungarn und Serbien werden ihre Positionen koordinieren und diese feindliche Entscheidung Bulgariens nicht ohne angemessene Antwort lassen.” rtr
Das Parlament hat die Pläne für weitere Milliardenhilfen an die Ukraine am Dienstag mit einigen Anpassungen gebilligt. Am 20. Juni 2023 hatte die Kommission vorgeschlagen, eine Ukraine-Fazilität einzurichten und sie für den Zeitraum 2024 bis 2027 mit bis zu 50 Milliarden Euro in Form von Zuschüssen und Darlehen auszustatten.
“Es ist sehr wichtig, dass die Ukraine nicht nur den Krieg gewinnt, sondern auch die Demokratie auf allen Ebenen stärkt und nachhaltigen Wohlstand für ihre Bürgerinnen und Bürger schafft”, erklärte Michael Gahler (CDU), außenpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion und Berichterstatter für das Dossier. “Die EU wird dem Land dabei zur Seite stehen.”
Die Ukraine-Fazilität ist Teil der laufenden Überarbeitung des EU-Langzeithaushalts. Dieser muss angepasst werden, da das Budget wegen der zahlreichen Krisen seit 2021 bereits weitgehend aufgebraucht ist. Deutschland und andere EU-Länder sehen eine Aufstockung des Haushalts bislang kritisch.
Die Abgeordneten drängen darauf, so rasch wie möglich eine Einigung über die Fazilität sowie die Anpassung des Haushalts zu erzielen, da es sonst ab 2024 keine Bestimmungen für die Unterstützung der Ukraine gibt.
Das Parlament fordert, Vermögenswerte der Russischen Föderation oder von Einrichtungen beziehungsweise Einzelpersonen, die direkt mit dem russischen Angriffskrieg in Verbindung stehen, für den Wiederaufbau der Ukraine einzusetzen. Zudem verschärften die Abgeordneten die Bestimmungen zum Kampf gegen Betrug, Korruption, Interessenkonflikte und Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit EU-Geldern in der Ukraine. Unternehmen, die unter oligarchischem Einfluss stehen, sollen keine Gelder bekommen können.
Weitere Änderungen der Abgeordneten zielen darauf ab, die Fazilität transparenter zu machen. So soll etwa ein Webportal geschaffen werden, das über die Finanzhilfen für die Ukraine und deren Zweck informiert. vis
Der Erfolg von Lutz Güllner und seinem Team lässt sich auch in Zahlen messen. Auf der Startseite von EU vs Disinfo heißt es: 15.972 Fälle von Desinformation gesammelt und widerlegt (Stand: 17. Oktober, 17 Uhr). Für Güllner ist das ein kleiner Beweis für die erfolgreiche Arbeit seines Teams. Doch die knapp 16.000 Fälle spiegeln nur einen Ausschnitt seiner Arbeit wider. Denn Lutz Güllner ist Leiter der Abteilung Strategische Kommunikation, Taskforces und Informationsanalyse. Anders gesagt: Er ist der vorderste Kämpfer der Europäischen Union gegen Desinformation.
Wobei Güllner das Wort Desinformation eigentlich gar nicht mag. Zu viel werde damit assoziiert und zu häufig werde es auch benutzt, um die eigentlich validen Informationen und Argumente der politischen Gegenseite zu diskreditieren. “Uns geht es nicht darum, Meinungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen”, sagt Güllner. “Sondern es geht darum, staatlich koordinierte und unterstützte Manipulation und Interferenz im europäischen Diskurs aufzudecken, zu verhindern und die Menschen darüber aufzuklären.”
Wenn jemand beispielsweise den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine gut findet, müsse eine Gesellschaft das aushalten können, findet Güllner. Er und sein Team kommen erst zum Einsatz, wenn es um besonders ausgeklügelte Taktiken, technische Hilfsmittel und den Einsatz von staatlichen Geheimdiensten geht, um ein gewünschtes politisches Ziel zu erreichen. “Uns macht am meisten Sorgen, wenn diese Kampagnen staatlich organisiert und unterstützt sind und sich technischer und geheimdienstlicher Mittel bedienen. Einige dieser Kampagnen zielen darauf ab, Gesellschaften zu destabilisieren und Vertrauen erodieren zu lassen. Das ist eine Gefahr für unsere Demokratie“, sagt Güllner.
Die systematische Arbeit gegen Desinformation begann erst 2015. Damals initiierten die EU-Staats- und Regierungschefs die East Stratcom Taskforce. Dieses Kommunikationsteam ist heute Teil der Abteilung, die Güllner seit 2017 leitet.
