Table.Briefing: Europe

Gipfel-Debatten + BASF-Werk + Digitale Identität

Liebe Leserin, lieber Leser,

am Sonntag kommt erstmals nach 23 Jahren wieder ein französischer Staatspräsident für einen Staatsbesuch nach Deutschland. Natürlich sind Emmanuel Macron und seine Vorgänger seit Jacques Chirac immer wieder in Deutschland zu Besuch gewesen. Doch das sind dann Arbeitsbesuche, offizielle Besuche oder Besuche anlässlich eines Termins gewesen. Von anderen Visiten unterscheidet sich ein Staatsbesuch protokollarisch. Bei Staatsbesuchen gibt es einen Empfang mit militärischen Ehren und ein Staatsbankett.

Emmanuel und Brigitte Macron kommen also für drei Tage nach Deutschland und werden dabei Station machen in Ludwigsburg, Berlin und Dresden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender begleiten das Präsidentenpaar. Der Anlass: Im sechzigsten Jahr des Élysée-Vertrags wollen beide Länder ihre enge Freundschaft zueinander würdigen. Neben Besuchen von Sehenswürdigkeiten wie etwa Schillers Geburtshaus in Marbach stehen auch Treffen mit Jugendlichen auf dem Programm.

Höhepunkt der Reise soll sein, wenn Macron am Dienstag nach einem gemeinsamen Gang durch die Dresdener Altstadt auf dem Neumarkt vor der Frauenkirche eine Rede hält. Es soll eine wichtige Rede werden, heißt es in Berlin. Die Bedeutung der gegenseitigen Beziehungen in Vergangenheit und Zukunft soll in ihrem Mittelpunkt stehen. Soyez le bienvenu, Monsieur le Président.

Ihr
Markus Grabitz
Bild von Markus  Grabitz

Analyse

EU-Gipfel sagt Ukraine weitere Hilfen zu

Die Sicherheitszusagen für die Ukraine stießen am EU-Gipfel auf Vorbehalte der neutralen Mitgliedstaaten. Österreich werde weitreichenden Sicherheitsgarantien für die Ukraine nicht zustimmen, sagte Bundeskanzler Karl Nehammer beim Auftakt des EU-Gipfels in Brüssel. Auch Irland, Zypern und Malta hätten als neutrale Staaten Bedenken angemeldet, betonte der Österreicher.

Der Protest dürfte hauptsächlich für das heimische Publikum gedacht gewesen sein. Tatsächlich war auch in früheren Entwürfen der Gipfelschlussfolgerungen nicht etwa von einer Beistandspflicht die Rede, sondern recht vage von “security committments”.

Insbesondere Frankreich und einigen osteuropäischen Staaten war der Absatz in den Schlussfolgerungen ein Anliegen: “Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten sind bereit, sich zusammen mit Partnern an zukünftigen Sicherheitszusagen gegenüber der Ukraine zu beteiligen“, heißt es in den Schlussfolgerungen. Mit Partnern sind die Nato, beziehungsweise ihre Mitgliedstaaten gemeint.

Versorgung mit Finanzmitteln, Munition und Kriegsgerät

Diese Zusagen sollen der Ukraine helfen, “sich langfristig selbst zu verteidigen, Angriffshandlungen abzuwenden und Destabilisierungsversuchen standzuhalten”. Diese Zusagen erfolge unter “uneingeschränkter Achtung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten und unter Berücksichtigung der Sicherheits- und Verteidigungsinteressen aller Mitgliedstaaten”.

Es gehe darum, eine längerfristige und kontinuierliche Versorgung der Ukraine mit Finanzmitteln, Munition und Kriegsgerät zur Verteidigung sicherzustellen, präzisierten Diplomaten am Rande des Gipfels. Dies insbesondere, um die Zeit bis zu einem späteren Beitritt der Ukraine zur EU beziehungsweise zur Nato zu überbrücken. Stabilität und eine klare Perspektive für die Ukraine seien auch im Interesse der EU-Staaten.

Die Modalitäten sollen nun noch definiert werden. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg war zu Beginn des EU-Gipfels auch eingeladen: “Wir sind uns einig, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses werden wird“, sagte Stoltenberg bei der Ankunft an der Seite von EU-Ratspräsident Charles Michel. Man sei sich auch einig, dass es nicht an Russland, sondern an der Ukraine und an den Nato-Verbündeten sei, den genauen Zeitpunkt für eine volle Einladung auszusprechen.

Diskussion über russische Vermögenswerte

Die Staats- und Regierungschefs diskutierten auch über die Nutzung der eingefrorenen Gelder der russischen Zentralbank und von Oligarchen für den Wiederaufbau der Ukraine, allerdings ohne zu Ergebnissen zu kommen. Vielmehr ersuchten sie Rat und Kommission in der Abschlusserklärung, die Arbeit daran “im Einklang mit dem Unionsrecht und dem Völkerrecht und in Abstimmung mit Partnern weiter voranzubringen”.

Die baltischen Staaten und einige andere drängen darauf, die beschlagnahmten Mittel einzusetzen: “Wir müssen eine Rechtsgrundlage finden, um diese Vermögenswerte zu nutzen, damit Russland für den Schaden aufkommen kann, den es in der Ukraine verursacht”, sagte etwa der lettische Ministerpräsident Krišjānis Kariņš. Berlin und andere Hauptstädte sind aber zurückhaltend. Sie betonen, dafür brauche es eine feste rechtliche Grundlage. Auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat die Kommission hinter den Kulissen davor gewarnt, darüber die Rolle des Euro als internationale Reservewährung zu gefährden.

Zinseinnahmen im Fokus

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen treibt die Initiative aber energisch voran – sie will dem Vernehmen nach bis Ende Juli einen konkreten Vorschlag vorlegen. Der juristische Dienst der Behörde hat dem Vernehmen nach ein Papier zu den rechtlichen Fragen erarbeitet.

Die Diskussion dreht sich weniger um die Nutzung der eingefrorenen russischen Vermögenswerte selbst. Vielmehr wird nach Wegen gesucht, die anfallenden Erträge abzuschöpfen. Einige Mitgliedstaaten schlagen ein Modell vor, über eine Sonderabgabe die Zinseinnahmen einzuziehen, die insbesondere die belgische Clearinggesellschaft Euroclear mit festgesetzten russischen Vermögenswerten im Wert von knapp 200 Milliarden Euro erzielt. Dies könnte rund drei Milliarden Euro pro Jahr einbringen.

Ungarn und Polen blockieren Migrationsdebatte

Für erhitzte Debatten ohne Einigung in der Nacht sorgte die Asylpolitik, die Diskussion soll nun am heutigen Freitag fortgesetzt werden. Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki hatte schon vor seiner Reise nach Brüssel angekündigt, dass er ein Veto gegen den Solidaritätsmechanismus einlegen wolle, den die EU-Innenminister kürzlich als Teil des Asylkompromisses beschlossen hatten. “Die PiS-Regierung wird mit Sicherheit keinen Experimenten und keiner Erpressung in Bezug auf die Aufnahme illegaler Einwanderer zustimmen”, sagte er.

Morawiecki und sein ungarischer Amtskollege Viktor Orbán blockierten die entsprechenden Schlussfolgerungen des EU-Gipfels. Darin wurde der mit qualifizierter Mehrheit beschlossene Asylpakt zwar nicht explizit erwähnt. Polen und Ungarn wollten jedoch erreichen, dass der Europäische Rat, in dem das Prinzip der Einstimmigkeit gilt, das letzte Wort in der Migrationspolitik behält. In der Migrationspolitik solle nur nach dem Konsensprinzip entschieden werden, hieß es in einem polnischen Textvorschlag. Jedes EU-Land solle selbst darüber entscheiden, wie es Länder mit besonders hohem Migrationsaufkommen unterstützt.

