sechs Monate ist der Korruptionsskandal im Europaparlament um Schmiergelder aus Katar und Marokko nun schon bekannt. Eva Kaili ist ihre Fußfessel inzwischen los, wartet auf ihren Prozess und will zurück ins Parlament. Sechs Monate sind auch die Versprechen der EU-Institutionen für eine stärkere Kontrolle der eigenen Abgeordneten, Beamten und Prozesse her.
Am Mittwoch will die Kommission das lang erwartete Gesetz zur Einrichtung eines europäischen Ethikgremiums vorschlagen. Ursula von der Leyen hatte dies zu Beginn der Wahlperiode angekündigt. Seit Qatargate sind die Forderungen für eine solche übergreifende Ethikbehörde für die Institutionen besonders laut.
Doch bereits jetzt ist bekannt: Die Behörde soll keine Verstöße ahnden können. Es bleibt also bei einem Papiertiger. Auch der 14-Punkte-Plan der Parlamentspräsidentin Roberta Metsola (EVP), der für mehr Transparenz im EP sorgen soll, ist inzwischen im AFCO-Ausschuss verschollen. Inzwischen seien die Antikorruptionsvorschläge von Roberta Metsola stark verwässert worden, hört man aus dem Parlament. Immer wieder berufen sich die involvierten Abgeordneten auf die freie Ausübung ihres Mandates, um sich von zu starken Auflagen freizumachen.
Und auch der umstrittene Kommissionsvorschlag um ausländische Einflussnahme, der für eine Offenlegung der Geldgeber von Interessensvertretern plädiert, ist inzwischen von der Kommissionsagenda verschwunden. Zu groß war der Druck der Zivilgesellschaft und von Abgeordneten, die Kommission müsse erst eine Folgenabschätzung vornehmen. Sie erinnerten auch daran, dass Qatargate nicht die Schuld einer NGO, sondern von korrupten MEPs sei.
Mit anderen Worten: Seit Qatargate ist trotz aller Mea Culpas und Versprechen nicht viel passiert. Knapp ein Jahr vor den Europawahlen herrscht wieder “Business as usual”. Oder, wie die Lobbyforscherin Andreea Nastase von der Universität Maastricht im Gespräch mit Table.Media sagte: “Hier scheint der Mut zu fehlen, um wirklich zu handeln.“
Es ist ein kleines Team um die neue Budget-Generaldirektorin Stéphanie Riso, das derzeit über den Zahlen brütet. Die Gruppe diskutiert weitgehend abgeschirmt, auch innerhalb der EU-Kommission. Daher sind bislang wenig Einzelheiten nach außen gedrungen, welche Änderungen am Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) die Kommission in gut zwei Wochen vorschlagen will – dem Vernehmen nach gemeinsam mit einem Paket zu neuen Eigenmitteln. Klar ist aber: Ein großer Aufschlag wird es nicht.
Auch die Kommission sei sich im Klaren darüber, dass sie keine hohen Nachforderungen an die Mitgliedstaaten stellen könne, heißt es in Brüssel. Die Bereitschaft im Rat ist gering, aus den nationalen Haushalten nachzuschießen, um zur Halbzeit der Finanzperiode 2021 bis 2027 absehbare Lücken im EU-Budget zu schließen. Das gilt laut EU-Diplomaten nicht nur für traditionell wenig spendierfreudige Länder wie Österreich oder die Niederlande. In der deutschen Bundesregierung gibt es ebenfalls wenig Bereitschaft, mehr Geld nach Brüssel zu überweisen – zumal in Berlin der Spardruck steigt. Anderen Finanzministern fehle schlicht der fiskalische Spielraum, heißt es.
Wenig Rückhalt im Rat hätte derzeit auch die Neuauflage eines schuldenfinanzierten EU-Topfes à la Next Generation EU. Daher wird der Europäische Souveränitätsfonds, den die Kommission gemeinsam mit dem MFR-Review am 20. Juni vorstellen will, deutlich kleiner ausfallen, als von den Befürwortern um Binnenmarktkommissar Thierry Breton einst erhofft. Über dessen genaue Funktion und Struktur wird in der Behörde aktuell noch intensiv verhandelt.
Die Kommission wird daher wohl vorschlagen, die benötigten Mittel vor allem durch Umschichtungen aufzubringen, insbesondere aus den Kohäsionsfonds oder auch aus InvestEU. Der FDP-Haushaltspolitiker im Europaparlament, Moritz Körner, hält das für den richtigen Ansatz: “Es wäre sinnvoll, nur langsam abfließende Mittel aus dem Kohäsionsfonds umzuwidmen, etwa um die Ukraine und Moldau weiter zu unterstützen”.
Kaum jemand bestreitet, dass der Finanzbedarf auf EU-Ebene deutlich gestiegen ist, seit der Haushaltsrahmen nach einem Marathon-Gipfel 2019 festgezurrt wurde. Mehrere Faktoren führen dazu, dass der MFR absehbar an die Obergrenzen stößt:
“Der Rahmen ist sehr eng – wir müssen fast alle Flexibilitätsinstrumente im Haushalt einsetzen, um allein die gestiegenen Zinskosten aufzufangen”, sagt Körner. Laut Diplomaten gibt es im Rat eine gewisse Bereitschaft, die gestiegenen Kosten für Zinsen und Beamtenvergütung auszugleichen. Die Hilfen für die Ukraine will die Kommission verstetigen, aber voraussichtlich weiterhin über Instrumente außerhalb des eigentlichen EU-Budgets wie der Europäischen Friedensfazilität.
Hinzu kommt der Souveränitätsfonds, den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im vergangenen Herbst angekündigt hatte. Die Gelder dafür will die Kommission im Rahmen des MFR-Reviews aufbringen. Intern kämpft besonders Vizepräsidentin Margrethe Vestager dafür, den Fonds als Risikopuffer für private Investoren einzusetzen, die in innovative Technologien investieren wollen. Die Dänin verspricht sich davon ein schnell einsetzbares Instrument, das den hohen Investitionsbedarf für den grünen Umbau der Wirtschaft bedienen soll. Ihr Kollege Frans Timmermans setze sich hingegen dafür ein, den sozialen Ausgleich im Rahmen des Green Deal zu stärken, heißt es in Brüssel. Wie die Diskussion ausgeht, sei noch weitgehend offen.
In der Bundesregierung hegt Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) größere Sympathien für den Souveränitätsfonds als Finanzminister Christian Lindner (FDP). Die Bundesregierung verschanzt sich seit Monaten hinter der Formulierung, die Kommission solle zunächst eine Analyse des Finanzbedarfs vorlegen. Man werde den Vorschlag prüfen, wenn er vorliege, heißt es in Berlin. Lindner werde die politische Auseinandersetzung aber weniger über den Souveränitätsfonds suchen als in den Verhandlungen über die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
Schwierig werden dürften die anstehenden Diskussionen aber auch so: Die Verhandlungen über den MFR-Review dürften verknüpft werden mit jenen über den EU-Haushalt für das kommende Jahr, heißt es in EU-Kreisen. Den Budgetentwurf für 2024 will die Kommission bereits am Mittwoch vorlegen. Eine Vermengung dieser beiden Prozesse mit dem Souveränitätsfonds “dürften zu komplexen Verhandlungen führen”, warnen EU-Diplomaten.
Der US-Pharmakonzern Pfizer verweigert Auskunft zu einer Vereinbarung, die einen umstrittenen, milliardenschweren Impfstoffkauf der EU von 2021 neu regeln soll. Statt auf die Fragen der Abgeordneten des COVI-Sonderausschusses zu antworten, der die Covid-19-Krise aufarbeitet, schickte der Konzern einen Fragenkatalog und verweigerte Akteneinsicht. Das sei nicht hinnehmbar, heißt es im Parlament.
Die Vereinbarung mit Pfizer und dem deutschen Unternehmen Biontech hatte die EU-Kommission Ende Mai getroffen. Ziel war es nach Angaben der Brüsseler Behörde, “der von den Mitgliedstaaten vorgenommenen Bewertung des sich ändernden Bedarfs an Covid-19-Impfstoffen besser Rechnung zu tragen.” Details wurden nicht mitgeteilt. Auch auf Nachfrage von Table.Media wollte die Kommission keine Zahlen zur Vereinbarung nennen. Dabei geht es offenbar um hohe Beträge.
Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung fallen durch die Vereinbarung mit Pfizer, die hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wurde, hohe “Stornogebühren” an. Allein Deutschland müsse “mehrere hundert Millionen Euro” zahlen, weil es weniger Impfdosen abnehme als ursprünglich vereinbart. Wenn die Angaben richtig sind, geht es für alle 27 EU-Staaten um mehrere Milliarden Euro. Jedoch äußern sich die Beteiligten bislang nicht.
