Table.Briefing: Europe

Gesetze auf der Zielgeraden + Zyperns Rolle im Libanon-Deal + Von der Leyen in Hannover

Liebe Leserin, lieber Leser,

die Erleichterung über das grüne Licht in Washington für neue Milliardenhilfen an die Ukraine dürfte groß sein, wenn heute die Außen- und Verteidigungsminister der EU zusammenkommen. Es ist noch einmal gut gegangen, denn ohne Amerikaner wäre die Ukraine wohl verloren. Mit dem 60 Milliarden Dollar schweren Hilfspaket der USA sind die Europäer allerdings nicht aus der Pflicht. Beim Jumborat in Luxemburg wird es darum gehen, was die EU-Staaten nun noch mehr tun können.

Immerhin gibt es auch aus Europa positive Nachrichten. “Ich erwarte bald neue Ankündigungen für Luftverteidigungsfähigkeiten für die Ukraine”, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag nach einem Krisentreffen. Zwei oder drei Länder dürften in den nächsten Tagen dem Beispiel Deutschlands folgen und der Ukraine weitere Luftabwehr-Systeme zur Verfügung stellen. Regierungschef Mark Rutte hat signalisiert, dass die Niederlande ebenfalls Patriots abgeben und zusätzlich Systeme von anderen Staaten aufkaufen könnten. Neben den Patriots könnte es auch um das französisch-italienische Abwehrsystem Aster SAMP/T gehen. Außenminister Dmytro Kuleba, der heute zusammen mit Verteidigungsminister Rustem Umjerow in Luxemburg per Video zugeschaltet sein wird, hat den Bedarf auf mindestens sieben Systeme beziffert.

Beim Mittagessen werden die Außen- und Verteidigungsminister die Diskussion zu neuen Iran-Sanktionen vom Gipfel fortführen. Aus Berlin reisen Annalena Baerbock und Staatssekretärin Siemtje Möller an. Der eine oder andere Minister dürfte monieren, weshalb die Dienste des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell so lange brauchen, um Entscheidungsgrundlagen vorzubereiten. Geplant ist, das Sanktionsregime gegen Drohnen um Raketen zu ergänzen und geographisch auf Irans Proxys vom Libanon über Jemen bis in den Irak und Syrien zu ergänzen. Rechtstexte sollen heute noch keine vorliegen. Im Idealfall klappt es mit einer politischen Einigung, doch auch die ist dem Vernehmen nach nicht garantiert.

Ihr
Stephan Israel
Bild von Stephan  Israel

Analyse

Letzte Abstimmungswoche im EU-Parlament: Diese Gesetze sollen noch fertig werden

Ob Mikroplastik, grüne Industrien oder der Binnenmarkt – die verschiedensten Themen stehen in dieser Woche im Europaparlament in Straßburg zur Abstimmung.

Von Agrarpolitik bis zur Industrie- und Nachhaltigkeitspolitik – die Liste der Abstimmungen in der letzten Sitzungswoche des Parlaments ist lang. Auf der Agenda stehen jedoch auch Dossiers, die in der neuen Legislatur weiterverhandelt werden müssen.

  • GAP-Lockerungen (Donnerstag)

Die Zustimmung zu den Entlastungsvorschlägen der Kommission gilt als relativ sicher. Ein Gutachten des juristischen Ausschusses im Parlament, das der Umweltausschuss angefordert hatte, steht dem nicht im Weg: Der Dienst hat rechtlich nichts zu beanstanden. Spannend wird, ob Änderungsanträge durchkommen. Dann müssten die Mitgliedstaaten diese wortgleich akzeptieren, damit die Verabschiedung vor der Wahl möglich ist. Wahrscheinlichstes Szenario aber: Das Plenum stimmt ohne Änderungen zu, das Dossier wird rechtzeitig zum Wahlkampf verabschiedet.

  • Ukraine-Handelserleichterungen, (Dienstag)

Das Thema ist umstritten, trotzdem ist die Zustimmung des Parlaments zur Trilogeinigung wahrscheinlich, weil es die letzte Chance ist, die Handelserleichterungen für die Ukraine zu verlängern. Die Forderung des Parlaments, Schutzmaßnahmen auch für Getreide zu erlassen, ist zwar nicht Teil der Einigung. An anderer Stelle wurden Schutzmaßnahmen für Agrarprodukte aber auf Drängen mehrere Mitgliedstaaten noch einmal ausgeweitet. Das dürfte es Kritikern des Freihandels – vor allem Agrarpolitikern und Abgeordneten aus Ukraine-Anrainerstaaten – erleichtern zuzustimmen.

  • Neue Züchtungstechniken (Mittwoch)

Das Parlament hatte seine Verhandlungsposition im Januar angenommen. Mit einer erneuten Abstimmung soll diese festgezurrt werden und müsste so nicht mehr nach der EU-Wahl bestätigt werden. Davon, dass das gelingt, ist auszugehen. Aufseiten der Mitgliedstaaten ist weiter keine Einigung in Sicht.

  • Förderung der Reparatur von Waren (Recht auf Reparatur)

Das Parlament stimmt am Montag über das Trilogergebnis zum Recht auf Reparatur ab. Es wird mit einer großen Mehrheit gerechnet. Anschließend müssen auch noch die Mitgliedstaaten das Ergebnis annehmen. Im Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) ist dies für den 15. Mai vorgesehen; am 23. Mai sollen dann die Verbraucherschutzminister im Rat für Wettbewerbsfähigkeit abstimmen.

  • Reform der Schuldenregeln (Dienstag)

Nach langen Verhandlungen im Rat und zuletzt zwischen Rat und Parlament muss das Parlament nun über das ausgehandelte Trilogergebnis abstimmen. Die EVP, Renew und eine Mehrheit der Sozialdemokraten wird dem Kompromiss zu den neuen europäischen Schuldenregeln wahrscheinlich zustimmen. Die Linksfraktion und die Grünen werden sie ablehnen, da die durch die Regeln ausgelösten Ausgabenreduktionen der Mitgliedstaaten grüne Investitionen treffen könnten. Die beiden rechten Fraktionen werden ebenfalls Nein sagen. Erwartet wird aktuell, dass eine Mehrheit zustimmen wird, aber groß wird die Marge nicht sein.

  • Vermeidung der Freisetzung von Kunststoffgranulat (Dienstag)

Die EU will die Freisetzung von Mikroplastik in die Umwelt bis 2030 um 30 Prozent reduzieren. Dazu soll auch der Gesetzesvorschlag beitragen, den die EU-Kommission im Oktober vorgestellt hat. Demnach sollen für alle Akteure, die mit Kunststoffpellets umgehen, Verpflichtungen gelten. Im Detail: Verluste zu vermeiden, Pläne zur Risikobewertung zu erstellen und im Falle eines Verlustes Schäden zu beseitigen. Der Umweltausschuss hat seinen Bericht im März angenommen, am Dienstag stimmt das Plenum darüber ab. Die Verhandlungen mit dem Rat beginnen dann frühestens im Herbst.

  • Verbot von Produkten aus Zwangsarbeit (Dienstag)

Produkte, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden, sollen zukünftig nicht mehr auf dem EU-Binnenmarkt bereitgestellt, verkauft und von dort exportiert werden. EU-Parlament und Rat hatten sich Anfang März auf die neue Verordnung geeinigt. Der Rat hat das Ergebnis bereits Mitte März angenommen. Voraussichtlich am Dienstag stimmt das Parlament ab.

  • EU-Lieferkettengesetz, CSDDD (Mittwoch)

Der Trilogeinigung über die Lieferkettenrichtlinie, deren Annahme im Rat über mehrere Wochen auf der Kippe stand, muss nun auch das Parlament noch formal zustimmen. Dies ist für Mittwochmittag angesetzt. Die Mitgliedstaaten haben das Ergebnis der Verhandlungen noch einmal deutlich entschärft, indem sie etwa den Anwendungsbereich verkleinert und die Risikosektoren gestrichen haben.

  • Verpackungsverordnung (Mittwoch)

Am Mittwochmittag stimmen die Abgeordneten auch über das Trilogergebnis von Anfang März ab. Die vorläufige Einigung hat das Ziel, Verpackungen auf dem EU-Binnenmarkt sicherer und nachhaltiger zu gestalten. Bis 2030 sollen etwa alle Verpackungen recyclingfähig sein. Dass zwei kurz vor Ablauf der Frist eingereichte Änderungsanträge von Andreas Glück (FDP) noch angenommen werden, ist unwahrscheinlich. Glück möchte bestimmte Mehrwegziele für Verpackungen, die Unternehmen für den Transport von Produkten zwischen ihren eigenen Standorten und innerhalb eines Mitgliedstaats verwenden, streichen. Im Rat hatte der Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) das Ergebnis der Trilogverhandlungen bereits vor Ostern angenommen.

  • Ökodesign-Verordnung (Donnerstag)

Schon im Dezember hatten sich Rat und Parlament auf einen gemeinsamen Gesetzestext geeinigt. Der AStV hat die Einigung kurz darauf bestätigt. Nun müssen die Abgeordneten das Ergebnis noch formal annehmen, laut der Agenda am kommenden Donnerstagmittag. Die Verordnung erweitert die bisherige Ökodesign-Richtlinie, erweitert ihren Anwendungsbereich auf fast alle Produkte und sieht ein Verbot für unverkaufte Kleidung, Schuhe und Accessoires vor.

  • Luftqualitätsrichtlinie (Mittwoch)

Es wird damit gerechnet, dass es im Parlament eine Mehrheit für die politische Einigung aus dem Februar gibt. Sie sieht vor, dass die Grenzwerte für viele Luftschadstoffe bis 2030 an die Richtwerte der WHO angeglichen werden. Damit würden die Grenzwerte deutlich verschärft. Vor allem bei Stickoxiden und Feinstaub wird damit gerechnet, dass an zahlreichen Messstationen die Grenzwerte überschritten werden und dadurch Fahrverbote und Produktionsverbote für Industrieanlagen notwendig werden.

