weniger als eine Woche bleibt noch bis zu den Europawahlen. Zwischen Donnerstag und Sonntag wählen die EU-Bürgerinnen und EU-Bürger ein neues Parlament. Wie dieses aussehen könnte, sehen Sie in Manuel Müllers Sitzprojektion weiter unten.
Momentan sieht es jedenfalls nicht gut aus für die liberale Renew-Fraktion, unter anderem weil die Kampagne von Emmanuel Macrons Liberalen unter Listenführerin Valérie Hayer nicht vom Fleck kommt. In den Umfragen kommt Hayers Liste nur auf knapp die Hälfte der Stimmen, mit denen Le Pens Rassemblement National rechnen kann.
Vielleicht hilft den französischen Liberalen in den letzten Tagen vor den Wahlen noch ein hoher Besuch aus Übersee. Für die D-Day Feierlichkeiten am Donnerstag, an denen auch Bundeskanzler Scholz teilnimmt, wird US-Präsident Joe Biden in der Normandie erwartet. Am Samstag ist Biden dann in Frankreich auf offiziellem Staatsbesuch.
Die D-Day Feierlichkeiten läuten auch einen Monat voller politischer Großanlässe ein. Nach den Europawahlen kommt der G7-Gipfel in Italien vom 13. bis 15. Juni, worauf die Ukraine-Friedenskonferenz vom 15. bis 16. Juni in der Schweiz folgt. Am 17. Juni treffen sich die Regierungs- und Staatschefs der EU zu einem informellen Gipfeltreffen, bevor sie sich dann am 27. und 28. Juni im formellen Format des Europäischen Rats nochmals treffen. Zur Diskussion stehen die Finanzierung und Verteidigung der Ukraine und – sehr eng damit zusammenhängend – die politische Zukunft der EU.
Ich wünsche Ihnen einen gelassenen Start in den Tag,
Nun stehen sie also bevor, die Europawahlen. Selten wurde die Frage, wie stark die verschiedenen Fraktionen abschneiden und welche Mehrheiten im Europäischen Parlament nach der Wahl möglich sein würden, so stark diskutiert wie in diesem Jahr. Dafür gibt es gute Gründe, denn tatsächlich steht einiges auf dem Spiel. Diese letzte Sitzprojektion bietet eine Übersicht über den Stand der Umfragen – und einige Schlüsselfragen dieser Wahl.
Wer wird stärkste Kraft? Seit Einführung des Spitzenkandidatenverfahrens hat diese Frage an politischer Bedeutung gewonnen. Doch allzu spannend ist sie in diesem Jahr nicht. Mit 172 Sitzen hält die christdemokratische EVP-Fraktion im Basisszenario der Sitzprojektion einen soliden Vorsprung auf die sozialdemokratische S&D, die mit 136 Sitzen an zweiter Stelle folgt. Beide Parteien liegen auf ähnlichem Niveau wie im heutigen Parlament (EVP 176, S&D 139). Im dynamischen Szenario der Sitzprojektion, das auch mögliche Fraktionswechsel nach der Europawahl berücksichtigt, fällt der Vorsprung sogar noch etwas höher aus (EVP 186, S&D 137). Wird nun also Ursula von der Leyen automatisch wieder Kommissionspräsidentin? Dazu weiter unten mehr.
Wie sehr wächst der Rechtsaußen-Block? Das große Thema im Wahlkampf waren die erwarteten Zugewinne der beiden Rechtsaußenfraktionen EKR und ID. In der Sitzprojektion kommt die EKR auf 79 Abgeordnete (dynamisches Szenario: 80), die ID auf 66 (dynamisch: 78). Beide Fraktionen wären damit deutlich stärker als im heutigen Parlament (EKR 69, ID 49). Hinzu kommen noch rund 25 Sitze für fraktionslose Rechtsaußen-Parteien, etwa die jüngst aus der ID ausgeschlossene deutsche AfD oder die polnische Konfederacja. Insgesamt würde der Rechtsaußenblock damit gut ein Viertel der Sitze im gesamten Parlament einnehmen. Das wären mehr als je zuvor in der Geschichte des Parlaments – aber immer noch weit entfernt von einer eigenen Mehrheit.
Wird es neue Fraktionen geben? Auch wenn alle Stimmen ausgezählt sind, wird die genaue Sitzverteilung zwischen den Fraktionen noch nicht feststehen. Denn nach der Wahl kommt es regelmäßig zum großen “Transfermarkt”, auf dem neue und wechselwillige Parteien mit den Fraktionen über einen Beitritt verhandeln. Zudem könnte es diesmal zwei Versuche zur Gründung ganz neuer Fraktionen geben: eine links-konservative Gruppe um das deutsche BSW und ein neues Rechtsaußen-Bündnis um die deutsche AfD. Ob das klappt, ist fraglich. In der Sitzprojektion werden beide auch im dynamischen Szenario als fraktionslos eingestuft. Aber wer tiefer in Was-wäre-wenn-Szenarien einsteigen will, wird hier fündig.
Wer sind die Hauptverlierer? Bei der Europawahl 2019 gewannen die liberale Renew- und die grüne G/EFA-Fraktion dank Emmanuel Macron und Fridays for Future stark dazu und verbuchten jeweils einen neuen Sitzrekord im Europäischen Parlament. Der Projektion nach werden sie einen Großteil der damaligen Gewinne nun jedoch wieder verlieren. Renew droht ein Sturz von derzeit 102 auf 81 Sitze (dynamisch: 85).
Die Grünen haben im Wahlkampf noch einmal etwas Boden wettgemacht, würden aber dennoch von 72 auf 57 Sitze fallen (dynamisch: 58). Unter einer Langzeit-Perspektive liegen allerdings auch diese Ergebnisse noch im oberen Bereich. Für die Grünen wäre es nach 2019 das zweitbeste, für die Liberalen das drittbeste Europawahl-Resultat aller Zeiten. Problematischer sieht es aus dieser Sicht für EVP und S&D aus: Beide schnitten 2019 eher schwach ab und können sich dieses Jahr nicht nennenswert verbessern. Die Sozialdemokrat:innen könnten zum ersten Mal überhaupt auf weniger als ein Fünftel der Sitze im Parlament fallen.
Behält die Große Koalition eine Mehrheit? Schon seit 2019 sind EVP und S&D für eine Mehrheit auf Unterstützung von Renew und/oder Grünen angewiesen. Diese “Von-der-Leyen-Koalition” erreicht im Parlament eine solide Mehrheit, was trotz der Verluste von Liberalen und Grünen wohl auch nach der Wahl so bleiben wird. EVP, S&D und Renew erreichen zusammen 57 Prozent der Sitze, gegenüber 59 Prozent im bisherigen Parlament. EVP, S&D und Grüne stehen bei 53 Prozent (bisher 55 Prozent). Tun sich das gesamte Mitte-Lager zusammen, erreicht es sogar 66 Prozent (bisher 69 Prozent). Auch wenn die Fraktionsdisziplin im Europäischen Parlament niedriger ist als in nationalen Parlamenten, könnten die Parteien der Mitte den Rechtsaußen-Block also weiterhin überstimmen.
Was passiert mit der Mitte-links-Mehrheit? Starke Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse wird allerdings die Frage haben, wie stark die vier Fraktionen links der EVP gemeinsam abschneiden. Dazu gehört neben S&D, RE und den Grünen noch die Linke, die sich in der Sitzprojektion zufolge weitgehend unverändert hält (37 Sitze / dynamisch: 40 / bisher: 37). Zuletzt kamen diese vier Fraktionen sehr nahe an eine Mehrheit (49,6 Prozent) und bildeten etwa in der Klima- und in der Sozialpolitik eine wichtige Alternative zur Großen Koalition. Nach der Sitzprojektion wäre das Mitte-links-Bündnis künftig jedoch so schwach wie noch nie zuvor in der Geschichte des Parlaments (44 Prozent). Das stärkt vor allem die EVP, ohne die nach der Wahl wohl keine plausiblen Mehrheiten mehr möglich sind.
Kommt es zum Bündnis zwischen EVP und Rechten? Um ihre neue zentrale Position optimal auszunutzen, versucht die EVP sich auch nach rechts hin Kooperationsmöglichkeiten zu eröffnen. Doch sowohl ein Bündnis aus EVP, Renew und EKR als auch eines aus EVP, EKR und ID sind nicht nur politisch problematisch, sondern erreichen auch keine Mehrheit im Parlament. Die EVP wird sich also auch künftig zur Großen Koalition der Mitte hin orientieren müssen. Allenfalls könnte ihr die Einbeziehung einiger Rechtsaußen-Parteien erlauben, bei der Mehrheitsbildung auf die Grünen und auf den linken Flügel von S&D und Renew zu verzichten. Sozialdemokrat:innen, Liberale und Grüne drängten die EVP deshalb im Wahlkampf, eine Zusammenarbeit mit Rechtsaußen-Parteien in möglichst verbindlicher Form auszuschließen – was diese verweigerte.
Bleibt Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin? Zum Showdown um den Umgang der EVP mit Rechtsaußen könnte es schon kurz nach der Wahl kommen, wenn Ursula von der Leyen sich um ihre Wiederwahl bemüht. Anders als 2019 – als etliche Abgeordnete sie schon deshalb ablehnten, weil sie zuvor nicht als Europawahl-Spitzenkandidatin angetreten war – dürfte es bei S&D, Renew und Grünen inzwischen nur noch wenige geben, die sie unter gar keinen Umständen zu wählen bereit sind. Doch die drei Fraktionen haben von der Leyens Wiederwahl zuletzt davon abhängig gemacht, dass diese eine Zusammenarbeit mit EKR und ID ausschließt, und auch inhaltliche Zugeständnisse gefordert. Nach der Wahl könnte das zu einem zähen Machtpoker führen, im besten Fall aber auch zum ersten echten Koalitionsvertrag auf europäischer Ebene.