Auch das Europaparlament tappt im Dunkeln. Der COVI-Ausschuss hatte die EU-Kommission gebeten, die ursprünglichen Verträge mit Pfizer offenzulegen, um die Grundlage für die nun erfolgten Neuverhandlungen zu prüfen. Die Brüsseler Behörde folgte der Bitte jedoch nicht – sondern wandte sich nach Angaben aus dem Parlament an ihren Vertragspartner Pfizer mit der Bitte um eine Genehmigung auf Akteneinsicht.
Der US-Konzern reagierte auf ungewöhnliche Weise. Statt die Erlaubnis zu erteilen, schickte Pfizer einen Fragenkatalog. Die Abgeordneten sollen begründen, warum sie die unredigierten Fassungen der Verträge von 2021 einsehen wollen – schließlich hätten sie ja bereits Zugang zu redigierten Fassungen erhalten. Diese sind allerdings teilweise geschwärzt. Pfizer will auch wissen, ob die Texte veröffentlicht würden – und was das Parlament gegen “unautorisierte Leaks” unternehmen wolle.
Aus Sicht der Abgeordneten ist dies nicht hinnehmbar. Es sei “schwer nachvollziehbar, dass eine private Firma, die finanziell massiv von der Pandemie profitiert hat und öffentliche Gelder zur Entwicklung eines Impfstoffes bekommen hat, sich weigern kann, die mit der EU geschlossenen Verträge mit EU-Abgeordneten zu teilen”, so die Abgeordnete Tilly Metz. Schließlich gehe es um die Gesundheit und um Vertrauensschaffung in EU-Prozeduren.
Die luxemburgische Grüne sitzt im COVI-Ausschuss und steht mit ihrer Kritik nicht allein. Mehrere Abgeordnete hatten sich schon zuvor über die Geheimniskrämerei beklagt und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufgefordert, persönlich im Parlament Stellung zu nehmen. Es sei “selbstverständlich”, dass sich von der Leyen dem Ausschuss stelle, erklärte die Vizepräsidentin des Parlaments, Katarina Barley, im FOCUS. Von der Leyen (CDU) dürfe sich nicht verweigern, so die SPD-Politikerin. Schließlich gehe es um “sehr viel Steuergeld”.
Insgesamt geht es um bis zu 1,8 Milliarden Impfdosen und ein geschätztes Geschäftsvolumen von 35 Milliarden Euro. Sowohl die EU-Kommission als auch der US-Konzern haben sich jedoch von Anfang an geweigert, die Details des Deals offenzulegen, den von der Leyen 2021 mit Pfizer-Chef Alfred Bourla ausgehandelt hatte. Zur Begründung verwiesen sie auf Geschäftsgeheimnisse und die Sicherstellung der Versorgung mit Impfstoffen.
Durch das Ende der Coronakrise ist nun aber eine neue Lage entstanden: Es werden weniger Impfdosen benötigt. Es sei normal, dass dafür Gebühren anfallen, heißt es im Europaparlament. Allerdings sei es nicht akzeptabel, dass solche Klauseln ohne öffentliche Kontrolle verhandelt werden – und dass sogar EU-Abgeordneten der volle Zugang zu dem verhandelten Text verweigert wird. “Dass in einem kommerziellen Vertrag gewisse Gebühren anfallen können, falls weniger Ware abgenommen wird als geplant, ist ein handelsübliches Konzept”, so Metz.
Allerdings handele es sich hier nicht um einen üblichen Vertrag zwischen beliebigen Handelspartnern. “Es geht um Abkommen, welche im Namen der europäischen Allgemeinheit mit mächtigen privaten Firmen abgeschlossen wurde”, erklärt die Abgeordnete.
Die Blockade werde ein Nachspiel haben, heißt es im COVI-Ausschuss. Die Abgeordneten haben zwar keine rechtliche Handhabe. Sie arbeiten jedoch an ihrem Schlussbericht zur Coronakrise, der noch vor der Sommerpause ins Plenum kommen soll. Darin könnten sie nicht nur Pfizer eine Rüge erteilen, sondern auch der EU-Kommission und ihrer Präsidentin – wegen Intransparenz und mangelnder Kooperation.
Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton ist offenbar fest entschlossen, den Data Act in den kommenden vier Wochen abzuschließen. “Wir haben beim Data Act große Fortschritte erzielt”, berichtete Breton den Digitalministern im Telekommunikations-Rat am Freitag in Luxemburg. Seiner Meinung nach werde nur noch ein weiterer Trilog Ende Juniu erforderlich sein. Somit könnte die Trilog-Einigung zum Data Act noch unter der schwedischen Ratspräsidentschaft erfolgen.
Es gebe nur noch wenige offene Fragen, für die eine Lösung gefunden werden müssten, so Breton und nannte die Themen Governance und Geschäftsgeheimnisse. “In einigen Ländern ist die Wahrung der Rechte an geistigem Eigentum schwieriger als in anderen.”
In der anschließenden Aussprache beim Telekom-Rat wurde auch klar, wo die Differenzen liegen: Finnland betonte, dass die Wettbewerbsfähigkeit der EU, das Wirtschaftswachstum und die Innovation auf Daten und deren Austausch beruhten. “Die Schaffung neuer Zugangsrechte ist ein Schlüsselelement des Data Act.” Zu weit gefasste Ausnahmen von diesen Rechten, etwa mit Verweis auf den Schutz von Geschäftsgeheimnissen, würden diese Regeln verwässern. Der Data Act könnte seine Wirkung nicht entfalten. Frankreich argumentierte dagegen, dass gerade die Geschäftsgeheimnisse die Wettbewerbsfähigkeit sicherten. Diese Ansicht, die auch Deutschland vertritt, ist aber wohl nicht mehrheitsfähig im Rat.
Darüber hinaus ging es noch um weitere Gesetzgebungsverfahren, die sich bereits im Trilog befinden: die europäische elektronische Identität (EIDAS) sowie die E-Privacy-Verordnung. Bei eIDAS näherten sich die Positionen von Parlament und Rat an, berichtete Breton. Es gebe noch offene Fragen, zum Beispiel zur Single-Identifier-Zertifizierung oder zur Wallet. Er hoffe aber, “dass wir unter der schwedischen Präsidentschaft in der Lage sein werden, schnelle Fortschritte zu erzielen und dieses Dossier sogar zu Ende zu bringen“.
Für die seit Jahren verhandelte E-Privacy-Verordnung gilt das nicht. Die Schweden setzen Prioritäten und kündigten an, dass sie dieses Dossier an die Spanier weiterreichen werden. Allerdings forderten Mitgliedstaaten wie die Niederlande, dann doch wenigstens vorab eine verbraucherfreundlichere Regelung zu Cookie-Bannern zu finden. “Die Bürger beschweren sich recht häufig darüber, und das zu Recht”, gab auch Breton zu. Großer Streitpunkt ist dagegen die Datenspeicherung im Rahmen der Kriminalitätsbekämpfung.
Weitere Themen auf der Agenda waren unter anderem:
Hier dauert die Arbeit innerhalb des Rates noch an und wird unter der spanischen Ratspräsidentschaft fortgesetzt.
Am lebendigsten war die Diskussion beim Austausch über Praktiken und Initiativen zum Einsatz von KI in den einzelnen Mitgliedstaaten, also außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens zum AI Act. Angeregt hatte dies die dänische Delegation. Die Spanne der vorgetragenen Initiativen reichte sehr weit, von “wir haben noch nichts unternommen” (Luxemburg) bis hin zum Politikberater Ion (Rumänien).
Ion erhält Input aus der Bevölkerung und analysiert die Daten. Er soll Politikern ein besseres Bild von den Sorgen und Prioritäten der Bürgerinnen und Bürger vermitteln. Diese Informationen sollen als Grundlage für politische Entscheidungen dienen.
Auch Finnland stellte ein Projekt vor. Mehr als eine Million Menschen haben bereits am kostenlosen Online-Kurs zu den Grundlagen von KI teilgenommen. Der Kurs ist in allen Sprachen der EU verfügbar, also auch auf Deutsch.
Hinter verschlossenen Türen tauschten sich die Digitalminister mit Kommissar Breton auch über den von ihm vorgeschlagenen Pakt für Künstliche Intelligenz aus. Mit diesem AI Pact will die Kommission KI-Unternehmen über einen engen Dialog mit ihren Dienststellen helfen, den kommenden AI Act zu verstehen. So sollen sie sich darauf vorbereiten können und die Umsetzung sogar vorwegnehmen.