  • Net-Zero Industry Act (Donnerstag)

Die Trilog-Einigung zum Net-Zero Industry Act dürfte das Plenum am Donnerstag recht glatt passieren. Ende Februar hatte bereits der Industrieausschuss dem Text zugestimmt, den Europaparlament und Mitgliedstaaten binnen eines Jahres ausgehandelt hatten. Der NZIA soll die Ansiedlung von Fabriken für klimafreundliche Technologien wie Windkraft oder Wärmepumpen erleichtern.

  • Beschleunigung des Ausbaus von Hochgeschwindigkeitsnetzen (Dienstag)

Ziel des Gigabit Infrastructure Act ist es, den Ausbau leistungsfähiger Kommunikationsinfrastruktur – Glasfaser und 5G – europaweit zu beschleunigen. Die neue Verordnung löst dazu die Richtlinie über die Senkung der Breitbandkosten von 2014 ab. Parlament und Rat haben sich dazu im Februar unter anderem darauf geeinigt, Genehmigungsverfahren zu vereinfachen, bürokratische Hürden zu beseitigen und das Prinzip der stillschweigenden Genehmigung einzuführen. Demnach gelten Infrastrukturprojekte automatisch als genehmigt, wenn sie nicht innerhalb von vier Monaten von den Behörden beschieden werden. Das Parlament hat darüber hinaus dafür gesorgt, dass Roaming-Gebühren in der EU ab 2029 wegfallen sollen. vis

  • Solidarität im Kampf gegen Bedrohungen aus dem Netz (Mittwoch)

Im März haben sich Rat und Parlament auf den Cyber Solidarity Act geeinigt, der die Union widerstands- und reaktionsfähiger gegen Cyberbedrohungen machen soll. Mit der Verordnung will die Union ihre Kapazitäten zur Erkennung, Vorsorge und Bewältigung von Cybersicherheitsbedrohungen und -vorfällen ausbauen. Eine Änderung des Rechtsakts zur Cybersicherheit von 2019 zu verwalteten Sicherheitsdiensten soll zudem die Cyberresilienz verbessern. Gleichzeitig stärkt die EU ihre Kooperationsmechanismen. Die Verordnung sieht auch die Schaffung eines Cybernotfallmechanismus vor. vis

  • Förderung von Start-ups und Innovationen im Bereich KI (Mittwoch)

Im Januar legte die Kommission ein Maßnahmenpaket vor, mit dem sie europäische Start-ups und KMU bei der Entwicklung vertrauenswürdiger Künstlicher Intelligenz unterstützen will. Dazu gehört auch eine Änderung der EuroHPC-Verordnung im Hinblick auf die Einrichtung von KI-Fabriken, die zu einem neuen Tätigkeitsbereich des Gemeinsamen Unternehmens der EU für Supercomputer (EuroHPC) werden. Es beinhaltet auch finanzielle Unterstützung in diesem Bereich aus bestehenden Programmen. vis

  • Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (Dienstag)

Die Late-Payment-Verordnung gehört zu den Abstimmungstexten, die in der neuen Legislatur weiterbehandelt werden müssen. Bei der Abstimmung am Dienstag soll das Parlament zunächst seine Position für die Verhandlungen mit dem Rat festlegen. Mit dem Gesetz sollen verspätete Zahlungen im Geschäftsverkehr bekämpft werden. Der Abgeordnete Markus Ferber (CDU) hält die Verordnung nicht für mit deutschem Recht vereinbar und hat das Plenum aufgerufen, den Bericht abzulehnen.

Lesen Sie hier alle Texte zur Europawahl.

  • CSDDD
  • Cybersicherheit
  • EU-Schuldenregeln
  • Europäisches Parlament
  • Net Zero Industry Act
  • NGT
  • Recht auf Reparatur
  • Zwangsarbeit
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Zypern gewinnt mit humanitärem Coup an diplomatischem Gewicht

Ursula von der Leyen ging auf den Vorschlag des Präsidenten von Zypern, Nikos Christodoulides, ein.

Als der Iran mehr als 300 Drohnen und Marschflugkörper auf Israel abschoss, läuteten auf der Mittelmeerinsel Zypern wieder die Alarmglocken – wie so oft seit April 2023, als im Sudan Kämpfe ausbrachen und Zyperns Präsident Nikos Christodoulides den Internationalen Flughafen in Larnaka zur Evakuierung westlicher Ausländer anbot. Im Rückblick erwies sich die Rückholaktion als Beginn der geopolitischen “Wiedergeburt” des kleinen Landes im äußersten südöstlichen EU-Zipfel.

Denn seither beschränkt sich die internationale Bedeutung der Republik Zypern nicht mehr nur auf ihre Funktion als “unsinkbarer Flugzeugträger der Nato”. Der Inselstaat etabliert sich vielmehr als humanitäre Macht im östlichen Mittelmeer. So war Zypern nach dem Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober erste Wahl für die Evakuierung Tausender Ausländer aus Israel. “Wenn der Nahe Osten explodiert, spielt Zypern aufgrund seiner geografischen Lage eine zentrale Rolle als Evakuierungsort”, sagt Hubert Faustmann, Büroleiter der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Nikosia. Zudem sei die Insel wie das stille Auge des Sturms, während ringsum Konflikte tobten. “Zypern verkörpert in Krisenlagen im östlichen Mittelmeer Stabilität.”

Gutes Verhältnis zu Israel und zu Palästinensern

Nicht nur logistisch, auch politisch reagierte Nikosia auf die Gaza-Krise schnell und clever. Christodoulides zeigte zunächst klare Solidarität mit Israel, einem wichtigen regionalen Verbündeten. Umgehend aber verwies er auch auf die verzweifelte Lage der Palästinenser in Gaza. Damit folgte er der etablierten politischen Linie seines Landes, mit allen Seiten in der Region gute Beziehungen zu pflegen. So hatte sich die Republik jahrzehntelang zwar propalästinensisch positioniert, aber ihre Beziehungen zu Tel Aviv wegen der Nutzung von Gasfunden im Meer verbessert – und zwar so geschickt, dass sie in der arabischen Welt keine Imageschäden erlitt.

Die humanitäre Versorgungskrise im Gazastreifen nach dem Beginn der israelischen Offensive brachte Zyperns Präsident Anfang Oktober auf eine Idee, die zunächst als PR-Gag belächelt wurde: eine humanitäre Seebrücke mit Hilfsgütern vom zyprischen Hafen Larnaka nach Gaza. Zypern sei als nächstgelegener EU-Staat prädestiniert zu helfen, erklärte Christodoulides und begann, für das Projekt auf internationalen Foren zu werben. Wider Erwarten gelang es den zyprischen Diplomaten bis Januar, die EU, Großbritannien, die Vereinigten Arabischen Emirate und vor allem die USA offiziell für den nach einer griechischen Göttin benannten “Amalthea-Plan” zu gewinnen.

Hilfsmission ist derzeit ausgesetzt

Dann ging alles sehr schnell. Am 7. März reiste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Larnaka und erklärte gemeinsam mit Christodoulides, der Korridor stehe kurz vor der Eröffnung. Zeitgleich sagte US-Präsident Joe Biden vor dem Kongress in Washington, das US-Militär werde “eine Notfallmission leiten, um einen provisorischen Pier im Mittelmeer an der Küste des Gazastreifens zu errichten”. In Zypern war inzwischen israelisches Personal für die Ausfuhrkontrolle eingetroffen. An eine Evakuierung von Palästinensern würde aber keinesfalls gedacht, machten zyprische Regierungsvertreter klar.

Am 12. März lief das erste Gaza-Versorgungsschiff “Open Arms” der gleichnamigen spanischen Hilfsorganisation und der US-amerikanischen Hilfsorganisation “World Central Kitchen” (WCK) mit 200 Tonnen Hilfsgütern an Bord von Larnaka aus und erreichte vier Tage später Gaza. Mit dieser Testfahrt hob Israel erstmals seine 2007 verkündete Gaza-Seeblockade auf. Umso größer war das Entsetzen, als die zweite Hilfsmission Anfang April scheiterte, weil die israelische Armee sieben internationale WCK-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter bei einem gezielten Luftangriff in Gaza tötete und die Hilfsschiffe nach Larnaka zurückkehrten. Netanjahu sprach von einem “tragischen Versehen”, zwei Offiziere wurden entlassen. Zypern verurteilte die Tat als “absolut verwerflich”, ließ aber keine offizielle Protestnote folgen.

Arabische Welt verortet Zypern nicht so stark in Westeuropa

Seit dem tödlichen Angriff sind die Transporte gestoppt, doch beteuern alle Seiten, das Projekt fortsetzen zu wollen, sobald die Sicherheit der Hilfskräfte gewährleistet sei. Derweil werden in Larnaka weiter Hilfsgüter entgegengenommen, und Großbritannien entsandte ein Schiff der Royal Navy ins östliche Mittelmeer, um den “multinationalen humanitären Seekorridor” zu unterstützen. Der schwimmende US-amerikanische Hafen vor Gaza-Stadt soll am 1. Mai fertig sein. Nachdem Israel auf Drängen Washingtons einwilligte, den Hafen von Aschdod für Hilfslieferungen zu öffnen, würden die Lieferungen aus Larnaka auch dorthin umgeleitet, hieß es in Nikosia.

“Der maritime Hilfskorridor bedeutet eine enorme politische Aufwertung für Zypern”, sagt Faustmann. “Statt negativer Nachrichten mit Korruption, goldenen Pässen oder dem Zypernproblem glänzt die Insel plötzlich durch eine konstruktive Rolle in einer hochsensiblen Region.” Zypern konnte sich durch Christodoulides’ humanitären Coup auch als neuer möglicher Vermittler im nahöstlichen Konfliktraum ins Spiel bringen.