Steigt die Wahlbeteiligung? Selten waren die Mehrheitsverhältnisse im neuen Europäischen Parlament so umkämpft, selten war die politische Tragweite der Wahl so klar wie in diesem Jahr. Auch in Umfragen sagen deshalb deutlich mehr Menschen als früher, dass sie an den Europawahlen interessiert sind und daran teilnehmen wollen. Ob es dazu kommt? Am Sonntag wissen wir mehr.
Da es keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert die Sitzprojektion auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Im Basisszenario sind alle nationalen Parteien jeweils ihrer aktuellen Fraktion (bzw. der Fraktion ihrer europäischen Dachpartei) zugeordnet; Parteien ohne eindeutige Zuordnung sind als “Sonstige” ausgewiesen. Das dynamische Szenario weist alle “sonstigen” Parteien jeweils einer Fraktion zu, der diese plausiblerweise beitreten könnten, und bezieht auch andere mögliche Veränderungen der Fraktionen ein. Nähere Hinweise zu Datengrundlage und Methodik der Projektion sowie eine genauere Aufschlüsselung der Ergebnisse finden sich auf dem Blog Der (europäische) Föderalist.
In der letzten Wahlperiode hat das Thema wirtschaftliche Sicherheit an Wichtigkeit gewonnen. Handelsverteidigungsinstrumente wurden entwickelt und in den vergangenen Monaten auch mehrmals eingesetzt. Im Juni 2023 veröffentlichte die EU-Kommission eine Strategie zur wirtschaftlichen Sicherheit und im Januar dieses Jahres ein Whitepaper zu Exportkontrollen und eines zu Outbound Investments.
Doch die Debatte wird aufgrund der Skepsis der Mitgliedstaaten weiterhin sehr zurückhaltend geführt. In der nächsten Wahlperiode stellt sich die Frage, wie das vage Ziel des “De-Risking” operationalisiert werden soll und wie die EU angesichts des Drucks aus den USA auch ihre eigenen Prioritäten formulieren und durchsetzen kann.
Im Frühjahr 2024 startete die EU-Kommission mit einem Whitepaper einen Konsultationsprozess zum Outbound Investment Screening. Der Anstoß dazu kam aus den USA, die verhindern wollen, dass westliche Technologie durch Direktinvestitionen nach China oder in andere potenziell konkurrierende Länder verloren geht. Doch aktuell verfügen weder die Mitgliedstaaten noch die EU-Kommission über zufriedenstellende Daten zu diesem Thema.
Wie ein EU-Diplomat gegenüber Table.Briefings bestätigte, erwarten die Mitgliedstaaten in diesem Sommer einen Vorschlag der EU-Kommission dazu, wie die Daten über europäische Investitionen in riskanten Drittländern gesammelt werden sollen. Dann sollen diese Daten über einen Zeitraum von zwölf Monaten erhoben werden, was dann wiederum als Basis für eine Risikoanalyse und einen potenziellen Regulierungsvorschlag dienen soll. Ein solcher Vorschlag wird also frühestens in der zweiten Hälfte von 2025 kommen.
Laut Tobias Gehrke, Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR), hängt die Zukunft bei den Outbound Investments sowie bei den Exportkontrollen stark davon ab, was in den USA passiert – vor allem nach den Wahlen im November. “Die EU wird kein Leader bei diesem Thema”, sagt er zu Table.Briefings.
Eine wichtige Grundlage für die künftigen Policy-Vorschläge der EU-Kommission werden neben dem politischen Druck aus den USA auch die Risikobewertungen bilden, die die Kommission im Oktober 2023 gestartet hat. In einer Kommissionsempfehlung hatte sie zehn strategisch wichtige Technologiebereiche für die europäische Wirtschaftssicherheit definiert. Für vier davon (fortgeschrittene Halbleiter, Künstliche Intelligenz, Quantentechnologie, Biotech) startete sie eine Risikoanalyse, um herauszufinden, ob die Gefahr eines Technologieabflusses (technology leakage) oder andere Risiken bestehen.
Für die Kommission stellen aber schon diese Risikobewertungen eine große Herausforderung dar, sagt Gehrke. Die EU-Kommission habe nur sehr wenige Ressourcen für das Thema wirtschaftliche Sicherheit lockergemacht, was eine gründliche und sichere Risikobewertung erschwere. Das mache die Unternehmen skeptisch, die mit der Kommission kooperieren und Daten liefern sollten. Die Mitgliedstaaten hätten oft ebenfalls keinen Zugriff auf die Informationen. “Die Kommission könnte fordern, dass sie ein besseres Mandat und mehr Ressourcen erhält”, so Gehrke weiter.
Einen verstärkten Aufbau von Verwaltungskompetenzen fordert auch Elvire Fabry, Senior Research Fellow beim Pariser Institut Jacques Delors. “Der Kommission und den Mitgliedstaatsregierungen fehlen Ingenieure mit der nötigen technischen Expertise”, sagt sie Table.Briefings. Die EU-Kommission müsse einen sehr viel detaillierteren Einblick in die Lieferketten erhalten – erst dann könne sie die Risiken richtig bewerten und danach handeln.
Sowohl Fabry als auch Gehrke erhoffen sich von der nächsten Kommission einen proaktiven Ansatz bei der wirtschaftlichen Sicherheit. Aktuell heißt das Motto “De-Risking”, aber was das in der Praxis bedeutet, ist unklar. Fabry fordert einen “offensiveren” Ansatz und verweist auf den japanischen Ansatz der “strategischen Unverzichtbarkeit”. Statt die ganze Wertschöpfungskette aller wichtigen Sektoren kontrollieren zu wollen, solle man sich bei den wichtigen Technologien auf einige wenige Teile der Wertkette fokussieren, in denen man sich einen technologischen Vorsprung erarbeitet. Indem man sich in einem Teil der Lieferkette unverzichtbar macht, wird man insgesamt weniger erpressbar, so die Idee.
Für diese Art der proaktiven Wirtschaftssicherheitspolitik fehlt aktuell aber nicht nur das Know-how in den Regierungen. Viele Mitgliedstaaten sträuben sich dagegen, weil dieser Ansatz eine aktivere Industriepolitik mit sich bringen würde. Zudem sind die Kompetenzen in der wirtschaftlichen Sicherheit unklar verteilt. Der Binnenmarkt fällt zwar in den Kompetenzbereich der EU, aber die nationale Sicherheit bleibt Sache der Mitgliedstaaten.
Aufgrund dieser Unschlüssigkeit bleibt wahrscheinlich, dass die EU-Wirtschaftssicherheitspolitik mittelfristig von den USA vorangetrieben wird. Wird Donald Trump Präsident und setzt seine handelspolitischen Ideen um, so würde dies laut Fabry die Glaubwürdigkeit der EU-Handelsinstrumente auf den Prüfstand stellen – etwa das Instrument gegen wirtschaftlichen Zwang (Anti-Coercion Instrument), das bisher noch nie angewendet wurde. “Nur wenn das Instrument genutzt wird, bleibt es als Abschreckungsinstrument glaubwürdig“, sagt Fabry. Ein Trump-Stresstest dürfte die EU also entweder in eine eigenständige Wirtschaftssicherheitspolitik zwingen oder sie ihrer Glaubwürdigkeit berauben.
Unter Biden wäre eine Fortführung des aktuellen, US-orientierten Zwischenwegs wahrscheinlicher. In einer zweiten Biden-Präsidentschaft würden die USA versuchen, die G7 zu einem “Wirtschaftssicherheitsbollwerk” auszubauen, meint Tobias Gehrke. Auch in diesem Szenario werden die Impulse zur Weiterentwicklung der Wirtschaftssicherheit mehrheitlich aus Washington kommen.
In diesem Jahr feiern die baltischen Länder 20 Jahre Mitgliedschaft in der EU. Welche Bedeutung der Beitritt zur EU und besonders auch zur Nato hat, ist in der Region hinreichend bekannt. Dennoch hält sich die Euphorie in der Bevölkerung in Grenzen.
Vielleicht gerade deswegen wagte Einars Repše, der bis 2004 Ministerpräsident Lettlands war, zum Jubiläumstag im Mai angesichts der Frage, wo Lettland heute ohne die EU wäre, einen Vergleich. “Wirtschaftlich gesehen, denke ich, wären wir in etwa mit Belarus vergleichbar”, sagte Repše dem Nachrichtenportal LSM. Und weiter: “Wären wir nicht der Europäischen Union beigetreten, (wäre es) möglich, dass wir heute ein Szenario wie in der Ukraine hätten.”
Russlands Angriffskrieg in der Ukraine ist das beherrschende Thema in den baltischen Ländern, die sich durch die russischen Aggressionen an ihre eigene schmerzhafte Vergangenheit mit dem großen Nachbarn erinnert fühlen. Baltische Politiker haben sich einen Namen gemacht mit einer unnachgiebigen Haltung gegenüber Russland. Besonders pointiert äußern sich Estlands Premierministerin Kaja Kallas und Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis.
Der Krieg in der Ukraine hat den Balten und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern wie Polen eine ganz neue Aufmerksamkeit auf der internationalen Bühne verschafft – und ein stärkeres Selbstbewusstsein. Diese neue Rolle aber sollte man nicht überschätzen, sagt Aleksandra Palkova, Leiterin des EU-Programms beim Latvian Institute of International Affairs (LIIA). Trotz anhaltender Warnungen der östlichen Mitgliedstaaten lasse bei den westlichen Partnern die Aufmerksamkeit nach, der Fokus liege wieder verstärkt auf innenpolitischen Themen. “Im Moment hört niemand richtig zu”, sagt Palkova. Dabei sei diese Phase des Krieges entscheidend für die Ukraine. Aufgabe der Balten sei es daher umso mehr, vor Kriegsmüdigkeit zu warnen.
