Table.Briefing: Europe

Notverfahren für offene Dossiers + Parlament droht mit Klage + Plattformarbeit

Liebe Leserin, lieber Leser,

Russlands Wirtschaft prosperiert trotz westlicher Sanktionen, und ein Sieg auf dem Schlachtfeld über die Ukraine ist nur eine Frage der Zeit: Dieser Eindruck hat sich in den vergangenen Wochen und Monaten ein Stück weit in Europa verfestigt. Aus Sicht von Ursula von der Leyen handelt es sich dabei vor allem um eines: Propaganda Moskaus, der der Westen mehr öffentlich entgegensetzen sollte.

Die EU-Kommissionspräsidentin nutzte ihren Auftritt beim Weltwirtschaftsforum am Dienstag, um zu widersprechen. “Russland scheitert bei strategischen Zielen”, sagte sie in Davos. Die Streitkräfte hätten rund die Hälfte ihrer Fähigkeiten verloren. Die Wirtschaft sei von westlicher Technologie abgeschnitten. Russland habe sich in eine Abhängigkeit von China begeben. “All das sagt uns, dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann.” Dafür brauche Kiew aber verlässliche Finanzhilfen und weitere Waffen.

Ihre entschlossene Reaktion auf Russlands Angriff hatte von der Leyen viel Respekt in den europäischen Hauptstädten und in Washington verschafft. Und sie hält unbeirrt an ihrem Kurs fest, während sich in Berlin und anderswo Zweifel breitmachen. Wenig deutet darauf hin, dass die 65-Jährige ihres Amtes müde wäre.

Am 21. Februar, 12 Uhr, endet die Frist, bis zu der Mitgliedsparteien Kandidaten nominieren können, die sich bei der Europawahl im Namen der EVP für den Posten des künftigen Kommissionspräsidenten bewerben wollen. Bis dahin müsste von der Leyen wohl Farbe bekennen, ob sie eine zweite Amtszeit anstrebt. Nur als offizielle Spitzenkandidatin der Christdemokraten könnte sie den Makel ablegen, der ihr wegen des Hinterzimmerdeals bei ihrer Berufung 2019 anhaftet. Dann müsste sie auch mögliche Konkurrenten kaum fürchten, wenn die EVP-Delegierten bei einem Kongress am 7. März ihren Kandidaten wählen. Oder besser: ihre Kandidatin.

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag!

Ihr
Till Hoppe
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Analyse

Noch 102 Dossiers offen: Welche Gesetze bis zur EU-Wahl durchkommen – und welche nicht

Am 9. Februar, das ist in gut drei Wochen, sollen die politischen Verhandlungen zwischen Rat und Parlament (Trilog) bei aktuell noch 102 offenen EU-Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen sein. Ansonsten reicht die Zeit nicht mehr für die Finalisierung der Gesetzestexte bis zur letzten Sitzungswoche im Parlament (22. bis 25. April) vor der Europawahl. Die Finalisierung der Texte – also Übersetzung und Schlussredeaktion durch die Sprachjuristen von beiden Kammern – ist Voraussetzung für die Annahme in Rat und Parlament. Die Europawahlen finden vom 6. bis 9. Juni statt.

Spätestens in der letzten Sitzungswoche der Wahlperiode muss die politische Einigung (Trilogergebnis) auf Gesetzgebungsvorschläge der Kommission von einer Mehrheit der Abgeordneten angenommen werden. Wenn es nicht zur Annahme des Trilogergebnisses vor den Wahlen kommt, muss das nächste Europaparlament das Gesetz beschließen.

Kein Prinzip der Diskontinuität in der EU

Auf EU-Ebene gibt es nicht das Prinzip der Diskontinuität, wie etwa im Bundestag. Die Verhandlungen über Gesetzesvorhaben, bei denen es noch keine politische Einigung gibt, müssen also auf EU-Ebene nicht nach den Wahlen komplett neu aufgerollt werden. Sie können vielmehr in der neuen Wahlperiode wieder aufgegriffen werden. Voraussetzung dafür sind Beschlüsse der neuen Kommission und des neuen Parlaments. Es kommt dabei aber zu Verzögerungen. Die Verhandlungen zwischen den Co-Gesetzgebern beginnen erst wieder, sobald die neue Kommission ins Amt gekommen ist – das heißt frühestens im November.

Es gibt Dossiers, die keinen Aufschub dulden. Etwa der Beschluss über die Finanzhilfen für die Ukraine. Es gibt aber ein Notverfahren, um doch noch eine Annahme im Parlament zu ermöglichen, wenn die Frist vom 9. Februar verstrichen ist. Die Notlösung wird Corrigendum-Verfahren genannt. Dabei wird nur mit der englischsprachigen Version des Textes zur politischen Einigung gearbeitet. Sie ist dann die Grundlage der Abstimmung im Parlament. Die Schlussredaktion der Sprachjuristen und die Übersetzung in alle Amtssprachen kommt dann nachträglich.

Konferenz der Ausschussvorsitzenden tagt nach dem 9. Februar

Mit der Finalisierung der Gesetzestexte im Corrigendum-Verfahren ist bis zum Herbst zu rechnen. Derzeit ist nicht absehbar, welche Dossiers pünktlich fertig werden und welche womöglich im Corrigendum-Verfahren abgeschlossen werden können. Die Konferenz der Ausschussvorsitzenden (CCC) will nach dem 9. Februar eine Bestandsaufnahme machen und entscheiden, welche Gesetzgebungsverfahren dann Vorrang bekommen.

Um im Corrigendum-Verfahren zum Zuge zu kommen, bedarf es einer politischen Einigung spätestens in der Sitzungswoche vom 11. bis 14. März. Dann müssen die letzten Triloge dieser Wahlperiode abgeschlossen sein. Am 12. März kommt die Konferenz der Ausschussvorsitzenden zusammen und will Bilanz ziehen:

  • Welche Dossiers können noch dem Plenum in der letzten Sitzungswoche im April vorgelegt werden?
  • Welche Gesetzgebungsverfahren werden dem nächsten Europaparlament übergeben?

Maximal 40 Triloge gleichzeitig

Die Ausschusssekretariate in Rat und Parlament sowie die Übersetzer und Sprachjuristen arbeiten derzeit unter Volllast. Aus Kapazitätsgründen können politische Verhandlungen zwischen Rat und Parlament höchstens zu 40 Dossiers parallel geführt werden. Vor fünf Jahren hat das Europaparlament in den letzten sechs Monaten vor der Europawahl etwa genauso viele noch offene Gesetzgebungsvorhaben gehabt wie aktuell. Allerdings sind dem Vernehmen nach diesmal die Gesetzestexte, die geprüft und übersetzt werden müssen, umfangreicher.

Die belgische Ratspräsidentschaft hat angekündigt, bis zur Wahl noch eine politische Einigung bei zwei Gesetzgebungsvorhaben anzupeilen:

Bei beiden Dossiers zeichnet sich die Annahme erst im Corrigendum-Verfahren ab.

Nach dem Willen des Europaparlaments soll es am 6. Februar eine politische Einigung beim Net-Zero-Industry-Act geben. Die belgische Ratspräsidentschaft versucht auch, beim Notfallinstrument noch eine Einigung zu erreichen. Sie will dem Vernehmen nach zudem bei der Pestizidverordnung (SUR) noch ein Ergebnis erzielen. Die SUR war vom Parlament abgelehnt worden.

Bei AI Act, Lieferkettengesetz und anderen fehlt noch die Annahme der Kompromisse

Ausverhandelt, aber noch von den Co-Gesetzgebern angenommen werden müssen noch die Kompromisse zu:

Diese Dossiers sollen vorangetrieben werden, politische Einigungen bis zur Europawahl werden schwierig:

  • Europäische Kommission
  • Europäischer Rat
  • Europäisches Parlament
  • Europawahlen 2024
  • SUR
Translation missing.

News

Parlament droht mit Klage wegen EU-Geldern für Ungarn

Der Streit über den Rechtsstaat in Ungarn und den Umgang mit “eingefrorenen” Finanzmitteln aus dem EU-Budget spitzt sich zu. Das Europaparlament drohte der EU-Kommission am Dienstag in Straßburg mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Das Parlament kann zwar selbst nicht klagen, aber den Rechtsausschuss dazu auffordern. Die Freigabe von 10,2 Milliarden Euro, die die Kommission unmittelbar vor dem EU-Gipfel im Dezember angekündigt hatte, sei nicht ordnungsgemäß zustande gekommen, heißt es in einer Erklärung der großen Fraktionen, der sich auch die Linksfraktion im Europaparlament anschloss.