Güllner hatte schon als Jugendlicher ein großes Interesse für Internationale Beziehungen entwickelt, studierte das später in Paris und Berlin. Anschließend arbeitete er unter anderem für das französische Umweltministerium sowie bei einer Beratung im Bereich Political Affairs. 2013 wechselte er als Beamter zur Europäischen Union, wo er bestens hinpasst.
Bereits als Kind war er viel im EU-Ausland unterwegs, heiratete später eine Niederländerin, die er beim Studium in Paris kennenlernte. “Mein Ankerpunkt war immer Europa“, sagt der gebürtige Münchner.
Seit 2013 ist der 52-Jährige durchgängig im Dienste der EU tätig – unter anderem als Kommunikationschef für Handelspolitik in der Kommission. Der Öffentlichkeit wurde er bekannt, weil er sich als EU-Beamter für die Ratifizierung des Freihandelsabkommens TTIP einsetzte, bevor die Wahl von Donald Trump in den USA das Handelsabkommen zunichtemachte. “In der Diskussion rund um TTIP habe ich gelernt, wie sehr sich unser Medienverhalten und unsere Kommunikation verändert haben”, sagt Güllner.
Deshalb sei eine professionelle politische Kommunikation, die auch auf Bedenken und Vorbehalte reagieren kann, für politische Vorhaben wichtiger denn je. “Und wir sehen die Gefahr, wie in einer Debatte Fakten manipuliert und verdreht werden können“, sagt Güllner. “Es kommt dann zu einer starken Emotionalisierung, was der Debatte durchaus schaden kann. Wir sehen das heute auch in vielen anderen Politikfeldern”, erinnert er sich.
Zu seinem Team zählen Datenanalysten und politische Expertenteams, die Techniken der Manipulation aufdecken, Falschinformationen entzaubern, die Regulierung in diesem Bereich vorantreiben und sogar die Vorarbeit für Sanktionen leisten. “Das Team ist groß genug, um hier einiges bewegen zu können. Aber es ist zugleich vergleichsweise sehr klein, insbesondere vor dem Hintergrund der immensen Herausforderung.” Ein bisschen Verstärkung würde nicht schaden. Nils Wischmeyer
Ursula von der Leyen hat sich viel Kritik anhören müssen für ihre klare Positionierung an der Seite Israels, demonstriert mit ihrem schnellen Solidaritätsbesuch in Tel Aviv vergangene Woche. Allerdings stets nur hinter vorgehaltener Hand: Bei der zweieinhalbstündigen Videokonferenz der EU-Staats- und Regierungschefs am Dienstagabend äußerte laut Diplomaten kein Teilnehmer direkte Kritik an der Kommissionspräsidentin.
Von der Leyen hatte auch reagiert und ihre Botschaft angepasst: “Es ist für jeden klar, dass Israel das Recht hat, sich zu verteidigen, im Einklang mit dem internationalen und humanitären Recht“, sagte sie auf der anschließenden Pressekonferenz. Es bestehe auch kein Widerspruch zwischen Solidarität mit Israel und humanitärer Hilfe für die Palästinenser.
In dieser Tonlage scheint sich die EU auch allmählich einzupegeln, nach einigen Tagen arger Kakophonie zwischen den Staaten, die sich nach den grausamen Angriffen der Hamas eindeutig an der Seite Israels positioniert hatten und jenen, die stärker die Perspektive der Palästinenser betonten. Klar zu ersten Gruppe zählt Bundeskanzler Olaf Scholz, der gestern selbst nach Tel Aviv gereist ist und sich zeitweise aus der deutschen Botschaft dort zuschaltete. Die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson, betonte er bei einem Auftritt mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Am Ende ihrer Besprechung erreichten die Staats- und Regierungschefs noch die Berichte, wonach laut Hamas bei einem israelischen Luftangriff auf ein Krankenhaus in Gaza mehrere Hundert Menschen getötet und verletzt worden seien. Der Vorfall löste scharfe Reaktionen etwa der ägyptischen Regierung und des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hervor. Auch Ratspräsident Charles Michel zeigte sich betroffen: “Angriffe auf zivile Infrastrukturen stehen nicht im Einklang mit dem Völkerrecht“, sagte er.
Von der Leyen wollte sich hingegen angesichts der unklaren Lage nicht äußern. Kurz darauf stritt Israels Militär denn auch die Verantwortung ab: Ein Sprecher berief sich auf Informationen, wonach ein fehlgeschlagener Raketenabschuss der Organisation Islamischer Dschihad verantwortlich sei. Welche Darstellung stimmt, blieb gestern offen. Womöglich tat die Kommissionspräsidentin gut daran, diesmal nicht vorgeprescht zu sein.
