Wenn heute und morgen in Brüssel zuerst die Außenminister und dann die Verteidigungsminister zusammenkommen, wird sich Josep Borrell einige Kritik anhören müssen. Der EU-Außenbeauftragte hat der Ukraine im März bis im Frühjahr 2024 eine Million Artilleriegeschosse in Aussicht gestellt. Nach der Halbzeit haben die EU-Staaten aber erst knapp ein Drittel geliefert. Im gleichen Stil ist der Spanier im Sommer mit der Idee vorgeprescht, für die Militärhilfe zugunsten der Ukraine über die nächsten vier Jahre 20 Milliarden Euro vorzusehen.
Selbstverständlich wird neben der Ukraine auch der Nahostkonflikt das Treffen bestimmen, mit dem Fokus auf humanitärer Hilfe und der Lage der Zivilbevölkerung in Gaza. Nach dem Streit um Waffenruhe, Pausen und humanitären Korridoren gebe es derzeit aber keinen Appetit auf neue Deklarationen, so Diplomaten. Mit Blick auf die Hilfe für die Ukraine rächt sich jetzt, dass Josep Borrell seine Vorstöße im Vorfeld nicht mit den Hauptstädten abgesprochen hat. Dort fanden einige die Zusage für eine Million Granaten von Anfang an sehr unvorsichtig. Borrell dürfte hier vor den Ministern mehr Tempo einfordern.
Auch der Plan, die Militärhilfe für die Ukraine über die Friedensfazilität längerfristig auf eine stabile Basis zu stellen, war gut gemeint. In der Praxis ist es aber für die meisten Mitgliedstaaten problematisch, außerhalb des EU-Haushalts über mehrere Jahre milliardenschwere Zusagen zu machen. Und selbst bei den kleinen Schritten ist der Erfolg nicht garantiert. So blockiert Ungarn nach wie vor die achte Tranche von 500 Millionen Euro, mit denen die Mitgliedstaaten für Rüstungslieferungen an die Ukraine aus der Friedensfazilität kompensiert werden sollen.
Fortschritte gibt es beim 12. Sanktionspaket gegen Russland, das die Kommission diese Woche präsentieren will. Der Fokus: Schlupflöcher und Umgehungsgeschäfte. Erstmals könnten jetzt im zweiten Anlauf chinesische Firmen sanktioniert werden und im Annex IV gelistet werden. Auch die Sanktionen gegen die russische Diamantenindustrie sind auf gutem Weg. Experten der G7-Staaten wollen sich am Freitag in Antwerpen anschauen, wie Belgiens Vorschlag für die Rückführbarkeit der Steine in der Praxis funktioniert.
Für Europas Sozialisten fand ihr Parteitreffen, der Kongress in Málaga, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt statt. Wenige Tage vorher hatte Portugals Ministerpräsident António Costa seinen Rücktritt eingereicht, weil auch gegen ihn im Zuge einer Korruptionsaffäre ermittelt wird. Damit scheidet ein Hoffnungsträger der Partei aus. Costa hätte eine führende Rolle bei der personellen Aufstellung der Sozialisten für die Europawahl spielen sollen. Manche Genossen wollten ihn sogar dafür gewinnen, ihr Spitzenkandidat zu werden. Er hatte zuvor signalisiert, erst sein Mandat in Portugal beenden zu wollen, um dann womöglich in der zweiten Hälfte der Wahlperiode als Ratspräsident nach Brüssel zu wechseln.
Der erfolgreiche portugiesische Regierungschef wäre ein hochkarätiger Spitzenkandidat gewesen. Mit seiner langen Regierungserfahrung hätte ihm niemand im Europäischen Rat die Fähigkeit abgesprochen, die Kommission zu leiten. Es wäre ein Duell auf Augenhöhe gewesen, wenn er gegen Amtsinhaberin Ursula von der Leyen, die mutmaßlich eine weitere Amtszeit anstrebt, angetreten wäre.
Die Sozialisten haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Costa doch noch für die Kampagne zur Verfügung steht. Sie gehen davon aus, dass er unschuldig ist. Doch ist sehr unwahrscheinlich, dass ihn die Justiz bis zum 17. Januar entlastet, wenn die Bewerbungsfrist für den Spitzenkandidaten endet.
Costa reiste gar nicht erst nach Andalusien an. Ebenso wie eine zweite Sozialistin, die noch vor kurzem eine ideale Spitzenkandidatin gewesen wäre: Sanna Marin, bis Juni Regierungschefin Finnlands. Die 38-Jährige, die die jüngste Regierungschefin ihres Landes war, hat sich aus der Politik komplett zurückgezogen.
Die Parteienfamilie hat kaum Zeit, sich von dem Schock zu erholen. Die Zeit drängt. SPE-Parteichef Stefan Löfven, der ehemalige schwedische Regierungschef, beteuerte zwar, dass alles nach Plan laufe, die Partei in Málaga das Programm verabschiede und sich nun der personellen Aufstellung widme. Doch die Geschäftigkeit, mit der in Málaga in kleiner Runde über Personalien gesprochen wurde, zeugt von Nervosität. Ein Mitglied des Parteipräsidiums sagte zu Table.Media: “Ich fände es besser, wenn wir bald einen Spitzenkandidaten haben. Sie oder er muss noch Zeit haben, durch die Mitgliedstaaten zu reisen und sich bekannt zu machen.”
Gut zwei Monate sind noch Zeit, dann muss es entschieden sein. Selbst Spitzengenossen aus den Mitgliedsparteien stellen das Spitzenkandidaten-Prinzip hinter vorgehaltener Hand infrage. Doch Wegducken geht nicht. Die Sozialisten haben beschlossen, einen Bewerber für das höchste Amt, das die EU zu vergeben hat, aufzustellen – so soll die Europawahl attraktiver werden. Wobei das Spitzenkandidaten-Prinzip deutlich an Attraktivität eingebüßt hat, nachdem der siegreiche Spitzenkandidat 2019, Manfred Weber (EVP), am Widerstand bei den Staats- und Regierungschefs scheiterte.
In Málaga hat sich am Samstagmorgen der engste Führungskreis der SPE zum Frühstück getroffen. Die Rede ist von neun Partei- und Regierungschefs, nach Auskunft eines Teilnehmers wurde auch in diesem Kreis keine Vorabsprache getroffen.
Ein offizielles Stellenprofil gibt es nicht. Kriterien dürften indes sein:
Bekannt ist, dass der Luxemburger Nicolas Schmit, für die Sozialpolitik zuständiger Kommissar, bereitstünde. Er muss mit dem Manko leben, dass in Luxemburg die Sozialisten wohl aus der Regierung ausscheiden. Somit würde ihm im Kreis der Staats- und Regierungschefs die Unterstützung seines eigenen Heimatlandes fehlen – selbst wenn die Sozialdemokraten stärkste Kraft würden.
Immer wieder genannt wird Katarina Barley, ehemalige Bundesjustizministerin. Sie ist eine von 14 Vize-Präsidenten im EU-Parlament und leitende Vize-Präsidentin der SPE. Ob sie, die die deutsche Europaliste der SPD anführen wird, auch europäische Spitzenkandidatin werden kann, ist ungewiss. Wenn Ursula von der Leyen antritt, womit zu rechnen ist, gäbe es zwei Spitzenkandidatinnen aus Deutschland. Aus der Parteispitze gibt es dazu unterschiedliche Einschätzungen. Mehrere Mitglieder des Präsidiums hätten mit zwei Spitzenkandidaten aus Deutschland kein Problem. Ein prominentes Mitglied der Parteispitze hielt im Gespräch mit Table.Media eine weitere Kandidatur aus Deutschland jedoch für problematisch. Es wird aber nicht ausgeschlossen, dass Barley zum Zuge kommt, sollte sich die Suche weiter schwierig gestalten.
Pedro Sánchez, der spanische Regierungschef und Chef der PSOE, übt zusammen mit der portugiesischen Partei einen großen Einfluss in der SPE aus. Auch bei Personalentscheidungen will er mitreden. Es wird jedoch nicht damit gerechnet, dass Sánchez sich für einen Spitzenkandidaten aus Spanien starkmacht. Die Chefin der sozialistischen Fraktion im Europaparlament, Iratxe García Pérez, gilt nicht als Anwärterin.
Auch inhaltlich wurden am Wochenende erste Weichen gestellt: Der Kongress hat eine 55-seitige Resolution verabschiedet, die als Basis für das spätere Wahlprogramm dienen wird. Dieses soll bei dem nächsten Kongress Ende Februar oder Anfang März in Italien beschlossen werden. Längere Auseinandersetzungen gab es um die Passage zum Krieg im Nahen Osten. Mitgliedsparteien aus Irland, Belgien und Spanien etwa wollten Formulierungen durchsetzen, die von der deutschen SPD als Affront gegenüber Israel verstanden wurden.
Der Streit wurde auf ungewöhnliche Weise beigelegt: Die Resolution wurde in Punkt 25 entsprechend der Forderungen der deutschen Genossen abgeändert. Es wurde gleichzeitig Mitgliedsparteien die Möglichkeit gegeben, sich per Opt-out zu distanzieren. Dem Vernehmen nach wollen Parteien aus Belgien, Irland und Spanien davon Gebrauch machen. Olaf Scholz sagte gleichwohl bei einem Statement vor Journalisten: “Die deutschen Sozialdemokraten sind in der Parteienfamilie bei dem Nahost-Thema keineswegs isoliert.”
Das Amnestieabkommen zwischen der sozialistischen PSOE-Partei und den separatistischen Parteien Junts und Esquerra Republicana por Catalunya (ERC), das die Amtseinführung des Sozialisten Pedro Sánchez ermöglichen soll, hat eine Welle von Protesten ausgelöst. Diese reicht von der Justiz über die Zivilgesellschaft bis hin zu prominenten sozialistischen Politikern. Die von Junts und der PSOE am vergangenen Donnerstag getroffene Vereinbarung enthält mit dem Begriff “lawfare” einen Hinweis auf die Justizialisierung der Politik sowie die Absicht, die Schulden Kataloniens gegenüber dem Staat zu erlassen. Verschiedene Justizverbände sehen in dem Abkommen eine Bedrohung für die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz.