“Das Projekt lässt Zypern in der arabischen Welt als Helfer der Palästinenser gut aussehen, wobei die Zyprioten immer darauf achten, die Israelis nicht unnötig zu verärgern”, sagt Faustmann. Zypern kann die Mittlerrolle auch deshalb leichter einnehmen, weil die Insel keine Ex-Kolonialmacht wie die Türkei ist, sondern Kolonialopfer (der Briten) und in der arabischen Wahrnehmung nicht so stark in Westeuropa verankert.

Anreize für die Türkei fehlen

Seit dem Start der Initiative geben sich in Zypern Spitzenpolitiker aus den USA, der EU und der Region die Klinke in die Hand. Hauptfinanziers sind die Vereinigten Arabischen Emirate, die EU und Großbritannien. Misslich ist das Projekt nur für die Regionalmacht Türkei, denn sie erwog ebenfalls eine maritime Hilfsmission nach Gaza. Die scheiterte jedoch an der konfrontativen Haltung der Türkei zu Israel. Laut Informationen der zyperngriechischen Zeitung “Philelefteros” versuchte Ankara auf verschiedenen Ebenen, den Amalthea-Plan zum Scheitern zu bringen. Aus Trotz will die Türkei nun eine eigene “Freiheitsflotille” der islamistischen Hilfsorganisation IHH zum Gazastreifen schicken. 2010 war eine ähnliche Provokationsfahrt von der israelischen Marine gestoppt worden, wobei neun Aktivisten getötet wurden.

Dagegen ist es dem zyprischen Präsidenten Christodoulides gelungen, praktisch alle Akteure in der Region für den humanitären Korridor an Bord zu holen. Das historische Momentum nutzte Christodoulides auch, um sein traditionell russlandfreundliches Land außenpolitisch klar im Westen zu positionieren – sehr zum Ärger des Kreml. In Nikosia hofft man internationale Aufmerksamkeit auch für die innerzyprische Problematik zu bekommen. “Wenn Christodoulides schlau ist, nutzt er die Gunst der Stunde, um überraschende Vorstöße in der Zypernfrage zu unternehmen”, sagt der Historiker und Politikwissenschaftler Faustmann. “Aber dafür müsste man der Türkei Anreize bieten, sich konstruktiver zu verhalten – und die sind bisher nicht zu erkennen.”

Neues Finanzpaket für den Libanon

Die unruhige Lage im Nahen Osten setzt Zypern allerdings zunehmend unter Druck. Seit Jahresbeginn landeten auf der Insel im östlichen Mittelmeer etwa 4000 Migranten, die Flüchtlingslager sind überfüllt. Bei den Neuankömmlingen auf Zypern handelt es sich zum Großteil um syrische Flüchtlinge, die bislang im Libanon lebten. Um die Einreise unerwünschter syrischer Flüchtlinge in die EU zu verhindern, wird nach Angaben Christodoulidis nun auch an einem Abkommen mit dem Libanon gearbeitet. “Wir wollen dem Libanon helfen, mit den Flüchtlingen umzugehen, damit nicht noch mehr nach Zypern kommen”, sagte er in einem am Sonntag verbreiteten Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Er freue sich, am 2. Mai zusammen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in den Libanon zu reisen, um ein konkretes Finanzpaket der EU anzukündigen. Zusätzlich gehe es um die Unterstützung libanesischer Institutionen wie zum Beispiel der Streitkräfte. Er habe die EU um Hilfe gebeten, sagte Christodoulidis. Es müsse auch darüber gesprochen werden, welche Menschen aus Syrien in der EU eine Chance auf Asyl bekommen sollten. “Wir fordern ausdrücklich, dass bestimmte Gebiete in Syrien als sichere Regionen eingestuft werden”, sagte er. mit dpa

  • Gaza-Krieg
  • Israel
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  • Türkei
  • Zypern
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News

“Wir werden nicht zögern, unsere Abwehrinstrumente einzusetzen”

Ursula von der Leyen bei der Eröffnung der Hannover Messe am Sonntagabend

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat betont, dass die EU künftig stärker gegen einen unfairen internationalen Wettbewerb vorgehen will. “Wir werden gegenüber unseren Partnern stärker als früher auf faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Unternehmen drängen”, sagte von der Leyen am Sonntagabend laut Redemanuskript zur Eröffnung der Hannover Messe. “Wo wir Missbrauch sehen, werden wir nicht zögern, unsere Abwehrinstrumente einzusetzen“, sagte sie mit Hinweis auf E-Autos aus China.

Die EU habe einen offenen Ansatz beim Handel. “Zugleich sehen wir die Wolken am Horizont. Zum Beispiel, dass massive Subventionen an Hersteller von Elektrofahrzeugen in China fließen”, fügte sie hinzu. “Und, dass sich andere Märkte bereits dagegen abschotten, beispielsweise die USA, Mexiko oder die Türkei.” Die Kommissionspräsidentin bekannte sich zum Abschluss weiterer Handelsabkommen und Partnerschaften. Ziel sei es, die Versorgung der EU etwa bei kritischen Rohstoffen oder sauberem Wasserstoff zu diversifizieren.

Neben der Handelspolitik nannte von der Leyen vier weitere Punkte, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken. Die EU-Finanzminister forderte sie auf, schnell bei der Vollendung der Kapitalmarktunion voranzugehen. Europäischen Unternehmen wolle man so schnell wie möglich günstige, saubere Energie aus heimischen Quellen bieten. “Die Mobilität von Arbeitskräften innerhalb Europas muss noch einfacher werden”, sagte von der Leyen. Legale Migration sei zudem ein wesentlicher Standortfaktor. Als viertes Feld nannte sie die Digitalisierung. Dank den europäischen Unternehmen verfüge die EU über einen beispiellosen Datenschatz. rtr/ber

  • China
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Industrie mangelt es an Cybersicherheit und KI-Infrastruktur

Ein KI-gesteuerter Roboter auf der Hannover Messe

Die Industriebetriebe in Europa sind einer Studie zufolge nur unzureichend auf Hackerangriffe vorbereitet. Nur zwei Prozent der Unternehmen seien hier bestmöglich aufgestellt, bei 17 Prozent könne man immerhin von einem guten Schutz sprechen, heißt es in einer Studie des Netzwerk-Ausrüsters Cisco vor der am Montag beginnenden Hannover Messe. Bei mehr als 80 Prozent der Firmen bestehe dagegen Handlungsbedarf.

Im Vergleich mit anderen Branchen liege die Industrie hier nur im unteren Mittelfeld. Die besten Werte ermittelte Cisco für Technologie-Anbieter, wo immerhin 28 Prozent gut oder sehr gut vorbereitet seien, gefolgt von der Finanzbranche mit 23 Prozent. Auch im weltweiten Vergleich schneide Europas Industrie schlecht ab. In den USA seien 29 Prozent der Industriebetriebe gut oder sehr gut gegen Cyberattacken gerüstet, zehn Prozentpunkte mehr als in Europa. Am schlechtesten schnitten in Europa Bildungseinrichtungen und das Gesundheitswesen ab.

Langlebige Anlagen behindern IT-Modernisierung

Für die Untersuchung hatte Cisco im Januar und Februar weltweit mehr als 8000 Führungskräfte aus Unternehmen befragt, davon knapp 2000 in Europa. Grund für das schlechte Abschneiden vieler Industriebetriebe sei vor allem die Langlebigkeit vieler Produktionsanlagen, sagte Christian Korff, Mitglied der Geschäftsführung bei Cisco in Deutschland.

Etwas besser sehe es beim Thema Künstliche Intelligenz (KI) aus. 34 Prozent der Industrie seien hier gut oder sehr gut aufgestellt. Wirklich zufrieden könne man damit aber nicht sein. Zwar hätten 64 Prozent der Betriebe eine KI-Strategie, doch nur 34 Prozent hätten auch die technische Infrastruktur, um KI wirklich einsetzen zu können. “Und wenn ich sehe, dass ein Drittel der Industrie-Unternehmen noch keine KI-Strategie haben, dann wird mir angst und bange“, fügte Korff hinzu. dpa

  • Cybersicherheit
  • Industrie
  • Künstliche Intelligenz

Tajani kandidiert für Europa

Italiens derzeitiger Außenminister Antonio Tajani war bereits einmal Präsident des Europaparlaments.

Der ehemalige EU-Kommissar und Präsident des Europaparlaments Antonio Tajani kandidiert wieder für die Europawahlen. Der Vorsitzende der Forza Italia wird in vier der fünf Wahlkreise Italiens die Liste seiner Partei anführen. “Ich habe mich entschieden anzutreten, meine Frau möge mir verzeihen”, sagte er am Samstag bei einem Kongress der Forza Italia in Rom.

Tajani war nach dem Tod von Parteigründer und Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi im Februar offiziell als dessen Nachfolger an der Spitze der Forza Italia bestätigt worden. Der 70-jährige ist derzeit Außenminister. Ob er nun aber wieder nach Brüssel wechselt, ist allerdings unklar. Er wolle seine Europa-Erfahrung “dem Wahlkampf” zur Verfügung stellen, sagte er.

Wohl nur taktische Kandidaturen

Tajani steigt damit als erster der Chefs der großen Parteien in Italien in den Ring für die Europawahl, die sich eher einen Schaukampf liefern dürften. Wenige Stunden später verkündete auch Elly Schlein, Chefin des sozialdemokratischen Partito Democartico, auf Platz eins der Wahlliste anzutreten, allerdings nur in zwei Wahlkreisen. “Ich kandidiere, bleibe aber im italienischen Parlament”, sagte Schlein am Sonntag. Die Kandidatur auch hier: ein Symbol.