Der Rechtsausschuss des Parlaments solle “so bald wie möglich die nötigen Schritte” für eine solche Klage einleiten, heißt es in dem Entwurf, der am Donnerstag zur Abstimmung steht. Man habe “ernsthafte Bedenken” in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Kommissions-Entscheidung. Zugleich warnen die Abgeordneten die Behörde davor, noch mehr Gelder an Ungarn freizugeben. Dies könne ein Misstrauensvotum auslösen, heißt es bei den Liberalen. Dies könnte im Extremfall zum Rücktritt der Kommission führen.

Vorwurf: von der Leyen habe sich erpressen lassen

Nach Ansicht der federführenden Abgeordneten hat Ungarn immer noch nicht seine Hausaufgaben beim Rechtsstaat erledigt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen habe sich von Regierungschef Viktor Orbán “erpressen” lassen, hieß es gleich nach der Freigabe der EU-Milliarden. Orbán hatte zuvor angekündigt, den Start von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine zu blockieren. Nach der Bewilligung der Gelder machte er jedoch den Weg frei. Viele Abgeordnete vermuten einen direkten Zusammenhang.

Es bestehe der begründete Verdacht, dass von der Leyen die ungarische Zustimmung zur Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine erkauft habe, sagte der grüne Europaabgeordnete Daniel Freund. “Die Klage gegen die EU-Kommission ist die unmittelbare Konsequenz aus dem schmutzigen Deal vom vergangenen Dezember”, so Freund weiter. “Das Signal an von der Leyen ist deutlich: Wenn sie einfach Milliardensummen verteilt, um sich Ungarns Vetos zu entziehen, kommt sie damit nicht durch.”

“Wie in einem Winterschlussverkauf verscherbelt”

Ähnlich äußerte sich der FDP-Parlamentarier Moritz Körner. Von der Leyen habe die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn “wie in einem Winterschlussverkauf verscherbelt“, kritisiert er. Das Parlament mache da nicht mit und werde ihre Entscheidung vor dem EuGH anfechten. “Es darf in der EU keinen Rabatt auf den Rechtsstaat mehr geben”, sagte Körner weiter. Die liberale Renew-Fraktion werde auch noch auf einen Misstrauensantrag dringen, falls die Kommission weitere Gelder freigeben sollte.

Der Streit kommt für von der Leyen ungelegen. Sie braucht Orbáns Zustimmung für eine 50 Milliarden Euro schwere Finanzhilfe für die Ukraine, über die bei einem Sondergipfel am 1. Februar entschieden wird. Zuletzt hatten sich die Positionen angenähert – nun könnten sie sich wieder verhärten. Zudem wäre die CDU-Politikerin auf Orbán angewiesen, falls sie sich für eine zweite Amtszeit entscheiden sollte. Vorher könnten erneut EU-Gelder nach Ungarn fließen, argwöhnen ihre Kritiker im Europaparlament. eb/mgr

  • Rechtsstaatlichkeit
  • Ukraine
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Umweltminister versprechen sozialverträgliche Klimaziele

Die Umwelt- und Klimaschutzminister der EU-Staaten haben sich dafür ausgesprochen, bei der Ausgestaltung künftiger Klimaziele besonders auf den sozialen Zusammenhalt in der Bevölkerung zu achten. Niemand habe weniger ehrgeizige Ziele gefordert, betonte der belgische Umweltminister Alain Maron. Man sei sich jedoch einig, dass der Übergang im nächsten Jahrzehnt stattfinden müsse und die Unterstützung der Menschen brauche.

Am Montag und Dienstag fand in Brüssel der erste informelle Umweltrat unter belgischer Ratspräsidentschaft statt. Beschlüsse wurden keine gefasst, doch beim Mittagessen tauschten sich die Minister und deren Vertreter über das Klimaziel 2040 aus. Die EU-Kommission will Anfang Februar ihren Vorschlag vorlegen – die Behörde wird voraussichtlich ein Treibhausgasreduktionsziel von 90 Prozent bis 2040 im Vergleich zum Stand von 1990 vorschlagen. Dänemark hat sich als einziges Mitgliedsland bereits offen hinter dieses Ziel gestellt.

Welches Ziel die Mitgliedstaaten unterstützen, sei in Brüssel diese Woche nicht diskutiert worden, erklärte Maron. Stattdessen habe man besprochen, wie man den Übergang für die Menschen gerecht sowie für die Unternehmen erfolgreich gestalten könne.

Deutscher Beitrag von minus 91 Prozent?

Sven Giegold, Staatssekretär im Bundeswirtschafts- und Klimaschutzministerium (BMWK), kündigte vor Beginn der Ratssitzung einen ambitionierten deutschen Beitrag zum 2040er-Klimaziel der EU an. Das Bundesverfassungsgericht habe Deutschland ein Netto-Minderungsziel von 91 Prozent bis 2040 aufgegeben. “Das ist auch der Maßstab, mit dem wir auf die europäische Zielsetzung schauen, auch wenn es noch keine quantitative Festlegung der Bundesregierung gibt”, so Giegold.

Das Netto-Reduktionsziel von 91 Prozent beruht laut BMWK auf Berechnungen des Ökoinstituts und beinhaltet auch die CO₂-Senkleistung natürlicher Speicher wie Wälder oder Moore. Das im deutschen Klimaschutzgesetz festgelegte Ziel für 2040 von mindestens 88 Prozent CO₂-Reduktion ist ein Brutto-Ziel und umfasst die reine Absenkung der Emissionen.

Das 2040er-Klimaziel der EU wird voraussichtlich auch die nächsten formellen Umweltministerräte unter belgischer Präsidentschaft prägen, am 25. März in Brüssel und am 17. Juni in Luxemburg. luk

  • EU-Klimaziel 2040
  • Klima & Umwelt
  • Klimaziele
  • Umweltrat

F-Gase: EU-Parlament nimmt Trilog-Ergebnis an

Mit großer Mehrheit hat das EU-Parlament am Dienstag strengere Vorschriften zur Reduzierung der Emissionen von hochklimawirksamen fluorierten Treibhausgasen (F-Gasen) angenommen. Die im Oktober erzielte Trilog-Einigung sieht den vollständigen Ausstieg aus den teilfluorierten Kohlenwasserstoffen (HFKW) bis 2050 vor sowie das schrittweise Herunterfahren über eine EU-Verbrauchsquote bis dahin. Branchen, in denen eine Umstellung auf Alternativen technologisch und wirtschaftlich machbar ist, beispielsweise bei Haushaltskühlgeräten, Klimaanlagen und Wärmepumpen, erhalten zudem Fristen für den Ausstieg aus der Nutzung von F-Gasen. So sollen bis 2030 bis zu 40 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente eingespart werden.

Positive Reaktionen kommen aus der Industrie. “Klimaschutz und die Stärkung der Industrie müssen nicht im Widerspruch zueinanderstehen, das zeigt diese Verordnung”, kommentiert Tim Holt, Vorstandmitglied bei Siemens Energy. Das Verbot von SF6 und alternativen F-Gasen sei ein Gewinn für Klima, Umwelt und Gesundheit und zugleich ein “wichtiger Schritt für die Industrie, denn es schafft Planbarkeit für Investitionen in Herstellerkapazitäten und den nachhaltigen Ausbau des europäischen Stromnetzes”.

Europäische Unternehmen seien bereits Vorreiter bei der Entwicklung sauberer Alternativen zu F-Gasen, sodass dieses Gesetz gut für das Klima und die europäische Wirtschaft sein werde, sagte Parlaments-Berichterstatter Bas Eickhout (Grüne).

Mögliche Engpässe im Handwerk

Peter Liese, klimapolitischer Sprecher der EVP-Fraktion, teilt Eickhouts Auffassung. Er sieht jedoch noch Nachbesserungsbedarf, sollten recycelte F-Gase für die Reparatur von bestehenden Kühlanlagen beispielsweise bei Fleischern oder Bäckern nicht ausreichen. Kommission und Mitgliedstaaten müssten alles daransetzen, das Recycling von F-Gasen auszubauen, fordert er. “Falls das nicht ausreicht, gibt es eine Revisionsklausel.” Zurecht weise das Handwerk darauf hin, dass die Klausel genutzt werden muss, wenn durch Recycling nicht ausreichend F-Gase für Reparaturzwecke zur Verfügung stehen, so Liese.