So ist es keine Überraschung, dass die Ukraine und außen- und sicherheitspolitische Themen vor den Europawahlen eine zentrale Rolle für nahezu alle relevanten baltischen Parteien spielen. Besonders konkret wird die estnische Reformpartei von Regierungschefin Kaja Kallas. Sie will unter anderem Eurobonds in Höhe von 100 Milliarden Euro für die EU-Verteidigungsindustrie einsetzen, eine Standardisierung der EU-Verteidigungsindustrie sowie einen Verteidigungskommissar – es ist ein Posten, für den Kallas selbst im Gespräch ist, ebenso wie als künftige EU-Außenbeauftragte.
Neben der militärischen Unterstützung der Ukraine ist den Balten ein EU-Beitritt des Landes und der Republik Moldau wichtig. Die litauischen Christdemokraten rufen die kommenden Jahre gar zum “Jahrzehnt der Ukraine” aus. Litauen und Lettland werden sich voraussichtlich bemühen, diesen Prozess während ihrer EU-Ratspräsidentschaften in den Jahren 2027 und 2028 voranzutreiben.
Einige Parteien, so auch die lettische Jaunā Vienotība (JV), die Ministerpräsidentin Evika Siliņa stellt, fordern EU-Mittel für die Sicherung der östlichen EU-Außengrenzen und zur Unterstützung der Grenzregionen. Die illegale Migration, die Russland als Druckmittel gegen die EU nutzt, beschäftigt viele Menschen in den baltischen Ländern.
Allen drei großen Regierungsparteien im Baltikum ist gemein, dass sie mit gesunkener Zustimmung in die Europawahlen gehen. Estlands Regierungschefin Kallas hat sich zwar international viel Respekt verschafft. Doch dass ausgerechnet der Ehemann der knallharten Russland-Gegnerin in Geschäfte mit Russland verwickelt sein soll, stößt in Estland auf erhebliche Kritik – ebenso wie ihr Umgang mit den Vorwürfen, der von vielen als arrogant beschrieben wird. Nach einer aktuellen Umfrage des Instituts Norstat liegt die christdemokratische Vaterlandspartei (Isamaa) deutlich vor Kallas’ liberaler Reformpartei (Renew). Isamaa könnte zwei der sieben Sitze im Parlament holen. Die Sozialdemokraten liegen mit der Reformpartei etwa gleichauf.
Auch die JV in Lettland, die auf europäischer Ebene der EVP angehört, hat an Wählergunst verloren. Davon profitiert die nationalkonservative Nationale Allianz, die in Umfragen führt und auf zwei der neun Sitze kommen könnte. Möglicherweise fremdeln einige Menschen im Land mit der für lettische Verhältnisse ungewöhnlichen gesellschaftsliberalen Politik, die die JV verfolgt, seit sie im vergangenen Jahr eine Koalition unter anderem mit den links-grün-gerichteten Progressiven gebildet hat. Der gewichtigere Grund dürfte aber die Affäre um Krišjānis Kariņš sein, dem vorgeworfen wird, während seiner Zeit als Regierungschef in zahlreichen Fällen Privatflüge genutzt zu haben.
Vom Amt des Außenministers, das er in der neuen Koalition übernommen hatte, ist Kariņš kürzlich zurückgetreten. Bei den Europawahlen steht er jedoch weit oben auf der Liste seiner Partei – als Nummer zwei, direkt hinter Kommissionsmitglied Valdis Dombrovskis. “Die Partei mag sich insgeheim wünschen, dass er nicht auf den Wahlzetteln steht”, schreibt das Portal LSM. Kariņš Schwäche dürfte Dombrovskis nützen, der Kommissar bleiben möchte und auch eine hohe Zustimmung in der Bevölkerung genießt. Seine Themen: die Unterstützung der Ukraine, Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit.
In Litauen ist der Termin der Europawahlen etwas ungünstig eingerahmt von den beiden wichtigen nationalen Wahlen. Bei den Präsidentschaftswahlen unterlag Premierministerin Ingrida Šimonytė von der Partei Vaterlandsbund – Christdemokraten Litauens (TS-LKD, gehört der EVP an) deutlich Amtsinhaber Gitanas Nausėdas. Der litauische Präsident hat Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik, Nausėdas ist ebenfalls bekannt für seine entschiedene Unterstützung der Ukraine.
Bei den Parlamentswahlen Mitte Oktober droht die nächste Niederlage für die konservativ-liberale Regierungskoalition Litauens. In Umfragen liegen zurzeit die Sozialdemokraten vorn, sie könnten bei den Europawahlen laut Projektion des Politikwissenschaftlers Manuel Müller drei der elf Sitze im Parlament erlangen. Beobachter sehen eine Reihe von Gründen für die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung. Einer davon hat mit Außenminister und TS-LKD-Chef Gabrielius Landsbergis zu tun. Dieser sei vor allem auf internationaler Bühne präsent, habe aber innenpolitisch an Bedeutung verloren, heißt es in einer Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Landsbergis ist der offensichtlichste Kandidat aus Litauen für einen Posten bei der Kommission. Manche empfinden seine Rhetorik jedoch bisweilen als zu schrill, was seine Aussicht etwa auf das Amt als EU-Außenbeauftragter trüben dürfte. Als er in einem Interview mit der litauischen Nachrichtenagentur ELTA sagte, Russland werde “vielleicht in zehn Jahren, vielleicht in fünf Jahren” Europa angreifen, sollte es nicht in der Ukraine besiegt werden, mahnte ihn sogar Präsident Nausėda zur Ruhe.
Negativ-Schlagzeilen machte die lettische Europaabgeordnete Tatjana Ždanoka, die ab 2004 Mitglied des Parlaments war. Sie soll Recherchen zufolge fast 20 Jahre für den russischen Geheimdienst FSB gearbeitet haben, die lettischen Behörden ermitteln gegen sie. Im April kündigte Parlamentspräsidentin Roberta Metsola an, Sanktionen gegen Ždanoka zu verhängen. Für das Europaparlament wird Ždanoka nicht mehr kandidieren.
Die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Anna Lührmann, spricht sich dafür aus, eine neue europäische Medienplattform aufzubauen. Ein möglicher Ansatz sei, das Profil des deutsch-französischen Fernsehsenders Arte “noch stärker zu europäisieren”, sagte die Grünen-Politikerin im Podcast Table.Today.
Zudem sollten die Nutzer Content in den sozialen Medien leichter identifizieren können, der auf unabhängigem Journalismus beruhe. “Wir müssen uns überlegen, Wie schaffen wir es, dass wirklich Bürgerinnen und Bürger, wenn sie online unterwegs sind, auch wenn sie in ihrem WhatsApp-Channels unterwegs sind, dass sie schnell erkennen können: Ist das jetzt eine glaubwürdige Quelle oder nicht?” Die Organisation Reporter ohne Grenzen habe bereits einen Standard für glaubwürdigen Journalismus entwickelt, der in vielen afrikanischen und asiatischen Ländern genutzt werde.
Die Pläne für eine europäische Medienplattform stehen bereits im Koalitionsvertrag der Ampel. Lührmann hatte jüngst gemeinsam mit Polen und Frankreich auf EU-Ebene eine Initiative lanciert, die diesen Ansatz als eine von mehreren Maßnahmen gegen Desinformation vorantreiben will. Die Arbeiten befinden sich aber noch in einer frühen Phase.
Die Europa-Staatsministerin warnte vor einer Welle von Desinformationen unmittelbar vor den Europawahlen vom 6. bis 9. Juni. Ausländische Akteure wollten der Demokratie schaden und bauten dafür zunächst über Jahre hinweg vermeintlich harmlose Accounts auf. “Die machen dann erst mal Katzencontent oder Sport oder was auch immer Leute interessiert”, sagte sie. “Kurz vor so einem Ereignis wie der Europawahl fangen sie dann auf einmal an, politischen Content auszuspielen, Falschinformationen auszuspielen, Leute zu verunsichern, vom Wählen vielleicht auch abzuhalten.”
Lührmann forderte, die EU-Kommission solle die Verfahren gegen große Online-Plattformen auf Basis des Digital Services Act voranzutreiben. “Das Schwert ist sehr scharf, wenn es wirklich jetzt konsequent angewendet wird.” Bevor man über eine Haftung der Plattformbetreiber für die verbreiteten Inhalte vergleichbar wie im Presserecht diskutiere, “müssen wir jetzt erst mal gucken, wie dieses Instrument wirkt, und dann auch im Lichte dessen überlegen, ob man es noch weiter verschärfen muss”. tho
Die Energiewende hat der EU seit 2019 allein 30 bis 40 Milliarden Euro an Ausgaben für Gasimporte erspart. Errechnet hat das der Thinktank Ember in seiner energiepolitischen Bilanz der zu Ende gehenden europäischen Legislatur. Insgesamt habe Europa einen raschen Fortschritt beim Ausbau der Erneuerbaren gemacht. “Die EU ist nun in einem historischen, dauerhaften Wandel weg von der Abhängigkeit von fossilen Energien für die Stromerzeugung”, bilanzierte Sarah Brown, Direktorin für das Europaprogramm bei Ember.
Den Anteil Erneuerbarer im Strommix hat die EU der Untersuchung zufolge zwischen 2019 und 2023 von 34 auf 44 Prozent gesteigert. Deutschland hat seine Kapazitäten zwar in absoluten Zahlen am deutlichsten erhöht, der Grünstrom-Erfolg beruhe aber auf einem breiten Zuwachs unter den EU27, betonte Ember. Lettland etwa habe seine Erneuerbaren-Kapazitäten vervierfacht und Ungarn fast verdreifacht. ber
Am Freitag hat die EU-Kommission den Online-Marktplatz Temu als Very Large Online Platform (VLOP) im Rahmen des Digital Services Act (DSA) designiert. Damit ist Temu die 24. Plattform, die unter die besonders strengen Regeln fällt, die für sehr große Onlineplattformen und -suchmaschinen unter dem Digitale-Dienste-Gesetz gelten. Mit europaweit 75 Millionen monatlichen Nutzern überschreitet der Onlinehändler die Schwelle bereits deutlich. Ab 45 Millionen Nutzern gilt eine Plattform als sehr groß.