Nach dem Rat ist vor dem Trilog – wohl selten war diese EU-Binse so richtig wie nach dem gestrigen Treffen der Energieminister in Luxemburg zur Strommarktreform. Im Streit um die Förderung der französischen Atomkraftwerke gab es im Wesentlichen ein Patt zwischen Berlin und Paris. Die entscheidenden Streitpunkte werden wohl erst im Trilog mit dem Parlament geklärt, schon morgen soll es ein erstes Treffen geben.
Mit einem Kniff wurde gestern in der allgemeinen Ausrichtung der nach wie vor schwelende Streit um Differenzverträge (CfDs) für bestehende Kraftwerke verschleiert. Im nun geeinten Artikel 19b gilt zwar nur für Neuanlagen eine Pflicht, eine direkte Preisstützung nur über CfDs zu organisieren, die Abschnitte zur Laufzeitverlängerung von Altanlagen wurden dort gestrichen.
“Diese Sonderbehandlung, die ausschließlich Frankreich genutzt hätte, konnte nun komplett aus dem Entwurf der EU-Kommission gestrichen werden. Viele Mitgliedstaaten haben die deutsche Position unterstützt”, frohlockten Verhandlungskreise nach dem Beschluss. Doch die Bundesregierung hat ihre Ziele mitnichten erreicht.
Im neu gefassten Erwägungsgrund 30 erhalten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, auch das Repowering, die Kapazitätserhöhung und die Laufzeitverlängerung von Bestandskraftwerken über Differenzverträge zu fördern. Damit wäre für Paris auch ein subventionierter Industriestrompreis oder eine Umverteilung an Unternehmen grundsätzlich möglich.
Das Bundeswirtschaftsministerium hatte sich zuvor für klare Kriterien eingesetzt, nach denen die Subventionen begrenzt werden sollten – etwa durch eine Förderquote nach einem EU-Durchschnitt. Stattdessen wurde ein Zusatz aufgenommen, nach dem die EU-Kommission nun nach den üblichen Wettbewerbsregeln entscheiden soll – als ob die nicht ohnehin gelten würden. “Die Regelung ist unklar und es wird noch Streit geben“, sagt Michael Bloss voraus, der im Trilog für die Grünen-Abgeordneten verhandeln wird.
Auch so mancher Mitgliedstaat setzt insgeheim darauf, dass Frankreich in den Verhandlungen mit dem Parlament stärker eingehegt wird. Im Trilog würden Safeguards und Kontrollen sicher noch einmal verstärkt, sagte gestern ein EU-Diplomat nach der Einigung.
Bloss schwebt nun eine Art Mindestpreis für die Industrie vor. “Die Franzosen können Laufzeitverlängerungen von AKWs durch CfDs finanzieren, aber sie dürfen den Preis nicht so weit runtersetzen, dass es den deutschen Industriestrompreis toppt“, sagt der Parteigenosse von Wirtschaftsminister Robert Habeck. Atomstrom müsse sich außerdem dem Kostenwettbewerb mit Erneuerbaren stellen.
Die Befürchtung der Gegenseite im Rat formulierte am klarsten der Vertreter der ungarischen Regierung. Die Regelungen für die Atomenergie dürften nicht so komplex sein, dass Investoren in der Praxis abgeschreckt würden. Deutschlands Verbündete wie Luxemburg hatten dagegen versucht klarzumachen, dass es nicht gegen die Atomenergie an sich gehe. Vielmehr verfüge kein anderes Land außer Frankreich über einen so großen AKW-Park und damit so große Möglichkeiten zur Preisstützung.
Auf Widerstand wird im Parlament auch die weitere Subventionierung polnischer Kohleverstromung treffen. Kapazitätszahlungen für besonders CO2-intensive Kraftwerke waren eigentlich bereits 2019 EU-weit ausgelaufen. Polen war jedoch eine Verlängerung bis Mitte 2025 eingeräumt worden.
Die Regierung in Warschau versäumte es trotzdem, für ausreichend neue Kraftwerke zu sorgen und sah deshalb die Versorgung gefährdet. Der Rat will nun eine weitere Ausnahme bis Ende 2028 gewähren. Man werde die Schlupflöcher für “Polens dreckige Kohleschleudern” nicht hinnehmen, kündigte Bloss aber an.
Frau Thun, wie ist es der Opposition gelungen, die Wahl zu gewinnen, obwohl die Staatsmedien für die PiS geworben haben und der Wahlkampf sehr schmutzig war?