Denn auch Giorgia Meloni von den Fratelli d’Italia wird dem Beispiel folgen. Die Ministerpräsidentin will ihre Kandidatur – so wird erwartet – am kommenden Sonntag beim Parteitag der Fratelli in Pescara verkünden. In Italien läuft am 1. Mai die Frist aus, zu der die Listen für die Wahlzettel stehen müssen. Auch Meloni hat bereits angekündigt, nach der Wahl nicht nach Straßburg wechseln zu wollen.

Wahlergebnis wichtig für Kräfteverhältnis der Koalition in Rom

Mit ihren taktischen Kandidaturen heben die Parteichefs die Abstimmung Anfang Juni auf ein neues Level. Meloni erhofft sich, ihre Stellung als Anführerin ihrer Regierungskoalition zu festigen – und eine noch stärkere Positionierung vor allem gegenüber ihrem bündnisinternen Widersacher Matteo Salvini. Der Lega-Chef wird anders als seine Koalitionspartner nicht bei der Europawahl kandidieren.

Dessen Lega, die bei den Europawahlen 2019 noch 34 Prozent der Stimmen erhielt, liegt in den Umfragen derzeit bei 8,2 Prozent. Für Melonis Fratelli werden 28 Prozent vorhergesagt. Und Außenminister Tajani und seine Forza Italia hoffen auf 10 Prozent. asf

  • Europawahlen 2024
  • Italien
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Standpunkt

Generative KI: Zwischen Produktivitätsbooster und Marktmachtverstärker

Von Hannes Ullrich
Hannes Ullrich ist stellvertretender Leiter der Abteilung Unternehmen und Märkte im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Er leitet ein Forschungsprojekt zu künstlicher Intelligenz im Gesundheitsbereich, das durch das Förderprogramm des Europäischen Forschungsrats für Spitzenforschung finanziert wird.
Hannes Ullrich ist stellvertretender Leiter der Abteilung Unternehmen und Märkte im DIW Berlin.

ChatGPT und andere Modelle generativer künstlicher Intelligenz (KI) haben im vergangenen Jahr eine Welle der Faszination ausgelöst. So können die Algorithmen mühelos plausibel erscheinende Inhalte wie Bilder und Texte erstellen. Ihre öffentliche Bereitstellung hat aber auch zahlreiche Skeptiker auf den Plan gerufen. Was in einigen Bereichen bereits ein großer Produktivitätsgewinn ist, birgt für viele Anwendungen dennoch die Gefahr hoher Fehlerquoten und schürt die Angst vor Kontrollverlust.

Doch statt sich auf Diskussionen über die Chancen und Risiken neuer KI-Modelle zu beschränken, sollte ein weiterer Umstand beachtet werden: Die ohnehin schon wenigen großen Tech-Konzerne können mit generativer KI ihre Machtfülle ausnutzen und sogar noch vergrößern. Hier kann und sollte die EU, aber auch nationale Regierungen, effektiv gegensteuern und demokratisch legitimierte Leitplanken für die Entwicklung und Verbreitung innovativer KI setzen.

Daten sind durchsetzt mit Fehlern und Stereotypen

Obwohl (generative) KI – angesichts der Fülle komplexer Aufgaben in der heutigen Arbeitswelt – noch nicht als in der Breite verlässliches Werkzeug angewendet werden kann, erscheint eine breite gesellschaftliche Akzeptanz bereits vorhanden zu sein: In US-Umfragen gaben über 30 Prozent der Befragten an, dass sie generative KI nutzen, um Rat für finanzielle Entscheidungen zu suchen.

Dabei leiden diese Systeme nach wie vor unter hohen Fehlerquoten und produzieren mitunter unsinnige oder systematisch verzerrte Inhalte. Dies liegt maßgeblich daran, dass die bereitgestellten Sprachmodelle nicht für spezielle Zwecke entwickelt wurden. Daher taugen sie zum Beispiel nicht als Finanzberater oder Ersatz für den Arztbesuch. Für die aktuell bestehenden Sprachmodelle wurde undifferenziert die größte verfügbare Masse an digitalisierten Daten verwendet – und erst dann in begrenztem Maße durch menschliche Expertise angepasst und verifiziert.

Die zunächst verwendeten Daten sind jedoch weiterhin durchsetzt von Fehlern und Stereotypen, wie sie sich in der Gesellschaft, die ebendiese Daten in der Geschichte der Menschheit generiert hat, manifestieren. Das ist ein Problem, weil sich die sehr viel schwierigere Entwicklung skalierbarer kausaler Methoden, die für robuste und erklärbare Systeme grundlegend sind, noch in einem frühen Stadium befindet.

Modelle sind keine Wahrheitsmaschinen

Für die Inhalte, die generative Modelle wiedergeben, spielt das Design der Entwickler und Unternehmen eine entscheidende Rolle. Insbesondere die Auswahl der Daten, auf deren Basis ein GPT-Modell erstellt wird, bestimmt maßgeblich darüber, wie robust und fair oder wie verzerrend und gefährlich die produzierten Inhalte sind. Da die vorherrschenden generativen Modelle von einer Handvoll großer Unternehmen wie Alphabet, Meta und Microsoft entwickelt werden, sind sie keine neutralen Wahrheits- oder Informationsmaschinen, sondern spiegeln interne Entwicklungs- und Marketingentscheidungen dieser Unternehmen wider.

Ökonomisch betrachtet können die generativen KI Modelle, aber auch andere smarte Geräte wie VR-Brillen, die Dominanz weniger großer Tech-Unternehmen fortsetzen. Aufgrund ihrer bereits etablierten Position in Cloud-Infrastrukturen und Betriebssystemen scheinen Unternehmen wie Alphabet und Microsoft hierbei kaum einholbar zu sein, und auch die anderen drei Tech-Riesen Amazon, Apple und Meta haben in Milliardenhöhe in KI investiert. Dies sollte zum Nachdenken anregen, wenn über die Zukunft generativer KI spekuliert wird.

DSA und DMA spielen eine entscheidende Rolle

Es verdeutlicht, welchen Anreizen diese entwickelnden Unternehmen folgen. Gleichzeitig werden direktere regulatorische Handlungsmöglichkeiten offenbart. Denn Unternehmen, die KI entwickeln und vermarkten, können entscheiden, wie sie datenbasierte Software entwickeln, und als Gesellschaft können wir hierauf durch einen regulatorischen Rahmen Einfluss nehmen. Darüber zu diskutieren ist essenziell und sollte durch Diskussionen, ob GPT-Modelle menschliche Intelligenz übertreffen, ein Selbstbewusstsein erlangen oder außer Kontrolle geraten können, nicht in den Hintergrund geraten.

Eine entscheidende Rolle spielt hierbei, dass die neuen EU-Verordnungen zu digitalen Diensten und Märkten – DSA und DMA – effektiv umgesetzt werden. Sie zielen darauf ab, die Marktdominanz der großen Digitalkonzerne aufzubrechen und digitale Dienste transparenter und verlässlicher zu machen. Daher können sie auch einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Risiken von KI, die sich nicht zuletzt durch die Interessen der machtvollen Tech-Konzerne ergeben, einzudämmen. Somit könnten die gesellschaftliche Akzeptanz von (generativer) KI nachhaltig gefördert und Produktivitätsgewinne durch Innovation ermöglicht werden.

Kommission muss in Expertise investieren

Die Europäische Kommission müsste dafür als Regulierungsinstanz stärker als bisher geplant in die notwendige technische und wettbewerbsinstitutionelle Expertise investieren. So könnte erreicht werden, dass die Tech-Konzerne trotz ihrer beeindruckenden Ressourcen in den laufenden Stakeholder-Verfahren nicht die implizite Kontrolle über die Umsetzung der Verordnungen übernehmen.

Ein weiterer effektiver Weg, mehr Transparenz und ein besseres Verständnis von durch KI beeinflussten Marktergebnissen zu erhalten, wäre, im Digital Markets Act – ähnlich wie im Digital Services Act – unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern den Zugang zu Daten der Gatekeeper zu ermöglichen.

Letztendlich wird es aber auch von der Höhe der Investitionen in Daten- und Recheninfrastrukturen sowie in die interdisziplinäre Grundlagenforschung abhängen, wenn es um die Qualität künftiger KI geht. Denn es reicht nicht, erfolgreiche und durchaus innovative Konzerne zu regulieren. Es müssen auch Potenziale für neue Innovationssprünge, die auch bestehende Marktkonstellationen überwinden können, gefördert werden.

Hannes Ullrich ist stellvertretender Leiter der Abteilung Unternehmen und Märkte im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Er leitet ein Forschungsprojekt zu künstlicher Intelligenz im Gesundheitsbereich, das durch das Förderprogramm des Europäischen Forschungsrats für Spitzenforschung finanziert wird.

  • AI Act
  • Digital Markets Act
  • Digital Services Act
  • Digitalpolitik
  • Künstliche Intelligenz
  • Künstliche Intelligenz-Verordnung

Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

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    die Erleichterung über das grüne Licht in Washington für neue Milliardenhilfen an die Ukraine dürfte groß sein, wenn heute die Außen- und Verteidigungsminister der EU zusammenkommen. Es ist noch einmal gut gegangen, denn ohne Amerikaner wäre die Ukraine wohl verloren. Mit dem 60 Milliarden Dollar schweren Hilfspaket der USA sind die Europäer allerdings nicht aus der Pflicht. Beim Jumborat in Luxemburg wird es darum gehen, was die EU-Staaten nun noch mehr tun können.