Nach der Einstufung als VLOP muss Temu innerhalb von vier Monaten (also bis Ende September 2024) die strengsten Regeln des DSA einhalten. Dazu gehört die Verpflichtung, systemische Risiken zu bewerten und zu mindern, die sich aus ihren Dienstleistungen ergeben. Zu den Risiken gehören auch die Listung und der Verkauf von gefälschten Waren, unsicheren oder illegalen Produkten und Artikeln, die gegen Markenrechte verstoßen. Nach der Einstufung als VLOP wird die Kommission in Zusammenarbeit mit dem irischen Digital Services Coordinator für die Überwachung der DSA-Compliance von Temu zuständig sein.
Die Shopping-App Temu hat die europäischen Märkte mit extrem niedrigen Preisen und aggressiver Werbung quasi im Sturm erobert. Erst im Jahr 2022 gegründet, hat Temus Betreiberfirma Whaleco Technology Limited ihren Sitz in Irland, deren Ursprünge liegen aber in Schanghai bei der chinesischen Muttergesellschaft PDD Holdings (zuvor Pinduoduo).
Temu bietet eine breite Palette von Produkten an, darunter Modeartikel, Haushaltswaren, Spielzeug und Elektronik. Dabei tritt Temu selbst nicht als Verkäufer auf, sondern ermöglicht den Direktverkauf zwischen Herstellern und Verbrauchern (Consumer-to-Manufacturer-Modell). Das macht es möglich, Waren sehr billig anzubieten.
Deutsche und europäische Verbraucherschützer haben wiederholt massive Kritik an der Plattform geübt. So legte der europäische Verband BEUC erst Mitte Mai Beschwerde gegen den boomenden Online-Marktplatz ein, der Verbraucher nicht schütze und manipulative Praktiken anwende, die nach dem DSA illegal seien. Temu versäume es oft, “den Verbrauchern wichtige Informationen über den Verkäufer der Produkte zu geben und ist daher nicht in der Lage, mitzuteilen, ob das Produkt den EU-Produktsicherheitsanforderungen entspricht“, lautet einer der Vorwürfe.
Der Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) hatte Temu bereits im April abgemahnt, unter anderem:
Mitte Mai hatte Temu dann eine Unterlassungserklärung abgegeben. vis
Bundeskanzler Olaf Scholz hat die EU-Kommission wegen Stillstand in der Handelspolitik kritisiert. Sie müsse schnell mehr Freihandelsabkommen abschließen, sagte der SPD-Politiker am Sonntag beim Ostdeutschen Wirtschaftsforum im brandenburgischen Bad Saarow. Dafür hätten die EU-Mitgliedsstaaten diese Kompetenz auf die europäische Ebene verlagert. Dies sei nicht geschehen, damit dann dort nicht viel passiere. “Da müssen mehr kommen. Die Dinge dauern zu lange, das ist nicht in Ordnung.”
Scholz ergänzte, nach der Europawahl müsse über einen schlankeren Prozess beraten werden, um ausgehandelte Abkommen auch abzuschließen. Dies hänge immer wieder an der mühsamen Ratifizierung in allen 27 EU-Ländern mit teils noch föderalen Strukturen. “Das geht nicht.”
Auch der Vorsitzende des Handelsausschusses des Europäischen Parlaments Bernd Lange (SPD) erhofft sich für das nächste Kommissionsmandat Fortschritte bei den Handelsabkommen mit Mercosur, Australien und Indonesien. Bisher sind die Verhandlungen hauptsächlich an Agrarinteressen gescheitert, die speziell in Frankreich und Irland politisch sehr stark gegen Freihandelsabkommen mobilisieren. In Frankreich steht aktuell auch die Ratifizierung des CETA-Abkommens mit Kanada auf der Kippe. rtr/jaa
Auch über die Grenzen Lettlands hinaus wurde zur Kenntnis genommen, dass Iwanna Wolotschij als Spitzenkandidatin der lettischen Partei Kustība Par! (Bewegung Dafür!) für die Europawahl kandidiert. Denn Wolotschijs Kandidatur ist eine Besonderheit: Sie stammt nicht aus dem Land, für das sie antritt, sondern aus der Ukraine. “Es ist Zeit für eine echte ukrainische Stimme im Europäischen Parlament“, sagte die 42-Jährige bei der Bekanntgabe ihrer Kandidatur in Riga.
Kustība Par! gehört der liberalen europäischen Parteienfamilie an. Sie war unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten Krišjānis Kariņš an der Regierung beteiligt, ist zurzeit jedoch weder im lettischen Parlament, noch im Europaparlament vertreten. Nun positioniert sich die Partei mit einem starken pro-ukrainischen Kurs (Wahlslogan: “Sicheres Lettland. Freie Ukraine. Ein Europa”), womit sie in Lettland allerdings keine Ausnahme bildet: Das Land gehört zu den schärfsten Kritikern von Russlands Angriffskrieg und zu den entschiedensten Unterstützern der Ukraine.
In Lettland sei die weitverbreitete Befürchtung: Wenn die Ukraine verliert, sind wir die nächsten, sagt Wolotschij. Im Gespräch wirkt sie zurückhaltend und nachdenklich. Sanktionen seien ein wichtiges Mittel, um die weitere Finanzierung des Krieges einzudämmen. Dennoch gebe es in Lettland viele Unternehmen, die trotz der Sanktionen in Verbindung mit Russland oder Weißrussland stehen. Ein Problem, das es außerdem zu lösen gelte, seien Transporte, mit denen Russland aus der Ukraine gestohlenes Getreide über Lettland in die EU bringe.
Setzt sich die EU entschlossen genug für die Ukraine ein? Anders als man erwarten könnte, antwortet Wolotschij darauf nicht mit einem leidenschaftlichen Plädoyer, etwa für mehr Geld für Waffenlieferungen. Denn sie kennt beide Seiten.
Vor zwanzig Jahren gehörte sie in Kiew zu jenen Studentinnen und Studenten, mit denen die Orangene Revolution begann. Anlass der Proteste war der Wunsch der Menschen in der Ukraine nach freien und fairen Wahlen. “Ich erinnere mich noch genau, wie der Rektor der Universität damals sagte: ‘Heute studieren wir nicht. Wir haben eine wichtigere Aufgabe.'” Später führte sie ihr Weg nach Brüssel. Aus ukrainischer Perspektive, sagt sie, könne man durchaus kritisieren, dass die EU mehr tun müsse und Entscheidungen zu lange dauerten. Als Europäerin aber verstehe sie, dass 27 Mitgliedstaaten mitreden, dass die europäischen Prozesse komplex seien. “Ich bin sehr zufrieden mit den Fortschritten, die erzielt wurden.”
Nach ihrem Masterstudium European Studies und International Relations in Maastricht hat sie im Kommunikationsbereich für verschiedene Projekte mit EU-Bezug gearbeitet – etwa für das EU-finanzierte Open Neighbourhood Regional Communication Programme, dessen Ziel es ist, das Verständnis für EU-Politik in den Nachbarstaaten der EU zu fördern. Später hat sie unter anderem die Online-Kommunikation der EU-Antibetrugsbehörde OLAF betreut.
Seit Sommer 2022 arbeitet sie im Europäischen Parlament, als Community Managerin bei der Renew-Fraktion. Zu ihren Aufgaben gehört auch die Koordination der Kontaktgruppe zur Schwesternpartei Sluga Narodu (Diener des Volkes) des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Renew und Sluga Narodu haben im vergangenen Jahr angekündigt, enger zusammenarbeiten zu wollen.
Bei ihrer Arbeit für die Fraktion seien Politiker von Kustība Par! auf sie aufmerksam geworden, erzählt Wolotschij, und hätten ihr vorgeschlagen, für die Partei anzutreten. Die Kandidatur ist also nicht ihre Idee gewesen, wie sie ausdrücklich betont. Und noch etwas anderes ist ihr wichtig: Die Entscheidung wurde demokratisch getroffen, die Parteimitglieder haben in einer Abstimmung zugestimmt. Sie selbst gehört der Partei nicht an, fühle sich aber mit den liberalen Grundsätzen verbunden.
Ein Schwerpunkt für Wolotschij ist der EU-Beitritt der Ukraine, der in “Lettlands nationalem Interesse” liegt, wie es im ersten Satz des Manifestos der Partei heißt. Für die Menschen in der Ukraine sei das Signal wichtig, dass das Land zur EU gehöre. “Es gibt viele Menschen, die mit der europäischen Flagge an der Front sterben.” Zugleich sei den meisten bewusst, dass ein Beitritt ein längerer Prozess sei. Auch die EU selbst müsse sich im Zuge der Erweiterung reformieren. Wolotschij nennt hier etwa den Haushalt und die Agrarpolitik und spricht sich auch für ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips aus.
Drängende Themen für Lettland seien darüber hinaus die Rail Baltica, die Zugverbindung, mit der die baltischen Staaten, Polen und Finnland an das mitteleuropäische Bahnnetz angeschlossen werden sollen. Auch das Problem der illegalen Migration beschäftige das Land – zum Schutz der lettischen Grenzen brauche es mehr Unterstützung der EU.
