es ist eine überraschende Wendung. Eigentlich sollte das Geld für den Wiederaufbau der Ukraine genutzt werden. Doch jetzt will der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell heute vorschlagen, die sogenannten Windfall profits auf die eingefrorenen russischen Zentralbankgelder für Waffeneinkäufe zugunsten der Ukraine zu nutzen.
Es geht um gut drei Milliarden Euro, die aus den Zinsen jährlich genutzt werden sollen. 90 Prozent der Mittel könnten in den Fonds der Friedensfazilität (EPF) fließen, aus dem die Mitgliedstaaten Rüstungslieferungen für Kiew kofinanzieren. Die restlichen zehn Prozent würden in den EU-Haushalt geleitet und sollen künftig genutzt werden, um die Verteidigungsindustrie in der Ukraine zu stärken.
Woher der Sinneswandel? Wenn die Europäer mit den Geldern helfen, die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zu stärken, können die russischen Angreifer auch weniger zerstören. Weniger Zerstörung heißt später weniger Wiederaufbau, an den derzeit ohnehin nicht zu denken ist. So dürfte Borrell heute bei der Präsentation des Kommissionsvorschlags argumentieren.
Für die EU hätte dies den positiven Nebeneffekt, dass die knappen Mittel in der Friedensfazilität und im neuen Programm zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie (EDIP) aufgestockt werden könnten. Ob die Umwidmung rechtlich tragbar ist, dürfte auch auf dem Gipfel ab dem morgigen Donnerstag intensiv diskutiert werden. Neben Ungarn gibt es auch in Malta und Österreich Vorbehalte, die Mittel für Rüstung zu verwenden.
Auf Bestreben der kommunistischen Fraktion im französischen Senat wird das Oberhaus des französischen Parlaments am Vormittag dieses Donnerstags (21. März) über die Ratifizierung des Handelsabkommens zwischen Kanada und der EU abstimmen. 2019 hatte mit der Nationalversammlung das Unterhaus des Parlaments ihr grünes Licht gegeben.
Die kommunistische Partei hofft, dass sie im Senat eine Mehrheit gegen die CETA-Ratifizierung hinter sich versammeln kann, denn das Freihandelsabkommen findet ihre Gegner auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Am 13. März hatte sich auch die außenpolitische Kommission des Senats gegen das Abkommen ausgesprochen.
Ihrer Meinung nach sind die wirtschaftlichen Vorzüge seit der provisorischen Anwendung im Jahr 2017 begrenzt und wiegen die Nachteile für die französische Landwirtschaft nicht auf. Insbesondere kritisiert sie das Fehlen von “Spiegelklauseln”, die europäische Landwirtschaftsstandards auch auf kanadische Produkte anwenden würden.
Frankreich erlebte in den vergangenen Monaten massive Bauernproteste, mit denen sich die Rhetorik über Freihandelsabkommen im gesamten politischen Spektrum verhärtete. Im Senat ist die ländliche Bevölkerung Frankreichs überproportional vertreten.
Wenn der Senat die Ratifizierung ablehnt, kommt die Angelegenheit zurück in die Nationalversammlung. Im Unterschied zu 2019 hat Emmanuel Macrons Renaissance Partei in der Nationalversammlung keine Mehrheit mehr. Es ist also möglich, dass die Ratifizierung auch dort Schiffbruch erleiden wird.
Falls beide Parlamentskammern die Ratifizierung ablehnen, müsste die französische Regierung entscheiden, ob sie Brüssel formell über die Nicht-Ratifizierung informiert. David Kleimann, Senior Research Associate beim Thinktank ODI Europe, sagt, die Regierung könnte dabei etwas Handlungsspielraum haben. Statt einer sofortigen Benachrichtigung Brüssels könnte sie auch versuchen, die Ratifizierung später nochmals durch das Parlament zu bringen.
Wenn die französische Regierung Brüssel formell über die Nicht-Ratifizierung informiert, liegt der Ball beim Rat. Als das Handelsabkommen 2017 unterzeichnet wurde, hatte dieser einstimmig beschlossen, dass er sich bei einer definitiven Nicht-Ratifizierung entscheiden würde, die provisorische Anwendung des CETA-Abkommens zu beenden.
Aber diese Entscheidung müsste laut Kleimann mit einer qualifizierten Mehrheit gefällt werden, “und es ist fraglich, ob sich die heutigen Mitglieder des Rats an ein Ratsstatement von 2017 gebunden fühlen”. Wenn die Abstimmung misslingt, könnte CETA auf unbestimmte Zeit weiter in provisorischer Anwendung bleiben, sagt Kleimann.
Der Experte für europäisches Handelsrecht nennt noch ein weiteres denkbares Szenario: Die EU-Kommission könnte das Abkommen mit Kanada neu verhandeln, den Anwendungsbereich aber auf jene Teile limitieren, die in die exklusive Kompetenz der EU fallen. Dieses “CETA-light”, könne die Kommission dann dem Europäischen Parlament und dem Rat unterbreiten.
“Der Rat würde dann mit qualifizierter Mehrheit abstimmen und – wenn das Parlament zugestimmt hat – das Abkommen abschließen und könnte so den französischen Widerstand überstimmen”, erklärt Kleimann.
An einer Pressekonferenz in Brüssel gab sich der Vorsitzende des Handelsausschusses des Europäischen Parlaments Bernd Lange zuversichtlich, dass eine Lösung gefunden werden könnte. “Wenn ein Land das Abkommen nicht ratifizieren kann, müssen wir vielleicht etwas länger warten. Ich würde nicht sagen, dass dies das Scheitern von CETA bedeuten würde“, sagte er.
Und falls CETA tatsächlich gescheitert wäre, so könne man wahrscheinlich eine leicht adaptierte Version des Abkommens neu verhandeln und neu ratifizieren. “Ich erwarte nicht, dass so ein wichtiges Abkommen, das so gut funktioniert, einfach abgeschnitten wird”, sagt Lange.
CETA war schon vor der Unterzeichnung hart umkämpft. 2016 stellte sich das wallonische Parlament gegen CETA und verzögerte damit die Unterzeichnung. In Deutschland gab es Bedenken über den Investitionsschutz. Erst gerade im Februar vereinbarten die EU und Kanada zusätzliche Bestimmungen zum Investitionsschutz.
Das europäische Exportkontrollregime ist auf einen funktionierenden Multilateralismus ausgelegt. Die EU-Staaten richten sich nämlich hauptsächlich nach den Kontrolllisten des Wassenaar Arrangements. Nach diesem Arrangement beschließen die 42 teilnehmenden Staaten gemeinsam, welche Produkte einer Exportkontrolle unterliegen sollen. Dies hat den Vorteil, dass das Vorgehen international abgestimmt ist. Doch das Wassenaar Arrangement hat einen zentralen Nachteil: Russland ist einer der teilnehmenden Staaten.
Bereits vor der zweiten russischen Invasion der Ukraine sei dies ein Problem gewesen, sagt Mathieu Duchâtel, Direktor für internationale Studien beim Thinktank Institut Montaigne. Seit der zweiten Invasion sei das System praktisch vollständig dysfunktional geworden. “Es ist extrem schwierig geworden, die Liste zu aktualisieren”, sagt Duchâtel.
“Russlands Verhinderungspolitik in dem Regime führt zu einer Fragmentierung der internationalen Ausfuhrkontrollbestimmungen”, sagt auch Nikolas Keßels, stellvertretender Leiter der Außenwirtschaftspolitik beim BDI.
Auf diese Fragmentierung reagierte die EU mit einer Anpassung ihrer Dual-Use-Regulierung. Neu können EU-Mitgliedstaaten ihre nationalen Exportkontrolllisten miteinander teilen. Die Idee dahinter ist, dass die Mitgliedstaaten dies kollaborativ tun und ihre Kontrolllisten gegenseitig anpassen.
Gebracht hat es bisher wenig. Die Niederlande, Finnland, Spanien, Litauen und Frankreich haben ihre Exportkontrolllisten in den vergangenen Monaten unilateral erweitert, ohne nennenswerte europäische Abstimmung. Laut EU-Kommission liegt das daran, dass die Regulierung die Mitgliedstaaten nicht zwingt, sich vor der Entschlussfassung gegenseitig zu konsultieren.
Die fragmentierte Exportkontrollpolitik ist im Binnenmarkt wenig effektiv, da sie entweder leicht zu umgehen ist oder Binnenmarkthürden aufbaut. Das verärgert Unternehmen, die Planungssicherheit erwarten. Der Chip-Hersteller Intel fordert zum Beispiel, dass die europäischen Regierungen ihre Exportkontrollpolitik besser koordinieren. “Ein gemeinsamer EU-Ansatz ist notwendig”, sagte eine Sprecherin zu Table.Briefings.
“Die Art, in der die Staaten aktuell ihre nationale und wirtschaftliche Sicherheit definieren, kann sehr inkonsistent sein und zu unilateralen Restriktionen und unterschiedlichen Interpretationen führen”, beklagte die Intel-Sprecherin weiter.
Doch die Europäisierung, die sich die Unternehmen wünschen, bleibt schwierig. Die EU-Kommission hat im Januar ein Whitepaper veröffentlicht, in dem sie einige mögliche Herangehensweisen darlegt.
Für das Problem der Wassenaar-Blockade schlägt sie vor, man könne die EU-Exportkontrollliste um jene Güter ergänzen, bei welchen sich die Mitgliedstaaten eigentlich einig seien, die aber im Wassenaar-Prozess von Russland blockiert würden. Dies könne die Kommission sogar per delegiertem Rechtsakt entscheiden, wenn die Mitgliedstaaten bestätigen können, dass sie diese Exportkontrollversprechen in einem internationalen Forum gegeben haben. Dahinter liegt die Idee, mit den Mitgliedern des Wassenaar Arrangements ohne Russland eine Art “Wassenaar-minus-eins” aufzubauen, das wieder funktionsfähig ist.
Keßels nennt die Idee dieser Parallelstruktur ohne Russland “nicht ideal, aber besser als der Ist-Zustand“. Ein EU-Diplomat meinte zu Table.Briefings, Wassenaar-minus-eins sei “einen Versuch wert”.