    Immerhin gibt es auch aus Europa positive Nachrichten. “Ich erwarte bald neue Ankündigungen für Luftverteidigungsfähigkeiten für die Ukraine”, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag nach einem Krisentreffen. Zwei oder drei Länder dürften in den nächsten Tagen dem Beispiel Deutschlands folgen und der Ukraine weitere Luftabwehr-Systeme zur Verfügung stellen. Regierungschef Mark Rutte hat signalisiert, dass die Niederlande ebenfalls Patriots abgeben und zusätzlich Systeme von anderen Staaten aufkaufen könnten. Neben den Patriots könnte es auch um das französisch-italienische Abwehrsystem Aster SAMP/T gehen. Außenminister Dmytro Kuleba, der heute zusammen mit Verteidigungsminister Rustem Umjerow in Luxemburg per Video zugeschaltet sein wird, hat den Bedarf auf mindestens sieben Systeme beziffert.

    Beim Mittagessen werden die Außen- und Verteidigungsminister die Diskussion zu neuen Iran-Sanktionen vom Gipfel fortführen. Aus Berlin reisen Annalena Baerbock und Staatssekretärin Siemtje Möller an. Der eine oder andere Minister dürfte monieren, weshalb die Dienste des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell so lange brauchen, um Entscheidungsgrundlagen vorzubereiten. Geplant ist, das Sanktionsregime gegen Drohnen um Raketen zu ergänzen und geographisch auf Irans Proxys vom Libanon über Jemen bis in den Irak und Syrien zu ergänzen. Rechtstexte sollen heute noch keine vorliegen. Im Idealfall klappt es mit einer politischen Einigung, doch auch die ist dem Vernehmen nach nicht garantiert.

    Ihr
    Stephan Israel
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    Analyse

    Letzte Abstimmungswoche im EU-Parlament: Diese Gesetze sollen noch fertig werden

    Ob Mikroplastik, grüne Industrien oder der Binnenmarkt – die verschiedensten Themen stehen in dieser Woche im Europaparlament in Straßburg zur Abstimmung.

    Von Agrarpolitik bis zur Industrie- und Nachhaltigkeitspolitik – die Liste der Abstimmungen in der letzten Sitzungswoche des Parlaments ist lang. Auf der Agenda stehen jedoch auch Dossiers, die in der neuen Legislatur weiterverhandelt werden müssen.

    • GAP-Lockerungen (Donnerstag)

    Die Zustimmung zu den Entlastungsvorschlägen der Kommission gilt als relativ sicher. Ein Gutachten des juristischen Ausschusses im Parlament, das der Umweltausschuss angefordert hatte, steht dem nicht im Weg: Der Dienst hat rechtlich nichts zu beanstanden. Spannend wird, ob Änderungsanträge durchkommen. Dann müssten die Mitgliedstaaten diese wortgleich akzeptieren, damit die Verabschiedung vor der Wahl möglich ist. Wahrscheinlichstes Szenario aber: Das Plenum stimmt ohne Änderungen zu, das Dossier wird rechtzeitig zum Wahlkampf verabschiedet.

    • Ukraine-Handelserleichterungen, (Dienstag)

    Das Thema ist umstritten, trotzdem ist die Zustimmung des Parlaments zur Trilogeinigung wahrscheinlich, weil es die letzte Chance ist, die Handelserleichterungen für die Ukraine zu verlängern. Die Forderung des Parlaments, Schutzmaßnahmen auch für Getreide zu erlassen, ist zwar nicht Teil der Einigung. An anderer Stelle wurden Schutzmaßnahmen für Agrarprodukte aber auf Drängen mehrere Mitgliedstaaten noch einmal ausgeweitet. Das dürfte es Kritikern des Freihandels – vor allem Agrarpolitikern und Abgeordneten aus Ukraine-Anrainerstaaten – erleichtern zuzustimmen.

    • Neue Züchtungstechniken (Mittwoch)

    Das Parlament hatte seine Verhandlungsposition im Januar angenommen. Mit einer erneuten Abstimmung soll diese festgezurrt werden und müsste so nicht mehr nach der EU-Wahl bestätigt werden. Davon, dass das gelingt, ist auszugehen. Aufseiten der Mitgliedstaaten ist weiter keine Einigung in Sicht.

    • Förderung der Reparatur von Waren (Recht auf Reparatur)

    Das Parlament stimmt am Montag über das Trilogergebnis zum Recht auf Reparatur ab. Es wird mit einer großen Mehrheit gerechnet. Anschließend müssen auch noch die Mitgliedstaaten das Ergebnis annehmen. Im Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) ist dies für den 15. Mai vorgesehen; am 23. Mai sollen dann die Verbraucherschutzminister im Rat für Wettbewerbsfähigkeit abstimmen.

    • Reform der Schuldenregeln (Dienstag)

    Nach langen Verhandlungen im Rat und zuletzt zwischen Rat und Parlament muss das Parlament nun über das ausgehandelte Trilogergebnis abstimmen. Die EVP, Renew und eine Mehrheit der Sozialdemokraten wird dem Kompromiss zu den neuen europäischen Schuldenregeln wahrscheinlich zustimmen. Die Linksfraktion und die Grünen werden sie ablehnen, da die durch die Regeln ausgelösten Ausgabenreduktionen der Mitgliedstaaten grüne Investitionen treffen könnten. Die beiden rechten Fraktionen werden ebenfalls Nein sagen. Erwartet wird aktuell, dass eine Mehrheit zustimmen wird, aber groß wird die Marge nicht sein.

    • Vermeidung der Freisetzung von Kunststoffgranulat (Dienstag)

    Die EU will die Freisetzung von Mikroplastik in die Umwelt bis 2030 um 30 Prozent reduzieren. Dazu soll auch der Gesetzesvorschlag beitragen, den die EU-Kommission im Oktober vorgestellt hat. Demnach sollen für alle Akteure, die mit Kunststoffpellets umgehen, Verpflichtungen gelten. Im Detail: Verluste zu vermeiden, Pläne zur Risikobewertung zu erstellen und im Falle eines Verlustes Schäden zu beseitigen. Der Umweltausschuss hat seinen Bericht im März angenommen, am Dienstag stimmt das Plenum darüber ab. Die Verhandlungen mit dem Rat beginnen dann frühestens im Herbst.

    • Verbot von Produkten aus Zwangsarbeit (Dienstag)

    Produkte, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden, sollen zukünftig nicht mehr auf dem EU-Binnenmarkt bereitgestellt, verkauft und von dort exportiert werden. EU-Parlament und Rat hatten sich Anfang März auf die neue Verordnung geeinigt. Der Rat hat das Ergebnis bereits Mitte März angenommen. Voraussichtlich am Dienstag stimmt das Parlament ab.

    • EU-Lieferkettengesetz, CSDDD (Mittwoch)

    Der Trilogeinigung über die Lieferkettenrichtlinie, deren Annahme im Rat über mehrere Wochen auf der Kippe stand, muss nun auch das Parlament noch formal zustimmen. Dies ist für Mittwochmittag angesetzt. Die Mitgliedstaaten haben das Ergebnis der Verhandlungen noch einmal deutlich entschärft, indem sie etwa den Anwendungsbereich verkleinert und die Risikosektoren gestrichen haben.

    • Verpackungsverordnung (Mittwoch)

    Am Mittwochmittag stimmen die Abgeordneten auch über das Trilogergebnis von Anfang März ab. Die vorläufige Einigung hat das Ziel, Verpackungen auf dem EU-Binnenmarkt sicherer und nachhaltiger zu gestalten. Bis 2030 sollen etwa alle Verpackungen recyclingfähig sein. Dass zwei kurz vor Ablauf der Frist eingereichte Änderungsanträge von Andreas Glück (FDP) noch angenommen werden, ist unwahrscheinlich. Glück möchte bestimmte Mehrwegziele für Verpackungen, die Unternehmen für den Transport von Produkten zwischen ihren eigenen Standorten und innerhalb eines Mitgliedstaats verwenden, streichen. Im Rat hatte der Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) das Ergebnis der Trilogverhandlungen bereits vor Ostern angenommen.

    • Ökodesign-Verordnung (Donnerstag)

    Schon im Dezember hatten sich Rat und Parlament auf einen gemeinsamen Gesetzestext geeinigt. Der AStV hat die Einigung kurz darauf bestätigt. Nun müssen die Abgeordneten das Ergebnis noch formal annehmen, laut der Agenda am kommenden Donnerstagmittag. Die Verordnung erweitert die bisherige Ökodesign-Richtlinie, erweitert ihren Anwendungsbereich auf fast alle Produkte und sieht ein Verbot für unverkaufte Kleidung, Schuhe und Accessoires vor.

    • Luftqualitätsrichtlinie (Mittwoch)

    Es wird damit gerechnet, dass es im Parlament eine Mehrheit für die politische Einigung aus dem Februar gibt. Sie sieht vor, dass die Grenzwerte für viele Luftschadstoffe bis 2030 an die Richtwerte der WHO angeglichen werden. Damit würden die Grenzwerte deutlich verschärft. Vor allem bei Stickoxiden und Feinstaub wird damit gerechnet, dass an zahlreichen Messstationen die Grenzwerte überschritten werden und dadurch Fahrverbote und Produktionsverbote für Industrieanlagen notwendig werden.

    • Net-Zero Industry Act (Donnerstag)

    Die Trilog-Einigung zum Net-Zero Industry Act dürfte das Plenum am Donnerstag recht glatt passieren. Ende Februar hatte bereits der Industrieausschuss dem Text zugestimmt, den Europaparlament und Mitgliedstaaten binnen eines Jahres ausgehandelt hatten. Der NZIA soll die Ansiedlung von Fabriken für klimafreundliche Technologien wie Windkraft oder Wärmepumpen erleichtern.