Wolotschij stammt aus Iwano-Frankiwsk, eine Stadt im Westen der Ukraine. In Brüssel lebt sie gemeinsam mit ihrer Tochter und ihrem Mann, der aus Deutschland stammt. Sie sagt: “Ich gehöre nach Europa.” Sarah Schaefer
weniger als eine Woche bleibt noch bis zu den Europawahlen. Zwischen Donnerstag und Sonntag wählen die EU-Bürgerinnen und EU-Bürger ein neues Parlament. Wie dieses aussehen könnte, sehen Sie in Manuel Müllers Sitzprojektion weiter unten.
Momentan sieht es jedenfalls nicht gut aus für die liberale Renew-Fraktion, unter anderem weil die Kampagne von Emmanuel Macrons Liberalen unter Listenführerin Valérie Hayer nicht vom Fleck kommt. In den Umfragen kommt Hayers Liste nur auf knapp die Hälfte der Stimmen, mit denen Le Pens Rassemblement National rechnen kann.
Vielleicht hilft den französischen Liberalen in den letzten Tagen vor den Wahlen noch ein hoher Besuch aus Übersee. Für die D-Day Feierlichkeiten am Donnerstag, an denen auch Bundeskanzler Scholz teilnimmt, wird US-Präsident Joe Biden in der Normandie erwartet. Am Samstag ist Biden dann in Frankreich auf offiziellem Staatsbesuch.
Die D-Day Feierlichkeiten läuten auch einen Monat voller politischer Großanlässe ein. Nach den Europawahlen kommt der G7-Gipfel in Italien vom 13. bis 15. Juni, worauf die Ukraine-Friedenskonferenz vom 15. bis 16. Juni in der Schweiz folgt. Am 17. Juni treffen sich die Regierungs- und Staatschefs der EU zu einem informellen Gipfeltreffen, bevor sie sich dann am 27. und 28. Juni im formellen Format des Europäischen Rats nochmals treffen. Zur Diskussion stehen die Finanzierung und Verteidigung der Ukraine und – sehr eng damit zusammenhängend – die politische Zukunft der EU.
Ich wünsche Ihnen einen gelassenen Start in den Tag,
Nun stehen sie also bevor, die Europawahlen. Selten wurde die Frage, wie stark die verschiedenen Fraktionen abschneiden und welche Mehrheiten im Europäischen Parlament nach der Wahl möglich sein würden, so stark diskutiert wie in diesem Jahr. Dafür gibt es gute Gründe, denn tatsächlich steht einiges auf dem Spiel. Diese letzte Sitzprojektion bietet eine Übersicht über den Stand der Umfragen – und einige Schlüsselfragen dieser Wahl.
Wer wird stärkste Kraft? Seit Einführung des Spitzenkandidatenverfahrens hat diese Frage an politischer Bedeutung gewonnen. Doch allzu spannend ist sie in diesem Jahr nicht. Mit 172 Sitzen hält die christdemokratische EVP-Fraktion im Basisszenario der Sitzprojektion einen soliden Vorsprung auf die sozialdemokratische S&D, die mit 136 Sitzen an zweiter Stelle folgt. Beide Parteien liegen auf ähnlichem Niveau wie im heutigen Parlament (EVP 176, S&D 139). Im dynamischen Szenario der Sitzprojektion, das auch mögliche Fraktionswechsel nach der Europawahl berücksichtigt, fällt der Vorsprung sogar noch etwas höher aus (EVP 186, S&D 137). Wird nun also Ursula von der Leyen automatisch wieder Kommissionspräsidentin? Dazu weiter unten mehr.
Wie sehr wächst der Rechtsaußen-Block? Das große Thema im Wahlkampf waren die erwarteten Zugewinne der beiden Rechtsaußenfraktionen EKR und ID. In der Sitzprojektion kommt die EKR auf 79 Abgeordnete (dynamisches Szenario: 80), die ID auf 66 (dynamisch: 78). Beide Fraktionen wären damit deutlich stärker als im heutigen Parlament (EKR 69, ID 49). Hinzu kommen noch rund 25 Sitze für fraktionslose Rechtsaußen-Parteien, etwa die jüngst aus der ID ausgeschlossene deutsche AfD oder die polnische Konfederacja. Insgesamt würde der Rechtsaußenblock damit gut ein Viertel der Sitze im gesamten Parlament einnehmen. Das wären mehr als je zuvor in der Geschichte des Parlaments – aber immer noch weit entfernt von einer eigenen Mehrheit.
Wird es neue Fraktionen geben? Auch wenn alle Stimmen ausgezählt sind, wird die genaue Sitzverteilung zwischen den Fraktionen noch nicht feststehen. Denn nach der Wahl kommt es regelmäßig zum großen “Transfermarkt”, auf dem neue und wechselwillige Parteien mit den Fraktionen über einen Beitritt verhandeln. Zudem könnte es diesmal zwei Versuche zur Gründung ganz neuer Fraktionen geben: eine links-konservative Gruppe um das deutsche BSW und ein neues Rechtsaußen-Bündnis um die deutsche AfD. Ob das klappt, ist fraglich. In der Sitzprojektion werden beide auch im dynamischen Szenario als fraktionslos eingestuft. Aber wer tiefer in Was-wäre-wenn-Szenarien einsteigen will, wird hier fündig.
Wer sind die Hauptverlierer? Bei der Europawahl 2019 gewannen die liberale Renew- und die grüne G/EFA-Fraktion dank Emmanuel Macron und Fridays for Future stark dazu und verbuchten jeweils einen neuen Sitzrekord im Europäischen Parlament. Der Projektion nach werden sie einen Großteil der damaligen Gewinne nun jedoch wieder verlieren. Renew droht ein Sturz von derzeit 102 auf 81 Sitze (dynamisch: 85).
Die Grünen haben im Wahlkampf noch einmal etwas Boden wettgemacht, würden aber dennoch von 72 auf 57 Sitze fallen (dynamisch: 58). Unter einer Langzeit-Perspektive liegen allerdings auch diese Ergebnisse noch im oberen Bereich. Für die Grünen wäre es nach 2019 das zweitbeste, für die Liberalen das drittbeste Europawahl-Resultat aller Zeiten. Problematischer sieht es aus dieser Sicht für EVP und S&D aus: Beide schnitten 2019 eher schwach ab und können sich dieses Jahr nicht nennenswert verbessern. Die Sozialdemokrat:innen könnten zum ersten Mal überhaupt auf weniger als ein Fünftel der Sitze im Parlament fallen.
Behält die Große Koalition eine Mehrheit? Schon seit 2019 sind EVP und S&D für eine Mehrheit auf Unterstützung von Renew und/oder Grünen angewiesen. Diese “Von-der-Leyen-Koalition” erreicht im Parlament eine solide Mehrheit, was trotz der Verluste von Liberalen und Grünen wohl auch nach der Wahl so bleiben wird. EVP, S&D und Renew erreichen zusammen 57 Prozent der Sitze, gegenüber 59 Prozent im bisherigen Parlament. EVP, S&D und Grüne stehen bei 53 Prozent (bisher 55 Prozent). Tun sich das gesamte Mitte-Lager zusammen, erreicht es sogar 66 Prozent (bisher 69 Prozent). Auch wenn die Fraktionsdisziplin im Europäischen Parlament niedriger ist als in nationalen Parlamenten, könnten die Parteien der Mitte den Rechtsaußen-Block also weiterhin überstimmen.
Was passiert mit der Mitte-links-Mehrheit? Starke Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse wird allerdings die Frage haben, wie stark die vier Fraktionen links der EVP gemeinsam abschneiden. Dazu gehört neben S&D, RE und den Grünen noch die Linke, die sich in der Sitzprojektion zufolge weitgehend unverändert hält (37 Sitze / dynamisch: 40 / bisher: 37). Zuletzt kamen diese vier Fraktionen sehr nahe an eine Mehrheit (49,6 Prozent) und bildeten etwa in der Klima- und in der Sozialpolitik eine wichtige Alternative zur Großen Koalition. Nach der Sitzprojektion wäre das Mitte-links-Bündnis künftig jedoch so schwach wie noch nie zuvor in der Geschichte des Parlaments (44 Prozent). Das stärkt vor allem die EVP, ohne die nach der Wahl wohl keine plausiblen Mehrheiten mehr möglich sind.
Kommt es zum Bündnis zwischen EVP und Rechten? Um ihre neue zentrale Position optimal auszunutzen, versucht die EVP sich auch nach rechts hin Kooperationsmöglichkeiten zu eröffnen. Doch sowohl ein Bündnis aus EVP, Renew und EKR als auch eines aus EVP, EKR und ID sind nicht nur politisch problematisch, sondern erreichen auch keine Mehrheit im Parlament. Die EVP wird sich also auch künftig zur Großen Koalition der Mitte hin orientieren müssen. Allenfalls könnte ihr die Einbeziehung einiger Rechtsaußen-Parteien erlauben, bei der Mehrheitsbildung auf die Grünen und auf den linken Flügel von S&D und Renew zu verzichten. Sozialdemokrat:innen, Liberale und Grüne drängten die EVP deshalb im Wahlkampf, eine Zusammenarbeit mit Rechtsaußen-Parteien in möglichst verbindlicher Form auszuschließen – was diese verweigerte.
Bleibt Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin? Zum Showdown um den Umgang der EVP mit Rechtsaußen könnte es schon kurz nach der Wahl kommen, wenn Ursula von der Leyen sich um ihre Wiederwahl bemüht. Anders als 2019 – als etliche Abgeordnete sie schon deshalb ablehnten, weil sie zuvor nicht als Europawahl-Spitzenkandidatin angetreten war – dürfte es bei S&D, Renew und Grünen inzwischen nur noch wenige geben, die sie unter gar keinen Umständen zu wählen bereit sind. Doch die drei Fraktionen haben von der Leyens Wiederwahl zuletzt davon abhängig gemacht, dass diese eine Zusammenarbeit mit EKR und ID ausschließt, und auch inhaltliche Zugeständnisse gefordert. Nach der Wahl könnte das zu einem zähen Machtpoker führen, im besten Fall aber auch zum ersten echten Koalitionsvertrag auf europäischer Ebene.