An diesem Sonntag nahmen Hunderttausende Menschen an den Demonstrationen gegen das Amnestieabkommen teil, zu denen die Volkspartei (PP) aufgerufen hatte. In Madrid sollen sich auf dem zentralen Platz Puerta de Sol laut Schätzungen rund 80.000 Menschen versammelt haben, in Barcelona protestierten rund 6.000 Menschen. Die Zahl der Demonstrierenden in Kastilien-La Mancha beläuft sich auf circa 40.000, in Andalusien liegen die offiziellen Zahlen bei rund 100.000.
Bereits während der gesamten letzten Woche demonstrierten täglich zwischen 4.000 und 8.000 Menschen vor dem Sitz der PSOE in der Calle Ferraz in Madrid, was zu weiteren Unruhen und zahlreichen Verhaftungen führte. Der Vorsitzende der PP, Alberto Núñez Feijóo, versicherte am Sonntag, seine Partei werde nicht ruhig bleiben, bis sie an die Wahlurnen zurückkehren könne, und warf dem PSOE-Chef seinen “Meinungswechsel” vor: Während des Wahlkampfs vor den Wahlen am 23. Juli war die Amnestie für die am Separatistenprozess von 2017 Beteiligten immer eine rote Linie für Pedro Sánchez, für die PSOE und für den gesamten sozialistischen Flügel der Regierung gewesen. Die Sozialisten bezeichneten die Amnestie als “eindeutig verfassungswidrig”, eine “implantierbare” Maßnahme, die die Regierung nicht akzeptieren könnte.
Nach der Bekanntgabe der Amnestie-Vereinbarung am vergangenen Donnerstag gaben die vier wichtigsten Richtervereinigungen eine Erklärung ab, in der sie anprangerten, dass die Amnestievereinbarung “in der Praxis bedeuten könnte, dass gerichtliche Verfahren und Entscheidungen der parlamentarischen Kontrolle unterworfen werden, was einen klaren Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit und einen Bruch der Gewaltenteilung bedeuten würde”.
Der Allgemeine Rat der Justiz (Consejo General del Poder Judicial, CGPJ) hat seinerseits letzte Woche einen Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Vizepräsidentin Věra Jourová, EU-Justizkommissar Didier Reynders, den EU-Ratspräsidenten Charles Michel und den Leiter der europäischen Diplomatie, Josep Borrell, geschickt. In dieser Erklärung weist der CGPJ darauf hin, dass das Amnestieabkommen “die Möglichkeit von Ermittlungen gegen Richter vorsieht, die von politischen Parteien im Parlament durchgeführt werden könnten”. Dies verletze den Rahmen für den Schutz der richterlichen Unabhängigkeit.
Der CGPJ betont, dass das Amnestieabkommen zwischen Junts und PSOE “den elementarsten Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz bedroht, der in Artikel 14 der Verfassung verankert ist”. Das Mandat des CGPJ-Komitees ist seit 2018 abgelaufen; seitdem blockiert die PP eine Reform des Justizwesens. Das derzeitige geschäftsführende Komitee verfügt über eine konservative Mehrheit.
Auch die leitenden Dekanatsrichter, die als einzige von ihren Kollegen in geheimer und direkter Abstimmung gewählt werden, haben sich gegen den in der Amnestievereinbarung enthaltenen Verweis auf den Begriff “lawfare” ausgesprochen, und den von allen Richtervereinigungen am Donnerstag unterzeichneten Text ebenfalls unterstützt.
Auch wichtige sozialistische Politiker haben die Zugeständnisse der PSOE an den Separatismus kategorisch abgelehnt. Emiliano García-Page, Präsident der Junta de Castilla-La Mancha, protestierte nicht nur gegen die Amnestie, sondern vor allem gegen den von Sánchez Katalonien zugesagten Schuldenerlass. “Wir werden die spanische Verfassung nicht neu lesen lassen”, betonte García-Page. Der Regionalpräsident warnte, dass man in Kastilien-La Mancha “unter keinen Umständen dulden wird, dass jemand die Einzigartigkeit, die Pluralität Spaniens ausnutzt, um steuerliche oder finanzielle Privilegien zu erhalten”.
Sánchez verkündete am vergangenen Freitag auf dem Treffen der europäischen Sozialisten, dass seine Amtseinführung unmittelbar bevorstehe: “Nächste Woche werden wir wahrscheinlich eine neue progressive Regierung haben”. Dies sei genau das, wofür die Mehrheit des spanischen Volkes am 23. Juli gestimmt habe. “Dieser Triumph ist nicht nur ein Triumph für den spanischen Sozialismus, sondern auch für alle Mitstreiter in Europa”, fügte er hinzu. Sánchez betonte, dass die PP nur mit der rechtspopulistischen Vox, die PSOE hingegen mit allen Kräften außer Vox Vereinbarungen treffen könne.
Dass die Durchsetzung des Digital Services Act kein Kinderspiel wird, zeichnete sich schon früh ab. Allerdings hat sich der Umgang der Unternehmen mit Brüsseler Gesetzgebung verändert: Anders als noch bei der Datenschutzgrundverordnung hat “Big Tech” gar nicht erst versucht, so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Stattdessen versuchten viele Unternehmen, möglichst frühzeitig die Buchstaben des Gesetzes und damit ihre Pflichten zu erfüllen, heißt es von hohen EU-Beamten. Trotz aller Briefe von Kommissar Thierry Breton und diverser Auskunftsverlangen – zuletzt gingen am Freitag an Meta und Snap zwei weitere solcher formellen Ersuchen: Kein schlechter Start, finden die für Biggest Tech zuständigen Aufseher in Brüssel.
Denn mit den Transparenzberichten gibt es zu vielen Sachverhalten erstmals Datenmaterial, die Einblicke in den Maschinenraum der Unternehmen geben. Vor allem ein Punkt sticht dabei besonders hervor: Wie Unternehmen mit möglicherweise illegalen oder AGB-widrigen Inhalten umgehen.
Das besteht bei den meisten Anbietern aus einem zweiteiligen Verfahren: Algorithmen-basierte Erkennungs- und Entscheidungsmechanismen, die den Großteil wie etwa Spam abräumen sollen. Und Menschen, die in Zweifelsfällen noch einmal diese Entscheidungsvorlagen prüfen. Wie groß etwa die Fehlerrate bei der automatisierten Prüfung ist, war bislang nicht bekannt. Und schon gar nicht vergleichbar über mehrere Plattformen hinweg. Dabei sind gerade “False Positives” und “False Negatives” ein großer Teil des Problems.
Hier zeigt sich ein interessantes Bild: Die Anbieter, die Zahlen zu automatisierten Systemen angegeben haben, melden enorm unterschiedliche Raten. Pinterest, Booking und AliExpress etwa sind mit mindestens 99 Prozent Genauigkeitsrate in die Statistik eingegangen, Amazon glaubt an 97 Prozent Treffergenauigkeit, TikTok an 95 Prozent und Google bei Play Store und Maps an 90 Prozent. Microsofts LinkedIn kommt auf 88,8 Prozent und Googles Suche noch auf 86,4 Prozent.
Was nicht nach sonderlich viel klingt, ist jedoch immer an der Contentmenge und den daraus resultierenden Schwierigkeiten für betroffene Nutzer zu messen. Wenn mehr als jede zehnte automatisierte Entscheidung bei LinkedIn falsch ist und jede 20. bei TikTok, heißt das, dass Millionen Inhalte und Nutzer innerhalb der EU betroffen sein können. Dass dies auch die oft spärliche Zahl an menschlichen Moderatoren, die die jeweiligen EU-Sprachen sprechen, kaum ausgleichen kann, hatten wir bereits zum Erscheinen der ersten Transparenzberichte erläutert.
Weniger Aussagekraft haben hingegen Zahlen zu staatlichen Anordnungen nach Artikel 9 DSA – also etwa zu richterlichen Verfügungen. Hier scheinen sehr unterschiedliche Maßstäbe von den jeweiligen Anbietern angelegt worden zu sein. Anders wäre nicht erklärlich, dass etwa Google 0, die Hotelbuchungsplattform Booking aber 14 und Snapchat 707 derartige Anordnungen erhalten hätten. Bei den Onlinemarktplätzen meldet Zalando 0, AliExpress ganze 14 und Amazon wiederum über 1.000 Anordnungen. Was daran liegen könnte, dass diese Anbieter bereits heute regelmäßig von zuständigen Aufsichtsbehörden zum Eingreifen aufgefordert werden.
Ob das in allen Fällen aber die gemeinten Anordnungen nach Artikel 9 sind und wie aussagekräftig das überhaupt ist, bleibt offen. Auch bei der durchschnittlichen Bearbeitungsdauer gibt es große Unterschiede – teils liegen Plattformen mit wenigen Anordnungen im Schnitt deutlich über jenen mit vielen. Das könnte einerseits an Langsamkeit liegen – andererseits mit dem Umfang oder der Komplexität des an die Unternehmen herangetragenen Einzelsachverhalts zusammenhängen. Die Kommission wird also noch viele weitere Erklärungen von den Unternehmen abfordern müssen, um mehr Klarheit zu gewinnen.
Damit zeichnen die Transparenzberichte bereits den Weg für den Implementing Act vor, der im kommenden Jahr die Vorgaben für diese Berichte standardisieren soll: Jede Menge Abgrenzungs- und Definitionsfragen werden dessen Weg pflastern. Was genau womit gemeint ist, was zu berichten ist und wie – alles Punkte, die schon rund um den DSA selbst viel diskutiert wurden. Jetzt allerdings gilt es. Denn aus diesen Definitionen technischer Details erwachsen unter Umständen Rechtsfolgen: Absichtlich nicht korrekte Transparenzberichte stellen ihrerseits bereits einen Verstoß gegen den DSA dar.
Doch den inhaltlichen Fokus wollen die EU-Beamten in den kommenden Wochen weiter vor allem auf drei Bereiche legen:
Bereits in den vergangenen Wochen war das Teil der Diskussionen, formellen Briefwechsel und Auskunftsersuchen an die Beteiligten.