    • Beschleunigung des Ausbaus von Hochgeschwindigkeitsnetzen (Dienstag)

    Ziel des Gigabit Infrastructure Act ist es, den Ausbau leistungsfähiger Kommunikationsinfrastruktur – Glasfaser und 5G – europaweit zu beschleunigen. Die neue Verordnung löst dazu die Richtlinie über die Senkung der Breitbandkosten von 2014 ab. Parlament und Rat haben sich dazu im Februar unter anderem darauf geeinigt, Genehmigungsverfahren zu vereinfachen, bürokratische Hürden zu beseitigen und das Prinzip der stillschweigenden Genehmigung einzuführen. Demnach gelten Infrastrukturprojekte automatisch als genehmigt, wenn sie nicht innerhalb von vier Monaten von den Behörden beschieden werden. Das Parlament hat darüber hinaus dafür gesorgt, dass Roaming-Gebühren in der EU ab 2029 wegfallen sollen. vis

    • Solidarität im Kampf gegen Bedrohungen aus dem Netz (Mittwoch)

    Im März haben sich Rat und Parlament auf den Cyber Solidarity Act geeinigt, der die Union widerstands- und reaktionsfähiger gegen Cyberbedrohungen machen soll. Mit der Verordnung will die Union ihre Kapazitäten zur Erkennung, Vorsorge und Bewältigung von Cybersicherheitsbedrohungen und -vorfällen ausbauen. Eine Änderung des Rechtsakts zur Cybersicherheit von 2019 zu verwalteten Sicherheitsdiensten soll zudem die Cyberresilienz verbessern. Gleichzeitig stärkt die EU ihre Kooperationsmechanismen. Die Verordnung sieht auch die Schaffung eines Cybernotfallmechanismus vor. vis

    • Förderung von Start-ups und Innovationen im Bereich KI (Mittwoch)

    Im Januar legte die Kommission ein Maßnahmenpaket vor, mit dem sie europäische Start-ups und KMU bei der Entwicklung vertrauenswürdiger Künstlicher Intelligenz unterstützen will. Dazu gehört auch eine Änderung der EuroHPC-Verordnung im Hinblick auf die Einrichtung von KI-Fabriken, die zu einem neuen Tätigkeitsbereich des Gemeinsamen Unternehmens der EU für Supercomputer (EuroHPC) werden. Es beinhaltet auch finanzielle Unterstützung in diesem Bereich aus bestehenden Programmen. vis

    • Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (Dienstag)

    Die Late-Payment-Verordnung gehört zu den Abstimmungstexten, die in der neuen Legislatur weiterbehandelt werden müssen. Bei der Abstimmung am Dienstag soll das Parlament zunächst seine Position für die Verhandlungen mit dem Rat festlegen. Mit dem Gesetz sollen verspätete Zahlungen im Geschäftsverkehr bekämpft werden. Der Abgeordnete Markus Ferber (CDU) hält die Verordnung nicht für mit deutschem Recht vereinbar und hat das Plenum aufgerufen, den Bericht abzulehnen.

    Lesen Sie hier alle Texte zur Europawahl.

    • CSDDD
    • Cybersicherheit
    • EU-Schuldenregeln
    • Europäisches Parlament
    • Net Zero Industry Act
    • NGT
    • Recht auf Reparatur
    • Zwangsarbeit
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    Zypern gewinnt mit humanitärem Coup an diplomatischem Gewicht

    Ursula von der Leyen ging auf den Vorschlag des Präsidenten von Zypern, Nikos Christodoulides, ein.

    Als der Iran mehr als 300 Drohnen und Marschflugkörper auf Israel abschoss, läuteten auf der Mittelmeerinsel Zypern wieder die Alarmglocken – wie so oft seit April 2023, als im Sudan Kämpfe ausbrachen und Zyperns Präsident Nikos Christodoulides den Internationalen Flughafen in Larnaka zur Evakuierung westlicher Ausländer anbot. Im Rückblick erwies sich die Rückholaktion als Beginn der geopolitischen “Wiedergeburt” des kleinen Landes im äußersten südöstlichen EU-Zipfel.

    Denn seither beschränkt sich die internationale Bedeutung der Republik Zypern nicht mehr nur auf ihre Funktion als “unsinkbarer Flugzeugträger der Nato”. Der Inselstaat etabliert sich vielmehr als humanitäre Macht im östlichen Mittelmeer. So war Zypern nach dem Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober erste Wahl für die Evakuierung Tausender Ausländer aus Israel. “Wenn der Nahe Osten explodiert, spielt Zypern aufgrund seiner geografischen Lage eine zentrale Rolle als Evakuierungsort”, sagt Hubert Faustmann, Büroleiter der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Nikosia. Zudem sei die Insel wie das stille Auge des Sturms, während ringsum Konflikte tobten. “Zypern verkörpert in Krisenlagen im östlichen Mittelmeer Stabilität.”

    Gutes Verhältnis zu Israel und zu Palästinensern

    Nicht nur logistisch, auch politisch reagierte Nikosia auf die Gaza-Krise schnell und clever. Christodoulides zeigte zunächst klare Solidarität mit Israel, einem wichtigen regionalen Verbündeten. Umgehend aber verwies er auch auf die verzweifelte Lage der Palästinenser in Gaza. Damit folgte er der etablierten politischen Linie seines Landes, mit allen Seiten in der Region gute Beziehungen zu pflegen. So hatte sich die Republik jahrzehntelang zwar propalästinensisch positioniert, aber ihre Beziehungen zu Tel Aviv wegen der Nutzung von Gasfunden im Meer verbessert – und zwar so geschickt, dass sie in der arabischen Welt keine Imageschäden erlitt.

    Die humanitäre Versorgungskrise im Gazastreifen nach dem Beginn der israelischen Offensive brachte Zyperns Präsident Anfang Oktober auf eine Idee, die zunächst als PR-Gag belächelt wurde: eine humanitäre Seebrücke mit Hilfsgütern vom zyprischen Hafen Larnaka nach Gaza. Zypern sei als nächstgelegener EU-Staat prädestiniert zu helfen, erklärte Christodoulides und begann, für das Projekt auf internationalen Foren zu werben. Wider Erwarten gelang es den zyprischen Diplomaten bis Januar, die EU, Großbritannien, die Vereinigten Arabischen Emirate und vor allem die USA offiziell für den nach einer griechischen Göttin benannten “Amalthea-Plan” zu gewinnen.

    Hilfsmission ist derzeit ausgesetzt

    Dann ging alles sehr schnell. Am 7. März reiste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Larnaka und erklärte gemeinsam mit Christodoulides, der Korridor stehe kurz vor der Eröffnung. Zeitgleich sagte US-Präsident Joe Biden vor dem Kongress in Washington, das US-Militär werde “eine Notfallmission leiten, um einen provisorischen Pier im Mittelmeer an der Küste des Gazastreifens zu errichten”. In Zypern war inzwischen israelisches Personal für die Ausfuhrkontrolle eingetroffen. An eine Evakuierung von Palästinensern würde aber keinesfalls gedacht, machten zyprische Regierungsvertreter klar.

    Am 12. März lief das erste Gaza-Versorgungsschiff “Open Arms” der gleichnamigen spanischen Hilfsorganisation und der US-amerikanischen Hilfsorganisation “World Central Kitchen” (WCK) mit 200 Tonnen Hilfsgütern an Bord von Larnaka aus und erreichte vier Tage später Gaza. Mit dieser Testfahrt hob Israel erstmals seine 2007 verkündete Gaza-Seeblockade auf. Umso größer war das Entsetzen, als die zweite Hilfsmission Anfang April scheiterte, weil die israelische Armee sieben internationale WCK-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter bei einem gezielten Luftangriff in Gaza tötete und die Hilfsschiffe nach Larnaka zurückkehrten. Netanjahu sprach von einem “tragischen Versehen”, zwei Offiziere wurden entlassen. Zypern verurteilte die Tat als “absolut verwerflich”, ließ aber keine offizielle Protestnote folgen.

    Arabische Welt verortet Zypern nicht so stark in Westeuropa

    Seit dem tödlichen Angriff sind die Transporte gestoppt, doch beteuern alle Seiten, das Projekt fortsetzen zu wollen, sobald die Sicherheit der Hilfskräfte gewährleistet sei. Derweil werden in Larnaka weiter Hilfsgüter entgegengenommen, und Großbritannien entsandte ein Schiff der Royal Navy ins östliche Mittelmeer, um den “multinationalen humanitären Seekorridor” zu unterstützen. Der schwimmende US-amerikanische Hafen vor Gaza-Stadt soll am 1. Mai fertig sein. Nachdem Israel auf Drängen Washingtons einwilligte, den Hafen von Aschdod für Hilfslieferungen zu öffnen, würden die Lieferungen aus Larnaka auch dorthin umgeleitet, hieß es in Nikosia.

    “Der maritime Hilfskorridor bedeutet eine enorme politische Aufwertung für Zypern”, sagt Faustmann. “Statt negativer Nachrichten mit Korruption, goldenen Pässen oder dem Zypernproblem glänzt die Insel plötzlich durch eine konstruktive Rolle in einer hochsensiblen Region.” Zypern konnte sich durch Christodoulides’ humanitären Coup auch als neuer möglicher Vermittler im nahöstlichen Konfliktraum ins Spiel bringen.

    “Das Projekt lässt Zypern in der arabischen Welt als Helfer der Palästinenser gut aussehen, wobei die Zyprioten immer darauf achten, die Israelis nicht unnötig zu verärgern”, sagt Faustmann. Zypern kann die Mittlerrolle auch deshalb leichter einnehmen, weil die Insel keine Ex-Kolonialmacht wie die Türkei ist, sondern Kolonialopfer (der Briten) und in der arabischen Wahrnehmung nicht so stark in Westeuropa verankert.