Dies unterstreicht auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH): Ein faktisches Service- und Wartungsverbot dürfe es nicht geben. “Eine Kälteanlage auf natürliche Kältemittel umzurüsten, das wissen wir aus der betrieblichen Praxis, ist schlicht unmöglich”, sagt ZDH-Generalsekretär Holger Schwannecke. Handwerksbetriebe bräuchten Investitionssicherheit und einen Vertrauensschutz für ihre Bestandsanlagen. luk

  • F-Gase
  • Fit for 55
  • Green Deal
  • Klima & Umwelt
  • Klimaschutz
  • Zentralverband des Deutschen Handwerks

Plattformarbeit: Radtke lehnt neuen Text ab

Aus dem Europaparlament kommt Kritik an dem neuen Verhandlungstext der belgischen Ratspräsidentschaft zur Plattformarbeitsrichtlinie. Der EVP-Schattenberichterstatter Dennis Radtke nennt den Vorschlag “nicht zustimmungsfähig”. Grund seien die neu vorgesehenen Ausnahmen bei der Reklassifizierung Selbstständiger als Angestellter, auf die vor allem Frankreich dränge, sagte Radtke zu Table.Media.

“Frankreich drängt auf eine Ausnahme, mit der durch Tarifverträge die Statusfeststellung unterlaufen werden kann. Das würde gelben Gewerkschaften Tür und Tor öffnen”, kritisierte der CDU-Abgeordnete. Radtke warnte vor einem Scheitern der Richtlinie. “Wenn nicht alle endlich aufwachen, werden wir in dieser Periode keine Lösung mehr zustande bringen. Für Plattformarbeiter, aber auch für Taxifahrer, die unter dem Status quo leiden, wäre das ein Schlag ins Gesicht.”

Belgien versucht Dossier zu retten

Auch aus Reihen von S&D kommen Appelle in Richtung der belgischen Ratspräsidentschaft. Die SPD-Europaabgeordnete Gabriele Bischoff sagte Table.Media, es brauche “eine wirksame Vermutungsregel, die Scheinselbstständigkeit verhindert und gleichzeitig die Entscheidungsfreiheit der tatsächlich selbstständig Tätigen schützt”. Die französische Regierung sei Ende vergangenen Jahres “eine unheilige Allianz” mit rechten Regierungen in ganz Europa eingegangen. Dieses Bündnis wolle einen Minimalschutz für Plattformarbeiterinnen und -arbeiter verhindern.

Am 22. Dezember war im Rat der vorläufige politische Kompromiss zwischen Parlament und den Mitgliedstaaten gescheitert. Die Zeit drängt nun, das Dossier vor dem Auflösen des Europaparlaments fertig zu verhandeln. Aus Beobachterkreisen heißt es, die Belgier behandelten das Dossier mit höchster Priorität und versuchten eine Einigung vor den Europawahlen zu erreichen. Dafür brauche es ein starkes Mandat aus dem Rat und dann zügige Verhandlungen mit dem Parlament. Am Dienstag beriet die Arbeitsgruppe für Soziale Fragen über den neuen Kompromisstext.

Frankreich hat weitreichende Bedenken

Doch auch im Rat ist der neue, noch etwas mehr auf die skeptischen Staaten zugeschnittene Text alles andere als ein Selbstläufer: Laut mit der Materie vertrauten Personen war am Dienstag nicht klar, ob Frankreich überhaupt mit dem nun vorgelegten, veränderten Text weiterarbeiten will. Ohne Paris wird eine Einigung schwierig, da sich auch Deutschland bisher enthalten hat und dies wohl weiter tun dürfte.

Frankreich hatte kurz vor der Veröffentlichung des neuen Vorschlags der Belgier in einem von Euractiv zitierten Schreiben Fundamentalkritik an dem Trilogkompromiss aus dem Dezember geübt und gefordert, wieder so nahe wie möglich zum ursprünglichen Mandat des Rates aus dem Juni 2023 zurückzukehren. Unter anderem macht Paris Frankreich Sorgen vor dem Entstehen von quasi Schein-Beschäftigten geltend, die eigentlich lieber Selbstständige wären. Grund ist, dass in den Augen von Paris die Kriterien für eine Anstellungsvermutung im bisherigen Trilogkompromiss zu weit definiert wurden und daher auf zu viele Menschen und fast alle Plattformen zutreffen könnten.

Die Kriterien, die eine Anstellungsvermutung auslösen, waren und sind einer der umstrittensten Punkte des Textes. Der neue Kompromissvorschlag der Belgier schränkt die Kriterien in ihrer Reichweite ein und definiert weitere Einschränkungen. Weiter vorgesehen ist aber, dass mindestens zwei von fünf Kriterien erfüllt sein müssen, um eine Anstellungsvermutung auszulösen. Der Rat hatte sich im Juni für mindestens drei von sieben erfüllten Kriterien ausgesprochen. Das Parlament hatte in seiner Position ganz auf eine Mindestzahl verzichtet. lei

  • Arbeit
  • Arbeitnehmerrechte
  • Plattformen

Sozial-verantwortliche Beschaffung: Europaabgeordnete fordern Reform der EU-Vergaberichtlinie 

EU-Abgeordnete mehrerer Fraktionen sprachen sich im Zuge einer Befragung des Kommissars für Beschäftigung und soziale Rechte, Nicolas Schmit, am Montagabend vor dem EU-Parlament (EP) für eine Reform der EU-Vergaberichtlinie aus. Die aktuellen Regeln seien nicht geeignet, die Potenziale sozial-verantwortlicher Beschaffung auszuschöpfen, weil rechtliche Unsicherheiten öffentliche Einkäufer davon abhielten, entsprechende Bedingungen wie die Zahlung von Tarifvertragslöhnen von den Auftragnehmern einzufordern. 

Schmit sagte, dass die aktuellen Vergaberegelungen öffentlichen Einkäufern bereits mehr Flexibilität ermöglichten, den öffentlichen Einkauf als strategisches Werkzeug zu nutzen. Wünschenswert wäre es, wenn noch mehr Vergaben auf Qualitätskriterien beruhen könnten als nur auf dem Preis, um die grüne und soziale Transformation voranzubringen. Dafür müssten die EU-Institutionen darüber nachdenken, wie Vergabestellen solche Kriterien stärker in der Vergabe einbeziehen könnten, damit Einkäufer der öffentlichen Hand mehr Rechtssicherheit bekommen. 

Der Renew-Abgeordneten Dragoş Pîslaru zählte mögliche Lösungen auf, die aus Sicht des EP-Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten infrage kommen:

  • Öffentliche Aufträge dürften nicht mehr ohne Bindung an Tarifverträge vergeben werden.
  • Es brauche eine Klarstellung darüber, dass die Förderung von Tarifbindung mit entsprechenden Anforderungen bei der Vergabe nicht gegen EU-Recht verstoße. 
  • Die Berücksichtigung sozialer Kriterien müsse verpflichtend werden. 

Kurzfristig wird sich aber voraussichtlich nichts an den EU-Vergaberegeln ändern, weil im Juni die Europawahl stattfindet. Bis dahin arbeiten die Institutionen nur noch bereits begonnene Initiativen ab. Die Bundesregierung hingegen will im Laufe dieses Jahres endlich das Bundestariftreuegesetz beschließen, das die Aufträge von Bundesbehörden über 10.000 Euro auf Unternehmensseite an die Einhaltung von Tarifverträgen koppeln soll. nh 

  • Europäisches Parlament
  • Öffentliche Beschaffung

BDI: Brauchen mehr Europa – aber richtig

Der BDI möchte, dass Europa mehr Verantwortung in der Welt übernimmt. “Auf die Präsidentschaftswahl in den USA haben wir in Europa keinen Einfluss”, sagte BDI-Chef Siegfried Russwurm bei der Jahresauftaktpressekonferenz seines Verbandes in Berlin. Europa müsse sich jedoch mit jedem Szenario befassen und es reiche nicht, sich Sorgen zu machen. Vielmehr müsse Europa “sich auf eine Welt vorbereiten, in der wir Europäer mehr auf uns selbst gestellt sind”.

Von der Wahl zum Europäischen Parlament hänge besonders viel für Wirtschaft und Politik ab. “Wir brauchen mehr Europa – aber richtig“, sagte Russwurm. Die Wirtschaft brauche einen Binnenmarkt, der wegen seiner Größenvorteile das Skalieren zukunftsweisender industrieller Wertschöpfung erlaube.