Klar ist, dass es dauern wird. Auch die anderen Herangehensweisen, welche die Kommission in ihrem Whitepaper vorschlägt, werden keine schnelle Wirkung haben:
“Klar wäre es großartig, wenn wir schon weiter wären als das Whitepaper. Aber Exportkontrollen sind traditionell ein sehr schwieriger Bereich aufgrund nationaler Sicherheitsbedenken”, erklärt ein EU-Diplomat. Gut sei, dass es das Mindestniveau der Diskussion in allen 27 Mitgliedstaaten anhebt. “Wir müssen in kleinen Schritten vorangehen, das wird ein langer Prozess”, sagt er.
Aber selbst wenn die EU im Verlauf der kommenden Jahre eine Exportkontrollpolitik entwickeln, die mit der Blockade Russlands umgehen kann, sind die Probleme für die EU Exportkontrolle noch nicht vorbei. Während es bei Russland um klassische Dual Use Güter geht, die nicht in die Hände der russischen Armee fallen sollen, sieht das im Fall der USA und Chinas anders aus.
“Die USA sind viel eher bereit, Exportkontrollen auch als Teil ihrer Industriepolitik zu sehen”, sagt Mathieu Duchâtel. Das erlebte die niederländische Regierung hautnah mit, als die US-Regierung sie unter Druck setzte, Exportkontrollen für Maschinen zur Chipproduktion einzuführen. Das niederländische Unternehmen ASML soll seine fortgeschrittensten Lithografie-Maschinen nicht mehr nach China liefern, lautet das Ziel der USA.
Nach Ansicht von Duchâtel geht es den USA dabei nicht nur darum, diese Maschinen und deren Produkte außer Reichweite des chinesischen Militärs zu halten, sondern darum, die wirtschaftlich-technologische Entwicklung Chinas allgemein zu bremsen. Von diesem Verständnis von Exportkontrollen sei die EU noch weit entfernt.
“Die Exportkontrolldiskussion findet in der EU völlig abgekoppelt von der Diskussion über die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie statt”, sagt Duchâtel und ergänzt: “Militärische Endnutzer sollten nach wie vor das Hauptziel sein, aber wir sollten etwas weniger scheu sein, Exportkontrollen ebenfalls als Werkzeuge der Industriepolitik zu benutzen.”
Dass es je so weit kommen wird, darf bezweifelt werden. “Wir werden nie fähig sein, das zu tun, was China und die USA tun”, sagte ein EU-Diplomat Table.Briefings. Die EU sei “strukturell unfähig” dies zu tun. Zudem sei das Risiko unbeabsichtigter Nebenwirkungen sehr groß.
Freundlich lächelte Ursula von der Leyen am Wochenende in die Kameras: Die EU-Kommissionspräsidentin hatte einen Deal mit dem ägyptischen Machthaber und früheren General Abd al-Fattah as-Sisi geschlossen. Der benötigt dringend Geld, und die EU bietet es ihm: 7,4 Milliarden Euro, davon 200 Millionen für Migrationsprogramme. Dafür soll der ägyptische Alleinherrscher Europa die Flüchtlinge vom Hals halten.
Es ist nicht der erste Anlauf für Migrationsvereinbarungen – und nicht das erste Mal, dass die EU-Kommissionspräsidentin zusammen mit EU-Regierungschefs aufgrund der Flüchtlingssituation einem Diktator die Aufwartung macht. Dabei spricht wenig dafür, dass die bisher getroffenen Regelungen der Flucht nach Europa wirksam etwas entgegensetzen könnten.
1,1 Millionen Asylanträge wurden 2023 in der EU gestellt – ohne Ukrainerinnen und Ukrainer gerechnet, die eine eigene rechtliche Möglichkeit nutzen können. “Migrationsabkommen mit Herkunfts- und Transitstaaten sind nichts Neues, das kann durchaus sinnvoll sein”, sagt Alexander Throm, innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Doch was sie leisten sollen und was sie leisten können, das unterscheidet sich bei genauerer Betrachtung stark.
Das umstrittene Abkommen mit der Türkei unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan etwa funktioniert nur sehr eingeschränkt. Zwar kommen vergleichsweise wenig Flüchtlinge unmittelbar über die Türkei in die EU. Aber Rücküberstellungen finden schon seit Jahren nicht statt. Vielmehr fliehen immer mehr türkische Staatsbürger in die EU, um hier – zumeist erfolglos – Asyl zu beantragen. 2023 machten sie mit über 19 Prozent die zweitgrößte Gruppe von Antragstellern überhaupt in Deutschland aus – nach den Syrern und noch vor den Afghanen.
Was heißt das für die Migrationsabkommen? “Das Beispiel Türkei zeigt, dass von ihnen keine Wunder zu erwarten sind”, sagt Alexander Throm. “Es kommt immer darauf an, dass Europa auch die Einhaltung und Umsetzung dieser Partnerschaften einfordert. Und dass wir uns dabei nicht erpressbar machen von den Interessen gewisser Autokraten.”
Genau das ist aber auch bei einem anderen Migrationsabkommen passiert, und zwar mit Tunesien im vergangenen Sommer. Ziel der EU war es, dass das Land alle Flüchtlinge zurücknimmt, die von Tunesien aus in die EU gelangen. Doch trotz der EU-Offerten: Präsident Kais Saïed, dessen Herrschaft autokratische Züge aufweist, bestand darauf, dass sein Land kein Ziel von Migration sei und über seine Zuwanderung und Grenzen selbst bestimme. Nur tröpfchenweise floss anschließend Geld nach Tunesien. Saïed wies im Oktober 2023 dann Geld zurück – er wolle keine Almosen oder Wohltätigkeit aus der EU.
In Brüssel und den Hauptstädten war man, wie so oft, überrascht. Dabei hätte die Vereinbarung wohl sowieso kaum etwas geändert. Denn im Memorandum of Understanding sei nur die Rücknahme tunesischer Staatsbürger enthalten, sagt der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt. Dabei machten die nur einen Bruchteil der über Tunesien kommenden Asylsuchenden aus. “Es wird versucht, mit Taschenspielertricks das Scheitern des Abkommens mit Tunesien zu verdecken, das man 10 Jahre verhandelt hatte”, sagt Marquardt.
Dass das ungleich mächtigere und einwohnerstärkere Ägypten sich aus der EU allzu viele Vorgaben machen ließe, darf ebenfalls bezweifelt werden.
Wenige Monate vor der Wahl scheuen sich die meisten Politiker, den Bürgern reinen Wein einzuschenken. “Das Gemeinsame Europäische Asylsystem ist der Schlüssel, um Migration insgesamt zu steuern und zu ordnen, humanitäre Standards für Geflüchtete zu schützen und die irreguläre Migration zu begrenzen”, sagte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der Einigung für die Reform des EU-Asylrechts im Dezember. Doch bis die Änderungen wirklich wirksam sind, werden noch viele Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und Rückführungen scheitern.
“Die neuen europäischen Asylregeln greifen frühestens 2026 und werden auch dann nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein”, sagt CDU-Innenpolitiker Alexander Throm. Politisch trennen sie Welten, aber analytisch besteht hier Einigkeit zwischen Throm und dem Grünen-Europaparlamentarier Erik Marquardt. Auch der erwartet keine schnelle Wirkung der neuen Regeln. Und auch nicht, dass sie die Probleme überhaupt nachhaltig lösen könnten.
Tatsächlich ist für die komplexe Überarbeitung des Regelwerks in weiten Teilen eine zweijährige Frist vorgesehen, bis die neuen Vorgaben tatsächlich greifen. Bei der EU-Kommission will man im September einen eigenen Umsetzungsplan vorlegen, bis Ende 2024 sollen die Mitgliedstaaten jeweils nationale Umsetzungspläne einreichen.
Die neuen Regeln haben bislang überhaupt nur wenige Menschen durchdrungen. Und wie sie rechtsstaatlich anzuwenden sind, wird über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte umstritten sein. Denn die Vereinheitlichung des Asylsystems in Europa heißt auch: Viele bisherige Urteile der nationalen und europäischen Gerichte werden nicht mehr anwendbar sein.
Ein Fall, in dem die Gerichte absehbar viel zu tun bekommen, sind die sogenannten Grenzverfahren. Entsprechend der sogenannten Screening-Verordnung soll binnen der ersten drei bis sieben Tage entschieden werden, ob Asylsuchende in diesem Verfahren landen, das höchstens drei Monate dauern soll, oder ins reguläre Verfahren überführt werden, das maximal sechs Monate dauern soll. Das Grenzverfahren war höchst umstritten, denn es kommt einer Haft sehr nahe.
Die Möglichkeit für Asylverfahren direkt an den Außengrenzen seien ein guter Schritt, meint CDU-Politiker Alexander Throm. Tatsächlich sind die geplanten Grenzverfahren höchst heikel. Denn anders als der Name suggeriert, gibt es keinerlei Bestimmung, dass diese wirklich an EU-Außengrenze stattfinden müssten, wie ranghohe Beamte aus der DG Home bestätigen. Grenzverfahren in Kassel oder Paris, fernab aller Grenzen? Mit der Asylreform wird das möglich.
Aber ist es nicht gut, wenn die Asylsuchenden in schnellen Verfahren auch selbst Klarheit erhalten? Die Bundesrepublik habe bei den Verhandlungen auf “funktionierende Zuständigkeitsbestimmungsverfahren mit möglichst langen Zuständigkeiten und Überstellungsfristen” gedrängt, erläutert ein Sprecher des Bundesinnenministeriums auf Anfrage.
Das Ziel: “Dass zum einen Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten weniger schnell übergehen und zum anderen Überstellungen länger möglich sind, etwa wenn sich Schutzsuchende diesen entziehen.” Aktuell funktioniert das System der Erstzuständigkeit kaum: Ganze 5053 Rücküberstellungen fanden 2023 statt – die meisten davon nach Österreich.
An den konkreten Regelungen gibt es vielfältige Kritik. “Wenn die EU in den Gesetzen beschließt, dass die Außengrenzstaaten nur 15 Monate lang für einen dort abgelehnten Asylbewerber zuständig bleiben, widerspricht das eklatant den deutschen Interessen”, sagt CDU-Innenpolitiker Alexander Throm. “Denn dann wird der Sekundärmigration Tür und Tor geöffnet, es dürften noch mehr abgelehnte Asylbewerber ihr neues Glück in Deutschland suchen.”