Der AI Pact sei so etwas wie ein “Vorzimmer” zum AI Act, teilte Breton im Anschluss mit. “Der AI Pact wird den wichtigsten Grundsätzen des AI Acts für risikoreiche KI folgen.” Dazu gehörten etwa Datenqualität, technische Dokumentation des Systems, Transparenz, menschliche Aufsicht und ein hohes Maß an Genauigkeit, Cybersicherheit und Robustheit. Auch generative KI, die nicht im Kommissionsvorschlag vorkam, sollte im Einklang mit den Ergebnissen der Diskussionen zwischen den Mitgesetzgebern behandelt werden, sagte Breton.
“Andere Regionen sind noch nicht bereit für die Regulierung, wir aber schon”, sagte er. “Für die Industrie ist es nun an der Zeit, mit den Vorbereitungen zu beginnen.” Der AI Pact werde sich in den kommenden Monaten weiterentwickeln, “während wir uns der politischen Einigung über den AI Act nähern.” vis
Nachdem die EVP im Umweltausschuss des EU-Parlaments (ENVI) den Verhandlungstisch zum Renaturierungsgesetz verlassen hatte, haben die übrigen Berichterstatter von S&D, Grünen, Renew und Linken 29 Kompromiss-Anträge ausgehandelt. Am 15. Juni soll der ENVI darüber abstimmen, im Juli das Plenum.
Table.Media konnte den Kompromiss-Entwurf vorab einsehen. Er bewegt sich im Wesentlichen auf dem Ambitionsniveau des Kommissionsvorschlags. Darin heißt es, bis 2030 sollen auf mindestens 20 Prozent aller Meeres- und Landflächen der EU Renaturierungsmaßnahmen durchgeführt werden. Die ENVI-Verhandler fordern ein 30-Prozent-Ziel lediglich für solche Flächen, die Bedarf für Wiederherstellung aufweisen (“in need of restoration”).
Der federführende Berichterstatter César Luena (S&D) hatte zunächst die generelle Anhebung des Ambitionsniveaus auf 30 Prozent gefordert. Die Rücknahme dieser Forderung dürfte den ENVI-Bericht mehrheitsfähiger machen, da es auch innerhalb der Renew-Fraktion Tendenzen gibt, das Gesetz als Ganzes abzulehnen. Zwischenzeitlich standen auch Unterziele für die Renaturierung einzelner Ökosysteme zur Diskussion. Diese finden sich in den Kompromissanträgen ebenfalls nicht wieder.
Geringfügige Änderungen gibt es beim ebenfalls viel kritisierten Verschlechterungsverbot von Ökosystemen im Naturierungsgesetz. So sollen Ausnahmen vom Verschlechterungsverbot nur gewährt werden, wenn Mitgliedstaaten “überzeugend” nachweisen können, dass die Verschlechterung durch Naturkatastrophen oder höhere Gewalt ausgelöst wurde. Auch unvermeidbare Lebensraumveränderungen in Folge des Klimawandels sollen nur als Ausnahmegrund gelten, wenn ein Mitgliedstaat dies wissenschaftlich nachweisen kann, ergänzen Abgeordneten. Die Kommission hat in ihrem Vorschlag keine solche Vorgabe. luk
Es sei eine Herausforderung, ein praktikables Due-Diligence-Gesetz zu schaffen, welches die kleinen und mittleren Unternehmen nicht überfordere, betonte Axel Voss (CDU) am Freitag beim Table.Live-Briefing. Die Veranstaltung brachte Vertreter von Unternehmen, Bundesarbeitsministerium (BMAS) und der Zivilgesellschaft zusammen, um über das am 1. Juni abgestimmte Parlamentsmandat zum Sorgfaltspflichtengesetz (CSDD) zu diskutieren.
Voss befand sich im Zuge der Abstimmung in einer besonders schwierigen Lage: Seine CDU/CSU-Gruppe stimmte gegen den Kompromiss von Berichterstatterin Lara Wolters (S&D). Und das, obwohl ihr Parteikollege als Schattenberichterstatter bis zuletzt versucht hatte, für die EVP akzeptable Kompromisse auszuarbeiten.
Wie brenzlig das Gesetz für Unternehmen ist, schilderte der Unternehmer Stefan Munsch, dessen Betrieb Chemiepumpen herstellt. “Ich hätte mir gewünscht, dass das Parlament die Notbremse zieht”, gab er zu und wiederholte damit die Position der deutschen Industrieverbände, darunter auch des VDMA. Schon jetzt müsse er für Käufer Fragebögen mit bis zu 70 Seiten ausfüllen, um zu zeigen, dass das Unternehmen verantwortungsvoll wirtschafte.
Dabei wäre sein Familienbetrieb nur indirekt vom Sorgfaltspflichtengesetz betroffen: Das Unternehmen erreicht die vom Parlament gesetzte Schwelle von 40 Millionen Euro Umsatz und 250 Mitarbeitern nicht. Das würde aber für ihn nicht viel ändern, so Munsch. Indirekt wäre er genauso vom Gesetz betroffen wie größere Unternehmen, da er bei seinen Käufern für saubere Lieferketten bürgen müsste.
Munsch würde daher ein System vorziehen, welches auf schwarze Listen setzt, an denen sich Unternehmen orientieren können. Letztlich habe ein kleines, international vernetztes Unternehmen wie seines immer nur eine begrenzte Kontrolle über seine Lieferkette. Wie solle er für etwas bürgen, was er nicht kontrollieren könne, fragte Munsch.
Genau aus diesem Grund sei die Haftungsfrage differenziert zu betrachten, warf die Direktorin der European Coalition for Corporate Justice, Nele Meyer, ein. Tatsächlich solle das geplante Gesetz sicherstellen, dass Unternehmen zwar haftbar sind, aber nur für Probleme, auf die sie auch einwirken können. “Das erfordert einen Paradigmenwechsel. Unternehmen dürfen die Kosten für Schäden nicht mehr einfach auslagern.” Schwarze Listen hält Meyer allerdings nicht für zielführend, denn diese bergen das Risiko, dass sich Unternehmen ganz aus Regionen zurückziehen und die Lage vor Ort sich dadurch noch weiter verschlimmere.
Um Unternehmen nicht zu sehr zu belasten, sei der risikobasierte Ansatz, wie ihn Rat und Parlament fordern, so bedeutend, betonte Carsten Stender aus dem BMAS. Es sei wichtig, dass Unternehmen sich auf die Elemente ihrer Wertschöpfungskette konzentrieren, bei denen auch wirklich ein Risiko für negative Auswirkungen auf Menschenrechte und Umwelt besteht.
Stender betonte außerdem: “Die nationalen Behörden wollen keineswegs zusätzlichen Druck auf die Unternehmen ausüben.” Auch Stender sieht schwarze Listen kritisch und warnt: “Man sollte Staaten nicht unter Pauschalverdacht stellen.” Gleichzeitig müsste das zukünftige Gesetz aber mehr Rechtssicherheit und Orientierung für Unternehmen bieten.
Eine weitere wichtige Frage für die Panelisten war die der Harmonisierung. Für EVP-Berichterstatter Axel Voss steht fest: Bei dem Gesetz müsse eine volle Harmonisierung angestrebt werden und die Richtlinie “idealerweise” später in eine Verordnung umgewandelt werden. Er wirft den EU-Staaten “rückwärtsgerichtetes Denken” vor, wenn sie darauf beharren, dass es bei Due Diligence um Unternehmensrecht geht und die Kompetenz damit bei den Mitgliedstaaten liegt.
Nele Meyer warnt jedoch, eine Verordnung sei nur dann anzustreben, wenn das Gesetz auch wirklich weit genug gehe und vor allem der Rechtsweg für Geschädigte auch wirklich garantiert sei. Auch Carsten Stender ist einer Harmonisierung nicht abgeneigt, hat jedoch Vorbehalte: “Wir brauchen Spielraum für rechtliche Eigenheiten.”
Er ließ unterdessen durchblicken, dass die Bundesregierung bei den anstehenden Trilogverhandlungen nicht auf mehr Rechtssicherheit für Unternehmen bestehen wird, aber nicht pedantisch an der sogenannten Safe Harbour Klausel festhält. Diese würde Unternehmen von der Haftung ausnehmen, wenn sie eine gewisse Checkliste erfüllen. Ein wichtiges Instrument, um Unternehmen zu entlasten, seien zum Beispiel auch Brancheninitiativen.
Die erste Trilogrunde zum zukünftigen Sorgfaltspflichtengesetz ist bereits für den 8. Juni angesetzt. cw
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) spricht an diesem Montag (14.30 Uhr) ein weiteres Urteil zur Unabhängigkeit der Justiz in Polen. Hintergrund ist eine Klage der EU-Kommission aus dem Jahr 2021, wonach mehrere polnische Regelungen gegen EU-Recht verstoßen. Dabei geht es um die Unabhängigkeit der polnischen Justiz bei der Überprüfung von EU-Recht sowie die Rechte von Richtern auf Achtung des Privatlebens.