Steigt die Wahlbeteiligung? Selten waren die Mehrheitsverhältnisse im neuen Europäischen Parlament so umkämpft, selten war die politische Tragweite der Wahl so klar wie in diesem Jahr. Auch in Umfragen sagen deshalb deutlich mehr Menschen als früher, dass sie an den Europawahlen interessiert sind und daran teilnehmen wollen. Ob es dazu kommt? Am Sonntag wissen wir mehr.
Da es keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert die Sitzprojektion auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Im Basisszenario sind alle nationalen Parteien jeweils ihrer aktuellen Fraktion (bzw. der Fraktion ihrer europäischen Dachpartei) zugeordnet; Parteien ohne eindeutige Zuordnung sind als “Sonstige” ausgewiesen. Das dynamische Szenario weist alle “sonstigen” Parteien jeweils einer Fraktion zu, der diese plausiblerweise beitreten könnten, und bezieht auch andere mögliche Veränderungen der Fraktionen ein. Nähere Hinweise zu Datengrundlage und Methodik der Projektion sowie eine genauere Aufschlüsselung der Ergebnisse finden sich auf dem Blog Der (europäische) Föderalist.
In der letzten Wahlperiode hat das Thema wirtschaftliche Sicherheit an Wichtigkeit gewonnen. Handelsverteidigungsinstrumente wurden entwickelt und in den vergangenen Monaten auch mehrmals eingesetzt. Im Juni 2023 veröffentlichte die EU-Kommission eine Strategie zur wirtschaftlichen Sicherheit und im Januar dieses Jahres ein Whitepaper zu Exportkontrollen und eines zu Outbound Investments.
Doch die Debatte wird aufgrund der Skepsis der Mitgliedstaaten weiterhin sehr zurückhaltend geführt. In der nächsten Wahlperiode stellt sich die Frage, wie das vage Ziel des “De-Risking” operationalisiert werden soll und wie die EU angesichts des Drucks aus den USA auch ihre eigenen Prioritäten formulieren und durchsetzen kann.
Im Frühjahr 2024 startete die EU-Kommission mit einem Whitepaper einen Konsultationsprozess zum Outbound Investment Screening. Der Anstoß dazu kam aus den USA, die verhindern wollen, dass westliche Technologie durch Direktinvestitionen nach China oder in andere potenziell konkurrierende Länder verloren geht. Doch aktuell verfügen weder die Mitgliedstaaten noch die EU-Kommission über zufriedenstellende Daten zu diesem Thema.
Wie ein EU-Diplomat gegenüber Table.Briefings bestätigte, erwarten die Mitgliedstaaten in diesem Sommer einen Vorschlag der EU-Kommission dazu, wie die Daten über europäische Investitionen in riskanten Drittländern gesammelt werden sollen. Dann sollen diese Daten über einen Zeitraum von zwölf Monaten erhoben werden, was dann wiederum als Basis für eine Risikoanalyse und einen potenziellen Regulierungsvorschlag dienen soll. Ein solcher Vorschlag wird also frühestens in der zweiten Hälfte von 2025 kommen.
Laut Tobias Gehrke, Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR), hängt die Zukunft bei den Outbound Investments sowie bei den Exportkontrollen stark davon ab, was in den USA passiert – vor allem nach den Wahlen im November. “Die EU wird kein Leader bei diesem Thema”, sagt er zu Table.Briefings.
Eine wichtige Grundlage für die künftigen Policy-Vorschläge der EU-Kommission werden neben dem politischen Druck aus den USA auch die Risikobewertungen bilden, die die Kommission im Oktober 2023 gestartet hat. In einer Kommissionsempfehlung hatte sie zehn strategisch wichtige Technologiebereiche für die europäische Wirtschaftssicherheit definiert. Für vier davon (fortgeschrittene Halbleiter, Künstliche Intelligenz, Quantentechnologie, Biotech) startete sie eine Risikoanalyse, um herauszufinden, ob die Gefahr eines Technologieabflusses (technology leakage) oder andere Risiken bestehen.
Für die Kommission stellen aber schon diese Risikobewertungen eine große Herausforderung dar, sagt Gehrke. Die EU-Kommission habe nur sehr wenige Ressourcen für das Thema wirtschaftliche Sicherheit lockergemacht, was eine gründliche und sichere Risikobewertung erschwere. Das mache die Unternehmen skeptisch, die mit der Kommission kooperieren und Daten liefern sollten. Die Mitgliedstaaten hätten oft ebenfalls keinen Zugriff auf die Informationen. “Die Kommission könnte fordern, dass sie ein besseres Mandat und mehr Ressourcen erhält”, so Gehrke weiter.
Einen verstärkten Aufbau von Verwaltungskompetenzen fordert auch Elvire Fabry, Senior Research Fellow beim Pariser Institut Jacques Delors. “Der Kommission und den Mitgliedstaatsregierungen fehlen Ingenieure mit der nötigen technischen Expertise”, sagt sie Table.Briefings. Die EU-Kommission müsse einen sehr viel detaillierteren Einblick in die Lieferketten erhalten – erst dann könne sie die Risiken richtig bewerten und danach handeln.
Sowohl Fabry als auch Gehrke erhoffen sich von der nächsten Kommission einen proaktiven Ansatz bei der wirtschaftlichen Sicherheit. Aktuell heißt das Motto “De-Risking”, aber was das in der Praxis bedeutet, ist unklar. Fabry fordert einen “offensiveren” Ansatz und verweist auf den japanischen Ansatz der “strategischen Unverzichtbarkeit”. Statt die ganze Wertschöpfungskette aller wichtigen Sektoren kontrollieren zu wollen, solle man sich bei den wichtigen Technologien auf einige wenige Teile der Wertkette fokussieren, in denen man sich einen technologischen Vorsprung erarbeitet. Indem man sich in einem Teil der Lieferkette unverzichtbar macht, wird man insgesamt weniger erpressbar, so die Idee.
Für diese Art der proaktiven Wirtschaftssicherheitspolitik fehlt aktuell aber nicht nur das Know-how in den Regierungen. Viele Mitgliedstaaten sträuben sich dagegen, weil dieser Ansatz eine aktivere Industriepolitik mit sich bringen würde. Zudem sind die Kompetenzen in der wirtschaftlichen Sicherheit unklar verteilt. Der Binnenmarkt fällt zwar in den Kompetenzbereich der EU, aber die nationale Sicherheit bleibt Sache der Mitgliedstaaten.
Aufgrund dieser Unschlüssigkeit bleibt wahrscheinlich, dass die EU-Wirtschaftssicherheitspolitik mittelfristig von den USA vorangetrieben wird. Wird Donald Trump Präsident und setzt seine handelspolitischen Ideen um, so würde dies laut Fabry die Glaubwürdigkeit der EU-Handelsinstrumente auf den Prüfstand stellen – etwa das Instrument gegen wirtschaftlichen Zwang (Anti-Coercion Instrument), das bisher noch nie angewendet wurde. “Nur wenn das Instrument genutzt wird, bleibt es als Abschreckungsinstrument glaubwürdig“, sagt Fabry. Ein Trump-Stresstest dürfte die EU also entweder in eine eigenständige Wirtschaftssicherheitspolitik zwingen oder sie ihrer Glaubwürdigkeit berauben.
Unter Biden wäre eine Fortführung des aktuellen, US-orientierten Zwischenwegs wahrscheinlicher. In einer zweiten Biden-Präsidentschaft würden die USA versuchen, die G7 zu einem “Wirtschaftssicherheitsbollwerk” auszubauen, meint Tobias Gehrke. Auch in diesem Szenario werden die Impulse zur Weiterentwicklung der Wirtschaftssicherheit mehrheitlich aus Washington kommen.
In diesem Jahr feiern die baltischen Länder 20 Jahre Mitgliedschaft in der EU. Welche Bedeutung der Beitritt zur EU und besonders auch zur Nato hat, ist in der Region hinreichend bekannt. Dennoch hält sich die Euphorie in der Bevölkerung in Grenzen.
Vielleicht gerade deswegen wagte Einars Repše, der bis 2004 Ministerpräsident Lettlands war, zum Jubiläumstag im Mai angesichts der Frage, wo Lettland heute ohne die EU wäre, einen Vergleich. “Wirtschaftlich gesehen, denke ich, wären wir in etwa mit Belarus vergleichbar”, sagte Repše dem Nachrichtenportal LSM. Und weiter: “Wären wir nicht der Europäischen Union beigetreten, (wäre es) möglich, dass wir heute ein Szenario wie in der Ukraine hätten.”
Russlands Angriffskrieg in der Ukraine ist das beherrschende Thema in den baltischen Ländern, die sich durch die russischen Aggressionen an ihre eigene schmerzhafte Vergangenheit mit dem großen Nachbarn erinnert fühlen. Baltische Politiker haben sich einen Namen gemacht mit einer unnachgiebigen Haltung gegenüber Russland. Besonders pointiert äußern sich Estlands Premierministerin Kaja Kallas und Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis.
Der Krieg in der Ukraine hat den Balten und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern wie Polen eine ganz neue Aufmerksamkeit auf der internationalen Bühne verschafft – und ein stärkeres Selbstbewusstsein. Diese neue Rolle aber sollte man nicht überschätzen, sagt Aleksandra Palkova, Leiterin des EU-Programms beim Latvian Institute of International Affairs (LIIA). Trotz anhaltender Warnungen der östlichen Mitgliedstaaten lasse bei den westlichen Partnern die Aufmerksamkeit nach, der Fokus liege wieder verstärkt auf innenpolitischen Themen. “Im Moment hört niemand richtig zu”, sagt Palkova. Dabei sei diese Phase des Krieges entscheidend für die Ukraine. Aufgabe der Balten sei es daher umso mehr, vor Kriegsmüdigkeit zu warnen.