Nicht nur der Wahlkampf war schmutzig. Es waren acht schmutzige Jahre. Die PiS und ihre Helfer haben aus den öffentlichen Medien, für die alle in Polen zahlen, Propagandainstrumente gegen die Demokratie gemacht. Sie haben auch die lokale Presse, Zeitungen und Radiosender gekauft und für ihre Zwecke instrumentalisiert. Sie haben scheußliche Wochenzeitungen subventioniert. Es war Meinungsmache gegen Deutschland, gegen Europa, gegen die Opposition. Das hat Milliarden gekostet. Im Unterschied zu Ungarn gibt es aber in Polen zum Glück noch zwei unabhängige überregionale Tageszeitungen und einen TV-Sender.
Die hohe Wahlbeteiligung von 74 Prozent ist ein Hinweis, dass die Polen die PiS wirklich loswerden wollten.
Die Wahlbeteiligung war sensationell. Ich hatte nicht damit gerechnet. Ich wusste, die Menschen sind wütend. Zugleich habe ich befürchtet, dass sie etwas verloren sind, weil die Gesellschaft sehr gespalten ist, die Desinformation immens war und in Zeiten von Social Media jeder in seiner Blase unterwegs ist. Leider war auch ein Großteil der Kirche auf Seiten der PiS. Meine Sorge war, dass die Wähler zu Hause bleiben. Endlich einmal haben aber die Menschen in diesem postkommunistischen Land begriffen, was auf dem Spiel stand. Der Erfolg ist auch dadurch zu erklären, dass die Frauen zur Wahl gegangen sind und sehr viele junge Leute.
Wird die PiS die Macht abgeben?
PiS hat zusammen mit der faschistischen Partei Konfederacia (Kon) einfach zu wenige Abgeordnete im Sejm und auch im Senat. Es wird ihr nichts anderes übrigbleiben als zu weichen. Die Stimmung in Polen ist so euphorisch über den Sieg der Opposition, dass die PiS das Land destabilisieren würde, wenn sie sich jetzt zu lange ziert.
Ist das Bündnis vorbereitet, die Regierung zu übernehmen?
Die Parteien arbeiten schon seit langer Zeit zusammen. Ihre Experten schreiben seit geraumer Zeit an den nun notwendigen Gesetzentwürfen, etwa um die Unabhängigkeit der Justiz wiederherzustellen. Die vier Chefs der beteiligten Parteien von Bürgerkoalition (KO), Dritter Weg und der Linken kennen sich sehr gut. Abgesehen von Tusk, der bereits 66 Jahre alt ist, sind die anderen drei jung, Anfang 40. Sie kooperieren seit Jahren. Im Wahlkampf haben sie sich eher gegenseitig unterstützt als gegeneinander Politik gemacht.
Die künftigen Koalitionspartner werden sich also schnell auf ein Regierungsprogramm einigen können?
Allen Beteiligten ist klar, wir haben keine andere Wahl. Wenn so ein großes Land wie Polen regiert wird von Populisten und Anti-Europäern, dann ist das eine Bedrohung für die ganze EU. Die Chefs der beteiligten Parteien sind allesamt proeuropäisch. Sie sind dazu verdammt, gut zusammenzuarbeiten. In den wesentlichen Fragen sind sie sich einig: Unabhängigkeit der Justiz, Pressefreiheit, Trennung von Staat und Kirche, Hinwendung zu Europa.
Tusk hat versprochen, die zurückgehaltenen Mittel aus dem Corona-Wiederaufbaufonds (ARF) in Brüssel loszueisen. Es geht um 23 Milliarden Euro an Zuschüssen und elf Milliarden an Darlehen. Voraussetzung ist die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz.
Es fehlt nicht mehr viel. PiS wurde bereits von der EU-Kommission gezwungen, Reformen einzuleiten. Ich sage: Mir sind die Reformen, die die Kommission fordert, noch nicht weitgehend genug. Die letzten Schritte sind jetzt aber nicht mehr schwierig. Polens Juristen – Anwälte, Richter und Staatsanwälte – waren schon aktiv und haben die fälligen Gesetzentwürfe in der Schublade. Die Kommission wird auch glücklich sein, wenn sie endlich das Geld loswerden kann.
Wie soll die Pressefreiheit wiederhergestellt werden?
