knapp sechs Wochen sind es nur noch bis zur Europawahl, und nun nimmt auch der Wahlkampf Fahrt auf. SPD, FDP, CSU, Linke und AfD luden am Wochenende zu Parteitagen und Auftaktveranstaltungen. FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann kritisierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – die EVP-Kandidatin verstecke sich und stelle sich “nicht den Bürgerinnen und Bürgern”. SPD-Kanzler Olaf Scholz und CSU-Chef Markus Söder nahmen die AfD ins Visier, Söder sprach von einer Partei “mit einem fiesen Gesicht”.
Das Europaparlament startet am heutigen Montag seine Wahlkampagne, wenn auch eine der anderen Art. Die Institution hat einen Film produzieren lassen, um die Bürgerinnen und Bürger zum Wählen zu animieren. EP-Chefsprecher Jaume Duch Guillot wird ihn heute Vormittag vorführen.
In der rund vier Minuten dauernden Langfassung berichten Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges, des Prager Frühlings oder des Sturzes des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu den Enkelinnen und Enkeln über ihre Erfahrungen mit Demokratie und Diktatur. Die Botschaft einer älteren Dame: “Passt gut auf die Demokratie auf, wenn ich nicht mehr bin.”
Für die Generation TikTok gibt es auch Kurzfassungen des Films. Die großen TV-Sender strahlen sie ebenfalls aus, die meisten verzichten dabei auf Bezahlung. Produziert hat die Filme eine dänische Agentur.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Maiwoche.
In 22 Mitgliedstaaten muss die Aufstellung der Listen für die Europawahl nicht zwingend nach demokratischen Prinzipien ablaufen. Nur in fünf Mitgliedstaaten müssen die Kandidaten der Parteien in Delegierten- oder Parteiversammlungen demokratisch gewählt werden. Die Vorschriften für die Aufstellung der Kandidatenlisten der Parteien für die Europawahl unterscheiden sich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat.
Unter den Mitgliedstaaten, in denen keine demokratischen Spielregeln bei der Aufstellung der Listen für das Europaparlament gelten, sind EU-Gründungsstaaten wie Italien, Frankreich, Luxemburg und Belgien. Der Vorsitzende eines Ausschusses im Europaparlament sagte zu Table.Briefings: “Wenn diese demokratischen Defizite in EU-Beitrittskandidaten bestehen würden, würden sie in einschlägigen Berichten der Kommission vermerkt.”
In vielen Mitgliedstaaten entscheidet die Parteispitze, welche Politiker auf aussichtsreichen Plätzen kandidieren. In Portugal etwa hat die sozialistische Partei (Partido Socialista, PS) vor wenigen Tagen die Liste ihrer Kandidaten bekannt gegeben. Die Namen auf der Liste waren eine große Überraschung: Von den neun Mandatsträgern der PS im Europaparlament hat es keiner auf die Liste geschafft.
Der Vize der S&D-Fraktion, Pedro Marques, der bereits als möglicher Fraktionschef im nächsten Europaparlament gehandelt wurde, ist nicht dabei. Auch Pedro Silva Pereira, einer von 14 Vize-Präsidenten im Parlament, hat keine Chance weiterzumachen. Statt über die Fraktionsgrenzen hinaus anerkannte Leistungsträger wieder zu nominieren, hat Parteichef Carlos César ehemalige Minister aus der abgewählten Regierung Costa nominiert.
Es sind die nationalen Vorschriften, die es den Parteispitzen erlauben, die Kandidatenlisten festzulegen. Häufig folgt die Liste auch nur der Entscheidung des Parteichefs. Einige Parteien, etwa die SPÖ in Österreich, wählt dennoch die Liste nach demokratischen Spielregeln. In diesen 22 Mitgliedsländern werden die Kandidaten von Parteizirkeln oder -chefs bestimmt:
Demgegenüber steht das Verfahren, wie es etwa in Deutschland angewandt wird: Bei Delegiertenversammlungen oder Parteitagen müssen die Delegierten oder die Mitglieder die Listen nach demokratischen Verfahren bestimmen. In der Regel schlägt die Parteiführung die Liste vor. Kampfkandidaturen sind möglich. Da ein Politiker im Europaparlament viel gestalten kann und die Konditionen attraktiv sind, gibt es ein hohes Interesse an einer Nominierung. Die Liste wird im demokratischen Wettstreit ausgefochten.
Das demokratische Verfahren der Listenaufstellung wird in folgenden Ländern angewandt:
Eigentlich müsste es eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Kandidaten für das demokratisch gewählte Europaparlament nach demokratischen Spielregeln bestimmt werden. Wenn ein Politiker nur dann nominiert wird, wenn er in der Gunst des Parteichefs steht, scheiden viele bereits nach einer Wahlperiode wieder aus. Das bedeutet: Die Fluktuation im Europaparlament ist hoch. Bei der konstituierenden Sitzung der 9. Wahlperiode im Juli 2019 waren 61 Prozent der MEPs Neulinge. Diesmal rechnen Beobachter mit ähnlichen Zahlen.
Klar ist auch: Je länger ein Politiker im Parlament ist, desto besser kennt er die Strukturen, desto effektiver kann er wirken. Bis ein Abgeordneter voll arbeitsfähig ist, vergehen im Europaparlament sicher zwei Jahre. Nicht ohne Grund gelten viele deutsche Abgeordnete als die Leistungsträger. Auffällig viele leiten Ausschüsse, sind Berichterstatter und haben Koordinatorenposten in ihrer Fraktion.
Viele Mitgliedstaaten nominieren spät. In Polen und Spanien stehen die Listen auch jetzt noch nicht fest, dabei sind es keine sechs Wochen mehr bis zur Wahl. In Baden-Württemberg etwa, wo immer sehr früh nominiert wird, ist bereits seit mehr als einem Jahr klar, wer die fünf aussichtsreichsten Kandidaten sind. Sie planen schon lange den Wahlkampf. Die Kampagnen der Parteien laufen längst. In Deutschland hängen bereits die Wahlplakate für die Europawahl, während anderswo noch nicht einmal klar ist, wer antritt.
In Italien, Finnland, Polen und anderen Mitgliedstaaten gibt es zudem das “Vorzugsstimmrecht” (“preferential vote”): Der Wähler gibt dabei nicht einer Liste oder Partei seine Stimme, sondern wählt einen Politiker aus. Nicht der Listenerste, sondern der Politiker mit den meisten Stimmen gewinnt ein Mandat. Das bedeutet: Prominente Kandidaten haben einen Vorteil. Alle Kandidaten einer Partei treten gegeneinander an, es gibt keine Wahlkreise, sie müssen ihren Wahlkampf landesweit führen.
In Italien etwa stehen die Namen der Kandidaten nicht einmal auf dem Wahlzettel. Der Wähler muss wissen, wen er wählen will, bevor er in die Wahlkabine geht. Dann muss er den Namen seines Kandidaten von Hand auf den Wahlzettel schreiben. Wegen dieser Regelung lassen sich in Italien etwa Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und Oppositionsführerin Elly Schlein an Platz eins auf die Liste schreiben. Beide denken nicht an einen Wechsel ins Europaparlament, sondern werden in der nationalen Politik bleiben. Sie hoffen vielmehr, mehr Wahlstimmen für ihre Parteien zu erzielen, wenn sie als Prominente bei der Wahl antreten.