Zugleich wartet auf die zuständigen Stellen innerhalb der Kommission eine komplizierte Rechenaufgabe: Die ersten Monate der DSA-Durchsetzung auf EU-Ebene wurden aus dem allgemeinen Budget finanziert. Doch ab Januar 2024 werden eigentlich Aufsichtsgebühren für die Unternehmen fällig. Bis zum März 2024 sollen Rat und Parlament nun über dessen Umfang und Höhe unterrichtet werden, schreibt Thierry Breton in einer Antwort auf eine schriftliche Frage.
Die Trilog-Verhandlungen zum AI Act stehen auf der Kippe. Am Freitag brachen die Verhandler den technischen Trilog ab, bei dem es um Basismodelle (Foundation Models) und Allzweck-KI-Systeme (General Purpose AI, GPAI) gehen sollte. Die Vertreter des Parlaments verließen geschlossen den Raum, weil die spanische Ratspräsidentschaft kein klares Verhandlungsmandat hatte.
Das bringt den gesamten Zeitplan in Gefahr. Um Landezonen für den politischen Trilog am 6. Dezember zu erarbeiten, bleiben nur wenige Wochen. Sollte es dann keine Einigung geben, hätten die Spanier keinen Anreiz, die Arbeit auf technischer Ebene fortzusetzen. Das würde es der kommenden belgischen Ratspräsidentschaft noch schwerer machen, die Verhandlungen bis Februar abzuschließen. Dies wäre aber nötig, um das Gesetz noch vor den Europawahlen 2024 verabschieden zu können.
Eigentlich hatte es beim vierten Trilog am 24. Oktober bereits eine politische Einigung zu Foundation Models und GPAI gegeben. Die Kommission hatte daraufhin einen entsprechenden Gesetzestext formuliert und ihn den Verhandlern von Rat und Parlament zur Kommentierung vorgelegt. Auf dieser Basis sollten die technischen Verhandlungen am Freitag stattfinden. Doch in der Ratsarbeitsgruppe Telekommunikation am Tag zuvor wurde offenbar deutlich, dass vor allem Frankreich und Deutschland den Entwurf nicht mittragen wollen.
Dieser sieht ein zweistufiges Verfahren vor, bei dem für Foundation Models und GPAI weitgehend nur Transparenzpflichten gelten sollen. Nur für besonders mächtige Foundation Models, die einen größeren Einfluss auf die Gesellschaft (high-impact) haben, sollen weitergehende Anforderungen gelten. Nach dem Entwurf der Kommission soll die Einstufung als High-impact-Modell anhand eines Kriterienkatalogs erfolgen, der die Datenmenge für das Training, die Anzahl der Parameter, die für das Training aufgewendete Rechenleistung und die Performance berücksichtigt.
Dieser Ansatz ähnelt dem zweistufigen Regulierungsansatz beim DMA und DSA. Das Parlament hatte einen horizontalen Ansatz für Foundation Models und GPAI vorgeschlagen, war aber bereit, den neuen Ansatz mitzutragen. Unter die Kategorie high-impact würden dann vor allem die großen Modelle der US-Entwickler gefallen.
Doch nun haben Deutschland mit Aleph Alpha und Frankreich mit Mistral AI wenigstens zwei junge Unternehmen, die ebenfalls in diese Kategorie streben – und eine drohende Überregulierung beklagen. So nannte etwa Cédric O., früher Emmanuel Macrons Staatssekretär fürs Digitale und jetzt in Diensten von Mistral, die geplante Regulierung mal eine Katastrophe, mal einen Killer für AI-Start-ups in Europa. Die Argumentation lautet, die europäischen Start-ups hätten im Vergleich zu den großen Playern in den USA oder auch in China einiges aufzuholen, seien weit weniger üppig mit Finanzmitteln ausgestattet und sollten nicht auch noch unter zu harter Regulierung leiden.
Nun sind Gespräche auf höchster politischer Ebene nötig, um die ins Stocken geratenen Verhandlungen wieder in Gang zu bringen. Das dürfte nicht einfach sein. Wenn der Rat ganz auf eine Regulierung von Foundation Models und GPAI verzichten will, kann er nicht mit der Zustimmung des Parlaments rechnen, das diese Regulierung ja eingebracht hatte. Aus Diplomatenkreisen in Brüssel hieß es jedoch, ganz so dramatisch sei die Lage nicht. Es sei immer noch möglich, eine Lösung zu finden. vis
US-Präsident Joe Biden und sein chinesischer Amtskollege Xi Jinping kommen am Mittwoch in San Francisco am Rande des Apec-Gipfels zum direkten Gespräch zusammen. Fast auf den Tag genau ein Jahr ist es her, dass sie sich das letzte Mal getroffen haben – damals in Bali am Rande des G20-Gipfels.
Das Treffen am Mittwoch könnte auf der chinesischen Seite signalisieren, dass die Zeichen wieder auf Gesprächsbereitschaft stehen, beispielsweise im Militärbereich. Hier deutet sich tatsächlich an, dass nach Monaten der Funkstille die Gespräche zwischen den Militärs wieder aufgenommen werden könnten. Allerdings könnten die Positionen Chinas und der USA gegensätzlicher kaum sein, Experten rechnen nicht mit Ergebnissen in heiklen Fragen wie den bevorstehenden Wahlen in Taiwan, den Konfrontationen im südchinesischen Meer oder Chinas Haltung im Ukraine-Krieg und im Nahost-Konflikt.
Europa kommt laut Experten seiner vermeintlichen Mittlerrolle zwischen den beiden Supermächten nicht nach. “Aus vielen chinesischen Delegationen höre ich die Hoffnung, dass die Europäer so etwas wie ein ausbalancierendes Element zwischen den USA und China sein könnten”, sagt Politikwissenschaftler Eberhard Sandschneider zu Table.Media – und winkt ab. “Aber das ist eine verfehlte Hoffnung. Europa ist abgeschlagen und spielt keine nennenswerte Rolle.” rad
Lesen Sie hierzu die ausführliche Analyse im China.Table.
Der Rat und das Europäische Parlament haben sich am Samstag über den Jahreshaushalt der EU für 2024 geeinigt. Der Haushaltsplan für das kommende Jahr konzentriere sich stark auf die wichtigsten politischen Prioritäten der EU und reagiere auf den derzeit schwierigen geopolitischen Kontext, heißt es in der Pressemitteilung.
Der Gesamtbetrag der Mittelbindungen beläuft sich auf 189.385,4 Millionen Euro. Im Rahmen der Ausgabenobergrenzen des derzeitigen mehrjährigen Finanzrahmens für den Zeitraum 2021-2027 wurden 360 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, so dass die EU auf unvorhersehbaren Bedarf reagieren kann. Die bisher vorgesehenen Gesamtzahlungen belaufen sich für 2024 auf 142.630,3 Mio. EUR.
Das Europäische Parlament und der Rat haben nun 14 Tage Zeit, die erzielte Einigung formell zu billigen. leo
Der deutsche Automobilhersteller BMW sieht sich mit Vorwürfen in Zusammenhang mit einem Zulieferer, dem marokkanischen Rohstoffkonzern Managem, und dessen Kobaltmine konfrontiert. Nach Recherchen von NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung besteht der Verdacht, dass Managem in seiner Mine in Bou Azzer im Atlasgebirge riesige Mengen giftiges Arsen in die Umwelt gelangen lässt. Darüber hinaus werfen laut der Recherchen Angestellte und ehemalige Arbeiter der Kobaltmine dem Konzern vor, internationale Standards zum Schutz von Arbeitern nicht einzuhalten und gegen kritische Gewerkschaften vorzugehen.
BMW und Managem haben im Jahr 2020 einen Vertrag über die Lieferung von Kobalt im Wert von 100 Millionen Euro abgeschlossen. Das Kobalt benötigt BMW für Batterien für seine E-Autos. Laut Experten könnten die Zustände in der Bou Azzer-Mine in Konflikt mit dem deutschen Lieferkettengesetz stehen, das seit Anfang 2023 für alle Großunternehmen gilt. Auf Nachfrage des Recherche-Teams habe Managem alle Vorwürfe zurückgewiesen; BMW wiederum habe erklärt, man nehme die Vorwürfe ernst und habe eine umfassende Prüfung eingefordert. leo
Die Belastung der Umwelt und menschlichen Gesundheit durch Plastikabfälle soll nach dem Willen der Vereinten Nationen durch ein weltweites verbindliches Abkommen eingedämmt werden. An diesem Montag treffen sich Vertreter von Staaten zur dritten von fünf Verhandlungsrunden zum Entwurf eines solchen Abkommens in Kenias Hauptstadt Nairobi. Die Unterhändler diskutieren zum Beispiel über die Regelungen, die für die Plastikherstellung, aber auch für das Recycling, gelten sollen. Es soll auch um Fragen der späteren Umsetzung und um die Reichweite des Abkommens gehen.
Wissenschaftler, Umweltschutzorganisationen, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften verfolgen die Verhandlungen. Ziel der UN ist es, dass das Abkommen 2025 unterzeichnet werden kann.
Das UN-Umweltprogramm (UNEP) geht davon aus, dass sich die weltweite Plastikverschmutzung bis 2040 um 80 Prozent verringern ließe. Dafür stünden schon jetzt alle Ressourcen bereit. Voraussetzung dafür seien allerdings tiefgreifende politische und marktwirtschaftliche Veränderungen hin zu einer Kreislaufwirtschaft. Die Auswirkungen der Plastikrückstände, die oft in mikroskopischer Größe im Erdreich, in Gewässern sowie im Organismus von Menschen und Tieren landen, sind laut Wissenschaftlern teils noch nicht erforscht. dpa
Die geplante Reform des fast 50 Jahre alten Bundeswaldgesetzes, die Wälder auch besser gegen zunehmenden Klimastress wappnen soll, kommt in Gang. Ein Gesetzentwurf dazu ist jetzt in der regierungsinternen Frühkoordinierung, wie ein Sprecher des Bundesagrarministeriums auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur bestätigte. Geschaffen werden solle damit “ein moderner Rahmen, der den Wald schützt, Verbesserungen für den Klimaschutz und die Biodiversität bringt und gleichzeitig den Waldbesitzenden eine klare wirtschaftliche Perspektive bietet”. SPD, Grüne und FDP haben eine Neufassung des Gesetzes im Koalitionsvertrag vereinbart.