Polens nationalkonservative Regierung baut die dortige Justiz seit Jahren ungeachtet internationaler Kritik um. Die EU-Kommission klagte mehrfach gegen die Reformen. Teilweise wurden Beschlüsse vom EuGH gekippt. Weil Warschau sich weigerte, EuGH-Urteile umzusetzen, verhängte der Gerichtshof schließlich eine Million Euro Zwangsgeld pro Tag. Die Strafe wurde im Frühjahr halbiert, weil die Regierung inzwischen einige Änderungen am Justizsystem vorgenommen hat.
Allerdings sind neue Verfahren schon abzusehen: Im Februar verklagte die EU-Kommission Polen erneut wegen Verstößen gegen EU-Recht durch den polnischen Verfassungsgerichtshof. dpa
EU-Institutionen haben keinen besonders guten Ruf, wenn es um Transparenz geht: Starre Abläufe, undurchsichtige Verfahren, kaum Einblicke. Seit fast zehn Jahren arbeitet Emily O’Reilly daran, das zu ändern. Als Europäische Bürgerbeauftragte zieht sie Organe der EU zur Rechenschaft, indem sie Beschwerden von Privatpersonen, Unternehmen und Organisationen über Missstände in Verwaltungseinrichtungen der EU nachgeht. “Die EU verfügt bereits über relativ gute Verwaltungsstandards” so O’Reilly. “Doch ist gerade eine solche Einrichtung dazu verpflichtet, immer nach den bestmöglichen Abläufen zu streben und das zum Nutzen aller Europäer.”
Das Amt des Europäischen Bürgerbeauftragten wird alle fünf Jahre durch das Europäische Parlament gewählt. Sofern der oder die Bürgerbeauftragte einen Missstand in der EU aufdeckt, sind EU-Organe auch dazu verpflichtet, innerhalb von drei Monaten dazu Stellung zu beziehen.
Einer der Missstände, denen sich O’Reilly gerade widmet, ist ein Problem mit der Bereitstellung öffentlicher Dokumente durch die EU. Es dauert zu lange. “Gerade, wenn es um Journalisten geht, die ganz aktuell über Vorgänge in der EU berichten und zeitnah Zugriff auf Dokumente benötigen, ist das ein Problem”, betont die Bürgerbeauftragte. “Ein verspäteter Zugriff ist damit auch gleichzeitig ein verweigerter Zugriff.” Und da öffentliche Dokumente in Zukunft immer häufiger abgefragt werden, müsse die EU schnellsten daran arbeiten, dieses Problem in den Griff zu bekommen.
Die Arbeit von Journalisten liegt der 65-jährigen Irin besonders am Herzen, arbeitete sie doch über 20 Jahre selbst als Journalistin in ihrem Heimatland. “Man bringt auch immer ein Stück seiner Persönlichkeit und seiner Vergangenheit in seine Karriere mit ein”, so O’Reilly. “Und meine Arbeit als Journalistin hat mich gut auf den Job als Bürgerbeauftragte vorbereitet.” Auch bei der Presse sei sie Bindeglied zwischen Bürger und Staat gewesen, das aufmerksam darauf achtet, wie die Politik mit der Öffentlichkeit interagiert.
Dass sie dabei schon als Journalistin äußerst erfolgreich war, zeigt sich unter anderen in ihren Auszeichnungen: Sowohl 1986 als auch 1994 gewann sie den Preis als beste Journalistin des Jahres in Irland. Ihren über Jahre geschulten Blick für das Wesentliche und ihre weitreichende Erfahrung beim Thema Politikjournalismus nutzt die Europäische Bürgerbeauftragte auch heute noch bei ihrer Arbeit.
Nachdem O’Reilly jahrelang über die irische Politik geschrieben und drei Bücher über die Politik ihres Heimatlandes verfasst hatte, führte sie ihr Weg genau dort hin – in die irische Politik. “Nach so vielen Jahren als Journalistin hat es mich sehr gereizt, nicht immer nur eine beobachtende, sondern auch eine aktive Rolle in der Politik zu übernehmen.” Dann habe sie einmal tief durchgeatmet und sich in die Politik gewagt. Und das mit Erfolg.
Von 2003 bis 2013 übernahm sie die Rolle der Bürger- und Datenschutzbeauftragten Irlands als erste Frau überhaupt in diesem Amt. Im Jahr 2007 wurde sie außerdem Beauftragte für Umweltinformationen. “Die Arbeit als Bürgerbeauftragte in Irland war zu etwa 75 Prozent die gleiche wie die Arbeit als Beauftragte für die EU heute”, sagt O’Reilly. Bei einer Beschwerde höre sie sich beide Seiten der Geschichte an, fordere entsprechende Dokumente an und nachdem sie sich ein Bild über die Situation gemacht hat, versuche sie das Problem gemeinsam mit allen Beteiligten zu lösen.
Worin sich die Aufgabe als Europäische Bürgerbeauftragte aber maßgeblich von der Arbeit in Irland unterscheide, sei der kulturelle Aspekt, so O’Reilly. Skandinavische Länder seien zum Beispiel äußerst transparent und bieten eine Fülle an frei zugänglichen Dokumenten. “Deutschland aber auf der anderen Seite legt sehr großen Wert auf Datenschutzbestimmungen und hat eine ganz andere Philosophie, wenn es um die Transparenz ihrer Bürger geht.”
Eine ihrer schwierigsten Aufgaben sei es also, auf europäischer Ebene genau den richtigen Mittelweg zwischen solchen kulturellen Unterschieden zu finden. “Wir müssen für Europa Standards finden, die einerseits nicht so niedrig sind, dass sie im Grunde nutzlos sind und andererseits auch nicht so hoch, dass sich niemand dazu bereit erklärt, ihnen zu folgen.”
Alles in allem ist Emily O’Reilly sehr zufrieden mit ihren Befugnissen als Europäische Bürgerbeauftragte. “Uns ist klar, dass wir in unserer Rolle als Bürgerbeauftragte eher als Soft-Power zu verstehen sind”, gesteht sie. “Aber wenn wir unsere Arbeit hier richtig machen, können wir wirklich großen Einfluss darauf haben, wie Einzelpersonen mit der EU interagieren.” Und genau so schaffe man das wichtige Vertrauen in die Institution EU. Gregor Scheu
Plastikdeckel von Getränkeflaschen zählen zu den Einwegkunststoffartikeln, “die an den Stränden der Union am häufigsten als Abfall vorgefunden werden”. So steht es in der EU-Richtlinie 2019/904. So weit, so ungut. Da kann man als umweltbewusster Gesetzgeber schon mal reagieren und zur Regulierung ansetzen.
Als Reaktion hat sich Brüssel mit besagter Richtlinie ganz was Pfiffiges ausgedacht: Hersteller sollen dafür sorgen, dass die Deckel “während der für das Produkt vorgesehenen Verwendungsdauer an den Behältern befestigt bleiben”. Klingt erst mal großartig, denn wenn das kleine Plastikteil befestigt ist, landet es idealerweise zusammen mit der Flasche im Müll statt im Meer.
Aufmerksamen Supermarktkunden ist womöglich aufgefallen, dass einige Hersteller die Richtlinie bereits jetzt umsetzen. Eigentlich ganz vorbildlich. Allerdings ist die Umsetzung in der Praxis nicht immer wirklich praktisch. Der an der Colaflasche befestigte Deckel stört beispielsweise beim Trinken oder beim Einschenken. Man besudelt sich oder die Kaffeetheke.
Meine bevorzugte Reaktion: Den Deckel dann doch irgendwie abreißen. Nur bekomme ich anschließend den dann beschädigten Deckel oft nicht wieder richtig auf die Flasche, das hängt vom Hersteller ab. Die Folge: ein offener Behälter. Die Flasche ist also weder transportfähig noch ist der Inhalt lange haltbar. Zudem erübrigt sich der Sinn der befestigten Deckel vollends. (Selbst wenn ich den Deckel pflichtbewusst IMMER in die Gelbe Tonne werfe).
Doch es gibt Hoffnung. Die Richtlinie gilt verpflichtend erst ab Mitte 2024. Bis dahin können sich Hersteller und Konsumenten ausprobieren und wichtige Erfahrungen sammeln. Sicherlich fällt einem findigen Designer bald etwas Besseres ein.