Die Grenzverfahren würden, anders als gern behauptet, auch nicht automatisch eine schnellere Rückführung zur Folge haben, meint auch der Grünen-Europaparlamentarier Erik Marquardt: “Auf die Ablehnung in diesen Verfahren folgt in der Regel eben keine Rückführung, sondern die Einreise in einen EU-Staat und dann ein zusätzliches, reguläres Asylverfahren.”
Das multipliziere nur den Aufwand, sorge aber an keiner Stelle für Entlastung. Die deutschen Zahlen scheinen das zu bestätigen: 16.430 Abschiebungen gab es im vergangenen Jahr – mit 1448 nach Georgien, 1314 nach Österreich und 1177 nach Nordmazedonien ist keines der Top-Herkunftsländer darunter zu finden.
Und auch der sogenannte und gern von den Verhandlern gelobte Solidaritätsmechanismus überzeugt bei genauerem Hinsehen nicht. Vordergründig verpflichtet er alle Mitgliedstaaten dazu, einen Anteil an Geflüchteten aufzunehmen. Entsprechend Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft sollen so 30.000 Flüchtlinge umverteilt werden. Die können aus dem regulären oder dem Grenzverfahren stammen.
Doch Mitgliedstaaten können sich freikaufen, ohne dass das direkt mit den Kosten für die Geflüchteten zu tun hat: Es wird eine Pauschale festgelegt – und auch alle Zahlungen im Rahmen des sogenannten Asyl- und Migrationsfonds (AMIF) gelten als Solidaritätsbeitrag.
Der fördert derzeit alles Mögliche – von der Rückkehrberatung für den 70-jährigen Iraker, der seit 30 Jahren in Deutschland lebte, bis zur Hilfe bei der Gewinnung von Fachkräften im Kosovo. Und es geht noch abstruser: “Dass man jetzt als Ungarn sagen kann, wir zahlen an Drittstaaten, etwa für Migrationsmanagement im Sudan, das ist offensichtlich keine Solidarität”, sagt der Grünen-Europaparlamentarier Erik Marquardt.
“Momentan lohnt es sich wirtschaftlich und politisch zu stark, keine Flüchtlinge aufzunehmen.” Ökonomisch sei das auch deshalb lohnenswert, weil die EU-Kommission jene Staaten, die sich nicht an die gemeinsamen Regeln hielten, kaum mit ernsthaften Verfahren zur Rechenschaft ziehe.
Das Hauptproblem aber sieht Erik Marquardt in einer unehrlichen Betrachtung der Realität. Die meisten Flüchtlinge hätten objektiv gute Gründe, sich auf den Weg zu machen, was auch die Zahlen zeigten. Wohin sie gingen, hinge in erster Linie von Sprachbarrieren und Integrationsperspektiven ab: Während Venezolaner und Kolumbianer in Spanien Zuflucht suchten, flüchteten Ägypter vor allem nach Italien, Guineer und Ivorer nach Frankreich und Türken primär nach Deutschland, wie aktuelle Zahlen der EU-Asylbehörde (EUAA) zeigen. Also dahin, wo es bereits relevante Gruppen aus den jeweiligen Ländern gibt.
Das neue System sei dabei von vornherein falsch konzipiert: “Man geht von einer Normalität mit kleinen Fantasiezahlen aus”, sagt Marquardt. Das sei ein Fehler: “Man redet sich seit Jahren ein, dass man nur noch ein paar zusätzliche Abschreckungsmaßnahmen braucht und dann kommt kaum jemand mehr nach Europa. Aber das wird nicht passieren. Man muss das System so bauen, dass es für realistische Zahlen funktioniert und nicht nur in einer schönen Parallelwelt.”
Für Alexander Throm liegt die Lösung nicht primär in Europa. Der Schutz müsse möglichst nah an den Heimatländern gewährt werden, meint er. “Es gibt kein Recht, sich das Schutzland nach Belieben auszusuchen. Deshalb ist die Initiative der Kommissionspräsidentin von der Leyen absolut richtig. Nur leider fehlt hier jedes Engagement von Olaf Scholz, er ist weder mit der Türkei im Gespräch, noch mit anderen relevanten Staaten.” Angesichts der ausbleibenden echten Erfolge bei den bisherigen EU-Deals ist das politisch aber vielleicht die klügere Wahl.
Die rechtspopulistische Partei Rassemblement National von Marine Le Pen könnte nach der EU-Wahl im Juni die stärkste nationale Gruppierung im Europäischen Parlament werden. In einer neuen Ipsos-Prognose liegt der französische RN gleichauf mit der deutschen CDU/CSU mit jeweils 28 Abgeordneten. “Dies wäre das erste Mal, dass die größte Delegation des Parlaments nicht von EVP oder S&D kommen könnte”, heißt es in einer Mitteilung.
Für die Projektion im Auftrag des Senders Euronews hatte Ipsos 25.916 Bürger in 18 EU-Ländern befragt, die zusammen 88,9 Prozent der Europaparlamentarier stellen. Zum ersten Mal sei eine derart umfassende Umfrage von einem einzigen Institut durchgeführt worden, hieß es in der Mitteilung. Für neun kleinere Länder – unter anderem Irland und Kroatien – sei die Erhebung durch den Rückgriff auf jüngste nationale Wahlergebnisse und Analysen ergänzt worden.
Insgesamt bestätigt die Projektion den erwarteten Aufschwung der Rechtsextremen und Nationalkonservativen in Europa. Der Trend sei allerdings innerhalb der Staatengemeinschaft nicht einheitlich. In der ID-Fraktion (81 Sitze, +22) würde demnach der RN die italienische Lega als stärkste Delegation ablösen, in der EKR (76 Sitze, +8) würden die Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni die polnische PiS von der Spitze verdrängen. Die AfD würde der Umfrage zufolge künftig 15 statt 9 MdEPs stellen.
Die EVP sieht die Umfrage wie andere Erhebungen relativ stabil bei 177 Sitzen (-1) und damit als stärkste Fraktion. Die Sozialdemokraten liegen bei 136 Sitzen (-4). Starke Verluste verzeichnen würden die liberale Renew mit 85 Sitzen (-17) und die Grünen mit 55 Sitzen (-17). Die Liberalen würden vor allem in Spanien und Frankreich verlieren und die Grünen in Deutschland (15 statt 25 Sitze) und Frankreich.
Die Liberalen stellen an diesem Mittwochnachmittag ihre drei Spitzenkandidaten für die Europawahl vor. Wichtigstes Zugpferd soll FDP-Frau Marie-Agnes Strack-Zimmermann sein, die von der größten liberalen Parteienfamilie ALDE nominiert wird. Für die kleinere Parteienfamilie EDP tritt der italienische Abgeordnete Sandro Gozi an, für die französische Partei Renaissance Valérie Hayer.
Hayer, Chefin der Renew-Fraktion, hatte dem Vernehmen nach wegen ihrer Aufgabenfülle gezögert, auch EU-weit Wahlkampf zu machen, erklärte am Dienstag aber ihre Kandidatur. Als Alternative war Binnenmarktkommissar Thierry Breton gehandelt worden, der nach jüngsten Tweets über Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aber auch in Paris in Ungnade gefallen ist. ber/tho
Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas warnt vor “einer Flut von Desinformationen” von böswilligen Akteuren. “Heute verläuft die Frontlinie von Putins sogenanntem Schattenkrieg durch die Herzen unserer Demokratien”, sagte Kallas bei einem gemeinsamen Auftritt mit Kanzler Olaf Scholz in Berlin. Dazu zählten Parlamente sowie soziale und traditionelle Medien.
Russlands Präsident und mit Moskau verbündete Kräfte in den EU-Staaten versuchten im großen Stil, die Meinungen und das Wählerverhalten in den EU-Staaten zu beeinflussen, so Kallas. Dadurch gerate der gesamte Zusammenhalt der Gesellschaften unter Druck. Als Antworten müssten die Kampagnen entlarvt und die Medienkompetenz der Menschen gestärkt werden, forderte sie. tho
Bundeskanzler Olaf Scholz pocht auf Fortschritte bei der Kapitalmarktunion. Es gehe darum, genug privates Kapital zu mobilisieren, um die Transformation zur Klimaneutralität zu finanzieren. “In den USA, wo es einen riesigen Kapitalmarkt gibt, gelingt das. Die EU muss hier dringend aufholen“, forderte Scholz bei seiner Rede auf der Europakonferenz Europe 2024 von Handelsblatt, Tagesspiegel, Wirtschaftswoche und Zeit in Berlin.
Bei der Banken- und Kapitalmarktunion müsse Europa “wegkommen von diesem langsamen Prozess, der da ist”, sagte Scholz. “Da wird auch in Deutschland über das eine oder andere Stöckchen gesprungen werden müssen.“
Welche “Stöckchen” er genau meinte, sagte Scholz nicht, aber der nach ihm sprechende französische Finanzminister Bruno Le Maire formulierte in seiner Rede einige Vorschläge, zum Beispiel die zentralisierte Kapitalmarktaufsicht.
Im Februar hatte der französische Finanzminister vorgeschlagen, dass eine Koalition von Mitgliedstaaten damit beginnen sollte, ihre Finanzmarktakteure unter die Aufsicht der Europäischen Kapitalmarktbehörde (ESMA) zu stellen, um eine bessere Kapitalmarktintegration zu erreichen. Deutschland stellte sich bisher gegen diese Zentralisierung, da es lieber an der nationalen Kapitalmarktaufsicht festhalten will.
“Ich schlage vor, dass wir diese Frage der europäischen Aufsicht ein für alle Mal klären“, sagte Le Maire in Berlin. Er wisse, dass es zwischen Deutschland und Frankreich diesbezüglich Differenzen gäbe, doch diese zu überwinden sei eine Frage des politischen Willens. “Wir müssen in wenigen Monaten bedeutende Fortschritte zur europäischen Kapitalmarktaufsicht machen, denn ohne gemeinsame Aufsicht, gibt es keine Kapitalmarktunion“, meinte Le Maire.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs werden das Thema Kapitalmarktunion beim Euro-Gipfel am 22. März in Brüssel besprechen. Eurogruppenpräsident Paschal Donohoe wird dabei eine Deklaration der EU-Finanzminister zur Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion vorstellen. jaa
Die Spitzenkandidatin der Grünen, Terry Reintke, warnt davor, zentrale Elemente des Green Deal nach der Europawahl im Juni infrage zu stellen. “Machen wir jetzt die Gesetze wieder auf, so wie das CDU/CSU beim Verbrenner wollen, dann führt das wieder zu Planungsunsicherheit“, sagte sie am Dienstag bei einer Veranstaltung von Table.Briefings und Europäischer Bewegung Deutschland.