Das bisherige Waldgesetz von 1975 stamme aus einer Zeit, in der es die heute zu erlebende Klimakrise noch nicht gegeben habe, sagte der Sprecher. Laut der jüngsten Waldzustandserhebung 2022 seien vier von fünf Bäumen krank, Dürre und Hitze stressten den Wald. “Für den Waldumbau brauchen wir den Schulterschluss aller, die Wälder besitzen.” Das Gesetz solle die Grundlage schaffen, dass Leistungen der Wälder auch finanziell unterstützt werden könnten. Das komme Waldbesitzern direkt zugute. Nähere Angaben machte der Sprecher mit Verweis auf die laufende regierungsinterne Abstimmung nicht.
Minister Cem Özdemir (Grüne) hatte deutlich gemacht, dass Handlungsbedarf bestehe. “Der Wald ist ein Patient, der unsere Hilfe braucht”, sagte er zur Vorlage der Waldzustandserhebung im Frühjahr. Ziel sei, dass Wälder künftig Trockenheit und höheren Temperaturen trotzen könnten. Das heiße: “Mischwald statt Monokulturen.” Zur Unterstützung eines solchen Umbaus stellt das Ministerium von 2022 bis 2026 insgesamt 900 Millionen Euro an Fördermitteln bereit.
Das Bundeswaldgesetz zielt laut Ministerium grundsätzlich darauf, die vielfältigen Funktionen und Leistungen des Waldes und eine ordnungsgemäße Bewirtschaftung zu sichern. Dabei soll die Forstwirtschaft gefördert und zugleich ein Ausgleich zwischen den Interessen der Allgemeinheit und Belangen der Waldbesitzer geregelt werden. Mit Gesetzen der Länder schützt das Bundeswaldgesetz den Wald demnach etwa auch vor Rodung und nicht sachgerechter Behandlung. dpa
Die “Industriepolitik” ist in den Mittelpunkt wirtschaftlicher und sogar sicherheitspolitischer Debatten gerückt – von den USA bis hin in die Europäische Union. Doch kann der Begriff in die Irre führen, und zwar nicht nur, weil er von seiner Bedeutung her ziemlich vage ist, sondern auch, weil er die wahren Notwendigkeiten, mit denen politische Entscheidungsträger konfrontiert sind, nicht erfasst.
Der Begriff Industriepolitik bezieht sich auf den Einsatz einer breiten Palette von Instrumenten – von Subventionsregeln bis hin zu Steueranreizen -, um das Wirtschaftswachstum insgesamt zu unterstützen oder die Dynamik in bestimmten Sektoren zu fördern. Industriepolitik ist so alt wie der Staat. Geht man 2000 Jahre zurück bis zur Han-Dynastie in China, wird man feststellen, dass die Eisenherstellung dort ein Staatsmonopol war.
Auch in Europa haben industriepolitische Maßnahmen eine lange Geschichte. Jahrhundertelang unterstützten die europäischen Regierungen wichtige – insbesondere stark kriegsrelevante – Branchen und Technologien, um sich einen Vorsprung vor ihren Feinden zu bewahren, die häufig auch ihre Nachbarn waren. In jüngerer Zeit verfolgten sie gemeinsame Industriepolitiken, um ihre Integration voranzutreiben, statt einander zu bekämpfen.
Der grundlegende Wandel begann 1950 mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Statt die Chancen von Ländern im Kriegsfall zu verbessern, verfolgte diese europaweite Industriepolitik zur Bündelung der Kohle- und Stahlproduktion das Ziel, Kämpfe auf dem Kontinent zu verhindern. Indem man Kohle und Stahl – die beide für die Produktion von Panzern und Waffen unverzichtbar sind – unter die Kontrolle einer gemeinsamen Hohen Behörde stellte, wurde verhindert, dass ein Land gegenüber den anderen aufrüsten konnte.
Auch andere wichtige Schritte auf dem Weg zur europäischen Integration lassen sich als Industriepolitik beschreiben. Die EU wie wir sie heute kennen begann 1958 mit einem Programm zur Abschaffung von Binnenzöllen durch die Schaffung einer Zollunion. Dem folgten später umfassende Bemühungen zur Verringerung des bürokratischen Aufwands an den europäischen Grenzen durch Harmonisierung von Hunderten von Vorschriften; dies gipfelte in der Binnenmarktakte von 1992.
Die europäischen Mitgliedsstaaten verfolgen auch jeweils eigene Industriepolitiken. Dabei wird ihr Spielraum freilich durch strenge EU-Kontrollen über staatliche Beihilfen eingeschränkt, die verhindern sollen, dass länderspezifische Subventionen Unternehmen einen unfairen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Doch investieren die nationalen Regierungen nach wie vor in Forschung und Entwicklung, fördern die technische Bildung und errichten die notwendige Infrastruktur.
Die meisten Ökonomen sind sich einig, dass derartige Interventionen Wachstum und Dynamik steigern können. Hitzig wird die Debatte über die Industriepolitik bei der Frage, ob Regierungen durch Förderung einzelner Sektoren direkt in die Wirtschaft eingreifen sollten. Eine aktuelle Studie von Réka Juhász, Nathan J. Lane und Dani Rodrik hat zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Sie zeigt, dass staatliche Maßnahmen sehr langfristige Auswirkungen auf den Standort bestimmter Branchen haben können.
Freilich steht die Industriepolitik heutzutage nicht aufgrund der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung weit oben auf der Tagesordnung der Regierungen. Vielmehr sind die Regierungen hauptsächlich von geopolitischen Spannungen motiviert: Sowohl die USA als auch China haben offizielle industriepolitische Strategien verabschiedet, die die Notwendigkeit betonen, Sektoren zu unterstützen, die als für die nationale Sicherheit zentral angesehen werden. So gesehen nimmt sich der heutige industrielle Konkurrenzkampf zwischen den Großmächten sehr wie das alte, kriegsgeplagte Europa aus.
Doch was ist mit einer europaweiten Industriepolitik? Die Europäische Kommission hat kürzlich eine Liste kritischer Technologien veröffentlicht. Aber bei der Umsetzung einer Industriepolitik im Stile jener der USA oder Chinas sieht sich Europa mit einem Paradox konfrontiert: Das Bemühen der EU, die Nutzung der Industriepolitik als geopolitisches Werkzeug zwischen den europäischen Ländern zu beenden, hat den Spielraum ihrer Mitgliedsstaaten, auf geopolitisch motivierte Industriepolitiken anderer zu reagieren, erheblich eingeschränkt.
Sicherlich hat sich die EU um Sektoren im Niedergang gekümmert. Als 1978 die Stahlindustrie Probleme hatte, setzte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft den sogenannten Davignon-Plan um, der die Produktion den in europäischen Ländern in etwa proportional beschränkte. Aber die EU hat nie eine aktive Industriepolitik verfolgt. Das hat den schlichten Grund, dass sie anders als China und die USA keinen Bundeshaushalt hat, aus dem große Subventionen für spezifische Sektoren bereitgestellt werden könnten.
Es ist daher verständlich, dass sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für einen neuen europäischen Souveränitätsfonds ausgesprochen hat. Aber es ist auch nachvollziehbar, dass die nationalen Regierungen, die diesen Fonds finanzieren müssten, zögern, das Geld ihrer Steuerzahler an die EU abzugeben, um industrielle Entwicklung anderswo zu fördern.
In Ermangelung einer Finanzierung auf EU-Ebene für eine gemeinsame Industriepolitik lockert die Europäische Kommission derzeit die Regeln für staatliche Beihilfen. So kann die Kommission etwa im Rahmen des europäischen Chip-Gesetzes gezielte nationale Fördermaßnahmen für große Halbleiterfabriken genehmigen. Aber ob man glaubt, dass die neu gewonnene Fähigkeit der Mitgliedsstaaten, bestimmte Industrien zu unterstützen, den gewünschten Effekt haben wird, hängt davon ab, auf welcher Seite der industriepolitischen Debatte man steht.
Wer glaubt, dass die Regierungen Sektoren mit Potenzial für positives Wachstum ermitteln können, wird den Ansatz der EU begrüßen – insbesondere, weil sich die Kommission das Recht vorbehält, zu beurteilen, ob vorgeschlagene nationale staatliche Beihilfen proportional und effizienzsteigernd wären. Die Skeptiker andererseits glauben, dass die nationalen Regierungen wahrscheinlich “nationale Champions” oder politisch bequeme Projekte finanzieren werden und dass die EU-Bürokraten nicht gut aufgestellt sind, komplexe Lieferketten zu entwirren und die Sektoren mit dem größten Potenzial zu ermitteln.
Vergangene Erfahrungen, die den Einfluss nationaler Champions auf die Politik beleuchten, deuten darauf hin, dass die Sicht der Skeptiker womöglich die realistischere ist. Andererseits kann und sollte es bei der Industriepolitik um viel mehr gehen als darum, großen Unternehmen Milliarden von Euros zuzuschieben, um im eigenen Land High-Tech-Fabriken zu errichten. Eine Erhöhung der Ausgaben für Forschung und Entwicklung würde eine bessere Grundlage für die High-Tech-Industrie im Allgemeinen darstellen.