Demgegenüber betonte Bundeskanzler Olaf Scholz, dass im Rat der Innenminister bereits Entscheidungen getroffen worden seien. Der vereinbarte Solidaritätsmechanismus sei ein Durchbruch und etwas, das man schon lange zuvor gebraucht hätte, sagte der SPD-Politiker.

Der neu gewählte griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis rief die EU nach dem Kentern eines überfüllten Flüchtlingsschiffs mit hunderten Toten auf, ihren Kampf gegen Menschenschlepper zu verstärken. Dafür müsse die EU Abkommen mit nordafrikanischen Ländern schließen. Ein Abkommen mit Tunesien ist bereits geplant, jedoch noch nicht fertig ausverhandelt. Eric Bonse, Till Hoppe und Stephan Israel

  • EU-Gipfel
  • Europapolitik

BASF in Schwarzheide: Strategisches Batterieprojekt für die EU

Die neue Fabrik für Batteriematerial auf dem BASF-Werksgelände in Schwarzheide.

Eine lange Kolonne schwarzer Limousinen überquerte gestern Mittag das BASF-Werksgelände in Brandenburg und hielt neben einem weißen Festzelt. Der Vizepräsident der EU-Kommission Maroš Šefčovič, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke – sie alle kamen zur Einweihung der neuen Fabrik für Kathodenmaterial in Schwarzheide und betonten die strategische Bedeutung des Projekts für die Region, für Deutschland, für die EU.

Die Anlage in der Lausitz ist die erste Produktionsanlage für Kathodenmaterial in Deutschland und die zweite in Europa. Der belgische Konzern Umicore hatte im vergangenen Jahr das erste Werk im polnischen Nysa eingeweiht. Nach dem zweijährigen Bau läuft in Schwarzheide ab sofort die Produktion für eine Bemusterung bei Kunden; ab 2025 soll die Massenproduktion beginnen. Dann sollen Vorprodukte aus einer weiteren neuen Anlage am BASF-Standort Harjavalta in Finnland verwendet werden. Beide Anlagen werden mit Beihilfen im Rahmen der Important Projects of Common European Interest (IPCEI) gefördert.

In Schwarzheide könnten jährlich Materialien für Lithium-Ionen-Batterien für etwa 400.000 elektrische Fahrzeuge produziert werden. Für mehrere Jahre sei das Produkt bereits ausverkauft, hieß es während der Veranstaltung. Auch aus Gründen der Nähe zu Kunden habe BASF sich für den Standort Schwarzheide entschieden. Wer diese seien, könne jedoch aus wettbewerbsrechtlichen Gründen nicht genannt werden. In Brandenburg entsteht zurzeit ein Industrie-Cluster für die gesamte Wertschöpfungskette von Batterien.

CO₂-Fußabdruck für Batterien und E-Fahrzeuge senken

“Das Kathodenmaterial ist entscheidend für fast alle Eigenschaften einer Automobilbatterie“, erklärte Peter Schuhmacher, Leiter des Unternehmensbereichs Battery Materials bei BASF. Dazu gehörten etwa die Sicherheit und die Energiedichte und Reichweite des Fahrzeuges. Vor allem aber habe es einen enormen Einfluss auf den CO₂-Fußabdruck bei der Herstellung von Elektrofahrzeugen. “Wenn wir nicht wollen, dass bei der Transformation vom Verbrennungsmotor zu Elektromobilität der CO₂-Fußabdruck einfach nur vom Auspuff des Verbrenners in die Herstellungskette der Batteriematerialien verschoben wird, müssen wir beim Kathodenmaterial ansetzen”, sagte er.

BASF hat sich Netto-Null-Emissionen bis 2050 als Ziel gesetzt. Den Strom für die Produktion am Standort Schwarzheide bezieht das Unternehmen mittlerweile zu zehn Prozent aus einem eigenen Solarpark auf dem Werksgelände.

Am selben Standort baut BASF zurzeit auch eine Recyclinganlage für Batterien zur Herstellung von schwarzer Masse. Der Fokus liege hier auf einer besonders nachhaltigen Produktion durch die Integration von Erneuerbaren Energien am Standort und einer hohen Energieeffizienz, erklärte der Konzern. Bis Ende 2023 sollen hier Verfahren entwickelt werden, um eine höhere Rückgewinnung von Lithium, Nickel, Kobalt und Mangan aus ausgedienten Lithium-Ionen-Batterien zu erreichen. Gleichzeitig können dann auch Metalle aus Produktionsausschuss von Zellherstellern und Herstellern von Batteriematerialien recycelt werden.

“Europa riskiert, Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren”

Der Europäische Rechnungshof hatte erst vergangene Woche in einem Sonderbericht auf die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der EU-Batterieindustrie hingewiesen. Im globalen Maßstab werden nur 7 Prozent der Batterien in der EU produziert; China ist laut dem Rechnungshof mit 76 Prozent der weltweiten Kapazität weiterhin der größte Hersteller.

Die Produktion in der EU wachse zwar derzeit so schnell, dass sie durchaus 2025 die eigene Nachfrage decken könnte. Doch die Prognosen für 2030 sind laut den Prüfern des Rechnungshofs höchst hypothetisch, da externe Faktoren die Investitionspläne privater Unternehmen noch umkehren könnten: Die ohnehin schon hohen EU-Batteriepreise könnten durch die Energiekosten und die schwankenden Rohstoffpreise noch mehr ansteigen. Dazu kommen massive Subventionsprogramme in anderen Weltregionen wie den USA.

Dies beklagte gestern auch Martin Brudermüller, Vorstandsvorsitzender von BASF. Mit dem Inflation Reduction Act geben die USA ihrer Industrie Rückenwind, sagte er. “Solch eine Art von Förderung spielt eine wichtige Rolle bei Investitionsentscheidungen bei unseren Kunden, aber auch bei uns.” Europa riskiere stattdessen aufgrund der “Flut an Regulierungen” des Green Deal, seine Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren.

Kritik an BASF-Investitionen in China

Brudermüller war zuletzt wegen massiver Investitionen in den BASF-Standort Zhanjiang in China kritisiert worden. Gestern betonte er, die Batterie-Anlagen in Schwarzheide “unterstreichen, dass wir als BASF an die Zukunft der chemischen Industrie in Europa und in Deutschland glauben und in innovative Produkte und Dienstleistungen für unsere Kunden in unserem Heimatmarkt investieren”. Damit produziert BASF nun Batteriematerialien auf allen drei Kernmärkten: in Asien, Nordamerika und Europa.

EU-Kommissar Maroš Šefčovič ist zuversichtlich: Im vergangenen Jahr habe die EU bei den Investitionen in Batterietechnik bereits China überholt, sagte er kürzlich der “Welt am Sonntag”. Über die Europäische Batterie-Allianz sei es gelungen, 180 Milliarden Euro an privaten Investitionen in den europäischen Batteriesektor zu holen, dreieinhalbmal mehr als in China, sagte er gestern in Schwarzheide.