Ich übe mich bis dahin im Trinken und Einschenken und gelobe Geduld und Nachsicht bei der Erprobung verschiedener Varianten des umweltschonenden befestigten Plastikdeckels. Fortsetzung folgt… Lukas Scheid
sechs Monate ist der Korruptionsskandal im Europaparlament um Schmiergelder aus Katar und Marokko nun schon bekannt. Eva Kaili ist ihre Fußfessel inzwischen los, wartet auf ihren Prozess und will zurück ins Parlament. Sechs Monate sind auch die Versprechen der EU-Institutionen für eine stärkere Kontrolle der eigenen Abgeordneten, Beamten und Prozesse her.
Am Mittwoch will die Kommission das lang erwartete Gesetz zur Einrichtung eines europäischen Ethikgremiums vorschlagen. Ursula von der Leyen hatte dies zu Beginn der Wahlperiode angekündigt. Seit Qatargate sind die Forderungen für eine solche übergreifende Ethikbehörde für die Institutionen besonders laut.
Doch bereits jetzt ist bekannt: Die Behörde soll keine Verstöße ahnden können. Es bleibt also bei einem Papiertiger. Auch der 14-Punkte-Plan der Parlamentspräsidentin Roberta Metsola (EVP), der für mehr Transparenz im EP sorgen soll, ist inzwischen im AFCO-Ausschuss verschollen. Inzwischen seien die Antikorruptionsvorschläge von Roberta Metsola stark verwässert worden, hört man aus dem Parlament. Immer wieder berufen sich die involvierten Abgeordneten auf die freie Ausübung ihres Mandates, um sich von zu starken Auflagen freizumachen.
Und auch der umstrittene Kommissionsvorschlag um ausländische Einflussnahme, der für eine Offenlegung der Geldgeber von Interessensvertretern plädiert, ist inzwischen von der Kommissionsagenda verschwunden. Zu groß war der Druck der Zivilgesellschaft und von Abgeordneten, die Kommission müsse erst eine Folgenabschätzung vornehmen. Sie erinnerten auch daran, dass Qatargate nicht die Schuld einer NGO, sondern von korrupten MEPs sei.
Mit anderen Worten: Seit Qatargate ist trotz aller Mea Culpas und Versprechen nicht viel passiert. Knapp ein Jahr vor den Europawahlen herrscht wieder “Business as usual”. Oder, wie die Lobbyforscherin Andreea Nastase von der Universität Maastricht im Gespräch mit Table.Media sagte: “Hier scheint der Mut zu fehlen, um wirklich zu handeln.“
Es ist ein kleines Team um die neue Budget-Generaldirektorin Stéphanie Riso, das derzeit über den Zahlen brütet. Die Gruppe diskutiert weitgehend abgeschirmt, auch innerhalb der EU-Kommission. Daher sind bislang wenig Einzelheiten nach außen gedrungen, welche Änderungen am Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) die Kommission in gut zwei Wochen vorschlagen will – dem Vernehmen nach gemeinsam mit einem Paket zu neuen Eigenmitteln. Klar ist aber: Ein großer Aufschlag wird es nicht.
Auch die Kommission sei sich im Klaren darüber, dass sie keine hohen Nachforderungen an die Mitgliedstaaten stellen könne, heißt es in Brüssel. Die Bereitschaft im Rat ist gering, aus den nationalen Haushalten nachzuschießen, um zur Halbzeit der Finanzperiode 2021 bis 2027 absehbare Lücken im EU-Budget zu schließen. Das gilt laut EU-Diplomaten nicht nur für traditionell wenig spendierfreudige Länder wie Österreich oder die Niederlande. In der deutschen Bundesregierung gibt es ebenfalls wenig Bereitschaft, mehr Geld nach Brüssel zu überweisen – zumal in Berlin der Spardruck steigt. Anderen Finanzministern fehle schlicht der fiskalische Spielraum, heißt es.
Wenig Rückhalt im Rat hätte derzeit auch die Neuauflage eines schuldenfinanzierten EU-Topfes à la Next Generation EU. Daher wird der Europäische Souveränitätsfonds, den die Kommission gemeinsam mit dem MFR-Review am 20. Juni vorstellen will, deutlich kleiner ausfallen, als von den Befürwortern um Binnenmarktkommissar Thierry Breton einst erhofft. Über dessen genaue Funktion und Struktur wird in der Behörde aktuell noch intensiv verhandelt.
Die Kommission wird daher wohl vorschlagen, die benötigten Mittel vor allem durch Umschichtungen aufzubringen, insbesondere aus den Kohäsionsfonds oder auch aus InvestEU. Der FDP-Haushaltspolitiker im Europaparlament, Moritz Körner, hält das für den richtigen Ansatz: “Es wäre sinnvoll, nur langsam abfließende Mittel aus dem Kohäsionsfonds umzuwidmen, etwa um die Ukraine und Moldau weiter zu unterstützen”.
Kaum jemand bestreitet, dass der Finanzbedarf auf EU-Ebene deutlich gestiegen ist, seit der Haushaltsrahmen nach einem Marathon-Gipfel 2019 festgezurrt wurde. Mehrere Faktoren führen dazu, dass der MFR absehbar an die Obergrenzen stößt:
“Der Rahmen ist sehr eng – wir müssen fast alle Flexibilitätsinstrumente im Haushalt einsetzen, um allein die gestiegenen Zinskosten aufzufangen”, sagt Körner. Laut Diplomaten gibt es im Rat eine gewisse Bereitschaft, die gestiegenen Kosten für Zinsen und Beamtenvergütung auszugleichen. Die Hilfen für die Ukraine will die Kommission verstetigen, aber voraussichtlich weiterhin über Instrumente außerhalb des eigentlichen EU-Budgets wie der Europäischen Friedensfazilität.
Hinzu kommt der Souveränitätsfonds, den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im vergangenen Herbst angekündigt hatte. Die Gelder dafür will die Kommission im Rahmen des MFR-Reviews aufbringen. Intern kämpft besonders Vizepräsidentin Margrethe Vestager dafür, den Fonds als Risikopuffer für private Investoren einzusetzen, die in innovative Technologien investieren wollen. Die Dänin verspricht sich davon ein schnell einsetzbares Instrument, das den hohen Investitionsbedarf für den grünen Umbau der Wirtschaft bedienen soll. Ihr Kollege Frans Timmermans setze sich hingegen dafür ein, den sozialen Ausgleich im Rahmen des Green Deal zu stärken, heißt es in Brüssel. Wie die Diskussion ausgeht, sei noch weitgehend offen.
In der Bundesregierung hegt Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) größere Sympathien für den Souveränitätsfonds als Finanzminister Christian Lindner (FDP). Die Bundesregierung verschanzt sich seit Monaten hinter der Formulierung, die Kommission solle zunächst eine Analyse des Finanzbedarfs vorlegen. Man werde den Vorschlag prüfen, wenn er vorliege, heißt es in Berlin. Lindner werde die politische Auseinandersetzung aber weniger über den Souveränitätsfonds suchen als in den Verhandlungen über die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
Schwierig werden dürften die anstehenden Diskussionen aber auch so: Die Verhandlungen über den MFR-Review dürften verknüpft werden mit jenen über den EU-Haushalt für das kommende Jahr, heißt es in EU-Kreisen. Den Budgetentwurf für 2024 will die Kommission bereits am Mittwoch vorlegen. Eine Vermengung dieser beiden Prozesse mit dem Souveränitätsfonds “dürften zu komplexen Verhandlungen führen”, warnen EU-Diplomaten.
Der US-Pharmakonzern Pfizer verweigert Auskunft zu einer Vereinbarung, die einen umstrittenen, milliardenschweren Impfstoffkauf der EU von 2021 neu regeln soll. Statt auf die Fragen der Abgeordneten des COVI-Sonderausschusses zu antworten, der die Covid-19-Krise aufarbeitet, schickte der Konzern einen Fragenkatalog und verweigerte Akteneinsicht. Das sei nicht hinnehmbar, heißt es im Parlament.
Die Vereinbarung mit Pfizer und dem deutschen Unternehmen Biontech hatte die EU-Kommission Ende Mai getroffen. Ziel war es nach Angaben der Brüsseler Behörde, “der von den Mitgliedstaaten vorgenommenen Bewertung des sich ändernden Bedarfs an Covid-19-Impfstoffen besser Rechnung zu tragen.” Details wurden nicht mitgeteilt. Auch auf Nachfrage von Table.Media wollte die Kommission keine Zahlen zur Vereinbarung nennen. Dabei geht es offenbar um hohe Beträge.
Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung fallen durch die Vereinbarung mit Pfizer, die hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wurde, hohe “Stornogebühren” an. Allein Deutschland müsse “mehrere hundert Millionen Euro” zahlen, weil es weniger Impfdosen abnehme als ursprünglich vereinbart. Wenn die Angaben richtig sind, geht es für alle 27 EU-Staaten um mehrere Milliarden Euro. Jedoch äußern sich die Beteiligten bislang nicht.