Stattdessen müssten den Unternehmen jetzt die Instrumente an die Hand gegeben werden, um die klimapolitischen Vorgaben umsetzen zu können, forderte die Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament. Dazu zählten etwa Investitionen in die Infrastruktur, aber auch Unterstützung für Hausbesitzer, um ihre Gebäude klimaneutral zu machen.
Henning Vöpel, Direktor des Centrums für Europäische Politik (cep), macht einen “Konstruktionsfehler” des Green Deal dafür verantwortlich, dass dieser von Neuem politisch zur Disposition gestellt werde. Die Gesetzgebung sei zu kleinteilig aufgesetzt worden, so der Ökonom. Sie lasse den Unternehmen zu wenig Freiheit zu entscheiden, wie und mit welchen Technologien sie die politischen Ziele am besten erreichen könnten. “Wir wollen Geschäftsmodelle transformieren und nicht deformieren”, warnte Vöpel.
Er mahnte zugleich, allein Technologieoffenheit zu propagieren, reiche nicht aus. “Wir haben in der Geschichte der Industrie immer wieder Entscheidungen getroffen über Technologiepfade”, sagte er. Es funktioniere nicht, für alle Zeiten alle technischen Wege offenzuhalten: “Wir brauchen Infrastrukturen, wir müssen Skalierungsvorteile realisieren und so weiter.” tho
Die Ampelkoalition kann sich doch noch auf eine gemeinsame Position zum EU-Renaturierungsgesetz einigen. Deutschland werde dem Gesetz zustimmen, und in einer Protokollerklärung festhalten, dass Landwirten bei der Umsetzung keine zusätzlichen Belastungen entstehen sollten, sagte ein Sprecher des Bundesumweltministeriums am Dienstagabend zu Table.Briefings.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hatte am Montag Vorbehalte angemeldet, wie Table.Briefings exklusiv berichtet hatte. Am Dienstag erntete er dafür Kritik aus der Koalition: Deutschland habe der Trilogeinigung bereits im November vergangenen Jahres im Ausschuss der Ständigen Vertreter zugestimmt, sagte ein Sprecher des BMUV. “Diese Position der Bundesregierung ist bis heute unverändert, und sie bestätigt das zwischen den EU-Organen erzielte Verhandlungsergebnis.”
Das BMUV rechne weiter mit einer abschließenden formalen Bestätigung beim Umweltrat am kommenden Montag. Allerdings steht die nötige qualifizierte Mehrheit offenbar auch bei Zustimmung Deutschlands auf der Kippe. Mehrere Mitgliedstaaten haben bereits signalisiert, den ausgehandelten Rechtstext nicht zu akzeptieren, darunter Italien, Polen und die Niederlande. Inzwischen hat dem Vernehmen nach auch Ungarn Bedenken angemeldet. Am heutigen Mittwoch befassen sich die Ständigen Vertreter mit dem Gesetz. tho/ber
Der klimapolitische Fokus der nächsten EU-Kommission solle auf CO₂-Entnahmen (Carbon Dioxide Removals – CDR) liegen, fordert die Brüsseler Nicht-Regierungsorganisation Carbon Gap. In einem am Dienstag veröffentlichten Fahrplan empfiehlt die NGO eine umfassende CDR-Strategie, um die gezielte politische und finanzielle Unterstützung für CDR in Europa zu erhöhen.
Carbon Gap fordert unter anderem:
“Eine CDR-Strategie würde einen Weg aufzeigen, wie CDR in Europa in den kommenden Jahren entwickelt, eingesetzt und skaliert werden kann”, sagt Valter Selén, Associate Policy Director bei Carbon Gap.
Der Weltklimarat IPCC hält “anthropogene Aktivitäten, die CO₂ aus der Atmosphäre entfernen und es dauerhaft in geologischen, terrestrischen oder ozeanischen Reservoirs oder in Produkten speichern” für notwendig, um die Klimaziele von Paris zu erreichen. Demnach müssen bis 2050 jährlich 5 bis 10 Gigatonnen CO₂ aus der Atmosphäre entfernt werden. luk
Bulgariens Vizeregierungschefin Maria Gabriel hat eine neue Regierung vorgestellt. Sie teilte Staatspräsident Rumen Radew am Dienstag mit, dass sie den am Vortag von ihm erteilten Regierungsauftrag erfüllt habe. Die ehemalige EU-Kommissarin war von der stärksten Parlamentsfraktion der Mitte-Rechts-Partei Gerb für den Posten der Ministerpräsidentin nominiert worden.
Die 44-Jährige stellte nun im Alleingang eine neue Regierung vor, obwohl sie seit zehn Tagen mit den bisherigen liberal-konservativen Koalitionspartnern PP-DB über eine gemeinsame Regierung verhandelt hat. Dies galt zuletzt als erfolglos. Ein Regierungsabkommen wurde nur von Gabriel unterzeichnet. Die neue Regierung muss in den kommenden Tagen vom Parlament bestätigt werden.
Dem Plan vom Dienstag zufolge soll Maria Gabriel neue Ministerpräsidentin werden und gleichzeitig Außenministerin bleiben. Dem neuen Kabinett sollen viele Minister der vorausgegangenen Koalitionsregierung aus dem PP-DB-Bündnis angehören. Allerdings sollen jetzt auch Minister aus der Mitte-Rechts-Partei Gerb dabei sein – wie etwa der nominierte Verteidigungsminister Hristo Gadschew. Dieser Posten war besonders umstritten.
Die bisherige prowestliche Regierung von Ministerpräsident Nikolaj Denkow war vor zwei Wochen planmäßig zurückgetreten. Das soll eine 2023 zwischen den Regierungspartnern vereinbarte Rotation des Amtes des Ministerpräsidenten ermöglichen. dpa
Manchmal denkt sich Florian Bieberbach: Leute, ihr seid ja völlig weltfremd. Dieser eine Entwurf der EU-Kommission zum Beispiel, eine Richtlinie zum Bau von Gebäuden. Darin habe gestanden, dass man neue Häuser nicht mehr ans Stromnetz anschließen dürfe. Häuser sollten sich selbst versorgen, mit Solaranlagen auf dem Dach und anderen Energieformen. Das gehe vielleicht bei Einfamilienhäuschen auf dem Land. “Aber ich kann doch nicht in der Stadt sagen, ich schließe ein neues Gebäude nicht mehr an den Strom an”. Vollkommen weltfremd.
Da müsse man sich auf die Hinterbeine stellen, und das tut der 50-Jährige. Er ist Chef der Münchner Stadtwerke und außerdem Präsident der CEDEC, des Dachverbands regionaler Energieversorger in Brüssel. Bieberbach ist Interessenvertreter, eigentlich ein Lobbyist. “Wenn Unternehmen Einfluss nehmen auf politische Entscheidungen, sieht man das kritisch“, sagt Bieberbach. “Oft zu Recht.” Auf der anderen Seite: Wenn Unternehmen gar nicht mitreden, stehen mitunter weltfremde Ideen im Gesetz. Bieberbach findet es deshalb wichtig, Stellungnahmen abzugeben und mit Politikern zu diskutieren. Absprachen im Hinterzimmer lehnt er hingegen ab.
Überhaupt, man stellt sich so einen Lobbyisten anders vor: lauter, nachdrücklicher. Bieberbach spricht ruhig, er lässt seinem Gesprächspartner gerne den Vortritt. Ein leichter Münchner “Schmäh” ziert seine Wörter und Sätze. “Ich bin schon ein bekennendes Landei, und da verwurzelt, wo ich wohne“, sagt er. Er lebt in Schäftlarn, einer kleinen Gemeinde bei München. Dort sitzt er im Gemeinderat und engagiert sich bei der Freiwilligen Feuerwehr. Vielleicht ist es das, was der Europapolitik manchmal fehlt: ein Landei, das erzählen kann, was in Kleinstädten und Dörfern vor sich geht. Nach Brüssel müsse er dafür selten, sagt Bieberbach, vieles laufe digital. Außerdem sei Brüssel von München aus schlecht zu erreichen.
Bieberbach wandelt schon lange zwischen Oberbayern und der Welt. Als er an der TU München war – für ein IT-Studium und die anschließende Promotion – engagierte er sich bei den Jungsozialisten. Ein Streitgespräch, dass er mit einem Vertreter der Jungen Union führte, wurde abgedruckt und gelesen. Ein Manager von der Deutschen Bank war so beeindruckt, dass er ihn anwarb. Bieberbach ging nach London. Zwei Jahre war er dort Analyst. “London ist faszinierend”, sagt Bieberbach. “Aber ich habe gemerkt, dass ich nicht dauerhaft in so einer Weltstadt leben kann.” Also zurück nach München, von dem man ja sagt, es sei das größte Dorf der Welt.
Bei den Stadtwerken kümmerte er sich erst um die IT – mit Strom und Gas kannte er sich noch nicht so recht aus. Er studierte neben dem Job noch einmal, diesmal Energiewirtschaft. Und arbeitete sich hoch. 2013 wurde er Geschäftsführer. Das Amt bei der CEDEC kam 2019 dazu. Zudem ist er Honorarprofessor an seiner alten Universität und Mitglied im Rat des Thinktanks Agora Energiewende.
Für die CEDEC vertritt Bieberbach 1.500 städtische Betriebe von Norwegen bis Süditalien. Das große Ziel ist überall dasselbe: Der CO₂-Ausstoß muss sinken. Doch die Begebenheiten vor Ort sind überall andere. Stadtwerke in Skandinavien müssen Gebäude warm bekommen, in Süditalien müssen sie für Kälte sorgen. Bieberbach kennt sich mit beidem aus. München kenne eiskalte Winter und heiße Sommer, die Stadtwerke betreiben Wärme- und Kältenetze. Es sei daher naheliegend, dass ein Münchner der CEDEC vorsteht, sagt Bieberbach. München liege ja irgendwie in der Mitte Europas.