Industrie, Wissenschaft, EU-Kommission und Mitgliedstaaten hatten 2017 die Europäische Batterie-Allianz gegründet. Sie zählt über 800 Mitglieder, neben BASF auch BMW, Volkswagen, Bosch und Siemens. Das Ziel: eine starke europäische Batterieindustrie mit einem jährlichen Marktwert von 250 Milliarden Euro ab 2025. Die Plattform wird von der Europäischen Investitionsbank (EIB) gefördert.

Massive Förderung, fehlender Überblick

Auch durch zwei Förderprogramme für IPCEI wird die Batterie-Branche unterstützt. Insgesamt nehmen über fünfzig Unternehmen aus zwölf Mitgliedstaaten daran teil, darunter 13 Unternehmen aus Deutschland. Die EU-Mitgliedstaaten haben insgesamt Beihilfen in Höhe von sechs Milliarden Euro gezahlt, unter der Bedingung, dass weitere 14 Milliarden Euro von privaten Investoren kommen. Anfang des Jahres hatte das Bundeswirtschaftsministerium angekündigt, das von Deutschland koordinierte zweite Batterie-IPCEI zu erweitern und Beihilfen in Höhe von einer Milliarde Euro für weitere strategische Großprojekte zu zahlen.

Auch das nun in Betrieb genommene Werk in Schwarzheide profitierte: 550 Millionen Euro hat der Bau der Anlage gekostet, 175 Millionen davon haben im Rahmen des ersten Batterie-IPCEI der Bund und das Land Brandenburg zu 70 beziehungsweise 30 Prozent übernommen. Den Rest investierte BASF selbst.

Der Europäische Rechnungshof bewertet die Bereitstellung von Finanzmitteln in der EU in seinem Bericht positiv. Allerdings fehle der Kommission der Überblick über die verschiedenen Finanzströme. Dadurch sei es schwierig, die Finanzierung richtig zu koordinieren und gezielt einzusetzen. Hinzu kommt laut dem Bericht, dass die Regeln für die einzelnen Finanzierungsströme so weit gefasst seien, dass es zu Überschneidungen kommen könne. Die Mittel seien zudem ungleich verteilt: 83 Prozent der genehmigten staatlichen Beihilfen entfielen auf Deutschland, Frankreich und Italien.

  • IPCEI

EU-Monitoring

03.07.2023 – 15:00-18:00 Uhr
Sitzung des Ausschusses für Recht (JURI)
Themen: Berichtsentwurf zum rechtlichen Schutz von Designs (Neufassung), politische Auswirkungen der Entwicklung virtueller Welten – zivil-, gesellschafts- und handelsrechtliche Fragen sowie Fragen des geistigen Eigentums, Aktienstrukturen mit Mehrfachstimmrechten in Unternehmen, die die Zulassung ihrer Aktien zum Handel auf einem KMU-Wachstumsmarkt anstreben. Vorläufige Tagesordnung

04.07.2023
EuGH-Urteil zur Zusammenführung von Nutzerdaten aus verschiedenen Quellen
Themen: Mit Entscheidung vom 6. Februar 2019 untersagte das deutsche Bundeskartellamt Facebook (jetzt Meta Platforms), Nutzerdaten aus verschiedenen Quellen zusammenzuführen. Facebook hat diese Entscheidung vor dem OLG Düsseldorf angefochten. Nun hat das OLG Düsseldorf dem EuGH eine Reihe von Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: zur Befugnis des Bundeskartellamts, im Bereich des Datenschutzes tätig zu werden, sowie zur Vereinbarkeit der Verarbeitung personenbezogenen Daten mit der Datenschutzgrundverordnung. Schlussanträge

04.07.2023
EuGH-Verhandlung zur Verwertbarkeit von EncroChat-Daten in Strafverfahren
Themen: Die Ermittlungsbehörden verschiedener EU-Mitgliedstaaten haben auf europäischer Ebene zusammengearbeitet, um den als besonders abhörsicher geltenden Kommunikationsdienst EncroChat zu zerschlagen. Es bestand der Verdacht, dass er für die Begehung von Straftaten im Betäubungsmittelbereich genutzt wurde. Das mit der Sache befasste Landgericht Berlin möchte vom Gerichtshof wissen, ob die deutschen Ermittlungsbehörden bei der Erlangung der Daten gegen die EU-Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen verstoßen haben. Vorabentscheidungsersuchen

05.07.2023
Wöchentliche Kommissionssitzung
Themen: Paket für Lebensmittel und biologische Vielfalt (Bodenschutzrecht, Regulierung von Pflanzen, die mit neuen genomischen Techniken erzeugt wurden, Überarbeitung der Aspekte Lebensmittelabfälle und Textilien der EU-Abfallrahmenrichtlinie, Überarbeitung der Rechtsvorschriften über Saatgut und anderes pflanzliches und forstliches Vermehrungsmaterial), Jahresbericht 2023 zur Rechtsstaatlichkeit, Reaktion auf die europäische Bürgerinitiative “Stop Finning – Stop the Trade!” Vorläufige Tagesordnung

News

eID: Die europäische digitale Identität kommt

Das Parlament und der Rat haben sich im Trilog über die Kernelemente einer neuen europäischen digitalen Identität (eID) geeinigt. Die eID soll es den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, sich bei digitalen Verwaltungsgängen, Bankgeschäften, Arztbesuchen, Alterskontrollen und beim Internet-Shopping mittels der digitalen Börse (European Digital Identity Wallet) auszuweisen.

Eine europäische digitale Identitätsbörse sei unverzichtbar, da immer mehr Menschen sich bei Behörden und Unternehmen ausweisen oder ihre Zugangsdaten bereithalten müssten, sagte Schwedens Minister für öffentliche Verwaltung, Erik Slottner. “Auf diese Weise sollten bis 2030 mindestens 80 Prozent der EU-Bürger in der Lage sein, eine digitale ID-Lösung für den Zugang zu wichtigen öffentlichen Diensten zu nutzen.”

Der Rechtstext wird nun im Einklang mit der politischen Einigung vervollständigt und den Vertretern der Mitgliedstaaten (AStV) zur Billigung vorgelegt. Dann muss die überarbeitete Verordnung von Parlament und Rat angenommen werden, bevor sie in Kraft tritt.

eco: Es sollte nicht nur eine staatliche Lösung geben

Der Verband der Internetwirtschaft eco begrüßte die europäische Initiative für ein ID-Wallet, da ein zuverlässiges und sicheres Ökosystem digitaler Identitäten wichtig für den digitalen Binnenmarkt und vielen digitalen Geschäftsmodellen ist.

Die EU müsse die Mitgliedstaaten anhalten, Lösungen digitaler Identitäten wie ID-Wallets so anzubieten, dass sie für Nutzer attraktiv und überzeugend sind, sagte eco-Vorstand Norbert Pohlmann. Für einen erfolgreichen Wettbewerb sollte sich die EU dafür einsetzen, dass mehrere zertifizierte Wallets nebeneinander existieren. “Von einer rein staatlichen Lösung ist unbedingt abzusehen.”

