über den überraschenden Sieg des linken Bündnisses bei den Parlamentswahlen in Frankreich haben sich deutsche Außen- und Europapolitiker größtenteils erleichtert gezeigt. “Das Schlimmste ist vermieden worden”, sagt Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Natürlich freue er sich über das gute Abschneiden des Linksbündnisses. Macron gewinne an Spielraum, werde aber auch mit Unsicherheiten zu kämpfen haben. Der neue Premier, so Schmid, dürfte wohl aus dem Lager der linken Mitte kommen.
Schmid rechnet mit einer “steinigen und komplizierten Regierungsbildung”. Für Europa werde es nicht einfacher werden. Für weitere EU-Handelsabkommen werde sich auch die neue Parlamentsmehrheit kaum stark machen und auch der Green Deal der EU werde aus Paris kaum zusätzliche Unterstützung erfahren.
Von einer “Verschnaufpause” sprach der grüne EU-Abgeordnete Sergey Lagodinsky: “Das ist ein guter Wahlsonntag für Europa. Die Koalitionspraxis wird eine Premiere und ein weiterer Test für Frankreichs Demokratie und für den unbeliebten Präsidenten werden.”
Weniger zuversichtlich ist Gunther Krichbaum, europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion. “Marine Le Pen ist mit ihrem Ziel einer absoluten Mehrheit gescheitert.” Trotzdem hätten “rechts- und linksradikale Kräfte, die ein gemeinsames Europa ablehnen, enorm an Einfluss gewonnen.” Das mache ihm “tiefe Sorgen”. Krichbaum weiter: “In Frankreich, in den deutsch-französischen Beziehungen und innerhalb der europäischen Zusammenarbeit stehen wir vor schwierigsten Zeiten.” Nun räche sich, “dass die Bundesregierung in der Vergangenheit die vielen ausgestreckten Hände von Präsident Macron nicht ergriffen hat”.
NRW-Europaminister Nathanael Liminski, (CDU), Sohn einer Französin, zeigte sich erleichtert. “Es ist eine gute Nachricht, dass die Nationalisten um Marine Le Pen, anders als manche Umfragen prognostizierten, keine Vormachtstellung im Parlament erringen konnten.” Es sei Macron gelungen, die Rechtspopulisten vom Sockel ihres Erdrutsch-Siegs bei der Europawahl herunterzuholen.
“Die Franzosen haben die Neuwahl aber gleichzeitig nicht zu einem Plebiszit für ihren Präsidenten gemacht“, sagt Liminski. Die zweitgrößte Volkswirtschaft in der EU, “die einzige EU-Vetomacht bei den UN und einzige Atommacht in der EU wird politisch instabiler und unberechenbarer”.
Der Wahlabend in Frankreich brachte eine große Überraschung: Das linke Bündnis Nouveau Front Populaire (NFP) ist am gestrigen Sonntag stärkste Kraft in der Nationalversammlung geworden und kommt auf 182 Abgeordnetensitze. Die Koalition “Ensemble pour la République”, die das Lager von Präsident Emmanuel Macron vertritt, wurde mit 168 Abgeordneten zweitstärkste Kraft.
Erst an dritter Stelle folgt der Rassemblement National (RN) mit seinen Verbündeten, die 143 Abgeordnete stellen. Die Wahlbeteiligung war mit über 67 Prozent ungewöhnlich hoch, so hoch wie seit 1997 nicht mehr.
Allerdings erreichte keiner der großen politischen Blöcke die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung mit ihren 289 Sitzen. Damit ist die Frage nach der künftigen Regierung weiterhin offen.
Wie erwartet reichte der Premierminister seinen Rücktritt ein und machte damit den Weg frei für die verschiedenen Forderungen der Parteien. “Ich habe diese Auflösung nicht gewählt und ich habe mich geweigert, sie zu ertragen”, sagte Gabriel Attal. “Getreu der republikanischen Tradition werde ich morgen früh dem Präsidenten der Republik meinen Rücktritt anbieten.” Das Schicksal Frankreichs werde “mehr denn je im Parlament” entschieden, sagte er.