    Anreize für die Türkei fehlen

    Seit dem Start der Initiative geben sich in Zypern Spitzenpolitiker aus den USA, der EU und der Region die Klinke in die Hand. Hauptfinanziers sind die Vereinigten Arabischen Emirate, die EU und Großbritannien. Misslich ist das Projekt nur für die Regionalmacht Türkei, denn sie erwog ebenfalls eine maritime Hilfsmission nach Gaza. Die scheiterte jedoch an der konfrontativen Haltung der Türkei zu Israel. Laut Informationen der zyperngriechischen Zeitung “Philelefteros” versuchte Ankara auf verschiedenen Ebenen, den Amalthea-Plan zum Scheitern zu bringen. Aus Trotz will die Türkei nun eine eigene “Freiheitsflotille” der islamistischen Hilfsorganisation IHH zum Gazastreifen schicken. 2010 war eine ähnliche Provokationsfahrt von der israelischen Marine gestoppt worden, wobei neun Aktivisten getötet wurden.

    Dagegen ist es dem zyprischen Präsidenten Christodoulides gelungen, praktisch alle Akteure in der Region für den humanitären Korridor an Bord zu holen. Das historische Momentum nutzte Christodoulides auch, um sein traditionell russlandfreundliches Land außenpolitisch klar im Westen zu positionieren – sehr zum Ärger des Kreml. In Nikosia hofft man internationale Aufmerksamkeit auch für die innerzyprische Problematik zu bekommen. “Wenn Christodoulides schlau ist, nutzt er die Gunst der Stunde, um überraschende Vorstöße in der Zypernfrage zu unternehmen”, sagt der Historiker und Politikwissenschaftler Faustmann. “Aber dafür müsste man der Türkei Anreize bieten, sich konstruktiver zu verhalten – und die sind bisher nicht zu erkennen.”

    Neues Finanzpaket für den Libanon

    Die unruhige Lage im Nahen Osten setzt Zypern allerdings zunehmend unter Druck. Seit Jahresbeginn landeten auf der Insel im östlichen Mittelmeer etwa 4000 Migranten, die Flüchtlingslager sind überfüllt. Bei den Neuankömmlingen auf Zypern handelt es sich zum Großteil um syrische Flüchtlinge, die bislang im Libanon lebten. Um die Einreise unerwünschter syrischer Flüchtlinge in die EU zu verhindern, wird nach Angaben Christodoulidis nun auch an einem Abkommen mit dem Libanon gearbeitet. “Wir wollen dem Libanon helfen, mit den Flüchtlingen umzugehen, damit nicht noch mehr nach Zypern kommen”, sagte er in einem am Sonntag verbreiteten Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

    Er freue sich, am 2. Mai zusammen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in den Libanon zu reisen, um ein konkretes Finanzpaket der EU anzukündigen. Zusätzlich gehe es um die Unterstützung libanesischer Institutionen wie zum Beispiel der Streitkräfte. Er habe die EU um Hilfe gebeten, sagte Christodoulidis. Es müsse auch darüber gesprochen werden, welche Menschen aus Syrien in der EU eine Chance auf Asyl bekommen sollten. “Wir fordern ausdrücklich, dass bestimmte Gebiete in Syrien als sichere Regionen eingestuft werden”, sagte er. mit dpa

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    • Zypern
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    News

    “Wir werden nicht zögern, unsere Abwehrinstrumente einzusetzen”

    Ursula von der Leyen bei der Eröffnung der Hannover Messe am Sonntagabend

    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat betont, dass die EU künftig stärker gegen einen unfairen internationalen Wettbewerb vorgehen will. “Wir werden gegenüber unseren Partnern stärker als früher auf faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Unternehmen drängen”, sagte von der Leyen am Sonntagabend laut Redemanuskript zur Eröffnung der Hannover Messe. “Wo wir Missbrauch sehen, werden wir nicht zögern, unsere Abwehrinstrumente einzusetzen“, sagte sie mit Hinweis auf E-Autos aus China.

    Die EU habe einen offenen Ansatz beim Handel. “Zugleich sehen wir die Wolken am Horizont. Zum Beispiel, dass massive Subventionen an Hersteller von Elektrofahrzeugen in China fließen”, fügte sie hinzu. “Und, dass sich andere Märkte bereits dagegen abschotten, beispielsweise die USA, Mexiko oder die Türkei.” Die Kommissionspräsidentin bekannte sich zum Abschluss weiterer Handelsabkommen und Partnerschaften. Ziel sei es, die Versorgung der EU etwa bei kritischen Rohstoffen oder sauberem Wasserstoff zu diversifizieren.

    Neben der Handelspolitik nannte von der Leyen vier weitere Punkte, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken. Die EU-Finanzminister forderte sie auf, schnell bei der Vollendung der Kapitalmarktunion voranzugehen. Europäischen Unternehmen wolle man so schnell wie möglich günstige, saubere Energie aus heimischen Quellen bieten. “Die Mobilität von Arbeitskräften innerhalb Europas muss noch einfacher werden”, sagte von der Leyen. Legale Migration sei zudem ein wesentlicher Standortfaktor. Als viertes Feld nannte sie die Digitalisierung. Dank den europäischen Unternehmen verfüge die EU über einen beispiellosen Datenschatz. rtr/ber

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    • kritische Rohstoffe
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    Industrie mangelt es an Cybersicherheit und KI-Infrastruktur

    Ein KI-gesteuerter Roboter auf der Hannover Messe

    Die Industriebetriebe in Europa sind einer Studie zufolge nur unzureichend auf Hackerangriffe vorbereitet. Nur zwei Prozent der Unternehmen seien hier bestmöglich aufgestellt, bei 17 Prozent könne man immerhin von einem guten Schutz sprechen, heißt es in einer Studie des Netzwerk-Ausrüsters Cisco vor der am Montag beginnenden Hannover Messe. Bei mehr als 80 Prozent der Firmen bestehe dagegen Handlungsbedarf.

    Im Vergleich mit anderen Branchen liege die Industrie hier nur im unteren Mittelfeld. Die besten Werte ermittelte Cisco für Technologie-Anbieter, wo immerhin 28 Prozent gut oder sehr gut vorbereitet seien, gefolgt von der Finanzbranche mit 23 Prozent. Auch im weltweiten Vergleich schneide Europas Industrie schlecht ab. In den USA seien 29 Prozent der Industriebetriebe gut oder sehr gut gegen Cyberattacken gerüstet, zehn Prozentpunkte mehr als in Europa. Am schlechtesten schnitten in Europa Bildungseinrichtungen und das Gesundheitswesen ab.

    Langlebige Anlagen behindern IT-Modernisierung

    Für die Untersuchung hatte Cisco im Januar und Februar weltweit mehr als 8000 Führungskräfte aus Unternehmen befragt, davon knapp 2000 in Europa. Grund für das schlechte Abschneiden vieler Industriebetriebe sei vor allem die Langlebigkeit vieler Produktionsanlagen, sagte Christian Korff, Mitglied der Geschäftsführung bei Cisco in Deutschland.

    Etwas besser sehe es beim Thema Künstliche Intelligenz (KI) aus. 34 Prozent der Industrie seien hier gut oder sehr gut aufgestellt. Wirklich zufrieden könne man damit aber nicht sein. Zwar hätten 64 Prozent der Betriebe eine KI-Strategie, doch nur 34 Prozent hätten auch die technische Infrastruktur, um KI wirklich einsetzen zu können. “Und wenn ich sehe, dass ein Drittel der Industrie-Unternehmen noch keine KI-Strategie haben, dann wird mir angst und bange“, fügte Korff hinzu. dpa

    • Cybersicherheit
    • Industrie
    • Künstliche Intelligenz

    Tajani kandidiert für Europa

    Italiens derzeitiger Außenminister Antonio Tajani war bereits einmal Präsident des Europaparlaments.

    Der ehemalige EU-Kommissar und Präsident des Europaparlaments Antonio Tajani kandidiert wieder für die Europawahlen. Der Vorsitzende der Forza Italia wird in vier der fünf Wahlkreise Italiens die Liste seiner Partei anführen. “Ich habe mich entschieden anzutreten, meine Frau möge mir verzeihen”, sagte er am Samstag bei einem Kongress der Forza Italia in Rom.

    Tajani war nach dem Tod von Parteigründer und Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi im Februar offiziell als dessen Nachfolger an der Spitze der Forza Italia bestätigt worden. Der 70-jährige ist derzeit Außenminister. Ob er nun aber wieder nach Brüssel wechselt, ist allerdings unklar. Er wolle seine Europa-Erfahrung “dem Wahlkampf” zur Verfügung stellen, sagte er.

    Wohl nur taktische Kandidaturen

    Tajani steigt damit als erster der Chefs der großen Parteien in Italien in den Ring für die Europawahl, die sich eher einen Schaukampf liefern dürften. Wenige Stunden später verkündete auch Elly Schlein, Chefin des sozialdemokratischen Partito Democartico, auf Platz eins der Wahlliste anzutreten, allerdings nur in zwei Wahlkreisen. “Ich kandidiere, bleibe aber im italienischen Parlament”, sagte Schlein am Sonntag. Die Kandidatur auch hier: ein Symbol.

    Denn auch Giorgia Meloni von den Fratelli d’Italia wird dem Beispiel folgen. Die Ministerpräsidentin will ihre Kandidatur – so wird erwartet – am kommenden Sonntag beim Parteitag der Fratelli in Pescara verkünden. In Italien läuft am 1. Mai die Frist aus, zu der die Listen für die Wahlzettel stehen müssen. Auch Meloni hat bereits angekündigt, nach der Wahl nicht nach Straßburg wechseln zu wollen.