Neulich war Bieberbach in Stockholm und Wien, zu Treffen der CEDEC. Er sei auch öfter mal in Paris oder Rom. Und dann sitzt er wieder im Gemeinderat in Schäftlarn. Bieberbach ist nicht so richtig Kosmopolit. Aber auch nicht richtig Landei. Maximilian Münster
es ist eine überraschende Wendung. Eigentlich sollte das Geld für den Wiederaufbau der Ukraine genutzt werden. Doch jetzt will der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell heute vorschlagen, die sogenannten Windfall profits auf die eingefrorenen russischen Zentralbankgelder für Waffeneinkäufe zugunsten der Ukraine zu nutzen.
Es geht um gut drei Milliarden Euro, die aus den Zinsen jährlich genutzt werden sollen. 90 Prozent der Mittel könnten in den Fonds der Friedensfazilität (EPF) fließen, aus dem die Mitgliedstaaten Rüstungslieferungen für Kiew kofinanzieren. Die restlichen zehn Prozent würden in den EU-Haushalt geleitet und sollen künftig genutzt werden, um die Verteidigungsindustrie in der Ukraine zu stärken.
Woher der Sinneswandel? Wenn die Europäer mit den Geldern helfen, die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zu stärken, können die russischen Angreifer auch weniger zerstören. Weniger Zerstörung heißt später weniger Wiederaufbau, an den derzeit ohnehin nicht zu denken ist. So dürfte Borrell heute bei der Präsentation des Kommissionsvorschlags argumentieren.
Für die EU hätte dies den positiven Nebeneffekt, dass die knappen Mittel in der Friedensfazilität und im neuen Programm zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie (EDIP) aufgestockt werden könnten. Ob die Umwidmung rechtlich tragbar ist, dürfte auch auf dem Gipfel ab dem morgigen Donnerstag intensiv diskutiert werden. Neben Ungarn gibt es auch in Malta und Österreich Vorbehalte, die Mittel für Rüstung zu verwenden.
Auf Bestreben der kommunistischen Fraktion im französischen Senat wird das Oberhaus des französischen Parlaments am Vormittag dieses Donnerstags (21. März) über die Ratifizierung des Handelsabkommens zwischen Kanada und der EU abstimmen. 2019 hatte mit der Nationalversammlung das Unterhaus des Parlaments ihr grünes Licht gegeben.
Die kommunistische Partei hofft, dass sie im Senat eine Mehrheit gegen die CETA-Ratifizierung hinter sich versammeln kann, denn das Freihandelsabkommen findet ihre Gegner auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Am 13. März hatte sich auch die außenpolitische Kommission des Senats gegen das Abkommen ausgesprochen.
Ihrer Meinung nach sind die wirtschaftlichen Vorzüge seit der provisorischen Anwendung im Jahr 2017 begrenzt und wiegen die Nachteile für die französische Landwirtschaft nicht auf. Insbesondere kritisiert sie das Fehlen von “Spiegelklauseln”, die europäische Landwirtschaftsstandards auch auf kanadische Produkte anwenden würden.
Frankreich erlebte in den vergangenen Monaten massive Bauernproteste, mit denen sich die Rhetorik über Freihandelsabkommen im gesamten politischen Spektrum verhärtete. Im Senat ist die ländliche Bevölkerung Frankreichs überproportional vertreten.
Wenn der Senat die Ratifizierung ablehnt, kommt die Angelegenheit zurück in die Nationalversammlung. Im Unterschied zu 2019 hat Emmanuel Macrons Renaissance Partei in der Nationalversammlung keine Mehrheit mehr. Es ist also möglich, dass die Ratifizierung auch dort Schiffbruch erleiden wird.
Falls beide Parlamentskammern die Ratifizierung ablehnen, müsste die französische Regierung entscheiden, ob sie Brüssel formell über die Nicht-Ratifizierung informiert. David Kleimann, Senior Research Associate beim Thinktank ODI Europe, sagt, die Regierung könnte dabei etwas Handlungsspielraum haben. Statt einer sofortigen Benachrichtigung Brüssels könnte sie auch versuchen, die Ratifizierung später nochmals durch das Parlament zu bringen.
Wenn die französische Regierung Brüssel formell über die Nicht-Ratifizierung informiert, liegt der Ball beim Rat. Als das Handelsabkommen 2017 unterzeichnet wurde, hatte dieser einstimmig beschlossen, dass er sich bei einer definitiven Nicht-Ratifizierung entscheiden würde, die provisorische Anwendung des CETA-Abkommens zu beenden.
Aber diese Entscheidung müsste laut Kleimann mit einer qualifizierten Mehrheit gefällt werden, “und es ist fraglich, ob sich die heutigen Mitglieder des Rats an ein Ratsstatement von 2017 gebunden fühlen”. Wenn die Abstimmung misslingt, könnte CETA auf unbestimmte Zeit weiter in provisorischer Anwendung bleiben, sagt Kleimann.
Der Experte für europäisches Handelsrecht nennt noch ein weiteres denkbares Szenario: Die EU-Kommission könnte das Abkommen mit Kanada neu verhandeln, den Anwendungsbereich aber auf jene Teile limitieren, die in die exklusive Kompetenz der EU fallen. Dieses “CETA-light”, könne die Kommission dann dem Europäischen Parlament und dem Rat unterbreiten.
“Der Rat würde dann mit qualifizierter Mehrheit abstimmen und – wenn das Parlament zugestimmt hat – das Abkommen abschließen und könnte so den französischen Widerstand überstimmen”, erklärt Kleimann.
An einer Pressekonferenz in Brüssel gab sich der Vorsitzende des Handelsausschusses des Europäischen Parlaments Bernd Lange zuversichtlich, dass eine Lösung gefunden werden könnte. “Wenn ein Land das Abkommen nicht ratifizieren kann, müssen wir vielleicht etwas länger warten. Ich würde nicht sagen, dass dies das Scheitern von CETA bedeuten würde“, sagte er.
Und falls CETA tatsächlich gescheitert wäre, so könne man wahrscheinlich eine leicht adaptierte Version des Abkommens neu verhandeln und neu ratifizieren. “Ich erwarte nicht, dass so ein wichtiges Abkommen, das so gut funktioniert, einfach abgeschnitten wird”, sagt Lange.
CETA war schon vor der Unterzeichnung hart umkämpft. 2016 stellte sich das wallonische Parlament gegen CETA und verzögerte damit die Unterzeichnung. In Deutschland gab es Bedenken über den Investitionsschutz. Erst gerade im Februar vereinbarten die EU und Kanada zusätzliche Bestimmungen zum Investitionsschutz.
Das europäische Exportkontrollregime ist auf einen funktionierenden Multilateralismus ausgelegt. Die EU-Staaten richten sich nämlich hauptsächlich nach den Kontrolllisten des Wassenaar Arrangements. Nach diesem Arrangement beschließen die 42 teilnehmenden Staaten gemeinsam, welche Produkte einer Exportkontrolle unterliegen sollen. Dies hat den Vorteil, dass das Vorgehen international abgestimmt ist. Doch das Wassenaar Arrangement hat einen zentralen Nachteil: Russland ist einer der teilnehmenden Staaten.
Bereits vor der zweiten russischen Invasion der Ukraine sei dies ein Problem gewesen, sagt Mathieu Duchâtel, Direktor für internationale Studien beim Thinktank Institut Montaigne. Seit der zweiten Invasion sei das System praktisch vollständig dysfunktional geworden. “Es ist extrem schwierig geworden, die Liste zu aktualisieren”, sagt Duchâtel.
“Russlands Verhinderungspolitik in dem Regime führt zu einer Fragmentierung der internationalen Ausfuhrkontrollbestimmungen”, sagt auch Nikolas Keßels, stellvertretender Leiter der Außenwirtschaftspolitik beim BDI.
Auf diese Fragmentierung reagierte die EU mit einer Anpassung ihrer Dual-Use-Regulierung. Neu können EU-Mitgliedstaaten ihre nationalen Exportkontrolllisten miteinander teilen. Die Idee dahinter ist, dass die Mitgliedstaaten dies kollaborativ tun und ihre Kontrolllisten gegenseitig anpassen.
Gebracht hat es bisher wenig. Die Niederlande, Finnland, Spanien, Litauen und Frankreich haben ihre Exportkontrolllisten in den vergangenen Monaten unilateral erweitert, ohne nennenswerte europäische Abstimmung. Laut EU-Kommission liegt das daran, dass die Regulierung die Mitgliedstaaten nicht zwingt, sich vor der Entschlussfassung gegenseitig zu konsultieren.
Die fragmentierte Exportkontrollpolitik ist im Binnenmarkt wenig effektiv, da sie entweder leicht zu umgehen ist oder Binnenmarkthürden aufbaut. Das verärgert Unternehmen, die Planungssicherheit erwarten. Der Chip-Hersteller Intel fordert zum Beispiel, dass die europäischen Regierungen ihre Exportkontrollpolitik besser koordinieren. “Ein gemeinsamer EU-Ansatz ist notwendig”, sagte eine Sprecherin zu Table.Briefings.
“Die Art, in der die Staaten aktuell ihre nationale und wirtschaftliche Sicherheit definieren, kann sehr inkonsistent sein und zu unilateralen Restriktionen und unterschiedlichen Interpretationen führen”, beklagte die Intel-Sprecherin weiter.
Doch die Europäisierung, die sich die Unternehmen wünschen, bleibt schwierig. Die EU-Kommission hat im Januar ein Whitepaper veröffentlicht, in dem sie einige mögliche Herangehensweisen darlegt.
Für das Problem der Wassenaar-Blockade schlägt sie vor, man könne die EU-Exportkontrollliste um jene Güter ergänzen, bei welchen sich die Mitgliedstaaten eigentlich einig seien, die aber im Wassenaar-Prozess von Russland blockiert würden. Dies könne die Kommission sogar per delegiertem Rechtsakt entscheiden, wenn die Mitgliedstaaten bestätigen können, dass sie diese Exportkontrollversprechen in einem internationalen Forum gegeben haben. Dahinter liegt die Idee, mit den Mitgliedern des Wassenaar Arrangements ohne Russland eine Art “Wassenaar-minus-eins” aufzubauen, das wieder funktionsfähig ist.
Keßels nennt die Idee dieser Parallelstruktur ohne Russland “nicht ideal, aber besser als der Ist-Zustand“. Ein EU-Diplomat meinte zu Table.Briefings, Wassenaar-minus-eins sei “einen Versuch wert”.