Die französische Verfassung sieht vor, dass der Staatspräsident den Premierminister ernennt. Aus Gründen der Konvention und der politischen Legitimität muss der Premierminister jedoch von der politischen Kraft gestellt werden, die in der Nationalversammlung die Mehrheit hat. “Niemand würde es verstehen, wenn Emmanuel Macron sich weigern würde, den Kandidaten der Nouveau Front Populaire zu ernennen”, sagte ein Abgeordneter der NFP auf der Wahlparty der Partei in Paris.
Der Élysée-Palast kündigte an, dass Emmanuel Macron in nächster Zeit keinen neuen Premierminister berufen wird. Der Staatschef will mit der Ernennung eines neuen Regierungschefs warten, bis sich die Nationalversammlung strukturiert hat, heißt es. Macron plane “zum jetzigen Zeitpunkt”, voraussichtlich am Mittwoch zum Nato-Gipfel nach Washington zu reisen.
Außenminister Stéphane Séjourné sagte, dass das Präsidentenlager “Vorbedingungen für jede Diskussion” über eine künftige Regierung stellen werde. Er wolle nicht, dass “Jean-Luc Mélenchon und eine Reihe seiner Verbündeten” Frankreich regieren könnten, sagte der ehemalige Europaabgeordnete und Chef der Renew-Fraktion im Europäischen Parlament am Wahlabend.
Der Europaabgeordnete Raphaël Glucksmann (S&D), dessen Partei Place Publique Teil der Nouveau Front Populaire ist, freute sich über den Wahlsieg, schlug aber schnell kritische Töne an. Das Parlament sei nach der Wahl gespalten, weshalb die Abgeordneten Disziplin zeigen und sich “wie Erwachsene” verhalten müssten. “Wir werden einen Dialog führen müssen”, sagte Glucksmann. Mit der Wahl habe eine Machtverschiebung zugunsten des Parlaments stattgefunden. “Der Kern der Macht wurde auf die Nationalversammlung übertragen. Es ist eine Veränderung der politischen Kultur, die notwendig ist und die grundlegend sein wird.”
Auch innerhalb der Linken wird es schwierig sein, die Einheit zu wahren. Für die Sozialisten und ihren Chef Olivier Faure wird es darum gehen, die Führungsrolle auf der linken Seite zurückzuerobern und Jean-Luc Mélenchon loszuwerden, den äußerst umstrittenen Chef der linkspopulistischen La France Insoumise. Bereits während des Wahlkampfs hatte Mélenchon für Spannungen gesorgt.
“Die französischen Wähler haben der EU gerade eine Atempause verschafft“, sagt Manon Dufour, Leiterin des Brüsseler Büros des Thinktanks E3G. “Mit einem geschwächten Präsidenten und einer Regierung, die mit politischen Spaltungen und einer starken Polarisierung der Wählerschaft beschäftigt ist, besteht das Risiko für Europa darin, dass Frankreich passiv und auf sich selbst bezogen ist”, sagt Dufour. “Die nächste französische Regierung wäre schlecht beraten, wenn sie ihre europäische Rolle in einem turbulenten geopolitischen Umfeld vernachlässigen würde.”
Auch bei den anstehenden Verhandlungen um den EU-Haushalt könne man nicht auf Frankreichs Einfluss verzichten. “Dieser Haushalt kann helfen, die weit verbreitete Wohnungskrise zu lösen, die Bürger vor den zunehmenden Klimaauswirkungen zu schützen und für Ernährungssicherheit zukünftiger Generationen zu sorgen”, sagt Dufour.
Vor der Sommerpause in Brüssel hat die Debatte um die Anti-Entwaldungs-Verordnung nochmal Fahrt aufgenommen. Die EVP-Fraktion hat vergangene Woche in Portugal unter anderem auch über ihre Position zu dem Gesetz beraten, das in wenigen Monaten umgesetzt werden soll. Im 5-Punkte-Plan, den die Abgeordneten am Ende beschlossen, ist nun die Rede davon, die Anwendung der Verordnung zu verschieben und “die Probleme im Zusammenhang mit ihrer Umsetzung zu lösen”. Die S&D-Fraktion hingegen hat ihren Forderungskatalog für die nächste Kommission während der letzten Abstimmungen ergänzt und erwähnt nun explizit, die Verordnung müsse bestehen bleiben.