Diese indirekte Unterstützung könnte immer noch gezielt erfolgen. So würde etwa die Mikrochip-Industrie von der Schaffung spezialisierter technischer Hochschulen und der Förderung lokaler Expertise in Schlüsselbereichen des Chip-Herstellungsprozesses profitieren. Ein solcher Ansatz ist mehr Strategie als Politik – und dürfte Europa viel mehr nutzen, als wenn man einen Haufen öffentlichen Geldes in ein paar Mega-Fabriken steckt.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
Project Syndicate
Wenn heute und morgen in Brüssel zuerst die Außenminister und dann die Verteidigungsminister zusammenkommen, wird sich Josep Borrell einige Kritik anhören müssen. Der EU-Außenbeauftragte hat der Ukraine im März bis im Frühjahr 2024 eine Million Artilleriegeschosse in Aussicht gestellt. Nach der Halbzeit haben die EU-Staaten aber erst knapp ein Drittel geliefert. Im gleichen Stil ist der Spanier im Sommer mit der Idee vorgeprescht, für die Militärhilfe zugunsten der Ukraine über die nächsten vier Jahre 20 Milliarden Euro vorzusehen.
Selbstverständlich wird neben der Ukraine auch der Nahostkonflikt das Treffen bestimmen, mit dem Fokus auf humanitärer Hilfe und der Lage der Zivilbevölkerung in Gaza. Nach dem Streit um Waffenruhe, Pausen und humanitären Korridoren gebe es derzeit aber keinen Appetit auf neue Deklarationen, so Diplomaten. Mit Blick auf die Hilfe für die Ukraine rächt sich jetzt, dass Josep Borrell seine Vorstöße im Vorfeld nicht mit den Hauptstädten abgesprochen hat. Dort fanden einige die Zusage für eine Million Granaten von Anfang an sehr unvorsichtig. Borrell dürfte hier vor den Ministern mehr Tempo einfordern.
Auch der Plan, die Militärhilfe für die Ukraine über die Friedensfazilität längerfristig auf eine stabile Basis zu stellen, war gut gemeint. In der Praxis ist es aber für die meisten Mitgliedstaaten problematisch, außerhalb des EU-Haushalts über mehrere Jahre milliardenschwere Zusagen zu machen. Und selbst bei den kleinen Schritten ist der Erfolg nicht garantiert. So blockiert Ungarn nach wie vor die achte Tranche von 500 Millionen Euro, mit denen die Mitgliedstaaten für Rüstungslieferungen an die Ukraine aus der Friedensfazilität kompensiert werden sollen.
Fortschritte gibt es beim 12. Sanktionspaket gegen Russland, das die Kommission diese Woche präsentieren will. Der Fokus: Schlupflöcher und Umgehungsgeschäfte. Erstmals könnten jetzt im zweiten Anlauf chinesische Firmen sanktioniert werden und im Annex IV gelistet werden. Auch die Sanktionen gegen die russische Diamantenindustrie sind auf gutem Weg. Experten der G7-Staaten wollen sich am Freitag in Antwerpen anschauen, wie Belgiens Vorschlag für die Rückführbarkeit der Steine in der Praxis funktioniert.
Für Europas Sozialisten fand ihr Parteitreffen, der Kongress in Málaga, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt statt. Wenige Tage vorher hatte Portugals Ministerpräsident António Costa seinen Rücktritt eingereicht, weil auch gegen ihn im Zuge einer Korruptionsaffäre ermittelt wird. Damit scheidet ein Hoffnungsträger der Partei aus. Costa hätte eine führende Rolle bei der personellen Aufstellung der Sozialisten für die Europawahl spielen sollen. Manche Genossen wollten ihn sogar dafür gewinnen, ihr Spitzenkandidat zu werden. Er hatte zuvor signalisiert, erst sein Mandat in Portugal beenden zu wollen, um dann womöglich in der zweiten Hälfte der Wahlperiode als Ratspräsident nach Brüssel zu wechseln.
Der erfolgreiche portugiesische Regierungschef wäre ein hochkarätiger Spitzenkandidat gewesen. Mit seiner langen Regierungserfahrung hätte ihm niemand im Europäischen Rat die Fähigkeit abgesprochen, die Kommission zu leiten. Es wäre ein Duell auf Augenhöhe gewesen, wenn er gegen Amtsinhaberin Ursula von der Leyen, die mutmaßlich eine weitere Amtszeit anstrebt, angetreten wäre.
Die Sozialisten haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Costa doch noch für die Kampagne zur Verfügung steht. Sie gehen davon aus, dass er unschuldig ist. Doch ist sehr unwahrscheinlich, dass ihn die Justiz bis zum 17. Januar entlastet, wenn die Bewerbungsfrist für den Spitzenkandidaten endet.
Costa reiste gar nicht erst nach Andalusien an. Ebenso wie eine zweite Sozialistin, die noch vor kurzem eine ideale Spitzenkandidatin gewesen wäre: Sanna Marin, bis Juni Regierungschefin Finnlands. Die 38-Jährige, die die jüngste Regierungschefin ihres Landes war, hat sich aus der Politik komplett zurückgezogen.
Die Parteienfamilie hat kaum Zeit, sich von dem Schock zu erholen. Die Zeit drängt. SPE-Parteichef Stefan Löfven, der ehemalige schwedische Regierungschef, beteuerte zwar, dass alles nach Plan laufe, die Partei in Málaga das Programm verabschiede und sich nun der personellen Aufstellung widme. Doch die Geschäftigkeit, mit der in Málaga in kleiner Runde über Personalien gesprochen wurde, zeugt von Nervosität. Ein Mitglied des Parteipräsidiums sagte zu Table.Media: “Ich fände es besser, wenn wir bald einen Spitzenkandidaten haben. Sie oder er muss noch Zeit haben, durch die Mitgliedstaaten zu reisen und sich bekannt zu machen.”
Gut zwei Monate sind noch Zeit, dann muss es entschieden sein. Selbst Spitzengenossen aus den Mitgliedsparteien stellen das Spitzenkandidaten-Prinzip hinter vorgehaltener Hand infrage. Doch Wegducken geht nicht. Die Sozialisten haben beschlossen, einen Bewerber für das höchste Amt, das die EU zu vergeben hat, aufzustellen – so soll die Europawahl attraktiver werden. Wobei das Spitzenkandidaten-Prinzip deutlich an Attraktivität eingebüßt hat, nachdem der siegreiche Spitzenkandidat 2019, Manfred Weber (EVP), am Widerstand bei den Staats- und Regierungschefs scheiterte.
In Málaga hat sich am Samstagmorgen der engste Führungskreis der SPE zum Frühstück getroffen. Die Rede ist von neun Partei- und Regierungschefs, nach Auskunft eines Teilnehmers wurde auch in diesem Kreis keine Vorabsprache getroffen.
Ein offizielles Stellenprofil gibt es nicht. Kriterien dürften indes sein:
Bekannt ist, dass der Luxemburger Nicolas Schmit, für die Sozialpolitik zuständiger Kommissar, bereitstünde. Er muss mit dem Manko leben, dass in Luxemburg die Sozialisten wohl aus der Regierung ausscheiden. Somit würde ihm im Kreis der Staats- und Regierungschefs die Unterstützung seines eigenen Heimatlandes fehlen – selbst wenn die Sozialdemokraten stärkste Kraft würden.
Immer wieder genannt wird Katarina Barley, ehemalige Bundesjustizministerin. Sie ist eine von 14 Vize-Präsidenten im EU-Parlament und leitende Vize-Präsidentin der SPE. Ob sie, die die deutsche Europaliste der SPD anführen wird, auch europäische Spitzenkandidatin werden kann, ist ungewiss. Wenn Ursula von der Leyen antritt, womit zu rechnen ist, gäbe es zwei Spitzenkandidatinnen aus Deutschland. Aus der Parteispitze gibt es dazu unterschiedliche Einschätzungen. Mehrere Mitglieder des Präsidiums hätten mit zwei Spitzenkandidaten aus Deutschland kein Problem. Ein prominentes Mitglied der Parteispitze hielt im Gespräch mit Table.Media eine weitere Kandidatur aus Deutschland jedoch für problematisch. Es wird aber nicht ausgeschlossen, dass Barley zum Zuge kommt, sollte sich die Suche weiter schwierig gestalten.
Pedro Sánchez, der spanische Regierungschef und Chef der PSOE, übt zusammen mit der portugiesischen Partei einen großen Einfluss in der SPE aus. Auch bei Personalentscheidungen will er mitreden. Es wird jedoch nicht damit gerechnet, dass Sánchez sich für einen Spitzenkandidaten aus Spanien starkmacht. Die Chefin der sozialistischen Fraktion im Europaparlament, Iratxe García Pérez, gilt nicht als Anwärterin.
Auch inhaltlich wurden am Wochenende erste Weichen gestellt: Der Kongress hat eine 55-seitige Resolution verabschiedet, die als Basis für das spätere Wahlprogramm dienen wird. Dieses soll bei dem nächsten Kongress Ende Februar oder Anfang März in Italien beschlossen werden. Längere Auseinandersetzungen gab es um die Passage zum Krieg im Nahen Osten. Mitgliedsparteien aus Irland, Belgien und Spanien etwa wollten Formulierungen durchsetzen, die von der deutschen SPD als Affront gegenüber Israel verstanden wurden.
Der Streit wurde auf ungewöhnliche Weise beigelegt: Die Resolution wurde in Punkt 25 entsprechend der Forderungen der deutschen Genossen abgeändert. Es wurde gleichzeitig Mitgliedsparteien die Möglichkeit gegeben, sich per Opt-out zu distanzieren. Dem Vernehmen nach wollen Parteien aus Belgien, Irland und Spanien davon Gebrauch machen. Olaf Scholz sagte gleichwohl bei einem Statement vor Journalisten: “Die deutschen Sozialdemokraten sind in der Parteienfamilie bei dem Nahost-Thema keineswegs isoliert.”
Das Amnestieabkommen zwischen der sozialistischen PSOE-Partei und den separatistischen Parteien Junts und Esquerra Republicana por Catalunya (ERC), das die Amtseinführung des Sozialisten Pedro Sánchez ermöglichen soll, hat eine Welle von Protesten ausgelöst. Diese reicht von der Justiz über die Zivilgesellschaft bis hin zu prominenten sozialistischen Politikern. Die von Junts und der PSOE am vergangenen Donnerstag getroffene Vereinbarung enthält mit dem Begriff “lawfare” einen Hinweis auf die Justizialisierung der Politik sowie die Absicht, die Schulden Kataloniens gegenüber dem Staat zu erlassen. Verschiedene Justizverbände sehen in dem Abkommen eine Bedrohung für die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz.