Mit scharfen Attacken auf die AfD hat die CSU auf ihrem Europaparteitag in München die heiße Phase des Europawahlkampfes eingeläutet. CSU-Chef Markus Söder sprach von “Kremlknechten” und forderte: “Weg mit denen”. CSU-Spitzenkandidat Manfred Weber, Chef der Europäischen Volkspartei, nannte die AfD “verrottet” und “korrupt”. Selbst unter den radikalen rechten Parteien im Europaparlament gelte die AfD mittlerweile als zu radikal. “Sie sind Vaterlandsverräter”, sagte Weber.
Während sich Söder der üblichen Attacken auf die Ampel-Regierung und speziell auf die Grünen enthielt (“Wir wollen kein Schwarz-Grün für Deutschland”), ging Weber in seiner Rede auf deutliche Distanz zu den Freien Wählern, mit denen die CSU in Bayern in einer Koalition regiert. Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger sei in seinen fünf Jahren als Wirtschaftsminister nur einmal in Brüssel gewesen. “Man sollte den Freien Wählern ihre Politik nicht durchgehen lassen”, sagte Weber. In Bayern gilt das Klima in der Koalition als schlecht, beide Seiten lassen keine Gelegenheit für gegenseitig Sticheleien aus.
Als inhaltlicher Schwerpunkt schält sich bei der CSU kurz vor der Europawahl immer deutlicher der Kampf gegen ein Verbot neuer Verbrenner-Fahrzeuge ab 2035 heraus. Söder hatte dieses Verbot, das er im Jahr 2020 noch selbst gefordert hatte, erst vor wenigen Tagen als Fehler bezeichnet und dessen Rücknahme gefordert. Weber kündigte in seiner Parteitagsrede an, wenn es bei der Europawahl zu einer konservativen Mehrheit komme, werde man das Verbrenner-Verbot kippen.
Während die CSU vor der Landtagswahl im vergangenen Oktober hochnervös war (und mit 37,0 Prozent ein für ihre Verhältnisse sehr schlechtes Ergebnis erzielte), ist die Partei vor der Europawahl optimistisch. In Umfragen liegt sie über der 40-Prozent-Marke. Söder legte deshalb die Messlatte gleich ein Stück höher und gab als Ziel sieben CSU-Europaabgeordnete “plus x” aus. Bisher ist die CSU mit sechs Abgeordneten im Europaparlament vertreten. fa
Der nächste Fall einer “German Vote” droht bei der Antidiskriminierungsrichtlinie, die seit 16 Jahren in der Verwaltung des Rates schlummert. Die Richtlinie, welche die Kommission 2008 vorgeschlagen hatte, soll das heute gültige Diskriminierungsverbot am Arbeitsplatz auf weitere Bereiche ausweiten – vor allem Bildung, soziale Sicherheit und den Zugang zu Produkten und Dienstleistungen. Weil die Richtlinie im Ministerrat die nötige Einstimmigkeit nie erreichen konnte, war sie bis jetzt blockiert.
Die belgische Ratspräsidentschaft will sie nun über die Ziellinie bringen, unter anderem weil mit der neuen polnischen Regierung einer der früheren Veto-Player wegfällt. Im Ausschuss der ständigen Vertreter (AstV 1) am vergangenen Freitag hat auch Ungarn seine Zustimmung zugesichert.
EU-Diplomaten fürchten nun, dass die Richtlinie am deutschen Veto scheitern könnte. Neben Deutschland stellt sich auch die tschechische Regierung gegen die Richtlinie. Österreich und Italien halten sich noch bedeckt. “Sie können sich aktuell hinter Deutschland verstecken”, sagte ein EU-Diplomat zu Table.Briefings. Er ist überzeugt, dass eine Zustimmung Deutschlands den Druck auf Tschechien und die noch unentschlossenen Länder erhöhen würde und die Annahme der Richtlinie bewirken könnte.
Doch die deutsche Positionierung gestaltet sich kompliziert. Da sich die Regierung unter Angela Merkel gegen die Richtlinie ausgesprochen hatte, gilt diese Position nach wie vor, solange die Ampelkoalition sich nicht auf eine neue Position einigen kann. “Das hieße dann, dass Deutschland eine Chance unterließe, LGBT-Rechte in Ungarn zu schützen”, sagte ein EU-Diplomat.
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das die Richtlinie innerhalb der Bundesregierung federführend verantwortet, beteuert auf Anfrage von Table.Briefings, dass es sich seit Jahren für die Verabschiedung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinie einsetze. “Die aktuelle Bundesregierung prüft, unter welchen Voraussetzungen die bekannten Bedenken ausgeräumt und der allgemeine Vorbehalt Deutschlands aufgehoben werden kann”, sagt eine Sprecherin.
Mangels Einigung in der Regierung spielen die deutschen Verhandler auf Zeit. In der AstV-1-Sitzung am 18. April baten sie um mehr Zeit und kündigten eigene Textvorschläge an. In der AstV-1-Sitzung am 26. April kündigten sie an, noch mehr Zeit zu benötigen.
Wollte die belgische Ratspräsidentschaft die Richtlinie ursprünglich am kommenden Rat der Sozialminister am 7. Mai zur Abstimmung bringen, beantragten die deutschen Verhandler am vergangenen Freitag, beim Ministertreffen stattdessen eine Policy-Debatte zu führen. Die belgische Ratspräsidentschaft hofft, dass die Richtlinie dann in der Juni-Sitzung des Sozialministerrats doch noch verabschiedet werden kann. Die Zustimmung des EU-Parlaments ist nicht nötig. jaa
Gemeinsam mit Frankreich und Österreich fordert Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) beim EU-Agrarrat am heutigen Montag mehr Spielraum für nationale Beihilfen. Dabei geht es um die sogenannte De-minimis-Regelung. Sie setzt den Betrag fest, den EU-Länder einzelnen Betrieben höchstens auszahlen können, ohne dass die Subventionen regulär von der Europäischen Kommission genehmigt werden müssen. Özdemir fordert, die Grenze für den Agrar- und Fischereisektor von jährlich 20.000 auf 50.000 Euro pro Betrieb anzuheben.
Nur so könne Höfen “flexibel und gezielt bei unvorhergesehenen Ereignissen – wie Unwettern, Dürren oder Preissteigerungen wegen hoher Inflation – unter die Arme gegriffen werden”, argumentiert der Grünen-Politiker. Zudem sei der Betrag seit 2019 nicht angepasst worden.
Insgesamt 15 Mitgliedstaaten befürworten die Initiative laut Bundeslandwirtschaftsministerium. Diplomatenkreise erwarten bei dem Thema, das nicht öffentlich diskutiert wird, aber auch Gegenwind: Weniger finanzstarke Länder könnten Wettbewerbsverzerrungen fürchten.
Aus Verfahrensgründen noch nicht auf der Tagesordnung steht das finale Votum zu den Lockerungen bei der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), für die das Europäische Parlament vergangene Woche grünes Licht gab. Erwartet wird, dass sich die Agrarminister erneut inhaltlich hinter die Vorschläge stellen, die Abstimmung ist für den 13. Mai im Bildungsrat geplant. jd
Mit der Aufteilung der acht Arbeitsbereiche im deutsch-französischen Panzerprojekt Main Ground Combat System (MGCS) wollen Verteidigungsminister Boris Pistorius und sein französischer Amtskollege Sébastien Lecornu die heimischen Rüstungsindustrien zufriedenstellen. Die nationale Aufgabenverteilung ist bis auf Weiteres geklärt. Bis Jahresende wollen die Minister die Verhandlungen zum Industrievertrag für die Phase der Technologiedemonstration klären. Anfang 2025 soll der Bundestag die Verträge dann genehmigen. Das sei “ambitioniert”, sagte Pistorius am Freitag in Paris, aber er sei sich sicher, “die Verantwortlichen der beiden verhandelnden Teams wissen die Herausforderung zu schätzen”.