Klar ist, dass es dauern wird. Auch die anderen Herangehensweisen, welche die Kommission in ihrem Whitepaper vorschlägt, werden keine schnelle Wirkung haben:
“Klar wäre es großartig, wenn wir schon weiter wären als das Whitepaper. Aber Exportkontrollen sind traditionell ein sehr schwieriger Bereich aufgrund nationaler Sicherheitsbedenken”, erklärt ein EU-Diplomat. Gut sei, dass es das Mindestniveau der Diskussion in allen 27 Mitgliedstaaten anhebt. “Wir müssen in kleinen Schritten vorangehen, das wird ein langer Prozess”, sagt er.
Aber selbst wenn die EU im Verlauf der kommenden Jahre eine Exportkontrollpolitik entwickeln, die mit der Blockade Russlands umgehen kann, sind die Probleme für die EU Exportkontrolle noch nicht vorbei. Während es bei Russland um klassische Dual Use Güter geht, die nicht in die Hände der russischen Armee fallen sollen, sieht das im Fall der USA und Chinas anders aus.
“Die USA sind viel eher bereit, Exportkontrollen auch als Teil ihrer Industriepolitik zu sehen”, sagt Mathieu Duchâtel. Das erlebte die niederländische Regierung hautnah mit, als die US-Regierung sie unter Druck setzte, Exportkontrollen für Maschinen zur Chipproduktion einzuführen. Das niederländische Unternehmen ASML soll seine fortgeschrittensten Lithografie-Maschinen nicht mehr nach China liefern, lautet das Ziel der USA.
Nach Ansicht von Duchâtel geht es den USA dabei nicht nur darum, diese Maschinen und deren Produkte außer Reichweite des chinesischen Militärs zu halten, sondern darum, die wirtschaftlich-technologische Entwicklung Chinas allgemein zu bremsen. Von diesem Verständnis von Exportkontrollen sei die EU noch weit entfernt.
“Die Exportkontrolldiskussion findet in der EU völlig abgekoppelt von der Diskussion über die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie statt”, sagt Duchâtel und ergänzt: “Militärische Endnutzer sollten nach wie vor das Hauptziel sein, aber wir sollten etwas weniger scheu sein, Exportkontrollen ebenfalls als Werkzeuge der Industriepolitik zu benutzen.”
Dass es je so weit kommen wird, darf bezweifelt werden. “Wir werden nie fähig sein, das zu tun, was China und die USA tun”, sagte ein EU-Diplomat Table.Briefings. Die EU sei “strukturell unfähig” dies zu tun. Zudem sei das Risiko unbeabsichtigter Nebenwirkungen sehr groß.
Freundlich lächelte Ursula von der Leyen am Wochenende in die Kameras: Die EU-Kommissionspräsidentin hatte einen Deal mit dem ägyptischen Machthaber und früheren General Abd al-Fattah as-Sisi geschlossen. Der benötigt dringend Geld, und die EU bietet es ihm: 7,4 Milliarden Euro, davon 200 Millionen für Migrationsprogramme. Dafür soll der ägyptische Alleinherrscher Europa die Flüchtlinge vom Hals halten.
Es ist nicht der erste Anlauf für Migrationsvereinbarungen – und nicht das erste Mal, dass die EU-Kommissionspräsidentin zusammen mit EU-Regierungschefs aufgrund der Flüchtlingssituation einem Diktator die Aufwartung macht. Dabei spricht wenig dafür, dass die bisher getroffenen Regelungen der Flucht nach Europa wirksam etwas entgegensetzen könnten.
1,1 Millionen Asylanträge wurden 2023 in der EU gestellt – ohne Ukrainerinnen und Ukrainer gerechnet, die eine eigene rechtliche Möglichkeit nutzen können. “Migrationsabkommen mit Herkunfts- und Transitstaaten sind nichts Neues, das kann durchaus sinnvoll sein”, sagt Alexander Throm, innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Doch was sie leisten sollen und was sie leisten können, das unterscheidet sich bei genauerer Betrachtung stark.
Das umstrittene Abkommen mit der Türkei unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan etwa funktioniert nur sehr eingeschränkt. Zwar kommen vergleichsweise wenig Flüchtlinge unmittelbar über die Türkei in die EU. Aber Rücküberstellungen finden schon seit Jahren nicht statt. Vielmehr fliehen immer mehr türkische Staatsbürger in die EU, um hier – zumeist erfolglos – Asyl zu beantragen. 2023 machten sie mit über 19 Prozent die zweitgrößte Gruppe von Antragstellern überhaupt in Deutschland aus – nach den Syrern und noch vor den Afghanen.
Was heißt das für die Migrationsabkommen? “Das Beispiel Türkei zeigt, dass von ihnen keine Wunder zu erwarten sind”, sagt Alexander Throm. “Es kommt immer darauf an, dass Europa auch die Einhaltung und Umsetzung dieser Partnerschaften einfordert. Und dass wir uns dabei nicht erpressbar machen von den Interessen gewisser Autokraten.”
Genau das ist aber auch bei einem anderen Migrationsabkommen passiert, und zwar mit Tunesien im vergangenen Sommer. Ziel der EU war es, dass das Land alle Flüchtlinge zurücknimmt, die von Tunesien aus in die EU gelangen. Doch trotz der EU-Offerten: Präsident Kais Saïed, dessen Herrschaft autokratische Züge aufweist, bestand darauf, dass sein Land kein Ziel von Migration sei und über seine Zuwanderung und Grenzen selbst bestimme. Nur tröpfchenweise floss anschließend Geld nach Tunesien. Saïed wies im Oktober 2023 dann Geld zurück – er wolle keine Almosen oder Wohltätigkeit aus der EU.
In Brüssel und den Hauptstädten war man, wie so oft, überrascht. Dabei hätte die Vereinbarung wohl sowieso kaum etwas geändert. Denn im Memorandum of Understanding sei nur die Rücknahme tunesischer Staatsbürger enthalten, sagt der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt. Dabei machten die nur einen Bruchteil der über Tunesien kommenden Asylsuchenden aus. “Es wird versucht, mit Taschenspielertricks das Scheitern des Abkommens mit Tunesien zu verdecken, das man 10 Jahre verhandelt hatte”, sagt Marquardt.
Dass das ungleich mächtigere und einwohnerstärkere Ägypten sich aus der EU allzu viele Vorgaben machen ließe, darf ebenfalls bezweifelt werden.
Wenige Monate vor der Wahl scheuen sich die meisten Politiker, den Bürgern reinen Wein einzuschenken. “Das Gemeinsame Europäische Asylsystem ist der Schlüssel, um Migration insgesamt zu steuern und zu ordnen, humanitäre Standards für Geflüchtete zu schützen und die irreguläre Migration zu begrenzen”, sagte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der Einigung für die Reform des EU-Asylrechts im Dezember. Doch bis die Änderungen wirklich wirksam sind, werden noch viele Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und Rückführungen scheitern.
“Die neuen europäischen Asylregeln greifen frühestens 2026 und werden auch dann nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein”, sagt CDU-Innenpolitiker Alexander Throm. Politisch trennen sie Welten, aber analytisch besteht hier Einigkeit zwischen Throm und dem Grünen-Europaparlamentarier Erik Marquardt. Auch der erwartet keine schnelle Wirkung der neuen Regeln. Und auch nicht, dass sie die Probleme überhaupt nachhaltig lösen könnten.
Tatsächlich ist für die komplexe Überarbeitung des Regelwerks in weiten Teilen eine zweijährige Frist vorgesehen, bis die neuen Vorgaben tatsächlich greifen. Bei der EU-Kommission will man im September einen eigenen Umsetzungsplan vorlegen, bis Ende 2024 sollen die Mitgliedstaaten jeweils nationale Umsetzungspläne einreichen.
Die neuen Regeln haben bislang überhaupt nur wenige Menschen durchdrungen. Und wie sie rechtsstaatlich anzuwenden sind, wird über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte umstritten sein. Denn die Vereinheitlichung des Asylsystems in Europa heißt auch: Viele bisherige Urteile der nationalen und europäischen Gerichte werden nicht mehr anwendbar sein.
Ein Fall, in dem die Gerichte absehbar viel zu tun bekommen, sind die sogenannten Grenzverfahren. Entsprechend der sogenannten Screening-Verordnung soll binnen der ersten drei bis sieben Tage entschieden werden, ob Asylsuchende in diesem Verfahren landen, das höchstens drei Monate dauern soll, oder ins reguläre Verfahren überführt werden, das maximal sechs Monate dauern soll. Das Grenzverfahren war höchst umstritten, denn es kommt einer Haft sehr nahe.
Die Möglichkeit für Asylverfahren direkt an den Außengrenzen seien ein guter Schritt, meint CDU-Politiker Alexander Throm. Tatsächlich sind die geplanten Grenzverfahren höchst heikel. Denn anders als der Name suggeriert, gibt es keinerlei Bestimmung, dass diese wirklich an EU-Außengrenze stattfinden müssten, wie ranghohe Beamte aus der DG Home bestätigen. Grenzverfahren in Kassel oder Paris, fernab aller Grenzen? Mit der Asylreform wird das möglich.
Aber ist es nicht gut, wenn die Asylsuchenden in schnellen Verfahren auch selbst Klarheit erhalten? Die Bundesrepublik habe bei den Verhandlungen auf “funktionierende Zuständigkeitsbestimmungsverfahren mit möglichst langen Zuständigkeiten und Überstellungsfristen” gedrängt, erläutert ein Sprecher des Bundesinnenministeriums auf Anfrage.
Das Ziel: “Dass zum einen Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten weniger schnell übergehen und zum anderen Überstellungen länger möglich sind, etwa wenn sich Schutzsuchende diesen entziehen.” Aktuell funktioniert das System der Erstzuständigkeit kaum: Ganze 5053 Rücküberstellungen fanden 2023 statt – die meisten davon nach Österreich.
An den konkreten Regelungen gibt es vielfältige Kritik. “Wenn die EU in den Gesetzen beschließt, dass die Außengrenzstaaten nur 15 Monate lang für einen dort abgelehnten Asylbewerber zuständig bleiben, widerspricht das eklatant den deutschen Interessen”, sagt CDU-Innenpolitiker Alexander Throm. “Denn dann wird der Sekundärmigration Tür und Tor geöffnet, es dürften noch mehr abgelehnte Asylbewerber ihr neues Glück in Deutschland suchen.”