Berlin soll sich bei Handelspolitik nicht verstecken

Funktionierende Handelsbeziehungen seien nötig für die Reduzierung von Abhängigkeiten. Auf diesem Feld habe die EU erneut ein Jahr verloren, sagte Russwurm mit Verweis auf die angekündigten Abkommen mit Mercosur und Australien. “Wir treten auf der Stelle – wir in Deutschland und wir in Europa.” Berlin solle sich jedoch nicht hinter der Zuständigkeit der EU für die Handelspolitik verstecken: “Wer soll denn in Brüssel auf eine offenere Handelspolitik in Europa drängen, wenn nicht der größte Exporteur und gleichzeitig die stärkste Volkswirtschaft der Union?”, fragte Russwurm.

In der neuen Legislatur müsse es der EU gelingen, die Themen Transformation und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zusammenzubringen. Weder sei es sinnvoll, die Transformation infrage zu stellen, noch sei es hilfreich, sie um jeden Preis voranzutreiben. “Wir schlagen vor, mehr mit den Betroffenen zu reden und auch auf ihre Vorschläge zu hören”, sagte Russwurm. “Wir wollen die Dekarbonisierung, wir wollen diese Veränderung. Aber bitte, wir wissen auch, was dabei geht und was dabei nicht geht.”

Zu Lieferkettengesetz notfalls “nein” sagen

Einiges, was derzeit aus Brüssel komme, nannte Russwurm “irritierend”. Etwa beim Rechtsrahmen für Künstliche Intelligenz (AI Act) oder dem Sorgfaltspflichtengesetz (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD), zu denen nach der Einigung im Trilog bis heute nichts Schriftliches vorliege. Dem CSDDD lägen wirklichkeitsfremde Vorstellungen zugrunde, die den Unternehmen uneinlösbare Pflichten aufbürdeten und schweren Schaden anrichteten. “Deshalb drängen wir die Bundesregierung dazu, die starke Stimme der Vernunft in die Verhandlungen einzubringen, – und gleichzeitig, keine falschen Kompromisse einzugehen, sondern notfalls auch ,nein’ zu sagen”, forderte Russwurm. vis

  • BDI
  • EU
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  • Wirtschaftspolitik

Presseschau

EU-Parlament will Kommission wegen Mittelfreigabe für Ungarn verklagen ZEIT
EU-Militärchef Robert Brieger zu Huthi-Attacken: Europa will militärisch aktiver werden ZDF
Debatte im Europaparlament: Scharfe Kritik an unzureichender Militärhilfe für die Ukraine – “Wir müssen mehr liefern” RND
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen: 50 Milliarden für die Ukraine – mit oder ohne Ungarn EURONEWS
Nach Machtwechsel in Polen: Präsident Duda warnt vor “Terror der Rechtsstaatlichkeit” TAGESSCHAU
Belgischer EU-Vorsitz: Premier Alexander De Croo spricht in Straßburg über die Herausforderungen für Europa 2024 VRT
Zahl irregulärer Einreisen in die EU erreicht höchsten Stand seit 2016. ZEIT
Streit über Sunaks Ruanda-Plan – prominente Tories treten zurück SPIEGEL
Niederlande: Kommission empfiehlt Obergrenze für Einwanderung FAZ
Nach PiS-Abwahl: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán wittert in Slowakeis Ministerpräsident Robert Fico einen neuen Verbündeten in der EU WELT
Österreich: ÖVP-Spitzenkandidat Reinhold Lopatka will Asylverfahren ausschließlich an EU-Außengrenzen durchführen lassen KLEINE ZEITUNG
Bald kein E5-Benzin mehr in Tschechien SÄCHSISCHE
Polnische Lkw-Fahrer setzen Blockade an ukrainischer Grenze aus SPIEGEL
Künstliche Intelligenz: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fordert mehr Tempo in Europa RHEINISCHE POST
EU sieht Gasspeicher bis Ende des Winters mehr als 50 Prozent gefüllt FINANZMARKTWELT
Norwegen vergibt neue Lizenzen für Öl- und Gasförderung KURIER
Erneuerbare Energien in der EU auf dem Vormarsch WEB.DE
EU für Verbot von F-Gasen MORGENPOST
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Abgasnorm Euro 7: EU kommt Autoherstellern weit entgegen HEISE
EU-Parlament will gerechteren Musikstreaming-Markt DER STANDARD
EU verschärft Kryptovorschriften zur Bekämpfung von Finanzkriminalität CRYPTOPOLITAN

Heads

Marion Walsmann: Mit Europa im Rücken ins Superwahljahr 

Marion Walsmann ist die derzeit einzige thüringische Abgeordnete im EU-Parlament. Eines ihrer wichtigsten Themen ist der Ausbau des Weimarer Dreiecks.

Als “Kind von hinter dem eisernen Vorhang” hat Marion Walsmann es in die europäische Politik geschafft. Am ersten runden Tisch zur Wiedervereinigung hat die heute einzige CDU-Abgeordnete für Thüringen im Europaparlament nach dem Fall der Mauer mitgearbeitet. “Das war Demokratie pur, ohne Netz und doppeltem Boden”, sagt die Politikerin. 

Die Bedeutung der Wiedervereinigung für Ostdeutschland sei heute größtenteils unbestritten, die Wichtigkeit der europäischen allerdings werde noch häufig übersehen, so die 60-Jährige. Anders als die Nachbarländer im Osten sei die ehemalige DDR mit dem Tag der Wiedervereinigung “wie durch ein Geschenk Mitglied der Europäischen Union geworden”. Doch persönlich habe Walsmann schon früh eine Verbindung zur europäischen Idee aufgebaut. Ihr Großvater strandete kriegsbedingt in Heidelberg und damit in der BRD, ihre Großmutter war Ukrainerin, mit den Eltern sei sie oft in Frankreich gewesen. “Das alles hat bei mir den tiefen Drang geweckt, mehr für Europa zu tun”, sagt Walsmann. Im Laufe ihrer politischen Laufbahn tat sie dies unter anderem als Europaministerin in Thüringen und als Vorsitzende des Europaausschusses im Landtag

Weiterentwicklung des Weimarer Dreiecks

Eines von Walsmann politischen Anliegen geht mit ihrer Biografie Hand in Hand: die Völkerverständigung – von West nach Ost. Zu ihren wichtigsten Projekten zählt die Weiterentwicklung des Weimarer Dreiecks zwischen Deutschland, Frankreich und Polen. Einst in ihrem Heimatbundesland als Plan für die Osterweiterung von Dumont, Genscher und Skubiszewski geschmiedet, gehöre dieser Idee auch die Zukunft – besonders nach dem erfreulichen Ausgang der polnischen Parlamentswahl im Oktober: “Wir haben gejubelt, als Donald Tusk die Wahl gewonnen hat, weil das Weimarer Dreieck wieder eine Bedeutung hat.” 

In der bald endenden Legislaturperiode habe Walsmann es als eines ihrer großen Ziele geschafft, das Format des Weimarer Dreiecks auf die Ebene des Parlaments zu heben. Falls sie es im nächsten Jahr erneut für Thüringen ins Europaparlament schafft, möchte sie den eingeschlagenen Weg weiterführen und die Beziehungen intensivieren, denn: “Solche Projekte machen der Bevölkerung klar, dass es einen Benefit dieses gemeinsamen, geeinten Europas gibt”, sagt sie. Auch für die Bekämpfung des Rechtspopulismus sei das ein entscheidender Hebel. 

Asylkompromiss helfe gegen AfD-Kritik

Ein Hebel, der laut Walsmann dringend notwendig ist, auf dem Weg ins große Wahljahr 2024 in Thüringen. Der Europawahl im Juni folgt im September die Landtagswahl, für die der AfD derzeit Wahlergebnisse von über 30 Prozent prophezeit werden. Um zu verhindern, dass die Europawahl in Thüringen zu einer vorgezogenen Landtagswahl verkommt, ist für die gebürtige Erfurterin klar: Sie möchte mit möglichst vielen Menschen ins Gespräch kommen, um ihnen “an Beispielen zu zeigen, dass Thüringen ein progressives Europa und den europäischen Binnenmarkt braucht“. Es gelte also, den Menschen die Konsequenzen einer wachsenden rechten Front im EU-Parlament aufzuzeigen. Für ein Bundesland, das zwei Drittel des Absatzes im europäischen Binnenmarkt erzielt, hätte ein weiteres Erstarken der AfD schwerwiegende Folgen. “Wenn die AfD ihre Ziele umsetzt und die Tür zum Binnenmarkt zumacht, dann ist hier auch der Ofen aus”, sagt sie. 