Die wichtigste Entscheidung, wer die Kanone des Panzers entwickelt, schieben die Partner aber auf. Der Arbeitsbereich bei dem neben der Kanone, Turm und Munition entwickelt werden sollen, teilen sich Deutschland und Frankreich auf. In einem ersten Schritt sollen zwei verschiedene Kanonensysteme entwickelt werden, und nach einer Bewertung das bessere den Panzer ausstatten. Von den deutschen Panzerbauern Rheinmetall und KNDS Deutschland (vorher Krauss-Maffei Wegmann) dürfte Rheinmetall die Nase vorn haben.
Von den acht Säulen übernimmt jedes Land zwei, die übrigen vier sollen gemeinsam entwickelt werden (mehr dazu lesen Sie im Security.Table). Lecornu und Pistorius hätten die Aufgabengebiete paritätisch geteilt, aber bei den entscheidenden Fragen, die einen Panzer ausmachten, sei Deutschland im Lead, sagte Pistorius. Sobald die Verträge stehen, solle es “darum gehen, andere Partner mit ins Boot zu holen”, kündigte Pistorius an. “Dieses Projekt wird am Ende offen sein müssen.” Als mögliche Partner sehe er Italien, aber auch Polen.
Wichtig war den Ministern, die Symbolik ihres Treffens hervorzuheben. “Ich würde nicht sagen, dass die industrielle Aufteilung das Herz des Vertrages von heute Morgen ist. Sie ist ein Element”, sagte Lecornu. “Das Herz des Vertrages ist, zu sagen, dass wir 2040 den gleichen Panzer haben.”
Die Unterzeichnung der Absichtserklärung sei ein “Meilenstein” auf dem Weg, Europa “auf dem Felde der militärischen Sicherheit” voranzubringen, sagte der FDP-Europapolitiker Michael Link zu Table.Briefings. Die französische Abgeordnete Natalia Pouzyreff von der Macron-Partei Renaissance wiederum freute sich, dass man es heute schaffe, “diese gemeinsame Vision zu entfalten” und ein Ziel zu setzen, “das die Verstärkung unserer industriellen europäischen Verteidigungskapazitäten betrifft”. Auch wenn “die deutsch-französischen Beziehungen in letzter Zeit manche Schwierigkeiten erlebt haben”. Nach ihrem Eindruck habe das daran gelegen, dass man “sich schwergetan hat, kurzfristige Ziele und langfristige Ziele zu vereinen”.
Auch Macron hatte in seiner zweiten Sorbonne-Rede am Donnerstag gesagt, dass man nicht vergessen dürfe, die europäische Rüstungsindustrie langfristig zu stärken und Geld in europäische Entwicklungen zu investieren. Die deutsche Strategie bestand mit den vergangenen Rüstungsbeschaffungen eher darin, marktverfügbar und günstiger außereuropäisch zu beschaffen. bub, tho
Das chinesische Fast-Fashion-Unternehmen Shein muss sich nach einem sprunghaften Anstieg seiner Nutzerzahlen den strengen neuen EU-Regeln für Online-Inhalte unterwerfen. Das teilte die Europäische Kommission am Freitag mit. Unternehmen mit mehr als 45 Millionen Nutzern gelten nach dem Digital Services Act (DSA) als sehr große Online-Plattformen (VLOP), die mehr tun müssen als andere, um illegalen und schädlichen Inhalt sowie gefälschte Produkte auf ihren Plattformen zu bekämpfen.
Der Online-Händler verzeichnete kürzlich 108 Millionen monatlich aktive Nutzer in der EU. “Nach der heutigen Einstufung als VLOP muss Shein innerhalb von vier Monaten nach seiner Benachrichtigung (das bedeutet bis Ende August 2024) die strengsten Regeln unter dem DSA einhalten”, sagte die EU-Kommission in einer Erklärung. Zu den DSA-Pflichten gehören die Annahme spezifischer Maßnahmen zur Stärkung und zum Schutz der Nutzer online, einschließlich Minderjähriger, sowie die Bewertung und Minderung systemischer Risiken, die von ihren Diensten ausgehen.
“Wir teilen das Bestreben der Kommission, sicherzustellen, dass Verbraucher in der EU mit Ruhe online einkaufen können, und wir sind entschlossen, unseren Teil dazu beizutragen“, erklärte Leonard Lin, globaler Leiter Public Affairs. Shein, das einen Börsengang in den USA ins Auge fasst, startete seinen Marktplatz im August vergangenen Jahres in der EU. rtr
Die Sitzungen des Europäischen Rates eignen sich hervorragend, um die Lage der Union und ihre voraussichtliche künftige Richtung zu beurteilen. Die Sitzung vom 17. und 18. April ist dafür ein gutes Beispiel, auch wenn die Signale, die von ihr ausgingen, in mancherlei Hinsicht widersprüchlich und uneinheitlich waren, wie wir noch sehen werden.
Die Sitzung starte am Abend des 17. April mit einer vierstündigen Diskussion. In den ersten 40 Minuten sprach Roberta Metsola über die Vorbereitungen für die Europawahlen im Juni und den anschließenden Ernennungsprozess. In der übrigen Zeit sprach man über den Krieg in der Ukraine, die Beziehungen zur Türkei und die Krise im Nahen Osten. Die Sitzung war gut vorbereitet, und die Diskussion war sachlich, objektiv und einvernehmlich.
In Bezug auf die Ukraine lag der Schwerpunkt auf der prekären militärischen Lage des Landes und der dringenden Verstärkung der Luftverteidigung sowie schnellere und größere Lieferungen von Artillerie, Munition und Raketen.
Der deutsche Bundeskanzler ergriff als Erster das Wort und gab – nicht zum ersten Mal bei den Debatten des Europäischen Rates über die Ukraine – den Ton für die gesamte Sitzung vor. Er sagte, die Ukraine brauche dringend Hilfe, und die Entscheidung Deutschlands, drei Patriot-Luftabwehrsysteme zu verlegen, sei ein klares Beispiel dafür, was getan werden könne und solle. Wie fast immer, wenn es um die Ukraine geht, schwieg Viktor Orbán, aber die Debatte insgesamt bestätigte, dass der Europäische Rat die Ukraine nach wie vor voll unterstützt.
Olaf Scholz war ebenfalls eine wichtige Figur in der Diskussion darüber, ob die EU den Dialog mit Erdogans Türkei ausweiten sollte. Die griechische Regierung schlug am Vorabend des Treffens gut ausgearbeitete Änderungen am Entwurf der Schlussfolgerungen vor.
Der Präsident von Zypern, der während des gesamten Treffens Scholz’ Hauptansprechpartner war, stimmte schließlich einem Text zu. Dieser Text erlaubte eine vorsichtige Annäherung unter der Aufsicht des Europäischen Rates und des Ausschusses der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten (AStV).
Zum Nahen Osten war die wichtigste Entscheidung, nämlich die Verhängung neuer Sanktionen gegen den Iran wegen des Drohnenangriffs auf Israel, bereits vor dem Treffen der Staats- und Regierungschefs getroffen worden. Daher konzentrierte sich die Debatte auf den Libanon, einschließlich der Risiken einer Eskalation und der Gefährdung erheblicher Teile der libanesischen Bevölkerung und der beträchtlichen Zahl der dortigen Flüchtlinge, sowie auf den Gazastreifen.