Eine Mehrheit der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger (58 Prozent) würde Personalausweis oder Führerschein, aber auch andere Dokumente wie die Gesundheitskarte oder Zeugnisse, gerne auf dem Smartphone speichern. Das ergab eine aktuelle Umfrage des Digitalverbands Bitkom. Zwei Drittel der Smartphone-Nutzerinnen und -Nutzer (65 Prozent) würden dabei eine Lösung bevorzugen, wo alle Dokumente in einer Wallet abgelegt werden. vis

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Presseschau

Österreich verweigert Zustimmung: EU gibt Ukraine vorerst keine Sicherheitsgarantien TAGESSPIEGEL
EU-Staaten besorgt nach Wagner-Revolte ZDF
Polen droht mit Veto gegen EU-Asylreform WELT
EU looks to Egypt partnership to tackle people-smuggling networks THEGUARDIAN
Selenskyj-Vertrauter wirft Orban Nähe zu Russland vor und nennt ihn “Agenten” RND
EU to propose exit from Energy Charter Treaty over climate concerns REUTERS
EU-Parlament und Rat einig: Online-Ausweis kommt ohne ständige Personenkennung HEISE
EU-Parlament: Ausschuss will Chatkontrolle an vier Stellen stutzen NETZPOLITIK
Digitalminister Wissing zufrieden mit EU-Einigung zur Nutzung von Daten HANDELSBLATT
Rechnungshof hält geplante EU-Schuldenregeln für zu lax FAZ
Forderung nach EU-weiter Regulierung von Online-Influencern EURACTIV
Belgien: Atomkraftwerke Doel und Tihange laufen zehn Jahre länger als geplant WELT
Dänemark will Milliarden in Verteidigung investieren RND
EU-Risikowächter: Gefahren für Finanzsystem weiterhin groß HANDELSBLATT
Wettbewerbsverzerrung durch App-Regeln: Apple will angeblich nicht einlenken HEISE
Weniger Entschädigung und mehr Rechte: Was bedeuten die neuen EU-Eisenbahnvorschriften? EURONEWS
Zahlungsdienste: EU-Kommission will Betrug stärker bekämpfen EURACTIV

Heads

Maria Noichl – Für die Agrarpolitik nach Brüssel

Maria Noichl, Mitglied im Europäischen Parlament für die SPD, sitzt in den Ausschüssen für Landwirtschaft und für die Rechte von Frauen.

Maria Noichl ist eine Quereinsteigerin im Brüsseler Betrieb. Geplant hat sie ihre Karriere als Europapolitikerin nicht. Und dennoch ist die 56-Jährige mittlerweile eine einflussreiche Abgeordnete für die Landwirtschaft und die Rechte von Frauen geworden. 

Noichl wuchs in Aising bei Rosenheim auf, ihr Vater war Gemeinderat bei der CSU. “Er war typisch bayerisch, ein liebenswerter Strauß-Verschnitt”, sagt Noichl im Gespräch. Mit 17 Jahren wurde Noichl unverheiratet schwanger. Dafür wurde sie im konservativen Bayern geächtet. “Im kirchlichen Jugendchor gab es eine Sondersitzung, in der es hieß: Wenn so etwas noch einmal passiert, wird der Chor aufgelöst.” Kurze Zeit später trat Noichl aus der katholischen Kirche aus, gläubig ist sie bis heute. 

“Immer wieder mit Brüssel telefoniert”

Zur SPD kam Noichl über einen offenen Gesprächskreis der SPD-Frauen in Rosenheim. “Ich war fasziniert, wie die gesprochen haben, wie die argumentiert haben und wie sie Probleme benannt haben”, sagt Noichl. “Das war so ganz anders als ich es von zu Hause kannte.” 1991 trat sie in die SPD ein, wurde Stadträtin in Rosenheim. 2008 bis 2013 war sie Abgeordnete im Bayerischen Landtag. Seit 2018 ist Noichl Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen.

Noichl hat nach der Geburt ihres zweiten Sohnes das Fachabitur über den zweiten Bildungsweg nachgeholt, wurde Fachlehrerin für Ernährung und Gestaltung. Deswegen ging sie im Landtag in den Ausschuss für Ernährung, der gleichzeitig auch der Landwirtschaftsausschuss ist. “In den fünf Jahren im Landtag habe ich immer wieder mit Brüssel telefoniert”, sagt sie. “Ich hatte mir nicht vorgenommen, europäische Politik zu machen, aber in der Zeit wurde mir klar: Der Agrar-Bär steppt in Brüssel.” 2014 wurde sie erstmals ins EP gewählt.

Soziale Konditionalität der GAP

In der aktuellen Agrarreform hat Noichl für einen Coup gesorgt. Sie wollte die Zahlungen an Landwirte an soziale Mindeststandards koppeln, die sogenannte soziale Konditionalität einführen. “Mir ging es darum, faire Arbeitgeber:innen in der Landwirtschaft vor Dumping zu schützen”, sagt Noichl. “Ich habe einen Änderungsantrag geschrieben, der mit dummem Lachen im Ausschuss abgelehnt wurde.” Auch von ihrer eigenen Fraktion. Im Plenum brachte sie den Antrag erneut ein, hier fand er eine knappe Zustimmung, ab 2025 gilt der Mechanismus EU-weit. “Das ist mein größter Erfolg.”

Anfang Juni hat sie den europäischen Dachverband für Landschaftspflege, Landcare Europe, mitgegründet. Ziel des Vereins ist, Landwirten eine zweite Einnahmequelle neben dem Produktverkauf zu generieren. Als “Öko-Dienstleister” sollen Landwirt:innen auch für Umweltschutz auf den Flächen finanziert werden. “Ich stelle mir das vor wie eine Preisliste im Restaurant, dass Landwirt:innen wissen, wie viel Geld sie für welches Projekt bekommen.”

Dann wäre es eine betriebswirtschaftliche Entscheidung, ob Landwirt:innen beispielsweise ein weiteres Rapsfeld anlegen oder ein Feldlerchenprojekt unterstützen. Dafür müsse die Gesellschaft bereit sein, zu zahlen. “Der Gesellschaft ist es auch wert, dass der Marktplatz schön gepflastert wird”, sagt Noichl. “Dann kann es uns auch wert sein, wenn Landwirt:innen mehr für Biodiversität und Klimaschutz tun.”

Verbot der Prostitution

Noichl ist zudem gleichstellungspolitische Sprecherin der S&D-Fraktion. Sie ist Anhängerin des Nordischen Modells bei Prostitution, das ein Verbot vorsieht, dabei aber nicht Prostituierte, sondern Freier bestrafen will. “Es kann in Deutschland nicht so weitergehen. Wir sind der Puff Europas”, sagte sie. Bisher geschehe zu wenig, um überhaupt die Nachfrage von Prostitution zu senken: Werbung ist erlaubt, Prostitution auf der Straße oder im Auto ebenso.

Im September steht der Bericht über Regulierung der Prostitution in der EU zur Abstimmung im EP. Noichl ist die Berichterstatterin. “Da geht es um eine Positionierung, für welches Europa wir stehen”, sagt sie. “Prostitution verstößt gegen Frauenrechte.” Tom Schmidtgen

  • Agrarpolitik
  • GAP-Reform
  • SPD

Dessert

Giorgia Meloni, Ministerpräsidentin von Italien und Chefin der Fratelli d’Italia, bleibt an der Spitze der europäischen Parteienfamilie EKR (Europäische Konservative und Reformer). Sie ließ sich vor wenigen Tagen vom Führungsgremium der Partei bei einem Treffen in Rom in der Funktion bestätigen. Bis zur Europawahl im Juni wolle sie das Amt ausüben, ließ sie mitteilen.

Die Entscheidung ist interessant im Hinblick auf Ambitionen von Manfred Weber, Partei- und Fraktionschef der EVP. Weber spekuliert darauf, nach den Wahlen mit Teilen der EKR-Fraktion im Parlament zu kooperieren oder einzelne Mitgliedsparteien aus der EKR-Fraktion zu lösen und für eine Mitgliedschaft in der EVP zu gewinnen.