An diesem Sonntag nahmen Hunderttausende Menschen an den Demonstrationen gegen das Amnestieabkommen teil, zu denen die Volkspartei (PP) aufgerufen hatte. In Madrid sollen sich auf dem zentralen Platz Puerta de Sol laut Schätzungen rund 80.000 Menschen versammelt haben, in Barcelona protestierten rund 6.000 Menschen. Die Zahl der Demonstrierenden in Kastilien-La Mancha beläuft sich auf circa 40.000, in Andalusien liegen die offiziellen Zahlen bei rund 100.000.
Bereits während der gesamten letzten Woche demonstrierten täglich zwischen 4.000 und 8.000 Menschen vor dem Sitz der PSOE in der Calle Ferraz in Madrid, was zu weiteren Unruhen und zahlreichen Verhaftungen führte. Der Vorsitzende der PP, Alberto Núñez Feijóo, versicherte am Sonntag, seine Partei werde nicht ruhig bleiben, bis sie an die Wahlurnen zurückkehren könne, und warf dem PSOE-Chef seinen “Meinungswechsel” vor: Während des Wahlkampfs vor den Wahlen am 23. Juli war die Amnestie für die am Separatistenprozess von 2017 Beteiligten immer eine rote Linie für Pedro Sánchez, für die PSOE und für den gesamten sozialistischen Flügel der Regierung gewesen. Die Sozialisten bezeichneten die Amnestie als “eindeutig verfassungswidrig”, eine “implantierbare” Maßnahme, die die Regierung nicht akzeptieren könnte.
Nach der Bekanntgabe der Amnestie-Vereinbarung am vergangenen Donnerstag gaben die vier wichtigsten Richtervereinigungen eine Erklärung ab, in der sie anprangerten, dass die Amnestievereinbarung “in der Praxis bedeuten könnte, dass gerichtliche Verfahren und Entscheidungen der parlamentarischen Kontrolle unterworfen werden, was einen klaren Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit und einen Bruch der Gewaltenteilung bedeuten würde”.
Der Allgemeine Rat der Justiz (Consejo General del Poder Judicial, CGPJ) hat seinerseits letzte Woche einen Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Vizepräsidentin Věra Jourová, EU-Justizkommissar Didier Reynders, den EU-Ratspräsidenten Charles Michel und den Leiter der europäischen Diplomatie, Josep Borrell, geschickt. In dieser Erklärung weist der CGPJ darauf hin, dass das Amnestieabkommen “die Möglichkeit von Ermittlungen gegen Richter vorsieht, die von politischen Parteien im Parlament durchgeführt werden könnten”. Dies verletze den Rahmen für den Schutz der richterlichen Unabhängigkeit.
Der CGPJ betont, dass das Amnestieabkommen zwischen Junts und PSOE “den elementarsten Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz bedroht, der in Artikel 14 der Verfassung verankert ist”. Das Mandat des CGPJ-Komitees ist seit 2018 abgelaufen; seitdem blockiert die PP eine Reform des Justizwesens. Das derzeitige geschäftsführende Komitee verfügt über eine konservative Mehrheit.
Auch die leitenden Dekanatsrichter, die als einzige von ihren Kollegen in geheimer und direkter Abstimmung gewählt werden, haben sich gegen den in der Amnestievereinbarung enthaltenen Verweis auf den Begriff “lawfare” ausgesprochen, und den von allen Richtervereinigungen am Donnerstag unterzeichneten Text ebenfalls unterstützt.
Auch wichtige sozialistische Politiker haben die Zugeständnisse der PSOE an den Separatismus kategorisch abgelehnt. Emiliano García-Page, Präsident der Junta de Castilla-La Mancha, protestierte nicht nur gegen die Amnestie, sondern vor allem gegen den von Sánchez Katalonien zugesagten Schuldenerlass. “Wir werden die spanische Verfassung nicht neu lesen lassen”, betonte García-Page. Der Regionalpräsident warnte, dass man in Kastilien-La Mancha “unter keinen Umständen dulden wird, dass jemand die Einzigartigkeit, die Pluralität Spaniens ausnutzt, um steuerliche oder finanzielle Privilegien zu erhalten”.
Sánchez verkündete am vergangenen Freitag auf dem Treffen der europäischen Sozialisten, dass seine Amtseinführung unmittelbar bevorstehe: “Nächste Woche werden wir wahrscheinlich eine neue progressive Regierung haben”. Dies sei genau das, wofür die Mehrheit des spanischen Volkes am 23. Juli gestimmt habe. “Dieser Triumph ist nicht nur ein Triumph für den spanischen Sozialismus, sondern auch für alle Mitstreiter in Europa”, fügte er hinzu. Sánchez betonte, dass die PP nur mit der rechtspopulistischen Vox, die PSOE hingegen mit allen Kräften außer Vox Vereinbarungen treffen könne.
Dass die Durchsetzung des Digital Services Act kein Kinderspiel wird, zeichnete sich schon früh ab. Allerdings hat sich der Umgang der Unternehmen mit Brüsseler Gesetzgebung verändert: Anders als noch bei der Datenschutzgrundverordnung hat “Big Tech” gar nicht erst versucht, so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Stattdessen versuchten viele Unternehmen, möglichst frühzeitig die Buchstaben des Gesetzes und damit ihre Pflichten zu erfüllen, heißt es von hohen EU-Beamten. Trotz aller Briefe von Kommissar Thierry Breton und diverser Auskunftsverlangen – zuletzt gingen am Freitag an Meta und Snap zwei weitere solcher formellen Ersuchen: Kein schlechter Start, finden die für Biggest Tech zuständigen Aufseher in Brüssel.
Denn mit den Transparenzberichten gibt es zu vielen Sachverhalten erstmals Datenmaterial, die Einblicke in den Maschinenraum der Unternehmen geben. Vor allem ein Punkt sticht dabei besonders hervor: Wie Unternehmen mit möglicherweise illegalen oder AGB-widrigen Inhalten umgehen.
Das besteht bei den meisten Anbietern aus einem zweiteiligen Verfahren: Algorithmen-basierte Erkennungs- und Entscheidungsmechanismen, die den Großteil wie etwa Spam abräumen sollen. Und Menschen, die in Zweifelsfällen noch einmal diese Entscheidungsvorlagen prüfen. Wie groß etwa die Fehlerrate bei der automatisierten Prüfung ist, war bislang nicht bekannt. Und schon gar nicht vergleichbar über mehrere Plattformen hinweg. Dabei sind gerade “False Positives” und “False Negatives” ein großer Teil des Problems.
Hier zeigt sich ein interessantes Bild: Die Anbieter, die Zahlen zu automatisierten Systemen angegeben haben, melden enorm unterschiedliche Raten. Pinterest, Booking und AliExpress etwa sind mit mindestens 99 Prozent Genauigkeitsrate in die Statistik eingegangen, Amazon glaubt an 97 Prozent Treffergenauigkeit, TikTok an 95 Prozent und Google bei Play Store und Maps an 90 Prozent. Microsofts LinkedIn kommt auf 88,8 Prozent und Googles Suche noch auf 86,4 Prozent.
Was nicht nach sonderlich viel klingt, ist jedoch immer an der Contentmenge und den daraus resultierenden Schwierigkeiten für betroffene Nutzer zu messen. Wenn mehr als jede zehnte automatisierte Entscheidung bei LinkedIn falsch ist und jede 20. bei TikTok, heißt das, dass Millionen Inhalte und Nutzer innerhalb der EU betroffen sein können. Dass dies auch die oft spärliche Zahl an menschlichen Moderatoren, die die jeweiligen EU-Sprachen sprechen, kaum ausgleichen kann, hatten wir bereits zum Erscheinen der ersten Transparenzberichte erläutert.
Weniger Aussagekraft haben hingegen Zahlen zu staatlichen Anordnungen nach Artikel 9 DSA – also etwa zu richterlichen Verfügungen. Hier scheinen sehr unterschiedliche Maßstäbe von den jeweiligen Anbietern angelegt worden zu sein. Anders wäre nicht erklärlich, dass etwa Google 0, die Hotelbuchungsplattform Booking aber 14 und Snapchat 707 derartige Anordnungen erhalten hätten. Bei den Onlinemarktplätzen meldet Zalando 0, AliExpress ganze 14 und Amazon wiederum über 1.000 Anordnungen. Was daran liegen könnte, dass diese Anbieter bereits heute regelmäßig von zuständigen Aufsichtsbehörden zum Eingreifen aufgefordert werden.
Ob das in allen Fällen aber die gemeinten Anordnungen nach Artikel 9 sind und wie aussagekräftig das überhaupt ist, bleibt offen. Auch bei der durchschnittlichen Bearbeitungsdauer gibt es große Unterschiede – teils liegen Plattformen mit wenigen Anordnungen im Schnitt deutlich über jenen mit vielen. Das könnte einerseits an Langsamkeit liegen – andererseits mit dem Umfang oder der Komplexität des an die Unternehmen herangetragenen Einzelsachverhalts zusammenhängen. Die Kommission wird also noch viele weitere Erklärungen von den Unternehmen abfordern müssen, um mehr Klarheit zu gewinnen.
Damit zeichnen die Transparenzberichte bereits den Weg für den Implementing Act vor, der im kommenden Jahr die Vorgaben für diese Berichte standardisieren soll: Jede Menge Abgrenzungs- und Definitionsfragen werden dessen Weg pflastern. Was genau womit gemeint ist, was zu berichten ist und wie – alles Punkte, die schon rund um den DSA selbst viel diskutiert wurden. Jetzt allerdings gilt es. Denn aus diesen Definitionen technischer Details erwachsen unter Umständen Rechtsfolgen: Absichtlich nicht korrekte Transparenzberichte stellen ihrerseits bereits einen Verstoß gegen den DSA dar.
Doch den inhaltlichen Fokus wollen die EU-Beamten in den kommenden Wochen weiter vor allem auf drei Bereiche legen:
Bereits in den vergangenen Wochen war das Teil der Diskussionen, formellen Briefwechsel und Auskunftsersuchen an die Beteiligten.