Hier wurde die Debatte vom spanischen Premierminister und den Staats- und Regierungschefs anderer Mitgliedstaaten, die die Palästinenser nachdrücklich unterstützen, geführt. Zweifellos ist man sich im Europäischen Rat weiterhin uneins über die Krise im Nahen Osten, doch haben sich die Ansichten der Staats- und Regierungschefs in einigen der wichtigsten Fragen angenähert und ihre Differenzen wurden eingedämmt.
Die Debatte über die Wirtschaftspolitik am zweiten Tag verlief vollkommen anders. In den ersten beiden Stunden erörterten die Staats- und Regierungschefs den Bericht von Enrico Letta über den Binnenmarkt. Diese erhielten den Bericht zu spät, um ihn vorher eingehend lesen zu können, aber er wurde von Letta gut präsentiert.
Die Diskussion war nicht besonders tiefgreifend, aber alle, die sich zu Wort meldeten, stimmten zu, dass die Themen, die der ehemalige italienische Ministerpräsident ansprach, wichtig waren. Und sie meinten, dass sowohl Lettas Bericht als auch der Bericht von Mario Draghi, den der Europäische Rat im Juni erörtern wird, zum richtigen Zeitpunkt kamen und eine ernsthafte Prüfung verdienten.
So weit, so gut. Doch nachdem Letta den Raum verlassen hatte, lief die Sitzung vollkommen aus dem Ruder. Auf Charles Michels Anregung hin führten die Staats- und Regierungschefs eine viereinhalb stündige Debatte über die Absätze des Entwurfs der Schlussfolgerungen, in denen ein neuer europäischer Deal für Wettbewerbsfähigkeit umrissen wird.
Dabei gab es drei grundlegende Probleme. Zum einen war der in den Schlussfolgerungen beschriebene “New Deal” weder neu noch ein Deal. Zweitens war der Text schlecht formuliert und bot Raum für eine Vielzahl von Änderungsanträgen. Und drittens gelang es Michel – der immer etwas zu sehr versucht, seine eigenen Interessen in den Mittelpunkt zu rücken – nicht, der Diskussion eine gewisse Ordnung zu verleihen. Die Debatte war in der Tat so langwierig und verworren, dass selbst die Protokollführer zuweilen Schwierigkeiten hatten zu folgen, und einige, wenn nicht sogar die meisten Anwesenden schienen zunehmend gelangweilt und frustriert.
Dennoch gab es einige konkrete Ergebnisse, besonders in Bezug auf die Kapitalmarktunion. Einer breiten Koalition unter Führung des luxemburgischen Premierministers Luc Frieden gelang es, jede Erwähnung der Harmonisierung des Körperschaftssteuerrechts zu streichen. Dafür konnten Olaf Scholz und Emmanuel Macron die Möglichkeit einer zentralen Aufsicht über die EU-weiten Kapitalmärkte weiterhin sichern.
Was am wichtigsten ist, die Abschnitte im Entwurf der Schlussfolgerungen, in denen sich der Europäische Rat verpflichtete, die Arbeit der EU auf dem Binnenmarkt zu überwachen und insbesondere “die Fortschritte zu überprüfen und zusätzliche Schritte zur Vertiefung der Kapitalmarktunion auf seiner Sitzung im Juni zu diskutieren“, wurden beibehalten. Die Kapitalmarktunion ist mit anderen Worten zur Chefsache geworden, so wie es der deutsche Bundeskanzler in seiner Rede auf dem Europäischen Rat im März mit überraschender Deutlichkeit gefordert hatte.
Trotz des höchst unbefriedigenden Charakters der Schlussfolgerungen zum “New Competitiveness Deal” und der chaotischen und ziellosen Sitzung, mit der die außerordentliche Tagung des Europäischen Rates endete, war die April-Tagung kein Reinfall. Und, was noch wichtiger ist, es ist auch nicht das Ende der Geschichte.
Auch wenn sich die Geschichte nicht wiederholt, gibt es doch interessante Parallelen zwischen der gegenwärtigen Lage der Union und der Lage der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1984. Die Erklärung für die großen Fortschritte der Europäischen Gemeinschaft in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ist komplex, und die Lehren aus einer ganz anderen Zeit lassen sich nicht ohne weiteres auf das heutige Europa übertragen.
Die wichtigsten Bestandteile des Umschwungs sind dennoch relevant: eine starke kollektive Führung durch den Europäischen Rat, mutige Personalentscheidungen, zu denen nicht nur der damalige neue Kommissionspräsident Jacques Delors gehörte – der wohlgemerkt sowohl loyal als auch effektiv mit dem Europäischen Rat und dem Rat zusammenarbeitete – sowie dessen Stellvertreter, Arthur Cockfield, der Druck der Wirtschaft in den Flitterwochen des “European Round Table”, der Abschluss der langwierigen Beitrittsgespräche mit Spanien und Portugal und natürlich gewisse “Ereignisse”, die wie immer von großer Bedeutung waren.
Es war eine andere Zeit. Aber in den letzten Jahren gab es im Europäischen Rat Momente, in denen sich die Umrisse eines mutigen und ideenreichen Konsenses über die Zukunft der Union abzeichneten, der von einigen der einflussreichsten Mitglieder des Europäischen Rates geteilt und gestaltet wurde. Auch gibt es eine Fülle von Ideen, auf die sich die Staats- und Regierungschefs stützen können, darunter der jüngste Letta-Bericht über die Neugestaltung des Binnenmarktes, die Vorschläge der Eurogruppe zur Kapitalmarktunion und der Draghi-Bericht, den der Europäische Rat im Juni erörtern wird.
Aber auch Ereignisse haben ihren Teil dazu beigetragen. Von der Leyen war eine “geopolitische Präsidentin”, nicht einfach und auch nicht nur, weil sie dies anstrebte, sondern weil die Umstände sie dazu gezwungen haben. Und Olaf Scholz hat sich trotz seiner eigenen Tendenzen und die seiner Partei zu einem der wichtigsten Fürsprecher der Ukraine im Europäischen Rat entwickelt. Und zu guter Letzt fordert nicht nur die Wirtschaft, sondern – wenn man den Umfragen Glauben schenken darf – auch die Mehrheit der Wähler eine Union, die sich in der Weltgemeinschaft behaupten kann.
Die Voraussetzungen für einen großen Schritt nach vorn bei der Gestaltung der Union sind also gegeben, genau wie 1984. Ob dieser Schritt in kühnen und soliden Personalentscheidungen, ideenreichen und gleichzeitig realisierbaren Vorschlägen und raschen und wirksamen Entscheidungen mündet, wie dies nach 1985 der Fall war, wird jedoch weitgehend von den Entscheidungen der nächsten fünf oder sechs Monate abhängen.
Peter Ludlow ist Vorsitzender von EuroComment, Gründungsdirektor des CEPS und ehemaliger Professor für Geschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Seit mehr als zwei Jahrzehnten publiziert er sieben Tage nach jeder Tagung des Europäischen Rates Anmerkungen, die eine umfassende Analyse der Diskussion und ihrer Ergebnisse liefern. Sie basieren auf mündlichen und schriftlichen Quellen, die normalerweise nicht zugänglich sind, und bieten einen einzigartigen Einblick in die Entscheidungsfindung im Herzen der EU.