Dass die Europäische Union nun einen Kompromiss im Asylstreit gefunden hat, wertet Walsmann als gutes Zeichen im Hinblick auf die Wahlen im nächsten Jahr. “Damit hat die EU eine Zuarbeit für die AfD rechtzeitig verhindert“, sagt sie. In den kommenden Monaten möchte die 60-Jährige das Vertrauen der Menschen in ihre Person nutzen, um eine Grundlage für Erfolg zu schaffen. Jasper Bennink

  • Asylpolitik
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Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

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    Die EU-Kommissionspräsidentin nutzte ihren Auftritt beim Weltwirtschaftsforum am Dienstag, um zu widersprechen. “Russland scheitert bei strategischen Zielen”, sagte sie in Davos. Die Streitkräfte hätten rund die Hälfte ihrer Fähigkeiten verloren. Die Wirtschaft sei von westlicher Technologie abgeschnitten. Russland habe sich in eine Abhängigkeit von China begeben. “All das sagt uns, dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann.” Dafür brauche Kiew aber verlässliche Finanzhilfen und weitere Waffen.

    Ihre entschlossene Reaktion auf Russlands Angriff hatte von der Leyen viel Respekt in den europäischen Hauptstädten und in Washington verschafft. Und sie hält unbeirrt an ihrem Kurs fest, während sich in Berlin und anderswo Zweifel breitmachen. Wenig deutet darauf hin, dass die 65-Jährige ihres Amtes müde wäre.

    Am 21. Februar, 12 Uhr, endet die Frist, bis zu der Mitgliedsparteien Kandidaten nominieren können, die sich bei der Europawahl im Namen der EVP für den Posten des künftigen Kommissionspräsidenten bewerben wollen. Bis dahin müsste von der Leyen wohl Farbe bekennen, ob sie eine zweite Amtszeit anstrebt. Nur als offizielle Spitzenkandidatin der Christdemokraten könnte sie den Makel ablegen, der ihr wegen des Hinterzimmerdeals bei ihrer Berufung 2019 anhaftet. Dann müsste sie auch mögliche Konkurrenten kaum fürchten, wenn die EVP-Delegierten bei einem Kongress am 7. März ihren Kandidaten wählen. Oder besser: ihre Kandidatin.

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    Noch 102 Dossiers offen: Welche Gesetze bis zur EU-Wahl durchkommen – und welche nicht

    Am 9. Februar, das ist in gut drei Wochen, sollen die politischen Verhandlungen zwischen Rat und Parlament (Trilog) bei aktuell noch 102 offenen EU-Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen sein. Ansonsten reicht die Zeit nicht mehr für die Finalisierung der Gesetzestexte bis zur letzten Sitzungswoche im Parlament (22. bis 25. April) vor der Europawahl. Die Finalisierung der Texte – also Übersetzung und Schlussredeaktion durch die Sprachjuristen von beiden Kammern – ist Voraussetzung für die Annahme in Rat und Parlament. Die Europawahlen finden vom 6. bis 9. Juni statt.

    Spätestens in der letzten Sitzungswoche der Wahlperiode muss die politische Einigung (Trilogergebnis) auf Gesetzgebungsvorschläge der Kommission von einer Mehrheit der Abgeordneten angenommen werden. Wenn es nicht zur Annahme des Trilogergebnisses vor den Wahlen kommt, muss das nächste Europaparlament das Gesetz beschließen.

    Kein Prinzip der Diskontinuität in der EU

    Auf EU-Ebene gibt es nicht das Prinzip der Diskontinuität, wie etwa im Bundestag. Die Verhandlungen über Gesetzesvorhaben, bei denen es noch keine politische Einigung gibt, müssen also auf EU-Ebene nicht nach den Wahlen komplett neu aufgerollt werden. Sie können vielmehr in der neuen Wahlperiode wieder aufgegriffen werden. Voraussetzung dafür sind Beschlüsse der neuen Kommission und des neuen Parlaments. Es kommt dabei aber zu Verzögerungen. Die Verhandlungen zwischen den Co-Gesetzgebern beginnen erst wieder, sobald die neue Kommission ins Amt gekommen ist – das heißt frühestens im November.

    Es gibt Dossiers, die keinen Aufschub dulden. Etwa der Beschluss über die Finanzhilfen für die Ukraine. Es gibt aber ein Notverfahren, um doch noch eine Annahme im Parlament zu ermöglichen, wenn die Frist vom 9. Februar verstrichen ist. Die Notlösung wird Corrigendum-Verfahren genannt. Dabei wird nur mit der englischsprachigen Version des Textes zur politischen Einigung gearbeitet. Sie ist dann die Grundlage der Abstimmung im Parlament. Die Schlussredaktion der Sprachjuristen und die Übersetzung in alle Amtssprachen kommt dann nachträglich.

    Konferenz der Ausschussvorsitzenden tagt nach dem 9. Februar

    Mit der Finalisierung der Gesetzestexte im Corrigendum-Verfahren ist bis zum Herbst zu rechnen. Derzeit ist nicht absehbar, welche Dossiers pünktlich fertig werden und welche womöglich im Corrigendum-Verfahren abgeschlossen werden können. Die Konferenz der Ausschussvorsitzenden (CCC) will nach dem 9. Februar eine Bestandsaufnahme machen und entscheiden, welche Gesetzgebungsverfahren dann Vorrang bekommen.

    Um im Corrigendum-Verfahren zum Zuge zu kommen, bedarf es einer politischen Einigung spätestens in der Sitzungswoche vom 11. bis 14. März. Dann müssen die letzten Triloge dieser Wahlperiode abgeschlossen sein. Am 12. März kommt die Konferenz der Ausschussvorsitzenden zusammen und will Bilanz ziehen:

    • Welche Dossiers können noch dem Plenum in der letzten Sitzungswoche im April vorgelegt werden?
    • Welche Gesetzgebungsverfahren werden dem nächsten Europaparlament übergeben?

    Maximal 40 Triloge gleichzeitig

    Die Ausschusssekretariate in Rat und Parlament sowie die Übersetzer und Sprachjuristen arbeiten derzeit unter Volllast. Aus Kapazitätsgründen können politische Verhandlungen zwischen Rat und Parlament höchstens zu 40 Dossiers parallel geführt werden. Vor fünf Jahren hat das Europaparlament in den letzten sechs Monaten vor der Europawahl etwa genauso viele noch offene Gesetzgebungsvorhaben gehabt wie aktuell. Allerdings sind dem Vernehmen nach diesmal die Gesetzestexte, die geprüft und übersetzt werden müssen, umfangreicher.

    Die belgische Ratspräsidentschaft hat angekündigt, bis zur Wahl noch eine politische Einigung bei zwei Gesetzgebungsvorhaben anzupeilen:

    Bei beiden Dossiers zeichnet sich die Annahme erst im Corrigendum-Verfahren ab.

    Nach dem Willen des Europaparlaments soll es am 6. Februar eine politische Einigung beim Net-Zero-Industry-Act geben. Die belgische Ratspräsidentschaft versucht auch, beim Notfallinstrument noch eine Einigung zu erreichen. Sie will dem Vernehmen nach zudem bei der Pestizidverordnung (SUR) noch ein Ergebnis erzielen. Die SUR war vom Parlament abgelehnt worden.

    Bei AI Act, Lieferkettengesetz und anderen fehlt noch die Annahme der Kompromisse

    Ausverhandelt, aber noch von den Co-Gesetzgebern angenommen werden müssen noch die Kompromisse zu:

    Diese Dossiers sollen vorangetrieben werden, politische Einigungen bis zur Europawahl werden schwierig:

    • Europäische Kommission
    • Europäischer Rat
    • Europäisches Parlament
    • Europawahlen 2024
    • SUR
    Translation missing.

    News

    Parlament droht mit Klage wegen EU-Geldern für Ungarn

    Der Streit über den Rechtsstaat in Ungarn und den Umgang mit “eingefrorenen” Finanzmitteln aus dem EU-Budget spitzt sich zu. Das Europaparlament drohte der EU-Kommission am Dienstag in Straßburg mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Das Parlament kann zwar selbst nicht klagen, aber den Rechtsausschuss dazu auffordern. Die Freigabe von 10,2 Milliarden Euro, die die Kommission unmittelbar vor dem EU-Gipfel im Dezember angekündigt hatte, sei nicht ordnungsgemäß zustande gekommen, heißt es in einer Erklärung der großen Fraktionen, der sich auch die Linksfraktion im Europaparlament anschloss.