Zugleich wartet auf die zuständigen Stellen innerhalb der Kommission eine komplizierte Rechenaufgabe: Die ersten Monate der DSA-Durchsetzung auf EU-Ebene wurden aus dem allgemeinen Budget finanziert. Doch ab Januar 2024 werden eigentlich Aufsichtsgebühren für die Unternehmen fällig. Bis zum März 2024 sollen Rat und Parlament nun über dessen Umfang und Höhe unterrichtet werden, schreibt Thierry Breton in einer Antwort auf eine schriftliche Frage.
Die Trilog-Verhandlungen zum AI Act stehen auf der Kippe. Am Freitag brachen die Verhandler den technischen Trilog ab, bei dem es um Basismodelle (Foundation Models) und Allzweck-KI-Systeme (General Purpose AI, GPAI) gehen sollte. Die Vertreter des Parlaments verließen geschlossen den Raum, weil die spanische Ratspräsidentschaft kein klares Verhandlungsmandat hatte.
Das bringt den gesamten Zeitplan in Gefahr. Um Landezonen für den politischen Trilog am 6. Dezember zu erarbeiten, bleiben nur wenige Wochen. Sollte es dann keine Einigung geben, hätten die Spanier keinen Anreiz, die Arbeit auf technischer Ebene fortzusetzen. Das würde es der kommenden belgischen Ratspräsidentschaft noch schwerer machen, die Verhandlungen bis Februar abzuschließen. Dies wäre aber nötig, um das Gesetz noch vor den Europawahlen 2024 verabschieden zu können.
Eigentlich hatte es beim vierten Trilog am 24. Oktober bereits eine politische Einigung zu Foundation Models und GPAI gegeben. Die Kommission hatte daraufhin einen entsprechenden Gesetzestext formuliert und ihn den Verhandlern von Rat und Parlament zur Kommentierung vorgelegt. Auf dieser Basis sollten die technischen Verhandlungen am Freitag stattfinden. Doch in der Ratsarbeitsgruppe Telekommunikation am Tag zuvor wurde offenbar deutlich, dass vor allem Frankreich und Deutschland den Entwurf nicht mittragen wollen.
Dieser sieht ein zweistufiges Verfahren vor, bei dem für Foundation Models und GPAI weitgehend nur Transparenzpflichten gelten sollen. Nur für besonders mächtige Foundation Models, die einen größeren Einfluss auf die Gesellschaft (high-impact) haben, sollen weitergehende Anforderungen gelten. Nach dem Entwurf der Kommission soll die Einstufung als High-impact-Modell anhand eines Kriterienkatalogs erfolgen, der die Datenmenge für das Training, die Anzahl der Parameter, die für das Training aufgewendete Rechenleistung und die Performance berücksichtigt.
Dieser Ansatz ähnelt dem zweistufigen Regulierungsansatz beim DMA und DSA. Das Parlament hatte einen horizontalen Ansatz für Foundation Models und GPAI vorgeschlagen, war aber bereit, den neuen Ansatz mitzutragen. Unter die Kategorie high-impact würden dann vor allem die großen Modelle der US-Entwickler gefallen.
Doch nun haben Deutschland mit Aleph Alpha und Frankreich mit Mistral AI wenigstens zwei junge Unternehmen, die ebenfalls in diese Kategorie streben – und eine drohende Überregulierung beklagen. So nannte etwa Cédric O., früher Emmanuel Macrons Staatssekretär fürs Digitale und jetzt in Diensten von Mistral, die geplante Regulierung mal eine Katastrophe, mal einen Killer für AI-Start-ups in Europa. Die Argumentation lautet, die europäischen Start-ups hätten im Vergleich zu den großen Playern in den USA oder auch in China einiges aufzuholen, seien weit weniger üppig mit Finanzmitteln ausgestattet und sollten nicht auch noch unter zu harter Regulierung leiden.
Nun sind Gespräche auf höchster politischer Ebene nötig, um die ins Stocken geratenen Verhandlungen wieder in Gang zu bringen. Das dürfte nicht einfach sein. Wenn der Rat ganz auf eine Regulierung von Foundation Models und GPAI verzichten will, kann er nicht mit der Zustimmung des Parlaments rechnen, das diese Regulierung ja eingebracht hatte. Aus Diplomatenkreisen in Brüssel hieß es jedoch, ganz so dramatisch sei die Lage nicht. Es sei immer noch möglich, eine Lösung zu finden. vis
US-Präsident Joe Biden und sein chinesischer Amtskollege Xi Jinping kommen am Mittwoch in San Francisco am Rande des Apec-Gipfels zum direkten Gespräch zusammen. Fast auf den Tag genau ein Jahr ist es her, dass sie sich das letzte Mal getroffen haben – damals in Bali am Rande des G20-Gipfels.
Das Treffen am Mittwoch könnte auf der chinesischen Seite signalisieren, dass die Zeichen wieder auf Gesprächsbereitschaft stehen, beispielsweise im Militärbereich. Hier deutet sich tatsächlich an, dass nach Monaten der Funkstille die Gespräche zwischen den Militärs wieder aufgenommen werden könnten. Allerdings könnten die Positionen Chinas und der USA gegensätzlicher kaum sein, Experten rechnen nicht mit Ergebnissen in heiklen Fragen wie den bevorstehenden Wahlen in Taiwan, den Konfrontationen im südchinesischen Meer oder Chinas Haltung im Ukraine-Krieg und im Nahost-Konflikt.
Europa kommt laut Experten seiner vermeintlichen Mittlerrolle zwischen den beiden Supermächten nicht nach. “Aus vielen chinesischen Delegationen höre ich die Hoffnung, dass die Europäer so etwas wie ein ausbalancierendes Element zwischen den USA und China sein könnten”, sagt Politikwissenschaftler Eberhard Sandschneider zu Table.Media – und winkt ab. “Aber das ist eine verfehlte Hoffnung. Europa ist abgeschlagen und spielt keine nennenswerte Rolle.” rad
Lesen Sie hierzu die ausführliche Analyse im China.Table.
Der Rat und das Europäische Parlament haben sich am Samstag über den Jahreshaushalt der EU für 2024 geeinigt. Der Haushaltsplan für das kommende Jahr konzentriere sich stark auf die wichtigsten politischen Prioritäten der EU und reagiere auf den derzeit schwierigen geopolitischen Kontext, heißt es in der Pressemitteilung.
Der Gesamtbetrag der Mittelbindungen beläuft sich auf 189.385,4 Millionen Euro. Im Rahmen der Ausgabenobergrenzen des derzeitigen mehrjährigen Finanzrahmens für den Zeitraum 2021-2027 wurden 360 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, so dass die EU auf unvorhersehbaren Bedarf reagieren kann. Die bisher vorgesehenen Gesamtzahlungen belaufen sich für 2024 auf 142.630,3 Mio. EUR.
Das Europäische Parlament und der Rat haben nun 14 Tage Zeit, die erzielte Einigung formell zu billigen. leo
Der deutsche Automobilhersteller BMW sieht sich mit Vorwürfen in Zusammenhang mit einem Zulieferer, dem marokkanischen Rohstoffkonzern Managem, und dessen Kobaltmine konfrontiert. Nach Recherchen von NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung besteht der Verdacht, dass Managem in seiner Mine in Bou Azzer im Atlasgebirge riesige Mengen giftiges Arsen in die Umwelt gelangen lässt. Darüber hinaus werfen laut der Recherchen Angestellte und ehemalige Arbeiter der Kobaltmine dem Konzern vor, internationale Standards zum Schutz von Arbeitern nicht einzuhalten und gegen kritische Gewerkschaften vorzugehen.
BMW und Managem haben im Jahr 2020 einen Vertrag über die Lieferung von Kobalt im Wert von 100 Millionen Euro abgeschlossen. Das Kobalt benötigt BMW für Batterien für seine E-Autos. Laut Experten könnten die Zustände in der Bou Azzer-Mine in Konflikt mit dem deutschen Lieferkettengesetz stehen, das seit Anfang 2023 für alle Großunternehmen gilt. Auf Nachfrage des Recherche-Teams habe Managem alle Vorwürfe zurückgewiesen; BMW wiederum habe erklärt, man nehme die Vorwürfe ernst und habe eine umfassende Prüfung eingefordert. leo
Die Belastung der Umwelt und menschlichen Gesundheit durch Plastikabfälle soll nach dem Willen der Vereinten Nationen durch ein weltweites verbindliches Abkommen eingedämmt werden. An diesem Montag treffen sich Vertreter von Staaten zur dritten von fünf Verhandlungsrunden zum Entwurf eines solchen Abkommens in Kenias Hauptstadt Nairobi. Die Unterhändler diskutieren zum Beispiel über die Regelungen, die für die Plastikherstellung, aber auch für das Recycling, gelten sollen. Es soll auch um Fragen der späteren Umsetzung und um die Reichweite des Abkommens gehen.
Wissenschaftler, Umweltschutzorganisationen, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften verfolgen die Verhandlungen. Ziel der UN ist es, dass das Abkommen 2025 unterzeichnet werden kann.
Das UN-Umweltprogramm (UNEP) geht davon aus, dass sich die weltweite Plastikverschmutzung bis 2040 um 80 Prozent verringern ließe. Dafür stünden schon jetzt alle Ressourcen bereit. Voraussetzung dafür seien allerdings tiefgreifende politische und marktwirtschaftliche Veränderungen hin zu einer Kreislaufwirtschaft. Die Auswirkungen der Plastikrückstände, die oft in mikroskopischer Größe im Erdreich, in Gewässern sowie im Organismus von Menschen und Tieren landen, sind laut Wissenschaftlern teils noch nicht erforscht. dpa
Die geplante Reform des fast 50 Jahre alten Bundeswaldgesetzes, die Wälder auch besser gegen zunehmenden Klimastress wappnen soll, kommt in Gang. Ein Gesetzentwurf dazu ist jetzt in der regierungsinternen Frühkoordinierung, wie ein Sprecher des Bundesagrarministeriums auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur bestätigte. Geschaffen werden solle damit “ein moderner Rahmen, der den Wald schützt, Verbesserungen für den Klimaschutz und die Biodiversität bringt und gleichzeitig den Waldbesitzenden eine klare wirtschaftliche Perspektive bietet”. SPD, Grüne und FDP haben eine Neufassung des Gesetzes im Koalitionsvertrag vereinbart.