Die Lokalzeitungen gehörten früher zur Passauer Neuen Presse. Mit Orlen hat sie dann ein großer staatlich kontrollierter Konzern gekauft, der Tankstellen und Raffinerien hält. Die Herausgeber der Zeitungen wurden herausgeschmissen und auf Linie gebracht. Es würde reichen, wenn man Orlen in andere Hände gibt und dafür sorgt, dass die Blätter politisch unabhängig werden. Dann muss dafür gesorgt werden, dass die öffentlichen Sender nicht mehr weiter Hass schüren, sondern das Informationsbedürfnis der Menschen wieder stillen.
In der EU-Agrarpolitik hat sich Polen gegen Brüssel bei den Importen aus der Ukraine gestellt. Bleibt es dabei?
Hier braucht es eine Kurskorrektur. Die Regierung muss dafür sorgen, dass die Produkte aus der Ukraine nicht auf den lokalen Märkten verkauft werden. Polen soll Transitland sein. Rumänien hat das gut hinbekommen. Ich verstehe, dass Polens Bauern verärgert sind über die Billigimporte. Auch der polnische EU-Kommissar Janusz Wojciechowski, der von der PiS geschickt wurde, ist ein Ärgernis.
Die PiS hat zuletzt angekündigt, keine weiteren Waffen an die Ukraine zu liefern.
Sie haben so etwas gesagt. Aber diese Regierung ist nicht ernst zu nehmen.
Die beiden höchstrangigen polnischen Soldaten sind wenige Tage vor der Wahl zurückgetreten.
Auch zehn weitere Offiziere sind zurückgetreten. Niemand weiß, was dahintersteht. Sie schweigen. Klar ist, dass der Verteidigungsminister ein sehr schlechter Minister ist. Er hat etwa versucht, das Militär im Wahlkampf zu instrumentalisieren. Auch bei der Polizei war es so. In Polizei und Militär muss der Einfluss der PiS beseitigt werden. Polen muss in der Sicherheitspolitik zurück nach Europa finden.
Polen klagt vor dem EuGH gegen den Green Deal, wird auch die Klimapolitik korrigiert?
Ich denke, dass die Klagen zurückgezogen werden. Dennoch muss man sagen, dass die Klimapolitik in der künftigen Regierung nicht ganz leicht wird. Meine Partei, Polen 2050, ist die grünste Partei in dem Bündnis. Die Tusk-Partei, die zur christdemokratischen Parteienfamilie gehört, ist aber der Meinung, dass der Green Deal aus Brüssel zu ambitioniert ist.
Róża Maria Gräfin von Thun und Hohenstein gehört seit 2009 dem Europaparlament an. Zunächst war sie Mitglied der christdemokratischen EVP-Fraktion im Europaparlament und der Bürgerplattform in Polen. 2021 trat sie aus der Bürgerplattform aus, wechselte in die Partei Polska 2050, die mit der Bauernpartei zum Dritten Weg gehört. Im Europaparlament gehört sie jetzt der liberalen Renew-Fraktion an. Sie hat sich stark im Wahlkampf engagiert, schließt aber aus, in die künftige Regierung zu gehen. Ob sie noch einmal für das Europaparlament kandidiert, hat sie noch nicht entschieden.
Die EU-Mitgliedstaaten wollen bei der Reform der europäischen Schuldenregeln auf die Schlussgerade einbiegen. Die amtierende Ratsvorsitzende Nadia Calviño sagte nach den Ecofin-Beratungen in Luxemburg, für das nächste Treffen der Finanzminister im November werde man einen Entwurf vorlegen. Der soll die Grundlage für die abschließenden Verhandlungen bilden.
Calviño unterstrich, alle Mitgliedstaaten seien entschlossen, eine Einigung bis Jahresende zu erreichen. Die Einigung ist nötig, da dann die aktuellen Ausnahmeregelungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts auslaufen.
Der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) betonte nach dem Treffen, es herrsche Übereinstimmung im Kreis der Kollegen, dass die Schuldenstände in der EU reduziert werden müssten. Die Rahmenbedingungen hätten sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert, alle Staaten hätten es mit höheren Zinsen zu tun, die die öffentlichen Haushalte belasteten. Unterschiede gebe es allerdings unter den Mitgliedstaaten hinsichtlich der jährlichen Defizitausrichtung und ihrer Rolle zur Rückführung der Schuldenquoten.
Lindner unterstrich in diesem Zusammenhang: “Ein glaubwürdiger, langfristiger Abbau der Staatsschuldenquote gelingt nur, wenn auch die jährlichen Defizite reduziert werden.” Für Deutschland sei das Drei-Prozent-Kriterium dabei “das obere Limit beim jährlichen Defizit” und nicht ein Zielwert.