Dieser Text ist eine gekürzte Fassung seines Beitrags, den Peter Ludlow speziell für Europe.Table verfasst hat. Wenn Sie an dem vollständigen Bericht interessiert sind, wenden Sie sich bitte an info@eurocomment.eu
knapp sechs Wochen sind es nur noch bis zur Europawahl, und nun nimmt auch der Wahlkampf Fahrt auf. SPD, FDP, CSU, Linke und AfD luden am Wochenende zu Parteitagen und Auftaktveranstaltungen. FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann kritisierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – die EVP-Kandidatin verstecke sich und stelle sich “nicht den Bürgerinnen und Bürgern”. SPD-Kanzler Olaf Scholz und CSU-Chef Markus Söder nahmen die AfD ins Visier, Söder sprach von einer Partei “mit einem fiesen Gesicht”.
Das Europaparlament startet am heutigen Montag seine Wahlkampagne, wenn auch eine der anderen Art. Die Institution hat einen Film produzieren lassen, um die Bürgerinnen und Bürger zum Wählen zu animieren. EP-Chefsprecher Jaume Duch Guillot wird ihn heute Vormittag vorführen.
In der rund vier Minuten dauernden Langfassung berichten Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges, des Prager Frühlings oder des Sturzes des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu den Enkelinnen und Enkeln über ihre Erfahrungen mit Demokratie und Diktatur. Die Botschaft einer älteren Dame: “Passt gut auf die Demokratie auf, wenn ich nicht mehr bin.”
Für die Generation TikTok gibt es auch Kurzfassungen des Films. Die großen TV-Sender strahlen sie ebenfalls aus, die meisten verzichten dabei auf Bezahlung. Produziert hat die Filme eine dänische Agentur.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Maiwoche.
In 22 Mitgliedstaaten muss die Aufstellung der Listen für die Europawahl nicht zwingend nach demokratischen Prinzipien ablaufen. Nur in fünf Mitgliedstaaten müssen die Kandidaten der Parteien in Delegierten- oder Parteiversammlungen demokratisch gewählt werden. Die Vorschriften für die Aufstellung der Kandidatenlisten der Parteien für die Europawahl unterscheiden sich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat.
Unter den Mitgliedstaaten, in denen keine demokratischen Spielregeln bei der Aufstellung der Listen für das Europaparlament gelten, sind EU-Gründungsstaaten wie Italien, Frankreich, Luxemburg und Belgien. Der Vorsitzende eines Ausschusses im Europaparlament sagte zu Table.Briefings: “Wenn diese demokratischen Defizite in EU-Beitrittskandidaten bestehen würden, würden sie in einschlägigen Berichten der Kommission vermerkt.”
In vielen Mitgliedstaaten entscheidet die Parteispitze, welche Politiker auf aussichtsreichen Plätzen kandidieren. In Portugal etwa hat die sozialistische Partei (Partido Socialista, PS) vor wenigen Tagen die Liste ihrer Kandidaten bekannt gegeben. Die Namen auf der Liste waren eine große Überraschung: Von den neun Mandatsträgern der PS im Europaparlament hat es keiner auf die Liste geschafft.
Der Vize der S&D-Fraktion, Pedro Marques, der bereits als möglicher Fraktionschef im nächsten Europaparlament gehandelt wurde, ist nicht dabei. Auch Pedro Silva Pereira, einer von 14 Vize-Präsidenten im Parlament, hat keine Chance weiterzumachen. Statt über die Fraktionsgrenzen hinaus anerkannte Leistungsträger wieder zu nominieren, hat Parteichef Carlos César ehemalige Minister aus der abgewählten Regierung Costa nominiert.
Es sind die nationalen Vorschriften, die es den Parteispitzen erlauben, die Kandidatenlisten festzulegen. Häufig folgt die Liste auch nur der Entscheidung des Parteichefs. Einige Parteien, etwa die SPÖ in Österreich, wählt dennoch die Liste nach demokratischen Spielregeln. In diesen 22 Mitgliedsländern werden die Kandidaten von Parteizirkeln oder -chefs bestimmt:
Demgegenüber steht das Verfahren, wie es etwa in Deutschland angewandt wird: Bei Delegiertenversammlungen oder Parteitagen müssen die Delegierten oder die Mitglieder die Listen nach demokratischen Verfahren bestimmen. In der Regel schlägt die Parteiführung die Liste vor. Kampfkandidaturen sind möglich. Da ein Politiker im Europaparlament viel gestalten kann und die Konditionen attraktiv sind, gibt es ein hohes Interesse an einer Nominierung. Die Liste wird im demokratischen Wettstreit ausgefochten.
Das demokratische Verfahren der Listenaufstellung wird in folgenden Ländern angewandt:
Eigentlich müsste es eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Kandidaten für das demokratisch gewählte Europaparlament nach demokratischen Spielregeln bestimmt werden. Wenn ein Politiker nur dann nominiert wird, wenn er in der Gunst des Parteichefs steht, scheiden viele bereits nach einer Wahlperiode wieder aus. Das bedeutet: Die Fluktuation im Europaparlament ist hoch. Bei der konstituierenden Sitzung der 9. Wahlperiode im Juli 2019 waren 61 Prozent der MEPs Neulinge. Diesmal rechnen Beobachter mit ähnlichen Zahlen.
Klar ist auch: Je länger ein Politiker im Parlament ist, desto besser kennt er die Strukturen, desto effektiver kann er wirken. Bis ein Abgeordneter voll arbeitsfähig ist, vergehen im Europaparlament sicher zwei Jahre. Nicht ohne Grund gelten viele deutsche Abgeordnete als die Leistungsträger. Auffällig viele leiten Ausschüsse, sind Berichterstatter und haben Koordinatorenposten in ihrer Fraktion.
Viele Mitgliedstaaten nominieren spät. In Polen und Spanien stehen die Listen auch jetzt noch nicht fest, dabei sind es keine sechs Wochen mehr bis zur Wahl. In Baden-Württemberg etwa, wo immer sehr früh nominiert wird, ist bereits seit mehr als einem Jahr klar, wer die fünf aussichtsreichsten Kandidaten sind. Sie planen schon lange den Wahlkampf. Die Kampagnen der Parteien laufen längst. In Deutschland hängen bereits die Wahlplakate für die Europawahl, während anderswo noch nicht einmal klar ist, wer antritt.
In Italien, Finnland, Polen und anderen Mitgliedstaaten gibt es zudem das “Vorzugsstimmrecht” (“preferential vote”): Der Wähler gibt dabei nicht einer Liste oder Partei seine Stimme, sondern wählt einen Politiker aus. Nicht der Listenerste, sondern der Politiker mit den meisten Stimmen gewinnt ein Mandat. Das bedeutet: Prominente Kandidaten haben einen Vorteil. Alle Kandidaten einer Partei treten gegeneinander an, es gibt keine Wahlkreise, sie müssen ihren Wahlkampf landesweit führen.
In Italien etwa stehen die Namen der Kandidaten nicht einmal auf dem Wahlzettel. Der Wähler muss wissen, wen er wählen will, bevor er in die Wahlkabine geht. Dann muss er den Namen seines Kandidaten von Hand auf den Wahlzettel schreiben. Wegen dieser Regelung lassen sich in Italien etwa Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und Oppositionsführerin Elly Schlein an Platz eins auf die Liste schreiben. Beide denken nicht an einen Wechsel ins Europaparlament, sondern werden in der nationalen Politik bleiben. Sie hoffen vielmehr, mehr Wahlstimmen für ihre Parteien zu erzielen, wenn sie als Prominente bei der Wahl antreten.