Dass Meloni nun weitermacht, wird als Signal gewertet: Sie will, dass die EKR-Fraktion eigenständig bleibt, und weiß sich gegen Übernahmeversuche der Christdemokraten zu wappnen. Markus Grabitz

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  • EVP
  • Giorgia Meloni
  • Manfred Weber

Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

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    Emmanuel und Brigitte Macron kommen also für drei Tage nach Deutschland und werden dabei Station machen in Ludwigsburg, Berlin und Dresden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender begleiten das Präsidentenpaar. Der Anlass: Im sechzigsten Jahr des Élysée-Vertrags wollen beide Länder ihre enge Freundschaft zueinander würdigen. Neben Besuchen von Sehenswürdigkeiten wie etwa Schillers Geburtshaus in Marbach stehen auch Treffen mit Jugendlichen auf dem Programm.

    Höhepunkt der Reise soll sein, wenn Macron am Dienstag nach einem gemeinsamen Gang durch die Dresdener Altstadt auf dem Neumarkt vor der Frauenkirche eine Rede hält. Es soll eine wichtige Rede werden, heißt es in Berlin. Die Bedeutung der gegenseitigen Beziehungen in Vergangenheit und Zukunft soll in ihrem Mittelpunkt stehen. Soyez le bienvenu, Monsieur le Président.

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    Markus Grabitz
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    EU-Gipfel sagt Ukraine weitere Hilfen zu

    Die Sicherheitszusagen für die Ukraine stießen am EU-Gipfel auf Vorbehalte der neutralen Mitgliedstaaten. Österreich werde weitreichenden Sicherheitsgarantien für die Ukraine nicht zustimmen, sagte Bundeskanzler Karl Nehammer beim Auftakt des EU-Gipfels in Brüssel. Auch Irland, Zypern und Malta hätten als neutrale Staaten Bedenken angemeldet, betonte der Österreicher.

    Der Protest dürfte hauptsächlich für das heimische Publikum gedacht gewesen sein. Tatsächlich war auch in früheren Entwürfen der Gipfelschlussfolgerungen nicht etwa von einer Beistandspflicht die Rede, sondern recht vage von “security committments”.

    Insbesondere Frankreich und einigen osteuropäischen Staaten war der Absatz in den Schlussfolgerungen ein Anliegen: “Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten sind bereit, sich zusammen mit Partnern an zukünftigen Sicherheitszusagen gegenüber der Ukraine zu beteiligen“, heißt es in den Schlussfolgerungen. Mit Partnern sind die Nato, beziehungsweise ihre Mitgliedstaaten gemeint.

    Versorgung mit Finanzmitteln, Munition und Kriegsgerät

    Diese Zusagen sollen der Ukraine helfen, “sich langfristig selbst zu verteidigen, Angriffshandlungen abzuwenden und Destabilisierungsversuchen standzuhalten”. Diese Zusagen erfolge unter “uneingeschränkter Achtung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten und unter Berücksichtigung der Sicherheits- und Verteidigungsinteressen aller Mitgliedstaaten”.

    Es gehe darum, eine längerfristige und kontinuierliche Versorgung der Ukraine mit Finanzmitteln, Munition und Kriegsgerät zur Verteidigung sicherzustellen, präzisierten Diplomaten am Rande des Gipfels. Dies insbesondere, um die Zeit bis zu einem späteren Beitritt der Ukraine zur EU beziehungsweise zur Nato zu überbrücken. Stabilität und eine klare Perspektive für die Ukraine seien auch im Interesse der EU-Staaten.

    Die Modalitäten sollen nun noch definiert werden. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg war zu Beginn des EU-Gipfels auch eingeladen: “Wir sind uns einig, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses werden wird“, sagte Stoltenberg bei der Ankunft an der Seite von EU-Ratspräsident Charles Michel. Man sei sich auch einig, dass es nicht an Russland, sondern an der Ukraine und an den Nato-Verbündeten sei, den genauen Zeitpunkt für eine volle Einladung auszusprechen.

    Diskussion über russische Vermögenswerte

    Die Staats- und Regierungschefs diskutierten auch über die Nutzung der eingefrorenen Gelder der russischen Zentralbank und von Oligarchen für den Wiederaufbau der Ukraine, allerdings ohne zu Ergebnissen zu kommen. Vielmehr ersuchten sie Rat und Kommission in der Abschlusserklärung, die Arbeit daran “im Einklang mit dem Unionsrecht und dem Völkerrecht und in Abstimmung mit Partnern weiter voranzubringen”.

    Die baltischen Staaten und einige andere drängen darauf, die beschlagnahmten Mittel einzusetzen: “Wir müssen eine Rechtsgrundlage finden, um diese Vermögenswerte zu nutzen, damit Russland für den Schaden aufkommen kann, den es in der Ukraine verursacht”, sagte etwa der lettische Ministerpräsident Krišjānis Kariņš. Berlin und andere Hauptstädte sind aber zurückhaltend. Sie betonen, dafür brauche es eine feste rechtliche Grundlage. Auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat die Kommission hinter den Kulissen davor gewarnt, darüber die Rolle des Euro als internationale Reservewährung zu gefährden.

    Zinseinnahmen im Fokus

    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen treibt die Initiative aber energisch voran – sie will dem Vernehmen nach bis Ende Juli einen konkreten Vorschlag vorlegen. Der juristische Dienst der Behörde hat dem Vernehmen nach ein Papier zu den rechtlichen Fragen erarbeitet.

    Die Diskussion dreht sich weniger um die Nutzung der eingefrorenen russischen Vermögenswerte selbst. Vielmehr wird nach Wegen gesucht, die anfallenden Erträge abzuschöpfen. Einige Mitgliedstaaten schlagen ein Modell vor, über eine Sonderabgabe die Zinseinnahmen einzuziehen, die insbesondere die belgische Clearinggesellschaft Euroclear mit festgesetzten russischen Vermögenswerten im Wert von knapp 200 Milliarden Euro erzielt. Dies könnte rund drei Milliarden Euro pro Jahr einbringen.

    Ungarn und Polen blockieren Migrationsdebatte

    Für erhitzte Debatten ohne Einigung in der Nacht sorgte die Asylpolitik, die Diskussion soll nun am heutigen Freitag fortgesetzt werden. Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki hatte schon vor seiner Reise nach Brüssel angekündigt, dass er ein Veto gegen den Solidaritätsmechanismus einlegen wolle, den die EU-Innenminister kürzlich als Teil des Asylkompromisses beschlossen hatten. “Die PiS-Regierung wird mit Sicherheit keinen Experimenten und keiner Erpressung in Bezug auf die Aufnahme illegaler Einwanderer zustimmen”, sagte er.

    Morawiecki und sein ungarischer Amtskollege Viktor Orbán blockierten die entsprechenden Schlussfolgerungen des EU-Gipfels. Darin wurde der mit qualifizierter Mehrheit beschlossene Asylpakt zwar nicht explizit erwähnt. Polen und Ungarn wollten jedoch erreichen, dass der Europäische Rat, in dem das Prinzip der Einstimmigkeit gilt, das letzte Wort in der Migrationspolitik behält. In der Migrationspolitik solle nur nach dem Konsensprinzip entschieden werden, hieß es in einem polnischen Textvorschlag. Jedes EU-Land solle selbst darüber entscheiden, wie es Länder mit besonders hohem Migrationsaufkommen unterstützt.

    Demgegenüber betonte Bundeskanzler Olaf Scholz, dass im Rat der Innenminister bereits Entscheidungen getroffen worden seien. Der vereinbarte Solidaritätsmechanismus sei ein Durchbruch und etwas, das man schon lange zuvor gebraucht hätte, sagte der SPD-Politiker.