Auch das Europaparlament tappt im Dunkeln. Der COVI-Ausschuss hatte die EU-Kommission gebeten, die ursprünglichen Verträge mit Pfizer offenzulegen, um die Grundlage für die nun erfolgten Neuverhandlungen zu prüfen. Die Brüsseler Behörde folgte der Bitte jedoch nicht – sondern wandte sich nach Angaben aus dem Parlament an ihren Vertragspartner Pfizer mit der Bitte um eine Genehmigung auf Akteneinsicht.
Der US-Konzern reagierte auf ungewöhnliche Weise. Statt die Erlaubnis zu erteilen, schickte Pfizer einen Fragenkatalog. Die Abgeordneten sollen begründen, warum sie die unredigierten Fassungen der Verträge von 2021 einsehen wollen – schließlich hätten sie ja bereits Zugang zu redigierten Fassungen erhalten. Diese sind allerdings teilweise geschwärzt. Pfizer will auch wissen, ob die Texte veröffentlicht würden – und was das Parlament gegen “unautorisierte Leaks” unternehmen wolle.
Aus Sicht der Abgeordneten ist dies nicht hinnehmbar. Es sei “schwer nachvollziehbar, dass eine private Firma, die finanziell massiv von der Pandemie profitiert hat und öffentliche Gelder zur Entwicklung eines Impfstoffes bekommen hat, sich weigern kann, die mit der EU geschlossenen Verträge mit EU-Abgeordneten zu teilen”, so die Abgeordnete Tilly Metz. Schließlich gehe es um die Gesundheit und um Vertrauensschaffung in EU-Prozeduren.
Die luxemburgische Grüne sitzt im COVI-Ausschuss und steht mit ihrer Kritik nicht allein. Mehrere Abgeordnete hatten sich schon zuvor über die Geheimniskrämerei beklagt und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufgefordert, persönlich im Parlament Stellung zu nehmen. Es sei “selbstverständlich”, dass sich von der Leyen dem Ausschuss stelle, erklärte die Vizepräsidentin des Parlaments, Katarina Barley, im FOCUS. Von der Leyen (CDU) dürfe sich nicht verweigern, so die SPD-Politikerin. Schließlich gehe es um “sehr viel Steuergeld”.
Insgesamt geht es um bis zu 1,8 Milliarden Impfdosen und ein geschätztes Geschäftsvolumen von 35 Milliarden Euro. Sowohl die EU-Kommission als auch der US-Konzern haben sich jedoch von Anfang an geweigert, die Details des Deals offenzulegen, den von der Leyen 2021 mit Pfizer-Chef Alfred Bourla ausgehandelt hatte. Zur Begründung verwiesen sie auf Geschäftsgeheimnisse und die Sicherstellung der Versorgung mit Impfstoffen.
Durch das Ende der Coronakrise ist nun aber eine neue Lage entstanden: Es werden weniger Impfdosen benötigt. Es sei normal, dass dafür Gebühren anfallen, heißt es im Europaparlament. Allerdings sei es nicht akzeptabel, dass solche Klauseln ohne öffentliche Kontrolle verhandelt werden – und dass sogar EU-Abgeordneten der volle Zugang zu dem verhandelten Text verweigert wird. “Dass in einem kommerziellen Vertrag gewisse Gebühren anfallen können, falls weniger Ware abgenommen wird als geplant, ist ein handelsübliches Konzept”, so Metz.
Allerdings handele es sich hier nicht um einen üblichen Vertrag zwischen beliebigen Handelspartnern. “Es geht um Abkommen, welche im Namen der europäischen Allgemeinheit mit mächtigen privaten Firmen abgeschlossen wurde”, erklärt die Abgeordnete.
Die Blockade werde ein Nachspiel haben, heißt es im COVI-Ausschuss. Die Abgeordneten haben zwar keine rechtliche Handhabe. Sie arbeiten jedoch an ihrem Schlussbericht zur Coronakrise, der noch vor der Sommerpause ins Plenum kommen soll. Darin könnten sie nicht nur Pfizer eine Rüge erteilen, sondern auch der EU-Kommission und ihrer Präsidentin – wegen Intransparenz und mangelnder Kooperation.
Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton ist offenbar fest entschlossen, den Data Act in den kommenden vier Wochen abzuschließen. “Wir haben beim Data Act große Fortschritte erzielt”, berichtete Breton den Digitalministern im Telekommunikations-Rat am Freitag in Luxemburg. Seiner Meinung nach werde nur noch ein weiterer Trilog Ende Juniu erforderlich sein. Somit könnte die Trilog-Einigung zum Data Act noch unter der schwedischen Ratspräsidentschaft erfolgen.
Es gebe nur noch wenige offene Fragen, für die eine Lösung gefunden werden müssten, so Breton und nannte die Themen Governance und Geschäftsgeheimnisse. “In einigen Ländern ist die Wahrung der Rechte an geistigem Eigentum schwieriger als in anderen.”
In der anschließenden Aussprache beim Telekom-Rat wurde auch klar, wo die Differenzen liegen: Finnland betonte, dass die Wettbewerbsfähigkeit der EU, das Wirtschaftswachstum und die Innovation auf Daten und deren Austausch beruhten. “Die Schaffung neuer Zugangsrechte ist ein Schlüsselelement des Data Act.” Zu weit gefasste Ausnahmen von diesen Rechten, etwa mit Verweis auf den Schutz von Geschäftsgeheimnissen, würden diese Regeln verwässern. Der Data Act könnte seine Wirkung nicht entfalten. Frankreich argumentierte dagegen, dass gerade die Geschäftsgeheimnisse die Wettbewerbsfähigkeit sicherten. Diese Ansicht, die auch Deutschland vertritt, ist aber wohl nicht mehrheitsfähig im Rat.
Darüber hinaus ging es noch um weitere Gesetzgebungsverfahren, die sich bereits im Trilog befinden: die europäische elektronische Identität (EIDAS) sowie die E-Privacy-Verordnung. Bei eIDAS näherten sich die Positionen von Parlament und Rat an, berichtete Breton. Es gebe noch offene Fragen, zum Beispiel zur Single-Identifier-Zertifizierung oder zur Wallet. Er hoffe aber, “dass wir unter der schwedischen Präsidentschaft in der Lage sein werden, schnelle Fortschritte zu erzielen und dieses Dossier sogar zu Ende zu bringen“.
Für die seit Jahren verhandelte E-Privacy-Verordnung gilt das nicht. Die Schweden setzen Prioritäten und kündigten an, dass sie dieses Dossier an die Spanier weiterreichen werden. Allerdings forderten Mitgliedstaaten wie die Niederlande, dann doch wenigstens vorab eine verbraucherfreundlichere Regelung zu Cookie-Bannern zu finden. “Die Bürger beschweren sich recht häufig darüber, und das zu Recht”, gab auch Breton zu. Großer Streitpunkt ist dagegen die Datenspeicherung im Rahmen der Kriminalitätsbekämpfung.
Weitere Themen auf der Agenda waren unter anderem:
Hier dauert die Arbeit innerhalb des Rates noch an und wird unter der spanischen Ratspräsidentschaft fortgesetzt.
Am lebendigsten war die Diskussion beim Austausch über Praktiken und Initiativen zum Einsatz von KI in den einzelnen Mitgliedstaaten, also außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens zum AI Act. Angeregt hatte dies die dänische Delegation. Die Spanne der vorgetragenen Initiativen reichte sehr weit, von “wir haben noch nichts unternommen” (Luxemburg) bis hin zum Politikberater Ion (Rumänien).
Ion erhält Input aus der Bevölkerung und analysiert die Daten. Er soll Politikern ein besseres Bild von den Sorgen und Prioritäten der Bürgerinnen und Bürger vermitteln. Diese Informationen sollen als Grundlage für politische Entscheidungen dienen.
Auch Finnland stellte ein Projekt vor. Mehr als eine Million Menschen haben bereits am kostenlosen Online-Kurs zu den Grundlagen von KI teilgenommen. Der Kurs ist in allen Sprachen der EU verfügbar, also auch auf Deutsch.
Hinter verschlossenen Türen tauschten sich die Digitalminister mit Kommissar Breton auch über den von ihm vorgeschlagenen Pakt für Künstliche Intelligenz aus. Mit diesem AI Pact will die Kommission KI-Unternehmen über einen engen Dialog mit ihren Dienststellen helfen, den kommenden AI Act zu verstehen. So sollen sie sich darauf vorbereiten können und die Umsetzung sogar vorwegnehmen.