Mit scharfen Attacken auf die AfD hat die CSU auf ihrem Europaparteitag in München die heiße Phase des Europawahlkampfes eingeläutet. CSU-Chef Markus Söder sprach von “Kremlknechten” und forderte: “Weg mit denen”. CSU-Spitzenkandidat Manfred Weber, Chef der Europäischen Volkspartei, nannte die AfD “verrottet” und “korrupt”. Selbst unter den radikalen rechten Parteien im Europaparlament gelte die AfD mittlerweile als zu radikal. “Sie sind Vaterlandsverräter”, sagte Weber.
Während sich Söder der üblichen Attacken auf die Ampel-Regierung und speziell auf die Grünen enthielt (“Wir wollen kein Schwarz-Grün für Deutschland”), ging Weber in seiner Rede auf deutliche Distanz zu den Freien Wählern, mit denen die CSU in Bayern in einer Koalition regiert. Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger sei in seinen fünf Jahren als Wirtschaftsminister nur einmal in Brüssel gewesen. “Man sollte den Freien Wählern ihre Politik nicht durchgehen lassen”, sagte Weber. In Bayern gilt das Klima in der Koalition als schlecht, beide Seiten lassen keine Gelegenheit für gegenseitig Sticheleien aus.
Als inhaltlicher Schwerpunkt schält sich bei der CSU kurz vor der Europawahl immer deutlicher der Kampf gegen ein Verbot neuer Verbrenner-Fahrzeuge ab 2035 heraus. Söder hatte dieses Verbot, das er im Jahr 2020 noch selbst gefordert hatte, erst vor wenigen Tagen als Fehler bezeichnet und dessen Rücknahme gefordert. Weber kündigte in seiner Parteitagsrede an, wenn es bei der Europawahl zu einer konservativen Mehrheit komme, werde man das Verbrenner-Verbot kippen.
Während die CSU vor der Landtagswahl im vergangenen Oktober hochnervös war (und mit 37,0 Prozent ein für ihre Verhältnisse sehr schlechtes Ergebnis erzielte), ist die Partei vor der Europawahl optimistisch. In Umfragen liegt sie über der 40-Prozent-Marke. Söder legte deshalb die Messlatte gleich ein Stück höher und gab als Ziel sieben CSU-Europaabgeordnete “plus x” aus. Bisher ist die CSU mit sechs Abgeordneten im Europaparlament vertreten. fa
Der nächste Fall einer “German Vote” droht bei der Antidiskriminierungsrichtlinie, die seit 16 Jahren in der Verwaltung des Rates schlummert. Die Richtlinie, welche die Kommission 2008 vorgeschlagen hatte, soll das heute gültige Diskriminierungsverbot am Arbeitsplatz auf weitere Bereiche ausweiten – vor allem Bildung, soziale Sicherheit und den Zugang zu Produkten und Dienstleistungen. Weil die Richtlinie im Ministerrat die nötige Einstimmigkeit nie erreichen konnte, war sie bis jetzt blockiert.
Die belgische Ratspräsidentschaft will sie nun über die Ziellinie bringen, unter anderem weil mit der neuen polnischen Regierung einer der früheren Veto-Player wegfällt. Im Ausschuss der ständigen Vertreter (AstV 1) am vergangenen Freitag hat auch Ungarn seine Zustimmung zugesichert.
EU-Diplomaten fürchten nun, dass die Richtlinie am deutschen Veto scheitern könnte. Neben Deutschland stellt sich auch die tschechische Regierung gegen die Richtlinie. Österreich und Italien halten sich noch bedeckt. “Sie können sich aktuell hinter Deutschland verstecken”, sagte ein EU-Diplomat zu Table.Briefings. Er ist überzeugt, dass eine Zustimmung Deutschlands den Druck auf Tschechien und die noch unentschlossenen Länder erhöhen würde und die Annahme der Richtlinie bewirken könnte.
Doch die deutsche Positionierung gestaltet sich kompliziert. Da sich die Regierung unter Angela Merkel gegen die Richtlinie ausgesprochen hatte, gilt diese Position nach wie vor, solange die Ampelkoalition sich nicht auf eine neue Position einigen kann. “Das hieße dann, dass Deutschland eine Chance unterließe, LGBT-Rechte in Ungarn zu schützen”, sagte ein EU-Diplomat.
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das die Richtlinie innerhalb der Bundesregierung federführend verantwortet, beteuert auf Anfrage von Table.Briefings, dass es sich seit Jahren für die Verabschiedung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinie einsetze. “Die aktuelle Bundesregierung prüft, unter welchen Voraussetzungen die bekannten Bedenken ausgeräumt und der allgemeine Vorbehalt Deutschlands aufgehoben werden kann”, sagt eine Sprecherin.
Mangels Einigung in der Regierung spielen die deutschen Verhandler auf Zeit. In der AstV-1-Sitzung am 18. April baten sie um mehr Zeit und kündigten eigene Textvorschläge an. In der AstV-1-Sitzung am 26. April kündigten sie an, noch mehr Zeit zu benötigen.
Wollte die belgische Ratspräsidentschaft die Richtlinie ursprünglich am kommenden Rat der Sozialminister am 7. Mai zur Abstimmung bringen, beantragten die deutschen Verhandler am vergangenen Freitag, beim Ministertreffen stattdessen eine Policy-Debatte zu führen. Die belgische Ratspräsidentschaft hofft, dass die Richtlinie dann in der Juni-Sitzung des Sozialministerrats doch noch verabschiedet werden kann. Die Zustimmung des EU-Parlaments ist nicht nötig. jaa
Gemeinsam mit Frankreich und Österreich fordert Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) beim EU-Agrarrat am heutigen Montag mehr Spielraum für nationale Beihilfen. Dabei geht es um die sogenannte De-minimis-Regelung. Sie setzt den Betrag fest, den EU-Länder einzelnen Betrieben höchstens auszahlen können, ohne dass die Subventionen regulär von der Europäischen Kommission genehmigt werden müssen. Özdemir fordert, die Grenze für den Agrar- und Fischereisektor von jährlich 20.000 auf 50.000 Euro pro Betrieb anzuheben.
Nur so könne Höfen “flexibel und gezielt bei unvorhergesehenen Ereignissen – wie Unwettern, Dürren oder Preissteigerungen wegen hoher Inflation – unter die Arme gegriffen werden”, argumentiert der Grünen-Politiker. Zudem sei der Betrag seit 2019 nicht angepasst worden.
Insgesamt 15 Mitgliedstaaten befürworten die Initiative laut Bundeslandwirtschaftsministerium. Diplomatenkreise erwarten bei dem Thema, das nicht öffentlich diskutiert wird, aber auch Gegenwind: Weniger finanzstarke Länder könnten Wettbewerbsverzerrungen fürchten.
Aus Verfahrensgründen noch nicht auf der Tagesordnung steht das finale Votum zu den Lockerungen bei der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), für die das Europäische Parlament vergangene Woche grünes Licht gab. Erwartet wird, dass sich die Agrarminister erneut inhaltlich hinter die Vorschläge stellen, die Abstimmung ist für den 13. Mai im Bildungsrat geplant. jd
Mit der Aufteilung der acht Arbeitsbereiche im deutsch-französischen Panzerprojekt Main Ground Combat System (MGCS) wollen Verteidigungsminister Boris Pistorius und sein französischer Amtskollege Sébastien Lecornu die heimischen Rüstungsindustrien zufriedenstellen. Die nationale Aufgabenverteilung ist bis auf Weiteres geklärt. Bis Jahresende wollen die Minister die Verhandlungen zum Industrievertrag für die Phase der Technologiedemonstration klären. Anfang 2025 soll der Bundestag die Verträge dann genehmigen. Das sei “ambitioniert”, sagte Pistorius am Freitag in Paris, aber er sei sich sicher, “die Verantwortlichen der beiden verhandelnden Teams wissen die Herausforderung zu schätzen”.