    Der Rechtsausschuss des Parlaments solle “so bald wie möglich die nötigen Schritte” für eine solche Klage einleiten, heißt es in dem Entwurf, der am Donnerstag zur Abstimmung steht. Man habe “ernsthafte Bedenken” in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Kommissions-Entscheidung. Zugleich warnen die Abgeordneten die Behörde davor, noch mehr Gelder an Ungarn freizugeben. Dies könne ein Misstrauensvotum auslösen, heißt es bei den Liberalen. Dies könnte im Extremfall zum Rücktritt der Kommission führen.

    Vorwurf: von der Leyen habe sich erpressen lassen

    Nach Ansicht der federführenden Abgeordneten hat Ungarn immer noch nicht seine Hausaufgaben beim Rechtsstaat erledigt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen habe sich von Regierungschef Viktor Orbán “erpressen” lassen, hieß es gleich nach der Freigabe der EU-Milliarden. Orbán hatte zuvor angekündigt, den Start von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine zu blockieren. Nach der Bewilligung der Gelder machte er jedoch den Weg frei. Viele Abgeordnete vermuten einen direkten Zusammenhang.

    Es bestehe der begründete Verdacht, dass von der Leyen die ungarische Zustimmung zur Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine erkauft habe, sagte der grüne Europaabgeordnete Daniel Freund. “Die Klage gegen die EU-Kommission ist die unmittelbare Konsequenz aus dem schmutzigen Deal vom vergangenen Dezember”, so Freund weiter. “Das Signal an von der Leyen ist deutlich: Wenn sie einfach Milliardensummen verteilt, um sich Ungarns Vetos zu entziehen, kommt sie damit nicht durch.”

    “Wie in einem Winterschlussverkauf verscherbelt”

    Ähnlich äußerte sich der FDP-Parlamentarier Moritz Körner. Von der Leyen habe die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn “wie in einem Winterschlussverkauf verscherbelt“, kritisiert er. Das Parlament mache da nicht mit und werde ihre Entscheidung vor dem EuGH anfechten. “Es darf in der EU keinen Rabatt auf den Rechtsstaat mehr geben”, sagte Körner weiter. Die liberale Renew-Fraktion werde auch noch auf einen Misstrauensantrag dringen, falls die Kommission weitere Gelder freigeben sollte.

    Der Streit kommt für von der Leyen ungelegen. Sie braucht Orbáns Zustimmung für eine 50 Milliarden Euro schwere Finanzhilfe für die Ukraine, über die bei einem Sondergipfel am 1. Februar entschieden wird. Zuletzt hatten sich die Positionen angenähert – nun könnten sie sich wieder verhärten. Zudem wäre die CDU-Politikerin auf Orbán angewiesen, falls sie sich für eine zweite Amtszeit entscheiden sollte. Vorher könnten erneut EU-Gelder nach Ungarn fließen, argwöhnen ihre Kritiker im Europaparlament. eb/mgr

    • Rechtsstaatlichkeit
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    Umweltminister versprechen sozialverträgliche Klimaziele

    Die Umwelt- und Klimaschutzminister der EU-Staaten haben sich dafür ausgesprochen, bei der Ausgestaltung künftiger Klimaziele besonders auf den sozialen Zusammenhalt in der Bevölkerung zu achten. Niemand habe weniger ehrgeizige Ziele gefordert, betonte der belgische Umweltminister Alain Maron. Man sei sich jedoch einig, dass der Übergang im nächsten Jahrzehnt stattfinden müsse und die Unterstützung der Menschen brauche.

    Am Montag und Dienstag fand in Brüssel der erste informelle Umweltrat unter belgischer Ratspräsidentschaft statt. Beschlüsse wurden keine gefasst, doch beim Mittagessen tauschten sich die Minister und deren Vertreter über das Klimaziel 2040 aus. Die EU-Kommission will Anfang Februar ihren Vorschlag vorlegen – die Behörde wird voraussichtlich ein Treibhausgasreduktionsziel von 90 Prozent bis 2040 im Vergleich zum Stand von 1990 vorschlagen. Dänemark hat sich als einziges Mitgliedsland bereits offen hinter dieses Ziel gestellt.

    Welches Ziel die Mitgliedstaaten unterstützen, sei in Brüssel diese Woche nicht diskutiert worden, erklärte Maron. Stattdessen habe man besprochen, wie man den Übergang für die Menschen gerecht sowie für die Unternehmen erfolgreich gestalten könne.

    Deutscher Beitrag von minus 91 Prozent?

    Sven Giegold, Staatssekretär im Bundeswirtschafts- und Klimaschutzministerium (BMWK), kündigte vor Beginn der Ratssitzung einen ambitionierten deutschen Beitrag zum 2040er-Klimaziel der EU an. Das Bundesverfassungsgericht habe Deutschland ein Netto-Minderungsziel von 91 Prozent bis 2040 aufgegeben. “Das ist auch der Maßstab, mit dem wir auf die europäische Zielsetzung schauen, auch wenn es noch keine quantitative Festlegung der Bundesregierung gibt”, so Giegold.

    Das Netto-Reduktionsziel von 91 Prozent beruht laut BMWK auf Berechnungen des Ökoinstituts und beinhaltet auch die CO₂-Senkleistung natürlicher Speicher wie Wälder oder Moore. Das im deutschen Klimaschutzgesetz festgelegte Ziel für 2040 von mindestens 88 Prozent CO₂-Reduktion ist ein Brutto-Ziel und umfasst die reine Absenkung der Emissionen.

    Das 2040er-Klimaziel der EU wird voraussichtlich auch die nächsten formellen Umweltministerräte unter belgischer Präsidentschaft prägen, am 25. März in Brüssel und am 17. Juni in Luxemburg. luk

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    F-Gase: EU-Parlament nimmt Trilog-Ergebnis an

    Mit großer Mehrheit hat das EU-Parlament am Dienstag strengere Vorschriften zur Reduzierung der Emissionen von hochklimawirksamen fluorierten Treibhausgasen (F-Gasen) angenommen. Die im Oktober erzielte Trilog-Einigung sieht den vollständigen Ausstieg aus den teilfluorierten Kohlenwasserstoffen (HFKW) bis 2050 vor sowie das schrittweise Herunterfahren über eine EU-Verbrauchsquote bis dahin. Branchen, in denen eine Umstellung auf Alternativen technologisch und wirtschaftlich machbar ist, beispielsweise bei Haushaltskühlgeräten, Klimaanlagen und Wärmepumpen, erhalten zudem Fristen für den Ausstieg aus der Nutzung von F-Gasen. So sollen bis 2030 bis zu 40 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente eingespart werden.

    Positive Reaktionen kommen aus der Industrie. “Klimaschutz und die Stärkung der Industrie müssen nicht im Widerspruch zueinanderstehen, das zeigt diese Verordnung”, kommentiert Tim Holt, Vorstandmitglied bei Siemens Energy. Das Verbot von SF6 und alternativen F-Gasen sei ein Gewinn für Klima, Umwelt und Gesundheit und zugleich ein “wichtiger Schritt für die Industrie, denn es schafft Planbarkeit für Investitionen in Herstellerkapazitäten und den nachhaltigen Ausbau des europäischen Stromnetzes”.

    Europäische Unternehmen seien bereits Vorreiter bei der Entwicklung sauberer Alternativen zu F-Gasen, sodass dieses Gesetz gut für das Klima und die europäische Wirtschaft sein werde, sagte Parlaments-Berichterstatter Bas Eickhout (Grüne).

    Mögliche Engpässe im Handwerk

    Peter Liese, klimapolitischer Sprecher der EVP-Fraktion, teilt Eickhouts Auffassung. Er sieht jedoch noch Nachbesserungsbedarf, sollten recycelte F-Gase für die Reparatur von bestehenden Kühlanlagen beispielsweise bei Fleischern oder Bäckern nicht ausreichen. Kommission und Mitgliedstaaten müssten alles daransetzen, das Recycling von F-Gasen auszubauen, fordert er. “Falls das nicht ausreicht, gibt es eine Revisionsklausel.” Zurecht weise das Handwerk darauf hin, dass die Klausel genutzt werden muss, wenn durch Recycling nicht ausreichend F-Gase für Reparaturzwecke zur Verfügung stehen, so Liese.

    Dies unterstreicht auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH): Ein faktisches Service- und Wartungsverbot dürfe es nicht geben. “Eine Kälteanlage auf natürliche Kältemittel umzurüsten, das wissen wir aus der betrieblichen Praxis, ist schlicht unmöglich”, sagt ZDH-Generalsekretär Holger Schwannecke. Handwerksbetriebe bräuchten Investitionssicherheit und einen Vertrauensschutz für ihre Bestandsanlagen. luk

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    • Zentralverband des Deutschen Handwerks

    Plattformarbeit: Radtke lehnt neuen Text ab

    Aus dem Europaparlament kommt Kritik an dem neuen Verhandlungstext der belgischen Ratspräsidentschaft zur Plattformarbeitsrichtlinie. Der EVP-Schattenberichterstatter Dennis Radtke nennt den Vorschlag “nicht zustimmungsfähig”. Grund seien die neu vorgesehenen Ausnahmen bei der Reklassifizierung Selbstständiger als Angestellter, auf die vor allem Frankreich dränge, sagte Radtke zu Table.Media.