Der AI Pact sei so etwas wie ein “Vorzimmer” zum AI Act, teilte Breton im Anschluss mit. “Der AI Pact wird den wichtigsten Grundsätzen des AI Acts für risikoreiche KI folgen.” Dazu gehörten etwa Datenqualität, technische Dokumentation des Systems, Transparenz, menschliche Aufsicht und ein hohes Maß an Genauigkeit, Cybersicherheit und Robustheit. Auch generative KI, die nicht im Kommissionsvorschlag vorkam, sollte im Einklang mit den Ergebnissen der Diskussionen zwischen den Mitgesetzgebern behandelt werden, sagte Breton.
“Andere Regionen sind noch nicht bereit für die Regulierung, wir aber schon”, sagte er. “Für die Industrie ist es nun an der Zeit, mit den Vorbereitungen zu beginnen.” Der AI Pact werde sich in den kommenden Monaten weiterentwickeln, “während wir uns der politischen Einigung über den AI Act nähern.” vis
Nachdem die EVP im Umweltausschuss des EU-Parlaments (ENVI) den Verhandlungstisch zum Renaturierungsgesetz verlassen hatte, haben die übrigen Berichterstatter von S&D, Grünen, Renew und Linken 29 Kompromiss-Anträge ausgehandelt. Am 15. Juni soll der ENVI darüber abstimmen, im Juli das Plenum.
Table.Media konnte den Kompromiss-Entwurf vorab einsehen. Er bewegt sich im Wesentlichen auf dem Ambitionsniveau des Kommissionsvorschlags. Darin heißt es, bis 2030 sollen auf mindestens 20 Prozent aller Meeres- und Landflächen der EU Renaturierungsmaßnahmen durchgeführt werden. Die ENVI-Verhandler fordern ein 30-Prozent-Ziel lediglich für solche Flächen, die Bedarf für Wiederherstellung aufweisen (“in need of restoration”).
Der federführende Berichterstatter César Luena (S&D) hatte zunächst die generelle Anhebung des Ambitionsniveaus auf 30 Prozent gefordert. Die Rücknahme dieser Forderung dürfte den ENVI-Bericht mehrheitsfähiger machen, da es auch innerhalb der Renew-Fraktion Tendenzen gibt, das Gesetz als Ganzes abzulehnen. Zwischenzeitlich standen auch Unterziele für die Renaturierung einzelner Ökosysteme zur Diskussion. Diese finden sich in den Kompromissanträgen ebenfalls nicht wieder.
Geringfügige Änderungen gibt es beim ebenfalls viel kritisierten Verschlechterungsverbot von Ökosystemen im Naturierungsgesetz. So sollen Ausnahmen vom Verschlechterungsverbot nur gewährt werden, wenn Mitgliedstaaten “überzeugend” nachweisen können, dass die Verschlechterung durch Naturkatastrophen oder höhere Gewalt ausgelöst wurde. Auch unvermeidbare Lebensraumveränderungen in Folge des Klimawandels sollen nur als Ausnahmegrund gelten, wenn ein Mitgliedstaat dies wissenschaftlich nachweisen kann, ergänzen Abgeordneten. Die Kommission hat in ihrem Vorschlag keine solche Vorgabe. luk
Es sei eine Herausforderung, ein praktikables Due-Diligence-Gesetz zu schaffen, welches die kleinen und mittleren Unternehmen nicht überfordere, betonte Axel Voss (CDU) am Freitag beim Table.Live-Briefing. Die Veranstaltung brachte Vertreter von Unternehmen, Bundesarbeitsministerium (BMAS) und der Zivilgesellschaft zusammen, um über das am 1. Juni abgestimmte Parlamentsmandat zum Sorgfaltspflichtengesetz (CSDD) zu diskutieren.
Voss befand sich im Zuge der Abstimmung in einer besonders schwierigen Lage: Seine CDU/CSU-Gruppe stimmte gegen den Kompromiss von Berichterstatterin Lara Wolters (S&D). Und das, obwohl ihr Parteikollege als Schattenberichterstatter bis zuletzt versucht hatte, für die EVP akzeptable Kompromisse auszuarbeiten.
Wie brenzlig das Gesetz für Unternehmen ist, schilderte der Unternehmer Stefan Munsch, dessen Betrieb Chemiepumpen herstellt. “Ich hätte mir gewünscht, dass das Parlament die Notbremse zieht”, gab er zu und wiederholte damit die Position der deutschen Industrieverbände, darunter auch des VDMA. Schon jetzt müsse er für Käufer Fragebögen mit bis zu 70 Seiten ausfüllen, um zu zeigen, dass das Unternehmen verantwortungsvoll wirtschafte.
Dabei wäre sein Familienbetrieb nur indirekt vom Sorgfaltspflichtengesetz betroffen: Das Unternehmen erreicht die vom Parlament gesetzte Schwelle von 40 Millionen Euro Umsatz und 250 Mitarbeitern nicht. Das würde aber für ihn nicht viel ändern, so Munsch. Indirekt wäre er genauso vom Gesetz betroffen wie größere Unternehmen, da er bei seinen Käufern für saubere Lieferketten bürgen müsste.
Munsch würde daher ein System vorziehen, welches auf schwarze Listen setzt, an denen sich Unternehmen orientieren können. Letztlich habe ein kleines, international vernetztes Unternehmen wie seines immer nur eine begrenzte Kontrolle über seine Lieferkette. Wie solle er für etwas bürgen, was er nicht kontrollieren könne, fragte Munsch.
Genau aus diesem Grund sei die Haftungsfrage differenziert zu betrachten, warf die Direktorin der European Coalition for Corporate Justice, Nele Meyer, ein. Tatsächlich solle das geplante Gesetz sicherstellen, dass Unternehmen zwar haftbar sind, aber nur für Probleme, auf die sie auch einwirken können. “Das erfordert einen Paradigmenwechsel. Unternehmen dürfen die Kosten für Schäden nicht mehr einfach auslagern.” Schwarze Listen hält Meyer allerdings nicht für zielführend, denn diese bergen das Risiko, dass sich Unternehmen ganz aus Regionen zurückziehen und die Lage vor Ort sich dadurch noch weiter verschlimmere.
Um Unternehmen nicht zu sehr zu belasten, sei der risikobasierte Ansatz, wie ihn Rat und Parlament fordern, so bedeutend, betonte Carsten Stender aus dem BMAS. Es sei wichtig, dass Unternehmen sich auf die Elemente ihrer Wertschöpfungskette konzentrieren, bei denen auch wirklich ein Risiko für negative Auswirkungen auf Menschenrechte und Umwelt besteht.
Stender betonte außerdem: “Die nationalen Behörden wollen keineswegs zusätzlichen Druck auf die Unternehmen ausüben.” Auch Stender sieht schwarze Listen kritisch und warnt: “Man sollte Staaten nicht unter Pauschalverdacht stellen.” Gleichzeitig müsste das zukünftige Gesetz aber mehr Rechtssicherheit und Orientierung für Unternehmen bieten.
Eine weitere wichtige Frage für die Panelisten war die der Harmonisierung. Für EVP-Berichterstatter Axel Voss steht fest: Bei dem Gesetz müsse eine volle Harmonisierung angestrebt werden und die Richtlinie “idealerweise” später in eine Verordnung umgewandelt werden. Er wirft den EU-Staaten “rückwärtsgerichtetes Denken” vor, wenn sie darauf beharren, dass es bei Due Diligence um Unternehmensrecht geht und die Kompetenz damit bei den Mitgliedstaaten liegt.
Nele Meyer warnt jedoch, eine Verordnung sei nur dann anzustreben, wenn das Gesetz auch wirklich weit genug gehe und vor allem der Rechtsweg für Geschädigte auch wirklich garantiert sei. Auch Carsten Stender ist einer Harmonisierung nicht abgeneigt, hat jedoch Vorbehalte: “Wir brauchen Spielraum für rechtliche Eigenheiten.”
Er ließ unterdessen durchblicken, dass die Bundesregierung bei den anstehenden Trilogverhandlungen nicht auf mehr Rechtssicherheit für Unternehmen bestehen wird, aber nicht pedantisch an der sogenannten Safe Harbour Klausel festhält. Diese würde Unternehmen von der Haftung ausnehmen, wenn sie eine gewisse Checkliste erfüllen. Ein wichtiges Instrument, um Unternehmen zu entlasten, seien zum Beispiel auch Brancheninitiativen.
Die erste Trilogrunde zum zukünftigen Sorgfaltspflichtengesetz ist bereits für den 8. Juni angesetzt. cw
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) spricht an diesem Montag (14.30 Uhr) ein weiteres Urteil zur Unabhängigkeit der Justiz in Polen. Hintergrund ist eine Klage der EU-Kommission aus dem Jahr 2021, wonach mehrere polnische Regelungen gegen EU-Recht verstoßen. Dabei geht es um die Unabhängigkeit der polnischen Justiz bei der Überprüfung von EU-Recht sowie die Rechte von Richtern auf Achtung des Privatlebens.