    Der neu gewählte griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis rief die EU nach dem Kentern eines überfüllten Flüchtlingsschiffs mit hunderten Toten auf, ihren Kampf gegen Menschenschlepper zu verstärken. Dafür müsse die EU Abkommen mit nordafrikanischen Ländern schließen. Ein Abkommen mit Tunesien ist bereits geplant, jedoch noch nicht fertig ausverhandelt. Eric Bonse, Till Hoppe und Stephan Israel

    • EU-Gipfel
    • Europapolitik

    BASF in Schwarzheide: Strategisches Batterieprojekt für die EU

    Die neue Fabrik für Batteriematerial auf dem BASF-Werksgelände in Schwarzheide.

    Eine lange Kolonne schwarzer Limousinen überquerte gestern Mittag das BASF-Werksgelände in Brandenburg und hielt neben einem weißen Festzelt. Der Vizepräsident der EU-Kommission Maroš Šefčovič, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke – sie alle kamen zur Einweihung der neuen Fabrik für Kathodenmaterial in Schwarzheide und betonten die strategische Bedeutung des Projekts für die Region, für Deutschland, für die EU.

    Die Anlage in der Lausitz ist die erste Produktionsanlage für Kathodenmaterial in Deutschland und die zweite in Europa. Der belgische Konzern Umicore hatte im vergangenen Jahr das erste Werk im polnischen Nysa eingeweiht. Nach dem zweijährigen Bau läuft in Schwarzheide ab sofort die Produktion für eine Bemusterung bei Kunden; ab 2025 soll die Massenproduktion beginnen. Dann sollen Vorprodukte aus einer weiteren neuen Anlage am BASF-Standort Harjavalta in Finnland verwendet werden. Beide Anlagen werden mit Beihilfen im Rahmen der Important Projects of Common European Interest (IPCEI) gefördert.

    In Schwarzheide könnten jährlich Materialien für Lithium-Ionen-Batterien für etwa 400.000 elektrische Fahrzeuge produziert werden. Für mehrere Jahre sei das Produkt bereits ausverkauft, hieß es während der Veranstaltung. Auch aus Gründen der Nähe zu Kunden habe BASF sich für den Standort Schwarzheide entschieden. Wer diese seien, könne jedoch aus wettbewerbsrechtlichen Gründen nicht genannt werden. In Brandenburg entsteht zurzeit ein Industrie-Cluster für die gesamte Wertschöpfungskette von Batterien.

    CO₂-Fußabdruck für Batterien und E-Fahrzeuge senken

    “Das Kathodenmaterial ist entscheidend für fast alle Eigenschaften einer Automobilbatterie“, erklärte Peter Schuhmacher, Leiter des Unternehmensbereichs Battery Materials bei BASF. Dazu gehörten etwa die Sicherheit und die Energiedichte und Reichweite des Fahrzeuges. Vor allem aber habe es einen enormen Einfluss auf den CO₂-Fußabdruck bei der Herstellung von Elektrofahrzeugen. “Wenn wir nicht wollen, dass bei der Transformation vom Verbrennungsmotor zu Elektromobilität der CO₂-Fußabdruck einfach nur vom Auspuff des Verbrenners in die Herstellungskette der Batteriematerialien verschoben wird, müssen wir beim Kathodenmaterial ansetzen”, sagte er.

    BASF hat sich Netto-Null-Emissionen bis 2050 als Ziel gesetzt. Den Strom für die Produktion am Standort Schwarzheide bezieht das Unternehmen mittlerweile zu zehn Prozent aus einem eigenen Solarpark auf dem Werksgelände.

    Am selben Standort baut BASF zurzeit auch eine Recyclinganlage für Batterien zur Herstellung von schwarzer Masse. Der Fokus liege hier auf einer besonders nachhaltigen Produktion durch die Integration von Erneuerbaren Energien am Standort und einer hohen Energieeffizienz, erklärte der Konzern. Bis Ende 2023 sollen hier Verfahren entwickelt werden, um eine höhere Rückgewinnung von Lithium, Nickel, Kobalt und Mangan aus ausgedienten Lithium-Ionen-Batterien zu erreichen. Gleichzeitig können dann auch Metalle aus Produktionsausschuss von Zellherstellern und Herstellern von Batteriematerialien recycelt werden.

    “Europa riskiert, Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren”

    Der Europäische Rechnungshof hatte erst vergangene Woche in einem Sonderbericht auf die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der EU-Batterieindustrie hingewiesen. Im globalen Maßstab werden nur 7 Prozent der Batterien in der EU produziert; China ist laut dem Rechnungshof mit 76 Prozent der weltweiten Kapazität weiterhin der größte Hersteller.

    Die Produktion in der EU wachse zwar derzeit so schnell, dass sie durchaus 2025 die eigene Nachfrage decken könnte. Doch die Prognosen für 2030 sind laut den Prüfern des Rechnungshofs höchst hypothetisch, da externe Faktoren die Investitionspläne privater Unternehmen noch umkehren könnten: Die ohnehin schon hohen EU-Batteriepreise könnten durch die Energiekosten und die schwankenden Rohstoffpreise noch mehr ansteigen. Dazu kommen massive Subventionsprogramme in anderen Weltregionen wie den USA.

    Dies beklagte gestern auch Martin Brudermüller, Vorstandsvorsitzender von BASF. Mit dem Inflation Reduction Act geben die USA ihrer Industrie Rückenwind, sagte er. “Solch eine Art von Förderung spielt eine wichtige Rolle bei Investitionsentscheidungen bei unseren Kunden, aber auch bei uns.” Europa riskiere stattdessen aufgrund der “Flut an Regulierungen” des Green Deal, seine Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren.

    Kritik an BASF-Investitionen in China

    Brudermüller war zuletzt wegen massiver Investitionen in den BASF-Standort Zhanjiang in China kritisiert worden. Gestern betonte er, die Batterie-Anlagen in Schwarzheide “unterstreichen, dass wir als BASF an die Zukunft der chemischen Industrie in Europa und in Deutschland glauben und in innovative Produkte und Dienstleistungen für unsere Kunden in unserem Heimatmarkt investieren”. Damit produziert BASF nun Batteriematerialien auf allen drei Kernmärkten: in Asien, Nordamerika und Europa.

    EU-Kommissar Maroš Šefčovič ist zuversichtlich: Im vergangenen Jahr habe die EU bei den Investitionen in Batterietechnik bereits China überholt, sagte er kürzlich der “Welt am Sonntag”. Über die Europäische Batterie-Allianz sei es gelungen, 180 Milliarden Euro an privaten Investitionen in den europäischen Batteriesektor zu holen, dreieinhalbmal mehr als in China, sagte er gestern in Schwarzheide.

    Industrie, Wissenschaft, EU-Kommission und Mitgliedstaaten hatten 2017 die Europäische Batterie-Allianz gegründet. Sie zählt über 800 Mitglieder, neben BASF auch BMW, Volkswagen, Bosch und Siemens. Das Ziel: eine starke europäische Batterieindustrie mit einem jährlichen Marktwert von 250 Milliarden Euro ab 2025. Die Plattform wird von der Europäischen Investitionsbank (EIB) gefördert.