    Wahlergebnis wichtig für Kräfteverhältnis der Koalition in Rom

    Mit ihren taktischen Kandidaturen heben die Parteichefs die Abstimmung Anfang Juni auf ein neues Level. Meloni erhofft sich, ihre Stellung als Anführerin ihrer Regierungskoalition zu festigen – und eine noch stärkere Positionierung vor allem gegenüber ihrem bündnisinternen Widersacher Matteo Salvini. Der Lega-Chef wird anders als seine Koalitionspartner nicht bei der Europawahl kandidieren.

    Dessen Lega, die bei den Europawahlen 2019 noch 34 Prozent der Stimmen erhielt, liegt in den Umfragen derzeit bei 8,2 Prozent. Für Melonis Fratelli werden 28 Prozent vorhergesagt. Und Außenminister Tajani und seine Forza Italia hoffen auf 10 Prozent. asf

    • Europawahlen 2024
    • Italien
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    Presseschau

    EU-Außenminister beraten über Ukraine, Iran und Sudan DEUTSCHLANDFUNK
    Neuer EU-Deal soll syrische Flüchtlinge im Libanon halten DER STANDARD
    Seenotretter in Italien freigesprochen: Die “Meeres-Taxis” sind keine Komplizen der Schlepper RND
    CSU-Chef Markus Söder will EU-Verbrenner-Aus ab 2035 stoppen RP-ONLINE
    Ausgebeutete Fernfahrer: EU-Kommissar Nicolas Schmit kritisiert Deutschland BR
    Oberstes Gericht in Kroatien: Präsident Milanovic darf nicht Regierungschef werden FAZ
    “Wir sind am Limit”: Zyperns Präsident über Flüchtlingsstrom aus dem Libanon und Eskalation im Nahen Osten RND
    Großbritannien lehnt Gespräche über EU-weites Jugendprogramm ab GRENZECHO
    Zensurvorwürfe gegen Italiens öffentlich-rechtliches Fernsehen FAZ
    Péter Magyars Anti-Orbán-Partei mit Unterschriftenrekord für EU-Wahlliste DER STANDARD
    Serbische Minderheit boykottiert Referendum im Kosovo ZEIT
    Spanische Regionalwahlen: Separatisten feiern historischen Wahlerfolg im Baskenland SPIEGEL
    Partei von Vassilakou tritt bei EU-Wahl in Griechenland an DIE PRESSE
    Wachsende Wut: Zehntausende gehen auf Kanaren gegen Tourismus auf die Straße DER STANDARD

    Standpunkt

    Generative KI: Zwischen Produktivitätsbooster und Marktmachtverstärker

    Von Hannes Ullrich
    Hannes Ullrich ist stellvertretender Leiter der Abteilung Unternehmen und Märkte im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Er leitet ein Forschungsprojekt zu künstlicher Intelligenz im Gesundheitsbereich, das durch das Förderprogramm des Europäischen Forschungsrats für Spitzenforschung finanziert wird.
    Hannes Ullrich ist stellvertretender Leiter der Abteilung Unternehmen und Märkte im DIW Berlin.

    ChatGPT und andere Modelle generativer künstlicher Intelligenz (KI) haben im vergangenen Jahr eine Welle der Faszination ausgelöst. So können die Algorithmen mühelos plausibel erscheinende Inhalte wie Bilder und Texte erstellen. Ihre öffentliche Bereitstellung hat aber auch zahlreiche Skeptiker auf den Plan gerufen. Was in einigen Bereichen bereits ein großer Produktivitätsgewinn ist, birgt für viele Anwendungen dennoch die Gefahr hoher Fehlerquoten und schürt die Angst vor Kontrollverlust.

    Doch statt sich auf Diskussionen über die Chancen und Risiken neuer KI-Modelle zu beschränken, sollte ein weiterer Umstand beachtet werden: Die ohnehin schon wenigen großen Tech-Konzerne können mit generativer KI ihre Machtfülle ausnutzen und sogar noch vergrößern. Hier kann und sollte die EU, aber auch nationale Regierungen, effektiv gegensteuern und demokratisch legitimierte Leitplanken für die Entwicklung und Verbreitung innovativer KI setzen.

    Daten sind durchsetzt mit Fehlern und Stereotypen

    Obwohl (generative) KI – angesichts der Fülle komplexer Aufgaben in der heutigen Arbeitswelt – noch nicht als in der Breite verlässliches Werkzeug angewendet werden kann, erscheint eine breite gesellschaftliche Akzeptanz bereits vorhanden zu sein: In US-Umfragen gaben über 30 Prozent der Befragten an, dass sie generative KI nutzen, um Rat für finanzielle Entscheidungen zu suchen.

    Dabei leiden diese Systeme nach wie vor unter hohen Fehlerquoten und produzieren mitunter unsinnige oder systematisch verzerrte Inhalte. Dies liegt maßgeblich daran, dass die bereitgestellten Sprachmodelle nicht für spezielle Zwecke entwickelt wurden. Daher taugen sie zum Beispiel nicht als Finanzberater oder Ersatz für den Arztbesuch. Für die aktuell bestehenden Sprachmodelle wurde undifferenziert die größte verfügbare Masse an digitalisierten Daten verwendet – und erst dann in begrenztem Maße durch menschliche Expertise angepasst und verifiziert.

    Die zunächst verwendeten Daten sind jedoch weiterhin durchsetzt von Fehlern und Stereotypen, wie sie sich in der Gesellschaft, die ebendiese Daten in der Geschichte der Menschheit generiert hat, manifestieren. Das ist ein Problem, weil sich die sehr viel schwierigere Entwicklung skalierbarer kausaler Methoden, die für robuste und erklärbare Systeme grundlegend sind, noch in einem frühen Stadium befindet.

    Modelle sind keine Wahrheitsmaschinen

    Für die Inhalte, die generative Modelle wiedergeben, spielt das Design der Entwickler und Unternehmen eine entscheidende Rolle. Insbesondere die Auswahl der Daten, auf deren Basis ein GPT-Modell erstellt wird, bestimmt maßgeblich darüber, wie robust und fair oder wie verzerrend und gefährlich die produzierten Inhalte sind. Da die vorherrschenden generativen Modelle von einer Handvoll großer Unternehmen wie Alphabet, Meta und Microsoft entwickelt werden, sind sie keine neutralen Wahrheits- oder Informationsmaschinen, sondern spiegeln interne Entwicklungs- und Marketingentscheidungen dieser Unternehmen wider.

    Ökonomisch betrachtet können die generativen KI Modelle, aber auch andere smarte Geräte wie VR-Brillen, die Dominanz weniger großer Tech-Unternehmen fortsetzen. Aufgrund ihrer bereits etablierten Position in Cloud-Infrastrukturen und Betriebssystemen scheinen Unternehmen wie Alphabet und Microsoft hierbei kaum einholbar zu sein, und auch die anderen drei Tech-Riesen Amazon, Apple und Meta haben in Milliardenhöhe in KI investiert. Dies sollte zum Nachdenken anregen, wenn über die Zukunft generativer KI spekuliert wird.

    DSA und DMA spielen eine entscheidende Rolle

    Es verdeutlicht, welchen Anreizen diese entwickelnden Unternehmen folgen. Gleichzeitig werden direktere regulatorische Handlungsmöglichkeiten offenbart. Denn Unternehmen, die KI entwickeln und vermarkten, können entscheiden, wie sie datenbasierte Software entwickeln, und als Gesellschaft können wir hierauf durch einen regulatorischen Rahmen Einfluss nehmen. Darüber zu diskutieren ist essenziell und sollte durch Diskussionen, ob GPT-Modelle menschliche Intelligenz übertreffen, ein Selbstbewusstsein erlangen oder außer Kontrolle geraten können, nicht in den Hintergrund geraten.

    Eine entscheidende Rolle spielt hierbei, dass die neuen EU-Verordnungen zu digitalen Diensten und Märkten – DSA und DMA – effektiv umgesetzt werden. Sie zielen darauf ab, die Marktdominanz der großen Digitalkonzerne aufzubrechen und digitale Dienste transparenter und verlässlicher zu machen. Daher können sie auch einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Risiken von KI, die sich nicht zuletzt durch die Interessen der machtvollen Tech-Konzerne ergeben, einzudämmen. Somit könnten die gesellschaftliche Akzeptanz von (generativer) KI nachhaltig gefördert und Produktivitätsgewinne durch Innovation ermöglicht werden.

    Kommission muss in Expertise investieren

    Die Europäische Kommission müsste dafür als Regulierungsinstanz stärker als bisher geplant in die notwendige technische und wettbewerbsinstitutionelle Expertise investieren. So könnte erreicht werden, dass die Tech-Konzerne trotz ihrer beeindruckenden Ressourcen in den laufenden Stakeholder-Verfahren nicht die implizite Kontrolle über die Umsetzung der Verordnungen übernehmen.

    Ein weiterer effektiver Weg, mehr Transparenz und ein besseres Verständnis von durch KI beeinflussten Marktergebnissen zu erhalten, wäre, im Digital Markets Act – ähnlich wie im Digital Services Act – unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern den Zugang zu Daten der Gatekeeper zu ermöglichen.

    Letztendlich wird es aber auch von der Höhe der Investitionen in Daten- und Recheninfrastrukturen sowie in die interdisziplinäre Grundlagenforschung abhängen, wenn es um die Qualität künftiger KI geht. Denn es reicht nicht, erfolgreiche und durchaus innovative Konzerne zu regulieren. Es müssen auch Potenziale für neue Innovationssprünge, die auch bestehende Marktkonstellationen überwinden können, gefördert werden.

    Hannes Ullrich ist stellvertretender Leiter der Abteilung Unternehmen und Märkte im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Er leitet ein Forschungsprojekt zu künstlicher Intelligenz im Gesundheitsbereich, das durch das Förderprogramm des Europäischen Forschungsrats für Spitzenforschung finanziert wird.

    • AI Act
    • Digital Markets Act
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