Nach Angaben des Ministers sind weitere technische Arbeiten erforderlich, die sich vor allem auf eine notwendige Sicherheitsmarge unterhalb des Drei-Prozent-Limits konzentrieren sollen, um einen glaubwürdigen und nachhaltigen Schuldenabbau zu gewährleisten. cr
China und Serbien haben ein Freihandelsabkommen unterzeichnet. Die Zeremonie mit dem chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping und Serbiens Präsident Aleksandar Vučić fand am Dienstag am Rande des Seidenstraßen-Gipfels in Peking statt, wie das staatliche serbische Fernsehen RTS berichtete.
Das Abkommen werde neue Perspektiven für die Beziehungen eröffnen, sagte Vučić. “Wir verzeichnen Fortschritte in allen Bereichen.” An dem zweitägigen Seidenstraßen-Gipfel nimmt auch der russische Präsident Wladimir Putin teil.
Serbien verhandelt seit 2014 über einen EU-Beitritt. Spätestens bis zu einem Beitritt müsste das Balkanland seine Freihandelsabkommen mit Drittstaaten aufkündigen. Belgrad lässt allerdings wenig Reformbereitschaft erkennen. Die EU-Verhandlungen treten deshalb seit Jahren auf der Stelle. Unter Vučić hat Serbien seine Beziehungen vor allem zu China und Russland ausgebaut. Auch schloss sich Belgrad als einziger EU-Beitrittskandidat nicht den Sanktionen gegen Russland an.
Auch Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán reiste zum Gipfel nach Peking. Xi lobte Ungarn für seine aktive Teilnahme an der Neuen Seidenstraße. “Wir betrachten Sie als Freund”, sagte er zu Orbán. Die chinesisch-ungarischen Beziehungen hätten sich ungeachtet der sich ändernden internationalen Lage auf hohem Niveau entwickelt.
Orbán traf am Dienstag auch Chinas Ministerpräsidenten Li Qiang. In dem Gespräch sagte er nach chinesischen Angaben, dass sich Ungarn weiter aktiv an der Neuen Seidenstraße beteiligen wolle. Li sagte demnach, China sei gewillt, sein Investitions- und Infrastrukturprojekt an der ungarischen Politik der “Öffnung nach Osten” auszurichten. Außerdem wolle die Volksrepublik den Bau der etwa 350 Kilometer langen Eisenbahnverbindung zwischen Budapest und Belgrad intensivieren. dpa
Das Europaparlament fordert von Peking mehr Transparenz über die chinesische Hochseefischerei. Die chinesischen Behörden seien nicht offen in Bezug auf die Hochseefischereiflotte der Volksrepublik, kritisierten die EU-Abgeordneten am Dienstag in einer Resolution. Auch die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) bestehe auf transparente Angaben zu den Flotten, betonten die EU-Parlamentarier. Schätzungen gingen von Zahlen von 2.900 bis zu 16.966 Schiffen aus, heißt es in dem Text. Chinas Hochseeflotte stelle eine “Bedrohung für die Lebensfähigkeit des europäischen Fischereisektors” dar.
Das EU-Parlament zeigte sich zudem besorgt, dass Teile des Südchinesischen Meeres, eines der am meisten befischten Meere der Welt, von China als “inländische Gewässer” betrachtet würden. So müssten Schiffe, die dort fischten, nicht zur Fernwasserflotte gezählt werden. “Das hat schwerwiegende wirtschaftliche und arbeitsrechtliche Auswirkungen auf die Unternehmen in der Branche und in der gesamten Lieferkette”, heißt es in der Resolution.
In einer Rede am Montag sagte der Kommissar für Haushalt und Verwaltung, Johannes Hahn, dass die Kommission eine Studie zu Billigflaggen in die Wege leiten werde. Dabei geht es um den Vorwurf an chinesische Fischereischiffe, unter nicht-chinesischen Flaggen zu fahren, um illegale Fischerei zu erleichtern. Die Intransparenz sowie Subventionen an die chinesische Fischereiindustrie würden “die Wettbewerbsfähigkeit des EU-Binnenmarkts erheblich untergraben”, sagte Hahn.
Chinas Fischerei war auch Thema in der Debatte zu einem Einfuhrverbot für Produkte aus Zwangsarbeit. Jüngst veröffentlichte Berichte legten nahe, dass beispielsweise Uiguren zur Arbeit auf chinesischen Fischereischiffen gezwungen werden. Am Montagabend stimmten die Abgeordnete der Ausschüsse für Außen- und Innenhandel im Parlament nun für einen Entwurf, nach dem entsprechende Produkte an den EU-Grenzen aus dem Verkehr gezogen werden sollen.