    Massive Förderung, fehlender Überblick

    Auch durch zwei Förderprogramme für IPCEI wird die Batterie-Branche unterstützt. Insgesamt nehmen über fünfzig Unternehmen aus zwölf Mitgliedstaaten daran teil, darunter 13 Unternehmen aus Deutschland. Die EU-Mitgliedstaaten haben insgesamt Beihilfen in Höhe von sechs Milliarden Euro gezahlt, unter der Bedingung, dass weitere 14 Milliarden Euro von privaten Investoren kommen. Anfang des Jahres hatte das Bundeswirtschaftsministerium angekündigt, das von Deutschland koordinierte zweite Batterie-IPCEI zu erweitern und Beihilfen in Höhe von einer Milliarde Euro für weitere strategische Großprojekte zu zahlen.

    Auch das nun in Betrieb genommene Werk in Schwarzheide profitierte: 550 Millionen Euro hat der Bau der Anlage gekostet, 175 Millionen davon haben im Rahmen des ersten Batterie-IPCEI der Bund und das Land Brandenburg zu 70 beziehungsweise 30 Prozent übernommen. Den Rest investierte BASF selbst.

    Der Europäische Rechnungshof bewertet die Bereitstellung von Finanzmitteln in der EU in seinem Bericht positiv. Allerdings fehle der Kommission der Überblick über die verschiedenen Finanzströme. Dadurch sei es schwierig, die Finanzierung richtig zu koordinieren und gezielt einzusetzen. Hinzu kommt laut dem Bericht, dass die Regeln für die einzelnen Finanzierungsströme so weit gefasst seien, dass es zu Überschneidungen kommen könne. Die Mittel seien zudem ungleich verteilt: 83 Prozent der genehmigten staatlichen Beihilfen entfielen auf Deutschland, Frankreich und Italien.

    • IPCEI

    EU-Monitoring

    03.07.2023 – 15:00-18:00 Uhr
    Sitzung des Ausschusses für Recht (JURI)
    Themen: Berichtsentwurf zum rechtlichen Schutz von Designs (Neufassung), politische Auswirkungen der Entwicklung virtueller Welten – zivil-, gesellschafts- und handelsrechtliche Fragen sowie Fragen des geistigen Eigentums, Aktienstrukturen mit Mehrfachstimmrechten in Unternehmen, die die Zulassung ihrer Aktien zum Handel auf einem KMU-Wachstumsmarkt anstreben. Vorläufige Tagesordnung

    04.07.2023
    EuGH-Urteil zur Zusammenführung von Nutzerdaten aus verschiedenen Quellen
    Themen: Mit Entscheidung vom 6. Februar 2019 untersagte das deutsche Bundeskartellamt Facebook (jetzt Meta Platforms), Nutzerdaten aus verschiedenen Quellen zusammenzuführen. Facebook hat diese Entscheidung vor dem OLG Düsseldorf angefochten. Nun hat das OLG Düsseldorf dem EuGH eine Reihe von Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: zur Befugnis des Bundeskartellamts, im Bereich des Datenschutzes tätig zu werden, sowie zur Vereinbarkeit der Verarbeitung personenbezogenen Daten mit der Datenschutzgrundverordnung. Schlussanträge

    04.07.2023
    EuGH-Verhandlung zur Verwertbarkeit von EncroChat-Daten in Strafverfahren
    Themen: Die Ermittlungsbehörden verschiedener EU-Mitgliedstaaten haben auf europäischer Ebene zusammengearbeitet, um den als besonders abhörsicher geltenden Kommunikationsdienst EncroChat zu zerschlagen. Es bestand der Verdacht, dass er für die Begehung von Straftaten im Betäubungsmittelbereich genutzt wurde. Das mit der Sache befasste Landgericht Berlin möchte vom Gerichtshof wissen, ob die deutschen Ermittlungsbehörden bei der Erlangung der Daten gegen die EU-Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen verstoßen haben. Vorabentscheidungsersuchen

    05.07.2023
    Wöchentliche Kommissionssitzung
    Themen: Paket für Lebensmittel und biologische Vielfalt (Bodenschutzrecht, Regulierung von Pflanzen, die mit neuen genomischen Techniken erzeugt wurden, Überarbeitung der Aspekte Lebensmittelabfälle und Textilien der EU-Abfallrahmenrichtlinie, Überarbeitung der Rechtsvorschriften über Saatgut und anderes pflanzliches und forstliches Vermehrungsmaterial), Jahresbericht 2023 zur Rechtsstaatlichkeit, Reaktion auf die europäische Bürgerinitiative “Stop Finning – Stop the Trade!” Vorläufige Tagesordnung

    News

    eID: Die europäische digitale Identität kommt

    Das Parlament und der Rat haben sich im Trilog über die Kernelemente einer neuen europäischen digitalen Identität (eID) geeinigt. Die eID soll es den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, sich bei digitalen Verwaltungsgängen, Bankgeschäften, Arztbesuchen, Alterskontrollen und beim Internet-Shopping mittels der digitalen Börse (European Digital Identity Wallet) auszuweisen.

    Eine europäische digitale Identitätsbörse sei unverzichtbar, da immer mehr Menschen sich bei Behörden und Unternehmen ausweisen oder ihre Zugangsdaten bereithalten müssten, sagte Schwedens Minister für öffentliche Verwaltung, Erik Slottner. “Auf diese Weise sollten bis 2030 mindestens 80 Prozent der EU-Bürger in der Lage sein, eine digitale ID-Lösung für den Zugang zu wichtigen öffentlichen Diensten zu nutzen.”

    Der Rechtstext wird nun im Einklang mit der politischen Einigung vervollständigt und den Vertretern der Mitgliedstaaten (AStV) zur Billigung vorgelegt. Dann muss die überarbeitete Verordnung von Parlament und Rat angenommen werden, bevor sie in Kraft tritt.

    eco: Es sollte nicht nur eine staatliche Lösung geben

    Der Verband der Internetwirtschaft eco begrüßte die europäische Initiative für ein ID-Wallet, da ein zuverlässiges und sicheres Ökosystem digitaler Identitäten wichtig für den digitalen Binnenmarkt und vielen digitalen Geschäftsmodellen ist.

    Die EU müsse die Mitgliedstaaten anhalten, Lösungen digitaler Identitäten wie ID-Wallets so anzubieten, dass sie für Nutzer attraktiv und überzeugend sind, sagte eco-Vorstand Norbert Pohlmann. Für einen erfolgreichen Wettbewerb sollte sich die EU dafür einsetzen, dass mehrere zertifizierte Wallets nebeneinander existieren. “Von einer rein staatlichen Lösung ist unbedingt abzusehen.”