Die Grenzverfahren würden, anders als gern behauptet, auch nicht automatisch eine schnellere Rückführung zur Folge haben, meint auch der Grünen-Europaparlamentarier Erik Marquardt: “Auf die Ablehnung in diesen Verfahren folgt in der Regel eben keine Rückführung, sondern die Einreise in einen EU-Staat und dann ein zusätzliches, reguläres Asylverfahren.”
Das multipliziere nur den Aufwand, sorge aber an keiner Stelle für Entlastung. Die deutschen Zahlen scheinen das zu bestätigen: 16.430 Abschiebungen gab es im vergangenen Jahr – mit 1448 nach Georgien, 1314 nach Österreich und 1177 nach Nordmazedonien ist keines der Top-Herkunftsländer darunter zu finden.
Und auch der sogenannte und gern von den Verhandlern gelobte Solidaritätsmechanismus überzeugt bei genauerem Hinsehen nicht. Vordergründig verpflichtet er alle Mitgliedstaaten dazu, einen Anteil an Geflüchteten aufzunehmen. Entsprechend Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft sollen so 30.000 Flüchtlinge umverteilt werden. Die können aus dem regulären oder dem Grenzverfahren stammen.
Doch Mitgliedstaaten können sich freikaufen, ohne dass das direkt mit den Kosten für die Geflüchteten zu tun hat: Es wird eine Pauschale festgelegt – und auch alle Zahlungen im Rahmen des sogenannten Asyl- und Migrationsfonds (AMIF) gelten als Solidaritätsbeitrag.
Der fördert derzeit alles Mögliche – von der Rückkehrberatung für den 70-jährigen Iraker, der seit 30 Jahren in Deutschland lebte, bis zur Hilfe bei der Gewinnung von Fachkräften im Kosovo. Und es geht noch abstruser: “Dass man jetzt als Ungarn sagen kann, wir zahlen an Drittstaaten, etwa für Migrationsmanagement im Sudan, das ist offensichtlich keine Solidarität”, sagt der Grünen-Europaparlamentarier Erik Marquardt.
“Momentan lohnt es sich wirtschaftlich und politisch zu stark, keine Flüchtlinge aufzunehmen.” Ökonomisch sei das auch deshalb lohnenswert, weil die EU-Kommission jene Staaten, die sich nicht an die gemeinsamen Regeln hielten, kaum mit ernsthaften Verfahren zur Rechenschaft ziehe.
Das Hauptproblem aber sieht Erik Marquardt in einer unehrlichen Betrachtung der Realität. Die meisten Flüchtlinge hätten objektiv gute Gründe, sich auf den Weg zu machen, was auch die Zahlen zeigten. Wohin sie gingen, hinge in erster Linie von Sprachbarrieren und Integrationsperspektiven ab: Während Venezolaner und Kolumbianer in Spanien Zuflucht suchten, flüchteten Ägypter vor allem nach Italien, Guineer und Ivorer nach Frankreich und Türken primär nach Deutschland, wie aktuelle Zahlen der EU-Asylbehörde (EUAA) zeigen. Also dahin, wo es bereits relevante Gruppen aus den jeweiligen Ländern gibt.
Das neue System sei dabei von vornherein falsch konzipiert: “Man geht von einer Normalität mit kleinen Fantasiezahlen aus”, sagt Marquardt. Das sei ein Fehler: “Man redet sich seit Jahren ein, dass man nur noch ein paar zusätzliche Abschreckungsmaßnahmen braucht und dann kommt kaum jemand mehr nach Europa. Aber das wird nicht passieren. Man muss das System so bauen, dass es für realistische Zahlen funktioniert und nicht nur in einer schönen Parallelwelt.”
Für Alexander Throm liegt die Lösung nicht primär in Europa. Der Schutz müsse möglichst nah an den Heimatländern gewährt werden, meint er. “Es gibt kein Recht, sich das Schutzland nach Belieben auszusuchen. Deshalb ist die Initiative der Kommissionspräsidentin von der Leyen absolut richtig. Nur leider fehlt hier jedes Engagement von Olaf Scholz, er ist weder mit der Türkei im Gespräch, noch mit anderen relevanten Staaten.” Angesichts der ausbleibenden echten Erfolge bei den bisherigen EU-Deals ist das politisch aber vielleicht die klügere Wahl.
Die rechtspopulistische Partei Rassemblement National von Marine Le Pen könnte nach der EU-Wahl im Juni die stärkste nationale Gruppierung im Europäischen Parlament werden. In einer neuen Ipsos-Prognose liegt der französische RN gleichauf mit der deutschen CDU/CSU mit jeweils 28 Abgeordneten. “Dies wäre das erste Mal, dass die größte Delegation des Parlaments nicht von EVP oder S&D kommen könnte”, heißt es in einer Mitteilung.
Für die Projektion im Auftrag des Senders Euronews hatte Ipsos 25.916 Bürger in 18 EU-Ländern befragt, die zusammen 88,9 Prozent der Europaparlamentarier stellen. Zum ersten Mal sei eine derart umfassende Umfrage von einem einzigen Institut durchgeführt worden, hieß es in der Mitteilung. Für neun kleinere Länder – unter anderem Irland und Kroatien – sei die Erhebung durch den Rückgriff auf jüngste nationale Wahlergebnisse und Analysen ergänzt worden.
Insgesamt bestätigt die Projektion den erwarteten Aufschwung der Rechtsextremen und Nationalkonservativen in Europa. Der Trend sei allerdings innerhalb der Staatengemeinschaft nicht einheitlich. In der ID-Fraktion (81 Sitze, +22) würde demnach der RN die italienische Lega als stärkste Delegation ablösen, in der EKR (76 Sitze, +8) würden die Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni die polnische PiS von der Spitze verdrängen. Die AfD würde der Umfrage zufolge künftig 15 statt 9 MdEPs stellen.
Die EVP sieht die Umfrage wie andere Erhebungen relativ stabil bei 177 Sitzen (-1) und damit als stärkste Fraktion. Die Sozialdemokraten liegen bei 136 Sitzen (-4). Starke Verluste verzeichnen würden die liberale Renew mit 85 Sitzen (-17) und die Grünen mit 55 Sitzen (-17). Die Liberalen würden vor allem in Spanien und Frankreich verlieren und die Grünen in Deutschland (15 statt 25 Sitze) und Frankreich.
Die Liberalen stellen an diesem Mittwochnachmittag ihre drei Spitzenkandidaten für die Europawahl vor. Wichtigstes Zugpferd soll FDP-Frau Marie-Agnes Strack-Zimmermann sein, die von der größten liberalen Parteienfamilie ALDE nominiert wird. Für die kleinere Parteienfamilie EDP tritt der italienische Abgeordnete Sandro Gozi an, für die französische Partei Renaissance Valérie Hayer.
Hayer, Chefin der Renew-Fraktion, hatte dem Vernehmen nach wegen ihrer Aufgabenfülle gezögert, auch EU-weit Wahlkampf zu machen, erklärte am Dienstag aber ihre Kandidatur. Als Alternative war Binnenmarktkommissar Thierry Breton gehandelt worden, der nach jüngsten Tweets über Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aber auch in Paris in Ungnade gefallen ist. ber/tho
Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas warnt vor “einer Flut von Desinformationen” von böswilligen Akteuren. “Heute verläuft die Frontlinie von Putins sogenanntem Schattenkrieg durch die Herzen unserer Demokratien”, sagte Kallas bei einem gemeinsamen Auftritt mit Kanzler Olaf Scholz in Berlin. Dazu zählten Parlamente sowie soziale und traditionelle Medien.
Russlands Präsident und mit Moskau verbündete Kräfte in den EU-Staaten versuchten im großen Stil, die Meinungen und das Wählerverhalten in den EU-Staaten zu beeinflussen, so Kallas. Dadurch gerate der gesamte Zusammenhalt der Gesellschaften unter Druck. Als Antworten müssten die Kampagnen entlarvt und die Medienkompetenz der Menschen gestärkt werden, forderte sie. tho
Bundeskanzler Olaf Scholz pocht auf Fortschritte bei der Kapitalmarktunion. Es gehe darum, genug privates Kapital zu mobilisieren, um die Transformation zur Klimaneutralität zu finanzieren. “In den USA, wo es einen riesigen Kapitalmarkt gibt, gelingt das. Die EU muss hier dringend aufholen“, forderte Scholz bei seiner Rede auf der Europakonferenz Europe 2024 von Handelsblatt, Tagesspiegel, Wirtschaftswoche und Zeit in Berlin.
Bei der Banken- und Kapitalmarktunion müsse Europa “wegkommen von diesem langsamen Prozess, der da ist”, sagte Scholz. “Da wird auch in Deutschland über das eine oder andere Stöckchen gesprungen werden müssen.“
Welche “Stöckchen” er genau meinte, sagte Scholz nicht, aber der nach ihm sprechende französische Finanzminister Bruno Le Maire formulierte in seiner Rede einige Vorschläge, zum Beispiel die zentralisierte Kapitalmarktaufsicht.
Im Februar hatte der französische Finanzminister vorgeschlagen, dass eine Koalition von Mitgliedstaaten damit beginnen sollte, ihre Finanzmarktakteure unter die Aufsicht der Europäischen Kapitalmarktbehörde (ESMA) zu stellen, um eine bessere Kapitalmarktintegration zu erreichen. Deutschland stellte sich bisher gegen diese Zentralisierung, da es lieber an der nationalen Kapitalmarktaufsicht festhalten will.
“Ich schlage vor, dass wir diese Frage der europäischen Aufsicht ein für alle Mal klären“, sagte Le Maire in Berlin. Er wisse, dass es zwischen Deutschland und Frankreich diesbezüglich Differenzen gäbe, doch diese zu überwinden sei eine Frage des politischen Willens. “Wir müssen in wenigen Monaten bedeutende Fortschritte zur europäischen Kapitalmarktaufsicht machen, denn ohne gemeinsame Aufsicht, gibt es keine Kapitalmarktunion“, meinte Le Maire.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs werden das Thema Kapitalmarktunion beim Euro-Gipfel am 22. März in Brüssel besprechen. Eurogruppenpräsident Paschal Donohoe wird dabei eine Deklaration der EU-Finanzminister zur Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion vorstellen. jaa
Die Spitzenkandidatin der Grünen, Terry Reintke, warnt davor, zentrale Elemente des Green Deal nach der Europawahl im Juni infrage zu stellen. “Machen wir jetzt die Gesetze wieder auf, so wie das CDU/CSU beim Verbrenner wollen, dann führt das wieder zu Planungsunsicherheit“, sagte sie am Dienstag bei einer Veranstaltung von Table.Briefings und Europäischer Bewegung Deutschland.