Das bisherige Waldgesetz von 1975 stamme aus einer Zeit, in der es die heute zu erlebende Klimakrise noch nicht gegeben habe, sagte der Sprecher. Laut der jüngsten Waldzustandserhebung 2022 seien vier von fünf Bäumen krank, Dürre und Hitze stressten den Wald. “Für den Waldumbau brauchen wir den Schulterschluss aller, die Wälder besitzen.” Das Gesetz solle die Grundlage schaffen, dass Leistungen der Wälder auch finanziell unterstützt werden könnten. Das komme Waldbesitzern direkt zugute. Nähere Angaben machte der Sprecher mit Verweis auf die laufende regierungsinterne Abstimmung nicht.
Minister Cem Özdemir (Grüne) hatte deutlich gemacht, dass Handlungsbedarf bestehe. “Der Wald ist ein Patient, der unsere Hilfe braucht”, sagte er zur Vorlage der Waldzustandserhebung im Frühjahr. Ziel sei, dass Wälder künftig Trockenheit und höheren Temperaturen trotzen könnten. Das heiße: “Mischwald statt Monokulturen.” Zur Unterstützung eines solchen Umbaus stellt das Ministerium von 2022 bis 2026 insgesamt 900 Millionen Euro an Fördermitteln bereit.
Das Bundeswaldgesetz zielt laut Ministerium grundsätzlich darauf, die vielfältigen Funktionen und Leistungen des Waldes und eine ordnungsgemäße Bewirtschaftung zu sichern. Dabei soll die Forstwirtschaft gefördert und zugleich ein Ausgleich zwischen den Interessen der Allgemeinheit und Belangen der Waldbesitzer geregelt werden. Mit Gesetzen der Länder schützt das Bundeswaldgesetz den Wald demnach etwa auch vor Rodung und nicht sachgerechter Behandlung. dpa
Die “Industriepolitik” ist in den Mittelpunkt wirtschaftlicher und sogar sicherheitspolitischer Debatten gerückt – von den USA bis hin in die Europäische Union. Doch kann der Begriff in die Irre führen, und zwar nicht nur, weil er von seiner Bedeutung her ziemlich vage ist, sondern auch, weil er die wahren Notwendigkeiten, mit denen politische Entscheidungsträger konfrontiert sind, nicht erfasst.
Der Begriff Industriepolitik bezieht sich auf den Einsatz einer breiten Palette von Instrumenten – von Subventionsregeln bis hin zu Steueranreizen -, um das Wirtschaftswachstum insgesamt zu unterstützen oder die Dynamik in bestimmten Sektoren zu fördern. Industriepolitik ist so alt wie der Staat. Geht man 2000 Jahre zurück bis zur Han-Dynastie in China, wird man feststellen, dass die Eisenherstellung dort ein Staatsmonopol war.
Auch in Europa haben industriepolitische Maßnahmen eine lange Geschichte. Jahrhundertelang unterstützten die europäischen Regierungen wichtige – insbesondere stark kriegsrelevante – Branchen und Technologien, um sich einen Vorsprung vor ihren Feinden zu bewahren, die häufig auch ihre Nachbarn waren. In jüngerer Zeit verfolgten sie gemeinsame Industriepolitiken, um ihre Integration voranzutreiben, statt einander zu bekämpfen.
Der grundlegende Wandel begann 1950 mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Statt die Chancen von Ländern im Kriegsfall zu verbessern, verfolgte diese europaweite Industriepolitik zur Bündelung der Kohle- und Stahlproduktion das Ziel, Kämpfe auf dem Kontinent zu verhindern. Indem man Kohle und Stahl – die beide für die Produktion von Panzern und Waffen unverzichtbar sind – unter die Kontrolle einer gemeinsamen Hohen Behörde stellte, wurde verhindert, dass ein Land gegenüber den anderen aufrüsten konnte.
Auch andere wichtige Schritte auf dem Weg zur europäischen Integration lassen sich als Industriepolitik beschreiben. Die EU wie wir sie heute kennen begann 1958 mit einem Programm zur Abschaffung von Binnenzöllen durch die Schaffung einer Zollunion. Dem folgten später umfassende Bemühungen zur Verringerung des bürokratischen Aufwands an den europäischen Grenzen durch Harmonisierung von Hunderten von Vorschriften; dies gipfelte in der Binnenmarktakte von 1992.
Die europäischen Mitgliedsstaaten verfolgen auch jeweils eigene Industriepolitiken. Dabei wird ihr Spielraum freilich durch strenge EU-Kontrollen über staatliche Beihilfen eingeschränkt, die verhindern sollen, dass länderspezifische Subventionen Unternehmen einen unfairen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Doch investieren die nationalen Regierungen nach wie vor in Forschung und Entwicklung, fördern die technische Bildung und errichten die notwendige Infrastruktur.
Die meisten Ökonomen sind sich einig, dass derartige Interventionen Wachstum und Dynamik steigern können. Hitzig wird die Debatte über die Industriepolitik bei der Frage, ob Regierungen durch Förderung einzelner Sektoren direkt in die Wirtschaft eingreifen sollten. Eine aktuelle Studie von Réka Juhász, Nathan J. Lane und Dani Rodrik hat zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Sie zeigt, dass staatliche Maßnahmen sehr langfristige Auswirkungen auf den Standort bestimmter Branchen haben können.
Freilich steht die Industriepolitik heutzutage nicht aufgrund der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung weit oben auf der Tagesordnung der Regierungen. Vielmehr sind die Regierungen hauptsächlich von geopolitischen Spannungen motiviert: Sowohl die USA als auch China haben offizielle industriepolitische Strategien verabschiedet, die die Notwendigkeit betonen, Sektoren zu unterstützen, die als für die nationale Sicherheit zentral angesehen werden. So gesehen nimmt sich der heutige industrielle Konkurrenzkampf zwischen den Großmächten sehr wie das alte, kriegsgeplagte Europa aus.
Doch was ist mit einer europaweiten Industriepolitik? Die Europäische Kommission hat kürzlich eine Liste kritischer Technologien veröffentlicht. Aber bei der Umsetzung einer Industriepolitik im Stile jener der USA oder Chinas sieht sich Europa mit einem Paradox konfrontiert: Das Bemühen der EU, die Nutzung der Industriepolitik als geopolitisches Werkzeug zwischen den europäischen Ländern zu beenden, hat den Spielraum ihrer Mitgliedsstaaten, auf geopolitisch motivierte Industriepolitiken anderer zu reagieren, erheblich eingeschränkt.
Sicherlich hat sich die EU um Sektoren im Niedergang gekümmert. Als 1978 die Stahlindustrie Probleme hatte, setzte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft den sogenannten Davignon-Plan um, der die Produktion den in europäischen Ländern in etwa proportional beschränkte. Aber die EU hat nie eine aktive Industriepolitik verfolgt. Das hat den schlichten Grund, dass sie anders als China und die USA keinen Bundeshaushalt hat, aus dem große Subventionen für spezifische Sektoren bereitgestellt werden könnten.
Es ist daher verständlich, dass sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für einen neuen europäischen Souveränitätsfonds ausgesprochen hat. Aber es ist auch nachvollziehbar, dass die nationalen Regierungen, die diesen Fonds finanzieren müssten, zögern, das Geld ihrer Steuerzahler an die EU abzugeben, um industrielle Entwicklung anderswo zu fördern.
In Ermangelung einer Finanzierung auf EU-Ebene für eine gemeinsame Industriepolitik lockert die Europäische Kommission derzeit die Regeln für staatliche Beihilfen. So kann die Kommission etwa im Rahmen des europäischen Chip-Gesetzes gezielte nationale Fördermaßnahmen für große Halbleiterfabriken genehmigen. Aber ob man glaubt, dass die neu gewonnene Fähigkeit der Mitgliedsstaaten, bestimmte Industrien zu unterstützen, den gewünschten Effekt haben wird, hängt davon ab, auf welcher Seite der industriepolitischen Debatte man steht.
Wer glaubt, dass die Regierungen Sektoren mit Potenzial für positives Wachstum ermitteln können, wird den Ansatz der EU begrüßen – insbesondere, weil sich die Kommission das Recht vorbehält, zu beurteilen, ob vorgeschlagene nationale staatliche Beihilfen proportional und effizienzsteigernd wären. Die Skeptiker andererseits glauben, dass die nationalen Regierungen wahrscheinlich “nationale Champions” oder politisch bequeme Projekte finanzieren werden und dass die EU-Bürokraten nicht gut aufgestellt sind, komplexe Lieferketten zu entwirren und die Sektoren mit dem größten Potenzial zu ermitteln.
Vergangene Erfahrungen, die den Einfluss nationaler Champions auf die Politik beleuchten, deuten darauf hin, dass die Sicht der Skeptiker womöglich die realistischere ist. Andererseits kann und sollte es bei der Industriepolitik um viel mehr gehen als darum, großen Unternehmen Milliarden von Euros zuzuschieben, um im eigenen Land High-Tech-Fabriken zu errichten. Eine Erhöhung der Ausgaben für Forschung und Entwicklung würde eine bessere Grundlage für die High-Tech-Industrie im Allgemeinen darstellen.
Diese indirekte Unterstützung könnte immer noch gezielt erfolgen. So würde etwa die Mikrochip-Industrie von der Schaffung spezialisierter technischer Hochschulen und der Förderung lokaler Expertise in Schlüsselbereichen des Chip-Herstellungsprozesses profitieren. Ein solcher Ansatz ist mehr Strategie als Politik – und dürfte Europa viel mehr nutzen, als wenn man einen Haufen öffentlichen Geldes in ein paar Mega-Fabriken steckt.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
Project Syndicate