    “Frankreich drängt auf eine Ausnahme, mit der durch Tarifverträge die Statusfeststellung unterlaufen werden kann. Das würde gelben Gewerkschaften Tür und Tor öffnen”, kritisierte der CDU-Abgeordnete. Radtke warnte vor einem Scheitern der Richtlinie. “Wenn nicht alle endlich aufwachen, werden wir in dieser Periode keine Lösung mehr zustande bringen. Für Plattformarbeiter, aber auch für Taxifahrer, die unter dem Status quo leiden, wäre das ein Schlag ins Gesicht.”

    Belgien versucht Dossier zu retten

    Auch aus Reihen von S&D kommen Appelle in Richtung der belgischen Ratspräsidentschaft. Die SPD-Europaabgeordnete Gabriele Bischoff sagte Table.Media, es brauche “eine wirksame Vermutungsregel, die Scheinselbstständigkeit verhindert und gleichzeitig die Entscheidungsfreiheit der tatsächlich selbstständig Tätigen schützt”. Die französische Regierung sei Ende vergangenen Jahres “eine unheilige Allianz” mit rechten Regierungen in ganz Europa eingegangen. Dieses Bündnis wolle einen Minimalschutz für Plattformarbeiterinnen und -arbeiter verhindern.

    Am 22. Dezember war im Rat der vorläufige politische Kompromiss zwischen Parlament und den Mitgliedstaaten gescheitert. Die Zeit drängt nun, das Dossier vor dem Auflösen des Europaparlaments fertig zu verhandeln. Aus Beobachterkreisen heißt es, die Belgier behandelten das Dossier mit höchster Priorität und versuchten eine Einigung vor den Europawahlen zu erreichen. Dafür brauche es ein starkes Mandat aus dem Rat und dann zügige Verhandlungen mit dem Parlament. Am Dienstag beriet die Arbeitsgruppe für Soziale Fragen über den neuen Kompromisstext.

    Frankreich hat weitreichende Bedenken

    Doch auch im Rat ist der neue, noch etwas mehr auf die skeptischen Staaten zugeschnittene Text alles andere als ein Selbstläufer: Laut mit der Materie vertrauten Personen war am Dienstag nicht klar, ob Frankreich überhaupt mit dem nun vorgelegten, veränderten Text weiterarbeiten will. Ohne Paris wird eine Einigung schwierig, da sich auch Deutschland bisher enthalten hat und dies wohl weiter tun dürfte.

    Frankreich hatte kurz vor der Veröffentlichung des neuen Vorschlags der Belgier in einem von Euractiv zitierten Schreiben Fundamentalkritik an dem Trilogkompromiss aus dem Dezember geübt und gefordert, wieder so nahe wie möglich zum ursprünglichen Mandat des Rates aus dem Juni 2023 zurückzukehren. Unter anderem macht Paris Frankreich Sorgen vor dem Entstehen von quasi Schein-Beschäftigten geltend, die eigentlich lieber Selbstständige wären. Grund ist, dass in den Augen von Paris die Kriterien für eine Anstellungsvermutung im bisherigen Trilogkompromiss zu weit definiert wurden und daher auf zu viele Menschen und fast alle Plattformen zutreffen könnten.

    Die Kriterien, die eine Anstellungsvermutung auslösen, waren und sind einer der umstrittensten Punkte des Textes. Der neue Kompromissvorschlag der Belgier schränkt die Kriterien in ihrer Reichweite ein und definiert weitere Einschränkungen. Weiter vorgesehen ist aber, dass mindestens zwei von fünf Kriterien erfüllt sein müssen, um eine Anstellungsvermutung auszulösen. Der Rat hatte sich im Juni für mindestens drei von sieben erfüllten Kriterien ausgesprochen. Das Parlament hatte in seiner Position ganz auf eine Mindestzahl verzichtet. lei

    • Arbeit
    • Arbeitnehmerrechte
    • Plattformen

    Sozial-verantwortliche Beschaffung: Europaabgeordnete fordern Reform der EU-Vergaberichtlinie 

    EU-Abgeordnete mehrerer Fraktionen sprachen sich im Zuge einer Befragung des Kommissars für Beschäftigung und soziale Rechte, Nicolas Schmit, am Montagabend vor dem EU-Parlament (EP) für eine Reform der EU-Vergaberichtlinie aus. Die aktuellen Regeln seien nicht geeignet, die Potenziale sozial-verantwortlicher Beschaffung auszuschöpfen, weil rechtliche Unsicherheiten öffentliche Einkäufer davon abhielten, entsprechende Bedingungen wie die Zahlung von Tarifvertragslöhnen von den Auftragnehmern einzufordern. 

    Schmit sagte, dass die aktuellen Vergaberegelungen öffentlichen Einkäufern bereits mehr Flexibilität ermöglichten, den öffentlichen Einkauf als strategisches Werkzeug zu nutzen. Wünschenswert wäre es, wenn noch mehr Vergaben auf Qualitätskriterien beruhen könnten als nur auf dem Preis, um die grüne und soziale Transformation voranzubringen. Dafür müssten die EU-Institutionen darüber nachdenken, wie Vergabestellen solche Kriterien stärker in der Vergabe einbeziehen könnten, damit Einkäufer der öffentlichen Hand mehr Rechtssicherheit bekommen. 

    Der Renew-Abgeordneten Dragoş Pîslaru zählte mögliche Lösungen auf, die aus Sicht des EP-Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten infrage kommen:

    • Öffentliche Aufträge dürften nicht mehr ohne Bindung an Tarifverträge vergeben werden.
    • Es brauche eine Klarstellung darüber, dass die Förderung von Tarifbindung mit entsprechenden Anforderungen bei der Vergabe nicht gegen EU-Recht verstoße. 
    • Die Berücksichtigung sozialer Kriterien müsse verpflichtend werden. 

    Kurzfristig wird sich aber voraussichtlich nichts an den EU-Vergaberegeln ändern, weil im Juni die Europawahl stattfindet. Bis dahin arbeiten die Institutionen nur noch bereits begonnene Initiativen ab. Die Bundesregierung hingegen will im Laufe dieses Jahres endlich das Bundestariftreuegesetz beschließen, das die Aufträge von Bundesbehörden über 10.000 Euro auf Unternehmensseite an die Einhaltung von Tarifverträgen koppeln soll. nh 

    • Europäisches Parlament
    • Öffentliche Beschaffung

    BDI: Brauchen mehr Europa – aber richtig

    Der BDI möchte, dass Europa mehr Verantwortung in der Welt übernimmt. “Auf die Präsidentschaftswahl in den USA haben wir in Europa keinen Einfluss”, sagte BDI-Chef Siegfried Russwurm bei der Jahresauftaktpressekonferenz seines Verbandes in Berlin. Europa müsse sich jedoch mit jedem Szenario befassen und es reiche nicht, sich Sorgen zu machen. Vielmehr müsse Europa “sich auf eine Welt vorbereiten, in der wir Europäer mehr auf uns selbst gestellt sind”.

    Von der Wahl zum Europäischen Parlament hänge besonders viel für Wirtschaft und Politik ab. “Wir brauchen mehr Europa – aber richtig“, sagte Russwurm. Die Wirtschaft brauche einen Binnenmarkt, der wegen seiner Größenvorteile das Skalieren zukunftsweisender industrieller Wertschöpfung erlaube.

    Berlin soll sich bei Handelspolitik nicht verstecken

    Funktionierende Handelsbeziehungen seien nötig für die Reduzierung von Abhängigkeiten. Auf diesem Feld habe die EU erneut ein Jahr verloren, sagte Russwurm mit Verweis auf die angekündigten Abkommen mit Mercosur und Australien. “Wir treten auf der Stelle – wir in Deutschland und wir in Europa.” Berlin solle sich jedoch nicht hinter der Zuständigkeit der EU für die Handelspolitik verstecken: “Wer soll denn in Brüssel auf eine offenere Handelspolitik in Europa drängen, wenn nicht der größte Exporteur und gleichzeitig die stärkste Volkswirtschaft der Union?”, fragte Russwurm.