“Zwangsarbeit ist eine schwere Menschenrechtsverletzung”, erklärte die niederländische Berichterstatterin im Parlament, Samira Rafaela, bei einer Pressekonferenz am Dienstag. Das Verbot sei unerlässlich, um gegen “moderne Sklaverei” in Lieferketten vorzugehen. Die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission sollen demnach Untersuchungen einleiten, wenn sie in der Lieferkette eines Produktes Zwangsarbeit vermuten. Bestätigt sich der Verdacht, sollen Waren an den EU-Grenzen beschlagnahmt und vom europäischen Markt zurückgezogen werden.
Die Kommission soll dem Parlamentsvorschlag zufolge eine Liste von Regionen und Wirtschaftsbereichen erstellen, in denen das Risiko für Zwangsarbeit besonders hoch ist. Kommt ein Produkt aus einer solchen Region, soll sich die Beweislast umkehren. Unternehmen müssten dann nachweisen, dass es in ihrer Lieferkette keine Zwangsarbeit gibt. Eine betroffene Region könnte etwa die chinesische Provinz Xinjiang sein. Das EU-Parlament muss noch über den Vorschlag abstimmen, bevor das EU-Parlament mit den anderen EU-Institutionen in Verhandlung treten kann. ari
Die Entscheidung Bulgariens, eine Transitsteuer auf russisches Gas zu erheben, wird von Ungarn und Serbien in einer gemeinsamen Erklärung am Dienstag als “feindlichen” Akt betrachtet, der die Sicherheit der Versorgung gefährdet.
Während Länder in Westeuropa große Anstrengungen unternommen haben, um unabhängig von russischem Gas zu werden, erhält das Binnenland Ungarn unter einem im Jahr 2021 unterzeichneten Abkommen hauptsächlich über Bulgarien und Serbien jährlich 4,5 Milliarden Kubikmeter Gas aus Russland.
“Die Entscheidung Bulgariens, eine Steuerlast auf den Transit von Erdgas aus Russland zu legen, ist ein feindseliger Schritt gegen Ungarn und Serbien”, heißt es in der Erklärung, die von Sinisa Mali, dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Serbiens, und Peter Szijjarto, dem ungarischen Außenminister, unterzeichnet wurde.
“Diese neue bulgarische Regelung gefährdet die sichere Energieversorgung sowohl in Ungarn als auch in Serbien“, heißt es in der Erklärung. “Ungarn und Serbien werden ihre Positionen koordinieren und diese feindliche Entscheidung Bulgariens nicht ohne angemessene Antwort lassen.” rtr
Das Parlament hat die Pläne für weitere Milliardenhilfen an die Ukraine am Dienstag mit einigen Anpassungen gebilligt. Am 20. Juni 2023 hatte die Kommission vorgeschlagen, eine Ukraine-Fazilität einzurichten und sie für den Zeitraum 2024 bis 2027 mit bis zu 50 Milliarden Euro in Form von Zuschüssen und Darlehen auszustatten.
“Es ist sehr wichtig, dass die Ukraine nicht nur den Krieg gewinnt, sondern auch die Demokratie auf allen Ebenen stärkt und nachhaltigen Wohlstand für ihre Bürgerinnen und Bürger schafft”, erklärte Michael Gahler (CDU), außenpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion und Berichterstatter für das Dossier. “Die EU wird dem Land dabei zur Seite stehen.”
Die Ukraine-Fazilität ist Teil der laufenden Überarbeitung des EU-Langzeithaushalts. Dieser muss angepasst werden, da das Budget wegen der zahlreichen Krisen seit 2021 bereits weitgehend aufgebraucht ist. Deutschland und andere EU-Länder sehen eine Aufstockung des Haushalts bislang kritisch.
Die Abgeordneten drängen darauf, so rasch wie möglich eine Einigung über die Fazilität sowie die Anpassung des Haushalts zu erzielen, da es sonst ab 2024 keine Bestimmungen für die Unterstützung der Ukraine gibt.
Das Parlament fordert, Vermögenswerte der Russischen Föderation oder von Einrichtungen beziehungsweise Einzelpersonen, die direkt mit dem russischen Angriffskrieg in Verbindung stehen, für den Wiederaufbau der Ukraine einzusetzen. Zudem verschärften die Abgeordneten die Bestimmungen zum Kampf gegen Betrug, Korruption, Interessenkonflikte und Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit EU-Geldern in der Ukraine. Unternehmen, die unter oligarchischem Einfluss stehen, sollen keine Gelder bekommen können.