Polens nationalkonservative Regierung baut die dortige Justiz seit Jahren ungeachtet internationaler Kritik um. Die EU-Kommission klagte mehrfach gegen die Reformen. Teilweise wurden Beschlüsse vom EuGH gekippt. Weil Warschau sich weigerte, EuGH-Urteile umzusetzen, verhängte der Gerichtshof schließlich eine Million Euro Zwangsgeld pro Tag. Die Strafe wurde im Frühjahr halbiert, weil die Regierung inzwischen einige Änderungen am Justizsystem vorgenommen hat.
Allerdings sind neue Verfahren schon abzusehen: Im Februar verklagte die EU-Kommission Polen erneut wegen Verstößen gegen EU-Recht durch den polnischen Verfassungsgerichtshof. dpa
EU-Institutionen haben keinen besonders guten Ruf, wenn es um Transparenz geht: Starre Abläufe, undurchsichtige Verfahren, kaum Einblicke. Seit fast zehn Jahren arbeitet Emily O’Reilly daran, das zu ändern. Als Europäische Bürgerbeauftragte zieht sie Organe der EU zur Rechenschaft, indem sie Beschwerden von Privatpersonen, Unternehmen und Organisationen über Missstände in Verwaltungseinrichtungen der EU nachgeht. “Die EU verfügt bereits über relativ gute Verwaltungsstandards” so O’Reilly. “Doch ist gerade eine solche Einrichtung dazu verpflichtet, immer nach den bestmöglichen Abläufen zu streben und das zum Nutzen aller Europäer.”
Das Amt des Europäischen Bürgerbeauftragten wird alle fünf Jahre durch das Europäische Parlament gewählt. Sofern der oder die Bürgerbeauftragte einen Missstand in der EU aufdeckt, sind EU-Organe auch dazu verpflichtet, innerhalb von drei Monaten dazu Stellung zu beziehen.
Einer der Missstände, denen sich O’Reilly gerade widmet, ist ein Problem mit der Bereitstellung öffentlicher Dokumente durch die EU. Es dauert zu lange. “Gerade, wenn es um Journalisten geht, die ganz aktuell über Vorgänge in der EU berichten und zeitnah Zugriff auf Dokumente benötigen, ist das ein Problem”, betont die Bürgerbeauftragte. “Ein verspäteter Zugriff ist damit auch gleichzeitig ein verweigerter Zugriff.” Und da öffentliche Dokumente in Zukunft immer häufiger abgefragt werden, müsse die EU schnellsten daran arbeiten, dieses Problem in den Griff zu bekommen.
Die Arbeit von Journalisten liegt der 65-jährigen Irin besonders am Herzen, arbeitete sie doch über 20 Jahre selbst als Journalistin in ihrem Heimatland. “Man bringt auch immer ein Stück seiner Persönlichkeit und seiner Vergangenheit in seine Karriere mit ein”, so O’Reilly. “Und meine Arbeit als Journalistin hat mich gut auf den Job als Bürgerbeauftragte vorbereitet.” Auch bei der Presse sei sie Bindeglied zwischen Bürger und Staat gewesen, das aufmerksam darauf achtet, wie die Politik mit der Öffentlichkeit interagiert.
Dass sie dabei schon als Journalistin äußerst erfolgreich war, zeigt sich unter anderen in ihren Auszeichnungen: Sowohl 1986 als auch 1994 gewann sie den Preis als beste Journalistin des Jahres in Irland. Ihren über Jahre geschulten Blick für das Wesentliche und ihre weitreichende Erfahrung beim Thema Politikjournalismus nutzt die Europäische Bürgerbeauftragte auch heute noch bei ihrer Arbeit.
Nachdem O’Reilly jahrelang über die irische Politik geschrieben und drei Bücher über die Politik ihres Heimatlandes verfasst hatte, führte sie ihr Weg genau dort hin – in die irische Politik. “Nach so vielen Jahren als Journalistin hat es mich sehr gereizt, nicht immer nur eine beobachtende, sondern auch eine aktive Rolle in der Politik zu übernehmen.” Dann habe sie einmal tief durchgeatmet und sich in die Politik gewagt. Und das mit Erfolg.
Von 2003 bis 2013 übernahm sie die Rolle der Bürger- und Datenschutzbeauftragten Irlands als erste Frau überhaupt in diesem Amt. Im Jahr 2007 wurde sie außerdem Beauftragte für Umweltinformationen. “Die Arbeit als Bürgerbeauftragte in Irland war zu etwa 75 Prozent die gleiche wie die Arbeit als Beauftragte für die EU heute”, sagt O’Reilly. Bei einer Beschwerde höre sie sich beide Seiten der Geschichte an, fordere entsprechende Dokumente an und nachdem sie sich ein Bild über die Situation gemacht hat, versuche sie das Problem gemeinsam mit allen Beteiligten zu lösen.
Worin sich die Aufgabe als Europäische Bürgerbeauftragte aber maßgeblich von der Arbeit in Irland unterscheide, sei der kulturelle Aspekt, so O’Reilly. Skandinavische Länder seien zum Beispiel äußerst transparent und bieten eine Fülle an frei zugänglichen Dokumenten. “Deutschland aber auf der anderen Seite legt sehr großen Wert auf Datenschutzbestimmungen und hat eine ganz andere Philosophie, wenn es um die Transparenz ihrer Bürger geht.”
Eine ihrer schwierigsten Aufgaben sei es also, auf europäischer Ebene genau den richtigen Mittelweg zwischen solchen kulturellen Unterschieden zu finden. “Wir müssen für Europa Standards finden, die einerseits nicht so niedrig sind, dass sie im Grunde nutzlos sind und andererseits auch nicht so hoch, dass sich niemand dazu bereit erklärt, ihnen zu folgen.”
Alles in allem ist Emily O’Reilly sehr zufrieden mit ihren Befugnissen als Europäische Bürgerbeauftragte. “Uns ist klar, dass wir in unserer Rolle als Bürgerbeauftragte eher als Soft-Power zu verstehen sind”, gesteht sie. “Aber wenn wir unsere Arbeit hier richtig machen, können wir wirklich großen Einfluss darauf haben, wie Einzelpersonen mit der EU interagieren.” Und genau so schaffe man das wichtige Vertrauen in die Institution EU. Gregor Scheu
Plastikdeckel von Getränkeflaschen zählen zu den Einwegkunststoffartikeln, “die an den Stränden der Union am häufigsten als Abfall vorgefunden werden”. So steht es in der EU-Richtlinie 2019/904. So weit, so ungut. Da kann man als umweltbewusster Gesetzgeber schon mal reagieren und zur Regulierung ansetzen.
Als Reaktion hat sich Brüssel mit besagter Richtlinie ganz was Pfiffiges ausgedacht: Hersteller sollen dafür sorgen, dass die Deckel “während der für das Produkt vorgesehenen Verwendungsdauer an den Behältern befestigt bleiben”. Klingt erst mal großartig, denn wenn das kleine Plastikteil befestigt ist, landet es idealerweise zusammen mit der Flasche im Müll statt im Meer.
Aufmerksamen Supermarktkunden ist womöglich aufgefallen, dass einige Hersteller die Richtlinie bereits jetzt umsetzen. Eigentlich ganz vorbildlich. Allerdings ist die Umsetzung in der Praxis nicht immer wirklich praktisch. Der an der Colaflasche befestigte Deckel stört beispielsweise beim Trinken oder beim Einschenken. Man besudelt sich oder die Kaffeetheke.
Meine bevorzugte Reaktion: Den Deckel dann doch irgendwie abreißen. Nur bekomme ich anschließend den dann beschädigten Deckel oft nicht wieder richtig auf die Flasche, das hängt vom Hersteller ab. Die Folge: ein offener Behälter. Die Flasche ist also weder transportfähig noch ist der Inhalt lange haltbar. Zudem erübrigt sich der Sinn der befestigten Deckel vollends. (Selbst wenn ich den Deckel pflichtbewusst IMMER in die Gelbe Tonne werfe).
Doch es gibt Hoffnung. Die Richtlinie gilt verpflichtend erst ab Mitte 2024. Bis dahin können sich Hersteller und Konsumenten ausprobieren und wichtige Erfahrungen sammeln. Sicherlich fällt einem findigen Designer bald etwas Besseres ein.
Ich übe mich bis dahin im Trinken und Einschenken und gelobe Geduld und Nachsicht bei der Erprobung verschiedener Varianten des umweltschonenden befestigten Plastikdeckels. Fortsetzung folgt… Lukas Scheid