Die wichtigste Entscheidung, wer die Kanone des Panzers entwickelt, schieben die Partner aber auf. Der Arbeitsbereich bei dem neben der Kanone, Turm und Munition entwickelt werden sollen, teilen sich Deutschland und Frankreich auf. In einem ersten Schritt sollen zwei verschiedene Kanonensysteme entwickelt werden, und nach einer Bewertung das bessere den Panzer ausstatten. Von den deutschen Panzerbauern Rheinmetall und KNDS Deutschland (vorher Krauss-Maffei Wegmann) dürfte Rheinmetall die Nase vorn haben.
Von den acht Säulen übernimmt jedes Land zwei, die übrigen vier sollen gemeinsam entwickelt werden (mehr dazu lesen Sie im Security.Table). Lecornu und Pistorius hätten die Aufgabengebiete paritätisch geteilt, aber bei den entscheidenden Fragen, die einen Panzer ausmachten, sei Deutschland im Lead, sagte Pistorius. Sobald die Verträge stehen, solle es “darum gehen, andere Partner mit ins Boot zu holen”, kündigte Pistorius an. “Dieses Projekt wird am Ende offen sein müssen.” Als mögliche Partner sehe er Italien, aber auch Polen.
Wichtig war den Ministern, die Symbolik ihres Treffens hervorzuheben. “Ich würde nicht sagen, dass die industrielle Aufteilung das Herz des Vertrages von heute Morgen ist. Sie ist ein Element”, sagte Lecornu. “Das Herz des Vertrages ist, zu sagen, dass wir 2040 den gleichen Panzer haben.”
Die Unterzeichnung der Absichtserklärung sei ein “Meilenstein” auf dem Weg, Europa “auf dem Felde der militärischen Sicherheit” voranzubringen, sagte der FDP-Europapolitiker Michael Link zu Table.Briefings. Die französische Abgeordnete Natalia Pouzyreff von der Macron-Partei Renaissance wiederum freute sich, dass man es heute schaffe, “diese gemeinsame Vision zu entfalten” und ein Ziel zu setzen, “das die Verstärkung unserer industriellen europäischen Verteidigungskapazitäten betrifft”. Auch wenn “die deutsch-französischen Beziehungen in letzter Zeit manche Schwierigkeiten erlebt haben”. Nach ihrem Eindruck habe das daran gelegen, dass man “sich schwergetan hat, kurzfristige Ziele und langfristige Ziele zu vereinen”.
Auch Macron hatte in seiner zweiten Sorbonne-Rede am Donnerstag gesagt, dass man nicht vergessen dürfe, die europäische Rüstungsindustrie langfristig zu stärken und Geld in europäische Entwicklungen zu investieren. Die deutsche Strategie bestand mit den vergangenen Rüstungsbeschaffungen eher darin, marktverfügbar und günstiger außereuropäisch zu beschaffen. bub, tho
Das chinesische Fast-Fashion-Unternehmen Shein muss sich nach einem sprunghaften Anstieg seiner Nutzerzahlen den strengen neuen EU-Regeln für Online-Inhalte unterwerfen. Das teilte die Europäische Kommission am Freitag mit. Unternehmen mit mehr als 45 Millionen Nutzern gelten nach dem Digital Services Act (DSA) als sehr große Online-Plattformen (VLOP), die mehr tun müssen als andere, um illegalen und schädlichen Inhalt sowie gefälschte Produkte auf ihren Plattformen zu bekämpfen.
Der Online-Händler verzeichnete kürzlich 108 Millionen monatlich aktive Nutzer in der EU. “Nach der heutigen Einstufung als VLOP muss Shein innerhalb von vier Monaten nach seiner Benachrichtigung (das bedeutet bis Ende August 2024) die strengsten Regeln unter dem DSA einhalten”, sagte die EU-Kommission in einer Erklärung. Zu den DSA-Pflichten gehören die Annahme spezifischer Maßnahmen zur Stärkung und zum Schutz der Nutzer online, einschließlich Minderjähriger, sowie die Bewertung und Minderung systemischer Risiken, die von ihren Diensten ausgehen.
“Wir teilen das Bestreben der Kommission, sicherzustellen, dass Verbraucher in der EU mit Ruhe online einkaufen können, und wir sind entschlossen, unseren Teil dazu beizutragen“, erklärte Leonard Lin, globaler Leiter Public Affairs. Shein, das einen Börsengang in den USA ins Auge fasst, startete seinen Marktplatz im August vergangenen Jahres in der EU. rtr
Die Sitzungen des Europäischen Rates eignen sich hervorragend, um die Lage der Union und ihre voraussichtliche künftige Richtung zu beurteilen. Die Sitzung vom 17. und 18. April ist dafür ein gutes Beispiel, auch wenn die Signale, die von ihr ausgingen, in mancherlei Hinsicht widersprüchlich und uneinheitlich waren, wie wir noch sehen werden.
Die Sitzung starte am Abend des 17. April mit einer vierstündigen Diskussion. In den ersten 40 Minuten sprach Roberta Metsola über die Vorbereitungen für die Europawahlen im Juni und den anschließenden Ernennungsprozess. In der übrigen Zeit sprach man über den Krieg in der Ukraine, die Beziehungen zur Türkei und die Krise im Nahen Osten. Die Sitzung war gut vorbereitet, und die Diskussion war sachlich, objektiv und einvernehmlich.
In Bezug auf die Ukraine lag der Schwerpunkt auf der prekären militärischen Lage des Landes und der dringenden Verstärkung der Luftverteidigung sowie schnellere und größere Lieferungen von Artillerie, Munition und Raketen.
Der deutsche Bundeskanzler ergriff als Erster das Wort und gab – nicht zum ersten Mal bei den Debatten des Europäischen Rates über die Ukraine – den Ton für die gesamte Sitzung vor. Er sagte, die Ukraine brauche dringend Hilfe, und die Entscheidung Deutschlands, drei Patriot-Luftabwehrsysteme zu verlegen, sei ein klares Beispiel dafür, was getan werden könne und solle. Wie fast immer, wenn es um die Ukraine geht, schwieg Viktor Orbán, aber die Debatte insgesamt bestätigte, dass der Europäische Rat die Ukraine nach wie vor voll unterstützt.
Olaf Scholz war ebenfalls eine wichtige Figur in der Diskussion darüber, ob die EU den Dialog mit Erdogans Türkei ausweiten sollte. Die griechische Regierung schlug am Vorabend des Treffens gut ausgearbeitete Änderungen am Entwurf der Schlussfolgerungen vor.
Der Präsident von Zypern, der während des gesamten Treffens Scholz’ Hauptansprechpartner war, stimmte schließlich einem Text zu. Dieser Text erlaubte eine vorsichtige Annäherung unter der Aufsicht des Europäischen Rates und des Ausschusses der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten (AStV).
Zum Nahen Osten war die wichtigste Entscheidung, nämlich die Verhängung neuer Sanktionen gegen den Iran wegen des Drohnenangriffs auf Israel, bereits vor dem Treffen der Staats- und Regierungschefs getroffen worden. Daher konzentrierte sich die Debatte auf den Libanon, einschließlich der Risiken einer Eskalation und der Gefährdung erheblicher Teile der libanesischen Bevölkerung und der beträchtlichen Zahl der dortigen Flüchtlinge, sowie auf den Gazastreifen.