Weitere Änderungen der Abgeordneten zielen darauf ab, die Fazilität transparenter zu machen. So soll etwa ein Webportal geschaffen werden, das über die Finanzhilfen für die Ukraine und deren Zweck informiert. vis
Der Erfolg von Lutz Güllner und seinem Team lässt sich auch in Zahlen messen. Auf der Startseite von EU vs Disinfo heißt es: 15.972 Fälle von Desinformation gesammelt und widerlegt (Stand: 17. Oktober, 17 Uhr). Für Güllner ist das ein kleiner Beweis für die erfolgreiche Arbeit seines Teams. Doch die knapp 16.000 Fälle spiegeln nur einen Ausschnitt seiner Arbeit wider. Denn Lutz Güllner ist Leiter der Abteilung Strategische Kommunikation, Taskforces und Informationsanalyse. Anders gesagt: Er ist der vorderste Kämpfer der Europäischen Union gegen Desinformation.
Wobei Güllner das Wort Desinformation eigentlich gar nicht mag. Zu viel werde damit assoziiert und zu häufig werde es auch benutzt, um die eigentlich validen Informationen und Argumente der politischen Gegenseite zu diskreditieren. “Uns geht es nicht darum, Meinungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen”, sagt Güllner. “Sondern es geht darum, staatlich koordinierte und unterstützte Manipulation und Interferenz im europäischen Diskurs aufzudecken, zu verhindern und die Menschen darüber aufzuklären.”
Wenn jemand beispielsweise den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine gut findet, müsse eine Gesellschaft das aushalten können, findet Güllner. Er und sein Team kommen erst zum Einsatz, wenn es um besonders ausgeklügelte Taktiken, technische Hilfsmittel und den Einsatz von staatlichen Geheimdiensten geht, um ein gewünschtes politisches Ziel zu erreichen. “Uns macht am meisten Sorgen, wenn diese Kampagnen staatlich organisiert und unterstützt sind und sich technischer und geheimdienstlicher Mittel bedienen. Einige dieser Kampagnen zielen darauf ab, Gesellschaften zu destabilisieren und Vertrauen erodieren zu lassen. Das ist eine Gefahr für unsere Demokratie“, sagt Güllner.
Die systematische Arbeit gegen Desinformation begann erst 2015. Damals initiierten die EU-Staats- und Regierungschefs die East Stratcom Taskforce. Dieses Kommunikationsteam ist heute Teil der Abteilung, die Güllner seit 2017 leitet.
Güllner hatte schon als Jugendlicher ein großes Interesse für Internationale Beziehungen entwickelt, studierte das später in Paris und Berlin. Anschließend arbeitete er unter anderem für das französische Umweltministerium sowie bei einer Beratung im Bereich Political Affairs. 2013 wechselte er als Beamter zur Europäischen Union, wo er bestens hinpasst.
Bereits als Kind war er viel im EU-Ausland unterwegs, heiratete später eine Niederländerin, die er beim Studium in Paris kennenlernte. “Mein Ankerpunkt war immer Europa“, sagt der gebürtige Münchner.
Seit 2013 ist der 52-Jährige durchgängig im Dienste der EU tätig – unter anderem als Kommunikationschef für Handelspolitik in der Kommission. Der Öffentlichkeit wurde er bekannt, weil er sich als EU-Beamter für die Ratifizierung des Freihandelsabkommens TTIP einsetzte, bevor die Wahl von Donald Trump in den USA das Handelsabkommen zunichtemachte. “In der Diskussion rund um TTIP habe ich gelernt, wie sehr sich unser Medienverhalten und unsere Kommunikation verändert haben”, sagt Güllner.
Deshalb sei eine professionelle politische Kommunikation, die auch auf Bedenken und Vorbehalte reagieren kann, für politische Vorhaben wichtiger denn je. “Und wir sehen die Gefahr, wie in einer Debatte Fakten manipuliert und verdreht werden können“, sagt Güllner. “Es kommt dann zu einer starken Emotionalisierung, was der Debatte durchaus schaden kann. Wir sehen das heute auch in vielen anderen Politikfeldern”, erinnert er sich.
Zu seinem Team zählen Datenanalysten und politische Expertenteams, die Techniken der Manipulation aufdecken, Falschinformationen entzaubern, die Regulierung in diesem Bereich vorantreiben und sogar die Vorarbeit für Sanktionen leisten. “Das Team ist groß genug, um hier einiges bewegen zu können. Aber es ist zugleich vergleichsweise sehr klein, insbesondere vor dem Hintergrund der immensen Herausforderung.” Ein bisschen Verstärkung würde nicht schaden. Nils Wischmeyer