So ist es keine Überraschung, dass die Ukraine und außen- und sicherheitspolitische Themen vor den Europawahlen eine zentrale Rolle für nahezu alle relevanten baltischen Parteien spielen. Besonders konkret wird die estnische Reformpartei von Regierungschefin Kaja Kallas. Sie will unter anderem Eurobonds in Höhe von 100 Milliarden Euro für die EU-Verteidigungsindustrie einsetzen, eine Standardisierung der EU-Verteidigungsindustrie sowie einen Verteidigungskommissar – es ist ein Posten, für den Kallas selbst im Gespräch ist, ebenso wie als künftige EU-Außenbeauftragte.
Neben der militärischen Unterstützung der Ukraine ist den Balten ein EU-Beitritt des Landes und der Republik Moldau wichtig. Die litauischen Christdemokraten rufen die kommenden Jahre gar zum “Jahrzehnt der Ukraine” aus. Litauen und Lettland werden sich voraussichtlich bemühen, diesen Prozess während ihrer EU-Ratspräsidentschaften in den Jahren 2027 und 2028 voranzutreiben.
Einige Parteien, so auch die lettische Jaunā Vienotība (JV), die Ministerpräsidentin Evika Siliņa stellt, fordern EU-Mittel für die Sicherung der östlichen EU-Außengrenzen und zur Unterstützung der Grenzregionen. Die illegale Migration, die Russland als Druckmittel gegen die EU nutzt, beschäftigt viele Menschen in den baltischen Ländern.
Allen drei großen Regierungsparteien im Baltikum ist gemein, dass sie mit gesunkener Zustimmung in die Europawahlen gehen. Estlands Regierungschefin Kallas hat sich zwar international viel Respekt verschafft. Doch dass ausgerechnet der Ehemann der knallharten Russland-Gegnerin in Geschäfte mit Russland verwickelt sein soll, stößt in Estland auf erhebliche Kritik – ebenso wie ihr Umgang mit den Vorwürfen, der von vielen als arrogant beschrieben wird. Nach einer aktuellen Umfrage des Instituts Norstat liegt die christdemokratische Vaterlandspartei (Isamaa) deutlich vor Kallas’ liberaler Reformpartei (Renew). Isamaa könnte zwei der sieben Sitze im Parlament holen. Die Sozialdemokraten liegen mit der Reformpartei etwa gleichauf.
Auch die JV in Lettland, die auf europäischer Ebene der EVP angehört, hat an Wählergunst verloren. Davon profitiert die nationalkonservative Nationale Allianz, die in Umfragen führt und auf zwei der neun Sitze kommen könnte. Möglicherweise fremdeln einige Menschen im Land mit der für lettische Verhältnisse ungewöhnlichen gesellschaftsliberalen Politik, die die JV verfolgt, seit sie im vergangenen Jahr eine Koalition unter anderem mit den links-grün-gerichteten Progressiven gebildet hat. Der gewichtigere Grund dürfte aber die Affäre um Krišjānis Kariņš sein, dem vorgeworfen wird, während seiner Zeit als Regierungschef in zahlreichen Fällen Privatflüge genutzt zu haben.
Vom Amt des Außenministers, das er in der neuen Koalition übernommen hatte, ist Kariņš kürzlich zurückgetreten. Bei den Europawahlen steht er jedoch weit oben auf der Liste seiner Partei – als Nummer zwei, direkt hinter Kommissionsmitglied Valdis Dombrovskis. “Die Partei mag sich insgeheim wünschen, dass er nicht auf den Wahlzetteln steht”, schreibt das Portal LSM. Kariņš Schwäche dürfte Dombrovskis nützen, der Kommissar bleiben möchte und auch eine hohe Zustimmung in der Bevölkerung genießt. Seine Themen: die Unterstützung der Ukraine, Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit.
In Litauen ist der Termin der Europawahlen etwas ungünstig eingerahmt von den beiden wichtigen nationalen Wahlen. Bei den Präsidentschaftswahlen unterlag Premierministerin Ingrida Šimonytė von der Partei Vaterlandsbund – Christdemokraten Litauens (TS-LKD, gehört der EVP an) deutlich Amtsinhaber Gitanas Nausėdas. Der litauische Präsident hat Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik, Nausėdas ist ebenfalls bekannt für seine entschiedene Unterstützung der Ukraine.
Bei den Parlamentswahlen Mitte Oktober droht die nächste Niederlage für die konservativ-liberale Regierungskoalition Litauens. In Umfragen liegen zurzeit die Sozialdemokraten vorn, sie könnten bei den Europawahlen laut Projektion des Politikwissenschaftlers Manuel Müller drei der elf Sitze im Parlament erlangen. Beobachter sehen eine Reihe von Gründen für die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung. Einer davon hat mit Außenminister und TS-LKD-Chef Gabrielius Landsbergis zu tun. Dieser sei vor allem auf internationaler Bühne präsent, habe aber innenpolitisch an Bedeutung verloren, heißt es in einer Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Landsbergis ist der offensichtlichste Kandidat aus Litauen für einen Posten bei der Kommission. Manche empfinden seine Rhetorik jedoch bisweilen als zu schrill, was seine Aussicht etwa auf das Amt als EU-Außenbeauftragter trüben dürfte. Als er in einem Interview mit der litauischen Nachrichtenagentur ELTA sagte, Russland werde “vielleicht in zehn Jahren, vielleicht in fünf Jahren” Europa angreifen, sollte es nicht in der Ukraine besiegt werden, mahnte ihn sogar Präsident Nausėda zur Ruhe.
Negativ-Schlagzeilen machte die lettische Europaabgeordnete Tatjana Ždanoka, die ab 2004 Mitglied des Parlaments war. Sie soll Recherchen zufolge fast 20 Jahre für den russischen Geheimdienst FSB gearbeitet haben, die lettischen Behörden ermitteln gegen sie. Im April kündigte Parlamentspräsidentin Roberta Metsola an, Sanktionen gegen Ždanoka zu verhängen. Für das Europaparlament wird Ždanoka nicht mehr kandidieren.
Die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Anna Lührmann, spricht sich dafür aus, eine neue europäische Medienplattform aufzubauen. Ein möglicher Ansatz sei, das Profil des deutsch-französischen Fernsehsenders Arte “noch stärker zu europäisieren”, sagte die Grünen-Politikerin im Podcast Table.Today.
Zudem sollten die Nutzer Content in den sozialen Medien leichter identifizieren können, der auf unabhängigem Journalismus beruhe. “Wir müssen uns überlegen, Wie schaffen wir es, dass wirklich Bürgerinnen und Bürger, wenn sie online unterwegs sind, auch wenn sie in ihrem WhatsApp-Channels unterwegs sind, dass sie schnell erkennen können: Ist das jetzt eine glaubwürdige Quelle oder nicht?” Die Organisation Reporter ohne Grenzen habe bereits einen Standard für glaubwürdigen Journalismus entwickelt, der in vielen afrikanischen und asiatischen Ländern genutzt werde.
Die Pläne für eine europäische Medienplattform stehen bereits im Koalitionsvertrag der Ampel. Lührmann hatte jüngst gemeinsam mit Polen und Frankreich auf EU-Ebene eine Initiative lanciert, die diesen Ansatz als eine von mehreren Maßnahmen gegen Desinformation vorantreiben will. Die Arbeiten befinden sich aber noch in einer frühen Phase.
Die Europa-Staatsministerin warnte vor einer Welle von Desinformationen unmittelbar vor den Europawahlen vom 6. bis 9. Juni. Ausländische Akteure wollten der Demokratie schaden und bauten dafür zunächst über Jahre hinweg vermeintlich harmlose Accounts auf. “Die machen dann erst mal Katzencontent oder Sport oder was auch immer Leute interessiert”, sagte sie. “Kurz vor so einem Ereignis wie der Europawahl fangen sie dann auf einmal an, politischen Content auszuspielen, Falschinformationen auszuspielen, Leute zu verunsichern, vom Wählen vielleicht auch abzuhalten.”
Lührmann forderte, die EU-Kommission solle die Verfahren gegen große Online-Plattformen auf Basis des Digital Services Act voranzutreiben. “Das Schwert ist sehr scharf, wenn es wirklich jetzt konsequent angewendet wird.” Bevor man über eine Haftung der Plattformbetreiber für die verbreiteten Inhalte vergleichbar wie im Presserecht diskutiere, “müssen wir jetzt erst mal gucken, wie dieses Instrument wirkt, und dann auch im Lichte dessen überlegen, ob man es noch weiter verschärfen muss”. tho
Die Energiewende hat der EU seit 2019 allein 30 bis 40 Milliarden Euro an Ausgaben für Gasimporte erspart. Errechnet hat das der Thinktank Ember in seiner energiepolitischen Bilanz der zu Ende gehenden europäischen Legislatur. Insgesamt habe Europa einen raschen Fortschritt beim Ausbau der Erneuerbaren gemacht. “Die EU ist nun in einem historischen, dauerhaften Wandel weg von der Abhängigkeit von fossilen Energien für die Stromerzeugung”, bilanzierte Sarah Brown, Direktorin für das Europaprogramm bei Ember.
Den Anteil Erneuerbarer im Strommix hat die EU der Untersuchung zufolge zwischen 2019 und 2023 von 34 auf 44 Prozent gesteigert. Deutschland hat seine Kapazitäten zwar in absoluten Zahlen am deutlichsten erhöht, der Grünstrom-Erfolg beruhe aber auf einem breiten Zuwachs unter den EU27, betonte Ember. Lettland etwa habe seine Erneuerbaren-Kapazitäten vervierfacht und Ungarn fast verdreifacht. ber
Am Freitag hat die EU-Kommission den Online-Marktplatz Temu als Very Large Online Platform (VLOP) im Rahmen des Digital Services Act (DSA) designiert. Damit ist Temu die 24. Plattform, die unter die besonders strengen Regeln fällt, die für sehr große Onlineplattformen und -suchmaschinen unter dem Digitale-Dienste-Gesetz gelten. Mit europaweit 75 Millionen monatlichen Nutzern überschreitet der Onlinehändler die Schwelle bereits deutlich. Ab 45 Millionen Nutzern gilt eine Plattform als sehr groß.