Stattdessen müssten den Unternehmen jetzt die Instrumente an die Hand gegeben werden, um die klimapolitischen Vorgaben umsetzen zu können, forderte die Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament. Dazu zählten etwa Investitionen in die Infrastruktur, aber auch Unterstützung für Hausbesitzer, um ihre Gebäude klimaneutral zu machen.
Henning Vöpel, Direktor des Centrums für Europäische Politik (cep), macht einen “Konstruktionsfehler” des Green Deal dafür verantwortlich, dass dieser von Neuem politisch zur Disposition gestellt werde. Die Gesetzgebung sei zu kleinteilig aufgesetzt worden, so der Ökonom. Sie lasse den Unternehmen zu wenig Freiheit zu entscheiden, wie und mit welchen Technologien sie die politischen Ziele am besten erreichen könnten. “Wir wollen Geschäftsmodelle transformieren und nicht deformieren”, warnte Vöpel.
Er mahnte zugleich, allein Technologieoffenheit zu propagieren, reiche nicht aus. “Wir haben in der Geschichte der Industrie immer wieder Entscheidungen getroffen über Technologiepfade”, sagte er. Es funktioniere nicht, für alle Zeiten alle technischen Wege offenzuhalten: “Wir brauchen Infrastrukturen, wir müssen Skalierungsvorteile realisieren und so weiter.” tho
Die Ampelkoalition kann sich doch noch auf eine gemeinsame Position zum EU-Renaturierungsgesetz einigen. Deutschland werde dem Gesetz zustimmen, und in einer Protokollerklärung festhalten, dass Landwirten bei der Umsetzung keine zusätzlichen Belastungen entstehen sollten, sagte ein Sprecher des Bundesumweltministeriums am Dienstagabend zu Table.Briefings.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hatte am Montag Vorbehalte angemeldet, wie Table.Briefings exklusiv berichtet hatte. Am Dienstag erntete er dafür Kritik aus der Koalition: Deutschland habe der Trilogeinigung bereits im November vergangenen Jahres im Ausschuss der Ständigen Vertreter zugestimmt, sagte ein Sprecher des BMUV. “Diese Position der Bundesregierung ist bis heute unverändert, und sie bestätigt das zwischen den EU-Organen erzielte Verhandlungsergebnis.”
Das BMUV rechne weiter mit einer abschließenden formalen Bestätigung beim Umweltrat am kommenden Montag. Allerdings steht die nötige qualifizierte Mehrheit offenbar auch bei Zustimmung Deutschlands auf der Kippe. Mehrere Mitgliedstaaten haben bereits signalisiert, den ausgehandelten Rechtstext nicht zu akzeptieren, darunter Italien, Polen und die Niederlande. Inzwischen hat dem Vernehmen nach auch Ungarn Bedenken angemeldet. Am heutigen Mittwoch befassen sich die Ständigen Vertreter mit dem Gesetz. tho/ber
Der klimapolitische Fokus der nächsten EU-Kommission solle auf CO₂-Entnahmen (Carbon Dioxide Removals – CDR) liegen, fordert die Brüsseler Nicht-Regierungsorganisation Carbon Gap. In einem am Dienstag veröffentlichten Fahrplan empfiehlt die NGO eine umfassende CDR-Strategie, um die gezielte politische und finanzielle Unterstützung für CDR in Europa zu erhöhen.
Carbon Gap fordert unter anderem:
“Eine CDR-Strategie würde einen Weg aufzeigen, wie CDR in Europa in den kommenden Jahren entwickelt, eingesetzt und skaliert werden kann”, sagt Valter Selén, Associate Policy Director bei Carbon Gap.
Der Weltklimarat IPCC hält “anthropogene Aktivitäten, die CO₂ aus der Atmosphäre entfernen und es dauerhaft in geologischen, terrestrischen oder ozeanischen Reservoirs oder in Produkten speichern” für notwendig, um die Klimaziele von Paris zu erreichen. Demnach müssen bis 2050 jährlich 5 bis 10 Gigatonnen CO₂ aus der Atmosphäre entfernt werden. luk
Bulgariens Vizeregierungschefin Maria Gabriel hat eine neue Regierung vorgestellt. Sie teilte Staatspräsident Rumen Radew am Dienstag mit, dass sie den am Vortag von ihm erteilten Regierungsauftrag erfüllt habe. Die ehemalige EU-Kommissarin war von der stärksten Parlamentsfraktion der Mitte-Rechts-Partei Gerb für den Posten der Ministerpräsidentin nominiert worden.
Die 44-Jährige stellte nun im Alleingang eine neue Regierung vor, obwohl sie seit zehn Tagen mit den bisherigen liberal-konservativen Koalitionspartnern PP-DB über eine gemeinsame Regierung verhandelt hat. Dies galt zuletzt als erfolglos. Ein Regierungsabkommen wurde nur von Gabriel unterzeichnet. Die neue Regierung muss in den kommenden Tagen vom Parlament bestätigt werden.
Dem Plan vom Dienstag zufolge soll Maria Gabriel neue Ministerpräsidentin werden und gleichzeitig Außenministerin bleiben. Dem neuen Kabinett sollen viele Minister der vorausgegangenen Koalitionsregierung aus dem PP-DB-Bündnis angehören. Allerdings sollen jetzt auch Minister aus der Mitte-Rechts-Partei Gerb dabei sein – wie etwa der nominierte Verteidigungsminister Hristo Gadschew. Dieser Posten war besonders umstritten.
Die bisherige prowestliche Regierung von Ministerpräsident Nikolaj Denkow war vor zwei Wochen planmäßig zurückgetreten. Das soll eine 2023 zwischen den Regierungspartnern vereinbarte Rotation des Amtes des Ministerpräsidenten ermöglichen. dpa
Manchmal denkt sich Florian Bieberbach: Leute, ihr seid ja völlig weltfremd. Dieser eine Entwurf der EU-Kommission zum Beispiel, eine Richtlinie zum Bau von Gebäuden. Darin habe gestanden, dass man neue Häuser nicht mehr ans Stromnetz anschließen dürfe. Häuser sollten sich selbst versorgen, mit Solaranlagen auf dem Dach und anderen Energieformen. Das gehe vielleicht bei Einfamilienhäuschen auf dem Land. “Aber ich kann doch nicht in der Stadt sagen, ich schließe ein neues Gebäude nicht mehr an den Strom an”. Vollkommen weltfremd.
Da müsse man sich auf die Hinterbeine stellen, und das tut der 50-Jährige. Er ist Chef der Münchner Stadtwerke und außerdem Präsident der CEDEC, des Dachverbands regionaler Energieversorger in Brüssel. Bieberbach ist Interessenvertreter, eigentlich ein Lobbyist. “Wenn Unternehmen Einfluss nehmen auf politische Entscheidungen, sieht man das kritisch“, sagt Bieberbach. “Oft zu Recht.” Auf der anderen Seite: Wenn Unternehmen gar nicht mitreden, stehen mitunter weltfremde Ideen im Gesetz. Bieberbach findet es deshalb wichtig, Stellungnahmen abzugeben und mit Politikern zu diskutieren. Absprachen im Hinterzimmer lehnt er hingegen ab.
Überhaupt, man stellt sich so einen Lobbyisten anders vor: lauter, nachdrücklicher. Bieberbach spricht ruhig, er lässt seinem Gesprächspartner gerne den Vortritt. Ein leichter Münchner “Schmäh” ziert seine Wörter und Sätze. “Ich bin schon ein bekennendes Landei, und da verwurzelt, wo ich wohne“, sagt er. Er lebt in Schäftlarn, einer kleinen Gemeinde bei München. Dort sitzt er im Gemeinderat und engagiert sich bei der Freiwilligen Feuerwehr. Vielleicht ist es das, was der Europapolitik manchmal fehlt: ein Landei, das erzählen kann, was in Kleinstädten und Dörfern vor sich geht. Nach Brüssel müsse er dafür selten, sagt Bieberbach, vieles laufe digital. Außerdem sei Brüssel von München aus schlecht zu erreichen.
Bieberbach wandelt schon lange zwischen Oberbayern und der Welt. Als er an der TU München war – für ein IT-Studium und die anschließende Promotion – engagierte er sich bei den Jungsozialisten. Ein Streitgespräch, dass er mit einem Vertreter der Jungen Union führte, wurde abgedruckt und gelesen. Ein Manager von der Deutschen Bank war so beeindruckt, dass er ihn anwarb. Bieberbach ging nach London. Zwei Jahre war er dort Analyst. “London ist faszinierend”, sagt Bieberbach. “Aber ich habe gemerkt, dass ich nicht dauerhaft in so einer Weltstadt leben kann.” Also zurück nach München, von dem man ja sagt, es sei das größte Dorf der Welt.
Bei den Stadtwerken kümmerte er sich erst um die IT – mit Strom und Gas kannte er sich noch nicht so recht aus. Er studierte neben dem Job noch einmal, diesmal Energiewirtschaft. Und arbeitete sich hoch. 2013 wurde er Geschäftsführer. Das Amt bei der CEDEC kam 2019 dazu. Zudem ist er Honorarprofessor an seiner alten Universität und Mitglied im Rat des Thinktanks Agora Energiewende.
Für die CEDEC vertritt Bieberbach 1.500 städtische Betriebe von Norwegen bis Süditalien. Das große Ziel ist überall dasselbe: Der CO₂-Ausstoß muss sinken. Doch die Begebenheiten vor Ort sind überall andere. Stadtwerke in Skandinavien müssen Gebäude warm bekommen, in Süditalien müssen sie für Kälte sorgen. Bieberbach kennt sich mit beidem aus. München kenne eiskalte Winter und heiße Sommer, die Stadtwerke betreiben Wärme- und Kältenetze. Es sei daher naheliegend, dass ein Münchner der CEDEC vorsteht, sagt Bieberbach. München liege ja irgendwie in der Mitte Europas.
Neulich war Bieberbach in Stockholm und Wien, zu Treffen der CEDEC. Er sei auch öfter mal in Paris oder Rom. Und dann sitzt er wieder im Gemeinderat in Schäftlarn. Bieberbach ist nicht so richtig Kosmopolit. Aber auch nicht richtig Landei. Maximilian Münster