    In der neuen Legislatur müsse es der EU gelingen, die Themen Transformation und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zusammenzubringen. Weder sei es sinnvoll, die Transformation infrage zu stellen, noch sei es hilfreich, sie um jeden Preis voranzutreiben. “Wir schlagen vor, mehr mit den Betroffenen zu reden und auch auf ihre Vorschläge zu hören”, sagte Russwurm. “Wir wollen die Dekarbonisierung, wir wollen diese Veränderung. Aber bitte, wir wissen auch, was dabei geht und was dabei nicht geht.”

    Zu Lieferkettengesetz notfalls “nein” sagen

    Einiges, was derzeit aus Brüssel komme, nannte Russwurm “irritierend”. Etwa beim Rechtsrahmen für Künstliche Intelligenz (AI Act) oder dem Sorgfaltspflichtengesetz (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD), zu denen nach der Einigung im Trilog bis heute nichts Schriftliches vorliege. Dem CSDDD lägen wirklichkeitsfremde Vorstellungen zugrunde, die den Unternehmen uneinlösbare Pflichten aufbürdeten und schweren Schaden anrichteten. “Deshalb drängen wir die Bundesregierung dazu, die starke Stimme der Vernunft in die Verhandlungen einzubringen, – und gleichzeitig, keine falschen Kompromisse einzugehen, sondern notfalls auch ,nein’ zu sagen”, forderte Russwurm. vis

    • BDI
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    Presseschau

    EU-Parlament will Kommission wegen Mittelfreigabe für Ungarn verklagen ZEIT
    EU-Militärchef Robert Brieger zu Huthi-Attacken: Europa will militärisch aktiver werden ZDF
    Debatte im Europaparlament: Scharfe Kritik an unzureichender Militärhilfe für die Ukraine – “Wir müssen mehr liefern” RND
    EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen: 50 Milliarden für die Ukraine – mit oder ohne Ungarn EURONEWS
    Nach Machtwechsel in Polen: Präsident Duda warnt vor “Terror der Rechtsstaatlichkeit” TAGESSCHAU
    Belgischer EU-Vorsitz: Premier Alexander De Croo spricht in Straßburg über die Herausforderungen für Europa 2024 VRT
    Zahl irregulärer Einreisen in die EU erreicht höchsten Stand seit 2016. ZEIT
    Streit über Sunaks Ruanda-Plan – prominente Tories treten zurück SPIEGEL
    Niederlande: Kommission empfiehlt Obergrenze für Einwanderung FAZ
    Nach PiS-Abwahl: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán wittert in Slowakeis Ministerpräsident Robert Fico einen neuen Verbündeten in der EU WELT
    Österreich: ÖVP-Spitzenkandidat Reinhold Lopatka will Asylverfahren ausschließlich an EU-Außengrenzen durchführen lassen KLEINE ZEITUNG
    Bald kein E5-Benzin mehr in Tschechien SÄCHSISCHE
    Polnische Lkw-Fahrer setzen Blockade an ukrainischer Grenze aus SPIEGEL
    Künstliche Intelligenz: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fordert mehr Tempo in Europa RHEINISCHE POST
    EU sieht Gasspeicher bis Ende des Winters mehr als 50 Prozent gefüllt FINANZMARKTWELT
    Norwegen vergibt neue Lizenzen für Öl- und Gasförderung KURIER
    Erneuerbare Energien in der EU auf dem Vormarsch WEB.DE
    EU für Verbot von F-Gasen MORGENPOST
    Umweltschützer kritisieren grünes EU-Label für Schiffe und Flugzeuge DIE PRESSE
    Abgasnorm Euro 7: EU kommt Autoherstellern weit entgegen HEISE
    EU-Parlament will gerechteren Musikstreaming-Markt DER STANDARD
    EU verschärft Kryptovorschriften zur Bekämpfung von Finanzkriminalität CRYPTOPOLITAN

    Heads

    Marion Walsmann: Mit Europa im Rücken ins Superwahljahr 

    Marion Walsmann ist die derzeit einzige thüringische Abgeordnete im EU-Parlament. Eines ihrer wichtigsten Themen ist der Ausbau des Weimarer Dreiecks.

    Als “Kind von hinter dem eisernen Vorhang” hat Marion Walsmann es in die europäische Politik geschafft. Am ersten runden Tisch zur Wiedervereinigung hat die heute einzige CDU-Abgeordnete für Thüringen im Europaparlament nach dem Fall der Mauer mitgearbeitet. “Das war Demokratie pur, ohne Netz und doppeltem Boden”, sagt die Politikerin. 

    Die Bedeutung der Wiedervereinigung für Ostdeutschland sei heute größtenteils unbestritten, die Wichtigkeit der europäischen allerdings werde noch häufig übersehen, so die 60-Jährige. Anders als die Nachbarländer im Osten sei die ehemalige DDR mit dem Tag der Wiedervereinigung “wie durch ein Geschenk Mitglied der Europäischen Union geworden”. Doch persönlich habe Walsmann schon früh eine Verbindung zur europäischen Idee aufgebaut. Ihr Großvater strandete kriegsbedingt in Heidelberg und damit in der BRD, ihre Großmutter war Ukrainerin, mit den Eltern sei sie oft in Frankreich gewesen. “Das alles hat bei mir den tiefen Drang geweckt, mehr für Europa zu tun”, sagt Walsmann. Im Laufe ihrer politischen Laufbahn tat sie dies unter anderem als Europaministerin in Thüringen und als Vorsitzende des Europaausschusses im Landtag

    Weiterentwicklung des Weimarer Dreiecks

    Eines von Walsmann politischen Anliegen geht mit ihrer Biografie Hand in Hand: die Völkerverständigung – von West nach Ost. Zu ihren wichtigsten Projekten zählt die Weiterentwicklung des Weimarer Dreiecks zwischen Deutschland, Frankreich und Polen. Einst in ihrem Heimatbundesland als Plan für die Osterweiterung von Dumont, Genscher und Skubiszewski geschmiedet, gehöre dieser Idee auch die Zukunft – besonders nach dem erfreulichen Ausgang der polnischen Parlamentswahl im Oktober: “Wir haben gejubelt, als Donald Tusk die Wahl gewonnen hat, weil das Weimarer Dreieck wieder eine Bedeutung hat.” 

    In der bald endenden Legislaturperiode habe Walsmann es als eines ihrer großen Ziele geschafft, das Format des Weimarer Dreiecks auf die Ebene des Parlaments zu heben. Falls sie es im nächsten Jahr erneut für Thüringen ins Europaparlament schafft, möchte sie den eingeschlagenen Weg weiterführen und die Beziehungen intensivieren, denn: “Solche Projekte machen der Bevölkerung klar, dass es einen Benefit dieses gemeinsamen, geeinten Europas gibt”, sagt sie. Auch für die Bekämpfung des Rechtspopulismus sei das ein entscheidender Hebel. 

    Asylkompromiss helfe gegen AfD-Kritik

    Ein Hebel, der laut Walsmann dringend notwendig ist, auf dem Weg ins große Wahljahr 2024 in Thüringen. Der Europawahl im Juni folgt im September die Landtagswahl, für die der AfD derzeit Wahlergebnisse von über 30 Prozent prophezeit werden. Um zu verhindern, dass die Europawahl in Thüringen zu einer vorgezogenen Landtagswahl verkommt, ist für die gebürtige Erfurterin klar: Sie möchte mit möglichst vielen Menschen ins Gespräch kommen, um ihnen “an Beispielen zu zeigen, dass Thüringen ein progressives Europa und den europäischen Binnenmarkt braucht“. Es gelte also, den Menschen die Konsequenzen einer wachsenden rechten Front im EU-Parlament aufzuzeigen. Für ein Bundesland, das zwei Drittel des Absatzes im europäischen Binnenmarkt erzielt, hätte ein weiteres Erstarken der AfD schwerwiegende Folgen. “Wenn die AfD ihre Ziele umsetzt und die Tür zum Binnenmarkt zumacht, dann ist hier auch der Ofen aus”, sagt sie. 

    Dass die Europäische Union nun einen Kompromiss im Asylstreit gefunden hat, wertet Walsmann als gutes Zeichen im Hinblick auf die Wahlen im nächsten Jahr. “Damit hat die EU eine Zuarbeit für die AfD rechtzeitig verhindert“, sagt sie. In den kommenden Monaten möchte die 60-Jährige das Vertrauen der Menschen in ihre Person nutzen, um eine Grundlage für Erfolg zu schaffen. Jasper Bennink

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    Europe.Table Redaktion

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