Hier wurde die Debatte vom spanischen Premierminister und den Staats- und Regierungschefs anderer Mitgliedstaaten, die die Palästinenser nachdrücklich unterstützen, geführt. Zweifellos ist man sich im Europäischen Rat weiterhin uneins über die Krise im Nahen Osten, doch haben sich die Ansichten der Staats- und Regierungschefs in einigen der wichtigsten Fragen angenähert und ihre Differenzen wurden eingedämmt.
Die Debatte über die Wirtschaftspolitik am zweiten Tag verlief vollkommen anders. In den ersten beiden Stunden erörterten die Staats- und Regierungschefs den Bericht von Enrico Letta über den Binnenmarkt. Diese erhielten den Bericht zu spät, um ihn vorher eingehend lesen zu können, aber er wurde von Letta gut präsentiert.
Die Diskussion war nicht besonders tiefgreifend, aber alle, die sich zu Wort meldeten, stimmten zu, dass die Themen, die der ehemalige italienische Ministerpräsident ansprach, wichtig waren. Und sie meinten, dass sowohl Lettas Bericht als auch der Bericht von Mario Draghi, den der Europäische Rat im Juni erörtern wird, zum richtigen Zeitpunkt kamen und eine ernsthafte Prüfung verdienten.
So weit, so gut. Doch nachdem Letta den Raum verlassen hatte, lief die Sitzung vollkommen aus dem Ruder. Auf Charles Michels Anregung hin führten die Staats- und Regierungschefs eine viereinhalb stündige Debatte über die Absätze des Entwurfs der Schlussfolgerungen, in denen ein neuer europäischer Deal für Wettbewerbsfähigkeit umrissen wird.
Dabei gab es drei grundlegende Probleme. Zum einen war der in den Schlussfolgerungen beschriebene “New Deal” weder neu noch ein Deal. Zweitens war der Text schlecht formuliert und bot Raum für eine Vielzahl von Änderungsanträgen. Und drittens gelang es Michel – der immer etwas zu sehr versucht, seine eigenen Interessen in den Mittelpunkt zu rücken – nicht, der Diskussion eine gewisse Ordnung zu verleihen. Die Debatte war in der Tat so langwierig und verworren, dass selbst die Protokollführer zuweilen Schwierigkeiten hatten zu folgen, und einige, wenn nicht sogar die meisten Anwesenden schienen zunehmend gelangweilt und frustriert.
Dennoch gab es einige konkrete Ergebnisse, besonders in Bezug auf die Kapitalmarktunion. Einer breiten Koalition unter Führung des luxemburgischen Premierministers Luc Frieden gelang es, jede Erwähnung der Harmonisierung des Körperschaftssteuerrechts zu streichen. Dafür konnten Olaf Scholz und Emmanuel Macron die Möglichkeit einer zentralen Aufsicht über die EU-weiten Kapitalmärkte weiterhin sichern.
Was am wichtigsten ist, die Abschnitte im Entwurf der Schlussfolgerungen, in denen sich der Europäische Rat verpflichtete, die Arbeit der EU auf dem Binnenmarkt zu überwachen und insbesondere “die Fortschritte zu überprüfen und zusätzliche Schritte zur Vertiefung der Kapitalmarktunion auf seiner Sitzung im Juni zu diskutieren“, wurden beibehalten. Die Kapitalmarktunion ist mit anderen Worten zur Chefsache geworden, so wie es der deutsche Bundeskanzler in seiner Rede auf dem Europäischen Rat im März mit überraschender Deutlichkeit gefordert hatte.
Trotz des höchst unbefriedigenden Charakters der Schlussfolgerungen zum “New Competitiveness Deal” und der chaotischen und ziellosen Sitzung, mit der die außerordentliche Tagung des Europäischen Rates endete, war die April-Tagung kein Reinfall. Und, was noch wichtiger ist, es ist auch nicht das Ende der Geschichte.
Auch wenn sich die Geschichte nicht wiederholt, gibt es doch interessante Parallelen zwischen der gegenwärtigen Lage der Union und der Lage der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1984. Die Erklärung für die großen Fortschritte der Europäischen Gemeinschaft in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ist komplex, und die Lehren aus einer ganz anderen Zeit lassen sich nicht ohne weiteres auf das heutige Europa übertragen.
Die wichtigsten Bestandteile des Umschwungs sind dennoch relevant: eine starke kollektive Führung durch den Europäischen Rat, mutige Personalentscheidungen, zu denen nicht nur der damalige neue Kommissionspräsident Jacques Delors gehörte – der wohlgemerkt sowohl loyal als auch effektiv mit dem Europäischen Rat und dem Rat zusammenarbeitete – sowie dessen Stellvertreter, Arthur Cockfield, der Druck der Wirtschaft in den Flitterwochen des “European Round Table”, der Abschluss der langwierigen Beitrittsgespräche mit Spanien und Portugal und natürlich gewisse “Ereignisse”, die wie immer von großer Bedeutung waren.
Es war eine andere Zeit. Aber in den letzten Jahren gab es im Europäischen Rat Momente, in denen sich die Umrisse eines mutigen und ideenreichen Konsenses über die Zukunft der Union abzeichneten, der von einigen der einflussreichsten Mitglieder des Europäischen Rates geteilt und gestaltet wurde. Auch gibt es eine Fülle von Ideen, auf die sich die Staats- und Regierungschefs stützen können, darunter der jüngste Letta-Bericht über die Neugestaltung des Binnenmarktes, die Vorschläge der Eurogruppe zur Kapitalmarktunion und der Draghi-Bericht, den der Europäische Rat im Juni erörtern wird.
Aber auch Ereignisse haben ihren Teil dazu beigetragen. Von der Leyen war eine “geopolitische Präsidentin”, nicht einfach und auch nicht nur, weil sie dies anstrebte, sondern weil die Umstände sie dazu gezwungen haben. Und Olaf Scholz hat sich trotz seiner eigenen Tendenzen und die seiner Partei zu einem der wichtigsten Fürsprecher der Ukraine im Europäischen Rat entwickelt. Und zu guter Letzt fordert nicht nur die Wirtschaft, sondern – wenn man den Umfragen Glauben schenken darf – auch die Mehrheit der Wähler eine Union, die sich in der Weltgemeinschaft behaupten kann.
Die Voraussetzungen für einen großen Schritt nach vorn bei der Gestaltung der Union sind also gegeben, genau wie 1984. Ob dieser Schritt in kühnen und soliden Personalentscheidungen, ideenreichen und gleichzeitig realisierbaren Vorschlägen und raschen und wirksamen Entscheidungen mündet, wie dies nach 1985 der Fall war, wird jedoch weitgehend von den Entscheidungen der nächsten fünf oder sechs Monate abhängen.
Peter Ludlow ist Vorsitzender von EuroComment, Gründungsdirektor des CEPS und ehemaliger Professor für Geschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Seit mehr als zwei Jahrzehnten publiziert er sieben Tage nach jeder Tagung des Europäischen Rates Anmerkungen, die eine umfassende Analyse der Diskussion und ihrer Ergebnisse liefern. Sie basieren auf mündlichen und schriftlichen Quellen, die normalerweise nicht zugänglich sind, und bieten einen einzigartigen Einblick in die Entscheidungsfindung im Herzen der EU.
Dieser Text ist eine gekürzte Fassung seines Beitrags, den Peter Ludlow speziell für Europe.Table verfasst hat. Wenn Sie an dem vollständigen Bericht interessiert sind, wenden Sie sich bitte an info@eurocomment.eu