Nach der Einstufung als VLOP muss Temu innerhalb von vier Monaten (also bis Ende September 2024) die strengsten Regeln des DSA einhalten. Dazu gehört die Verpflichtung, systemische Risiken zu bewerten und zu mindern, die sich aus ihren Dienstleistungen ergeben. Zu den Risiken gehören auch die Listung und der Verkauf von gefälschten Waren, unsicheren oder illegalen Produkten und Artikeln, die gegen Markenrechte verstoßen. Nach der Einstufung als VLOP wird die Kommission in Zusammenarbeit mit dem irischen Digital Services Coordinator für die Überwachung der DSA-Compliance von Temu zuständig sein.
Die Shopping-App Temu hat die europäischen Märkte mit extrem niedrigen Preisen und aggressiver Werbung quasi im Sturm erobert. Erst im Jahr 2022 gegründet, hat Temus Betreiberfirma Whaleco Technology Limited ihren Sitz in Irland, deren Ursprünge liegen aber in Schanghai bei der chinesischen Muttergesellschaft PDD Holdings (zuvor Pinduoduo).
Temu bietet eine breite Palette von Produkten an, darunter Modeartikel, Haushaltswaren, Spielzeug und Elektronik. Dabei tritt Temu selbst nicht als Verkäufer auf, sondern ermöglicht den Direktverkauf zwischen Herstellern und Verbrauchern (Consumer-to-Manufacturer-Modell). Das macht es möglich, Waren sehr billig anzubieten.
Deutsche und europäische Verbraucherschützer haben wiederholt massive Kritik an der Plattform geübt. So legte der europäische Verband BEUC erst Mitte Mai Beschwerde gegen den boomenden Online-Marktplatz ein, der Verbraucher nicht schütze und manipulative Praktiken anwende, die nach dem DSA illegal seien. Temu versäume es oft, “den Verbrauchern wichtige Informationen über den Verkäufer der Produkte zu geben und ist daher nicht in der Lage, mitzuteilen, ob das Produkt den EU-Produktsicherheitsanforderungen entspricht“, lautet einer der Vorwürfe.
Der Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) hatte Temu bereits im April abgemahnt, unter anderem:
Mitte Mai hatte Temu dann eine Unterlassungserklärung abgegeben. vis
Bundeskanzler Olaf Scholz hat die EU-Kommission wegen Stillstand in der Handelspolitik kritisiert. Sie müsse schnell mehr Freihandelsabkommen abschließen, sagte der SPD-Politiker am Sonntag beim Ostdeutschen Wirtschaftsforum im brandenburgischen Bad Saarow. Dafür hätten die EU-Mitgliedsstaaten diese Kompetenz auf die europäische Ebene verlagert. Dies sei nicht geschehen, damit dann dort nicht viel passiere. “Da müssen mehr kommen. Die Dinge dauern zu lange, das ist nicht in Ordnung.”
Scholz ergänzte, nach der Europawahl müsse über einen schlankeren Prozess beraten werden, um ausgehandelte Abkommen auch abzuschließen. Dies hänge immer wieder an der mühsamen Ratifizierung in allen 27 EU-Ländern mit teils noch föderalen Strukturen. “Das geht nicht.”
Auch der Vorsitzende des Handelsausschusses des Europäischen Parlaments Bernd Lange (SPD) erhofft sich für das nächste Kommissionsmandat Fortschritte bei den Handelsabkommen mit Mercosur, Australien und Indonesien. Bisher sind die Verhandlungen hauptsächlich an Agrarinteressen gescheitert, die speziell in Frankreich und Irland politisch sehr stark gegen Freihandelsabkommen mobilisieren. In Frankreich steht aktuell auch die Ratifizierung des CETA-Abkommens mit Kanada auf der Kippe. rtr/jaa
Auch über die Grenzen Lettlands hinaus wurde zur Kenntnis genommen, dass Iwanna Wolotschij als Spitzenkandidatin der lettischen Partei Kustība Par! (Bewegung Dafür!) für die Europawahl kandidiert. Denn Wolotschijs Kandidatur ist eine Besonderheit: Sie stammt nicht aus dem Land, für das sie antritt, sondern aus der Ukraine. “Es ist Zeit für eine echte ukrainische Stimme im Europäischen Parlament“, sagte die 42-Jährige bei der Bekanntgabe ihrer Kandidatur in Riga.
Kustība Par! gehört der liberalen europäischen Parteienfamilie an. Sie war unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten Krišjānis Kariņš an der Regierung beteiligt, ist zurzeit jedoch weder im lettischen Parlament, noch im Europaparlament vertreten. Nun positioniert sich die Partei mit einem starken pro-ukrainischen Kurs (Wahlslogan: “Sicheres Lettland. Freie Ukraine. Ein Europa”), womit sie in Lettland allerdings keine Ausnahme bildet: Das Land gehört zu den schärfsten Kritikern von Russlands Angriffskrieg und zu den entschiedensten Unterstützern der Ukraine.
In Lettland sei die weitverbreitete Befürchtung: Wenn die Ukraine verliert, sind wir die nächsten, sagt Wolotschij. Im Gespräch wirkt sie zurückhaltend und nachdenklich. Sanktionen seien ein wichtiges Mittel, um die weitere Finanzierung des Krieges einzudämmen. Dennoch gebe es in Lettland viele Unternehmen, die trotz der Sanktionen in Verbindung mit Russland oder Weißrussland stehen. Ein Problem, das es außerdem zu lösen gelte, seien Transporte, mit denen Russland aus der Ukraine gestohlenes Getreide über Lettland in die EU bringe.
Setzt sich die EU entschlossen genug für die Ukraine ein? Anders als man erwarten könnte, antwortet Wolotschij darauf nicht mit einem leidenschaftlichen Plädoyer, etwa für mehr Geld für Waffenlieferungen. Denn sie kennt beide Seiten.
Vor zwanzig Jahren gehörte sie in Kiew zu jenen Studentinnen und Studenten, mit denen die Orangene Revolution begann. Anlass der Proteste war der Wunsch der Menschen in der Ukraine nach freien und fairen Wahlen. “Ich erinnere mich noch genau, wie der Rektor der Universität damals sagte: ‘Heute studieren wir nicht. Wir haben eine wichtigere Aufgabe.'” Später führte sie ihr Weg nach Brüssel. Aus ukrainischer Perspektive, sagt sie, könne man durchaus kritisieren, dass die EU mehr tun müsse und Entscheidungen zu lange dauerten. Als Europäerin aber verstehe sie, dass 27 Mitgliedstaaten mitreden, dass die europäischen Prozesse komplex seien. “Ich bin sehr zufrieden mit den Fortschritten, die erzielt wurden.”
Nach ihrem Masterstudium European Studies und International Relations in Maastricht hat sie im Kommunikationsbereich für verschiedene Projekte mit EU-Bezug gearbeitet – etwa für das EU-finanzierte Open Neighbourhood Regional Communication Programme, dessen Ziel es ist, das Verständnis für EU-Politik in den Nachbarstaaten der EU zu fördern. Später hat sie unter anderem die Online-Kommunikation der EU-Antibetrugsbehörde OLAF betreut.
Seit Sommer 2022 arbeitet sie im Europäischen Parlament, als Community Managerin bei der Renew-Fraktion. Zu ihren Aufgaben gehört auch die Koordination der Kontaktgruppe zur Schwesternpartei Sluga Narodu (Diener des Volkes) des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Renew und Sluga Narodu haben im vergangenen Jahr angekündigt, enger zusammenarbeiten zu wollen.
Bei ihrer Arbeit für die Fraktion seien Politiker von Kustība Par! auf sie aufmerksam geworden, erzählt Wolotschij, und hätten ihr vorgeschlagen, für die Partei anzutreten. Die Kandidatur ist also nicht ihre Idee gewesen, wie sie ausdrücklich betont. Und noch etwas anderes ist ihr wichtig: Die Entscheidung wurde demokratisch getroffen, die Parteimitglieder haben in einer Abstimmung zugestimmt. Sie selbst gehört der Partei nicht an, fühle sich aber mit den liberalen Grundsätzen verbunden.
Ein Schwerpunkt für Wolotschij ist der EU-Beitritt der Ukraine, der in “Lettlands nationalem Interesse” liegt, wie es im ersten Satz des Manifestos der Partei heißt. Für die Menschen in der Ukraine sei das Signal wichtig, dass das Land zur EU gehöre. “Es gibt viele Menschen, die mit der europäischen Flagge an der Front sterben.” Zugleich sei den meisten bewusst, dass ein Beitritt ein längerer Prozess sei. Auch die EU selbst müsse sich im Zuge der Erweiterung reformieren. Wolotschij nennt hier etwa den Haushalt und die Agrarpolitik und spricht sich auch für ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips aus.
Drängende Themen für Lettland seien darüber hinaus die Rail Baltica, die Zugverbindung, mit der die baltischen Staaten, Polen und Finnland an das mitteleuropäische Bahnnetz angeschlossen werden sollen. Auch das Problem der illegalen Migration beschäftige das Land – zum Schutz der lettischen Grenzen brauche es mehr Unterstützung der EU.
Wolotschij stammt aus Iwano-Frankiwsk, eine Stadt im Westen der Ukraine. In Brüssel lebt sie gemeinsam mit ihrer Tochter und ihrem Mann, der aus Deutschland stammt. Sie sagt: “Ich gehöre nach Europa.” Sarah Schaefer