    Eine Mehrheit der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger (58 Prozent) würde Personalausweis oder Führerschein, aber auch andere Dokumente wie die Gesundheitskarte oder Zeugnisse, gerne auf dem Smartphone speichern. Das ergab eine aktuelle Umfrage des Digitalverbands Bitkom. Zwei Drittel der Smartphone-Nutzerinnen und -Nutzer (65 Prozent) würden dabei eine Lösung bevorzugen, wo alle Dokumente in einer Wallet abgelegt werden. vis

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    Presseschau

    Österreich verweigert Zustimmung: EU gibt Ukraine vorerst keine Sicherheitsgarantien TAGESSPIEGEL
    EU-Staaten besorgt nach Wagner-Revolte ZDF
    Polen droht mit Veto gegen EU-Asylreform WELT
    EU looks to Egypt partnership to tackle people-smuggling networks THEGUARDIAN
    Selenskyj-Vertrauter wirft Orban Nähe zu Russland vor und nennt ihn “Agenten” RND
    EU to propose exit from Energy Charter Treaty over climate concerns REUTERS
    EU-Parlament und Rat einig: Online-Ausweis kommt ohne ständige Personenkennung HEISE
    EU-Parlament: Ausschuss will Chatkontrolle an vier Stellen stutzen NETZPOLITIK
    Digitalminister Wissing zufrieden mit EU-Einigung zur Nutzung von Daten HANDELSBLATT
    Rechnungshof hält geplante EU-Schuldenregeln für zu lax FAZ
    Forderung nach EU-weiter Regulierung von Online-Influencern EURACTIV
    Belgien: Atomkraftwerke Doel und Tihange laufen zehn Jahre länger als geplant WELT
    Dänemark will Milliarden in Verteidigung investieren RND
    EU-Risikowächter: Gefahren für Finanzsystem weiterhin groß HANDELSBLATT
    Wettbewerbsverzerrung durch App-Regeln: Apple will angeblich nicht einlenken HEISE
    Weniger Entschädigung und mehr Rechte: Was bedeuten die neuen EU-Eisenbahnvorschriften? EURONEWS
    Zahlungsdienste: EU-Kommission will Betrug stärker bekämpfen EURACTIV

    Heads

    Maria Noichl – Für die Agrarpolitik nach Brüssel

    Maria Noichl, Mitglied im Europäischen Parlament für die SPD, sitzt in den Ausschüssen für Landwirtschaft und für die Rechte von Frauen.

    Maria Noichl ist eine Quereinsteigerin im Brüsseler Betrieb. Geplant hat sie ihre Karriere als Europapolitikerin nicht. Und dennoch ist die 56-Jährige mittlerweile eine einflussreiche Abgeordnete für die Landwirtschaft und die Rechte von Frauen geworden. 

    Noichl wuchs in Aising bei Rosenheim auf, ihr Vater war Gemeinderat bei der CSU. “Er war typisch bayerisch, ein liebenswerter Strauß-Verschnitt”, sagt Noichl im Gespräch. Mit 17 Jahren wurde Noichl unverheiratet schwanger. Dafür wurde sie im konservativen Bayern geächtet. “Im kirchlichen Jugendchor gab es eine Sondersitzung, in der es hieß: Wenn so etwas noch einmal passiert, wird der Chor aufgelöst.” Kurze Zeit später trat Noichl aus der katholischen Kirche aus, gläubig ist sie bis heute. 

    “Immer wieder mit Brüssel telefoniert”

    Zur SPD kam Noichl über einen offenen Gesprächskreis der SPD-Frauen in Rosenheim. “Ich war fasziniert, wie die gesprochen haben, wie die argumentiert haben und wie sie Probleme benannt haben”, sagt Noichl. “Das war so ganz anders als ich es von zu Hause kannte.” 1991 trat sie in die SPD ein, wurde Stadträtin in Rosenheim. 2008 bis 2013 war sie Abgeordnete im Bayerischen Landtag. Seit 2018 ist Noichl Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen.

    Noichl hat nach der Geburt ihres zweiten Sohnes das Fachabitur über den zweiten Bildungsweg nachgeholt, wurde Fachlehrerin für Ernährung und Gestaltung. Deswegen ging sie im Landtag in den Ausschuss für Ernährung, der gleichzeitig auch der Landwirtschaftsausschuss ist. “In den fünf Jahren im Landtag habe ich immer wieder mit Brüssel telefoniert”, sagt sie. “Ich hatte mir nicht vorgenommen, europäische Politik zu machen, aber in der Zeit wurde mir klar: Der Agrar-Bär steppt in Brüssel.” 2014 wurde sie erstmals ins EP gewählt.

    Soziale Konditionalität der GAP

    In der aktuellen Agrarreform hat Noichl für einen Coup gesorgt. Sie wollte die Zahlungen an Landwirte an soziale Mindeststandards koppeln, die sogenannte soziale Konditionalität einführen. “Mir ging es darum, faire Arbeitgeber:innen in der Landwirtschaft vor Dumping zu schützen”, sagt Noichl. “Ich habe einen Änderungsantrag geschrieben, der mit dummem Lachen im Ausschuss abgelehnt wurde.” Auch von ihrer eigenen Fraktion. Im Plenum brachte sie den Antrag erneut ein, hier fand er eine knappe Zustimmung, ab 2025 gilt der Mechanismus EU-weit. “Das ist mein größter Erfolg.”

    Anfang Juni hat sie den europäischen Dachverband für Landschaftspflege, Landcare Europe, mitgegründet. Ziel des Vereins ist, Landwirten eine zweite Einnahmequelle neben dem Produktverkauf zu generieren. Als “Öko-Dienstleister” sollen Landwirt:innen auch für Umweltschutz auf den Flächen finanziert werden. “Ich stelle mir das vor wie eine Preisliste im Restaurant, dass Landwirt:innen wissen, wie viel Geld sie für welches Projekt bekommen.”

    Dann wäre es eine betriebswirtschaftliche Entscheidung, ob Landwirt:innen beispielsweise ein weiteres Rapsfeld anlegen oder ein Feldlerchenprojekt unterstützen. Dafür müsse die Gesellschaft bereit sein, zu zahlen. “Der Gesellschaft ist es auch wert, dass der Marktplatz schön gepflastert wird”, sagt Noichl. “Dann kann es uns auch wert sein, wenn Landwirt:innen mehr für Biodiversität und Klimaschutz tun.”

    Verbot der Prostitution

    Noichl ist zudem gleichstellungspolitische Sprecherin der S&D-Fraktion. Sie ist Anhängerin des Nordischen Modells bei Prostitution, das ein Verbot vorsieht, dabei aber nicht Prostituierte, sondern Freier bestrafen will. “Es kann in Deutschland nicht so weitergehen. Wir sind der Puff Europas”, sagte sie. Bisher geschehe zu wenig, um überhaupt die Nachfrage von Prostitution zu senken: Werbung ist erlaubt, Prostitution auf der Straße oder im Auto ebenso.

    Im September steht der Bericht über Regulierung der Prostitution in der EU zur Abstimmung im EP. Noichl ist die Berichterstatterin. “Da geht es um eine Positionierung, für welches Europa wir stehen”, sagt sie. “Prostitution verstößt gegen Frauenrechte.” Tom Schmidtgen

    • Agrarpolitik
    • GAP-Reform
    • SPD

    Dessert

    Giorgia Meloni, Ministerpräsidentin von Italien und Chefin der Fratelli d’Italia, bleibt an der Spitze der europäischen Parteienfamilie EKR (Europäische Konservative und Reformer). Sie ließ sich vor wenigen Tagen vom Führungsgremium der Partei bei einem Treffen in Rom in der Funktion bestätigen. Bis zur Europawahl im Juni wolle sie das Amt ausüben, ließ sie mitteilen.

    Die Entscheidung ist interessant im Hinblick auf Ambitionen von Manfred Weber, Partei- und Fraktionschef der EVP. Weber spekuliert darauf, nach den Wahlen mit Teilen der EKR-Fraktion im Parlament zu kooperieren oder einzelne Mitgliedsparteien aus der EKR-Fraktion zu lösen und für eine Mitgliedschaft in der EVP zu gewinnen.

    Dass Meloni nun weitermacht, wird als Signal gewertet: Sie will, dass die EKR-Fraktion eigenständig bleibt, und weiß sich gegen Übernahmeversuche der Christdemokraten zu wappnen. Markus Grabitz

    • EKR
    • EVP
    • Giorgia Meloni
    • Manfred Weber

    Europe.Table Redaktion

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