Gemäß der Verordnung für entwaldungsfreie Lieferketten, so der volle Titel, müssen Unternehmen die Vorschriften ab dem 30. Dezember anwenden, kleinere Unternehmen ab Ende Juni 2025. Dann dürfen sie Einfuhren bestimmter Produkte – unter anderem Kakao, Kaffee, Palmöl, Soja und Holz – nur in der EU verkaufen, wenn die Lieferanten eine Sorgfaltserklärung eingereicht haben. Diese bestätigt, dass ein Produkt nicht von einer nach dem 31. Dezember 2020 abgeholzten Fläche stammt, und dass bei seiner Herstellung die lokale Gesetzgebung eingehalten wurde.
Viele kritisieren, dass die Kommission wichtige Grundlagen für die Umsetzung noch nicht vorgelegt habe, etwa bestimmte Leitlinien und das Länder-Benchmarking. Mit diesem will die Kommission jedem Land eine bestimmte Risikostufe für Entwaldung zuweisen. Auf dieser Basis gelten dann bestimmte Kontrollquoten für die einzelnen Produktgruppen: Die nationalen Behörden müssen pro Produktgruppe jeweils ein Prozent der Marktteilnehmer kontrollieren, die aus Ländern mit niedrigem Risiko importieren, drei Prozent bei Ländern mit Standardrisiko und neun Prozent bei Ländern mit hohem Risiko.
Bei der Abstimmung im EU-Parlament im April 2023 hatten die meisten Abgeordneten der EVP das Gesetz unterstützt. Der Luxemburger EVPler Christophe Hansen hatte als Berichterstatter die Verhandlungen mit Rat und Kommission geführt. Er äußert sich gelassen: “Wenn die Kommission in den nächsten Wochen den versprochenen Leitfaden und die Benchmarking-Methode vorlegt, gibt es keinen Grund für einen Aufschub.” Ein Aufschub verlängere möglicherweise auch die Zeit der Unsicherheit für die Unternehmen.
Der CDU-Abgeordnete Peter Liese, umweltpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion (der sich damals enthielt), ist der wohl lauteste Verfechter eines Aufschubs. In einem Pressegespräch Anfang der Woche nannte er das Jahr 2027 als seine Wunschfrist. “Wir können die Verschiebung kurzfristig im Dringlichkeitsverfahren annehmen, sodass alle Seiten erst mal Luft zum Atmen haben und dann in Ruhe über Änderungen am Text beraten, die weniger Bürokratie, aber trotzdem Schutz vor Entwaldung bedeuten”, sagte er. Er unterstütze die Ziele der Verordnung, bezichtigt aber Grüne, Sozialdemokraten, Linke und französische Liberale, ein “bürokratisches Monstrum” geschaffen zu haben.
“Wir stehen regelmäßig mit der EU-Kommission im Austausch und wissen, dass dort mit Hochdruck an der Umsetzung gearbeitet wird und alles nach Plan verläuft”, sagte Anna Cavazzini (Grüne), die ebenfalls an den Verhandlungen beteiligt war. “Nun den Forderungen nach einer Verschiebung nachzukommen, würde zu weniger Planungssicherheit für die Wirtschaft führen und die vorausschauenden Unternehmen bestrafen.” Für den Fall, dass die Kommission mit dem Länder-Benchmarking nicht fertig sein sollte, gebe es Vorkehrungen im Gesetz, so Cavazzini.
Liegt am 30. Dezember noch kein Benchmarking vor, gelten erst einmal alle Länder als “Standardrisiko”. Das bedeutet: Auch Länder mit einem niedrigen Risiko für Entwaldung – wie Deutschland – werden zunächst höher eingestuft.
“Es kann nicht sein, dass wir wie ein Hochrisikoland behandelt werden”, hatte Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) beim Agrarrat im April gesagt. “Das wird die letzten Wohlmeinenden im wahrsten Sinne des Wortes auf die Bäume treiben und die Akzeptanz für das Gesetz kaputt machen.” Im Ziel unterstütze die Bundesregierung die EU-Kommission, jedoch brauche es auf dem Weg dringend mehr Flexibilität.
Gemeinsam mit Ministern aus weiteren Mitgliedstaaten forderte Özdemir im Mai die EU-Kommission auf, schnell die noch fehlenden Grundlagen für das Inkrafttreten zu schaffen – oder die Umsetzung zu verschieben. Sie befürchten unverhältnismäßig hohen bürokratischen Aufwand für Verwaltung und Marktteilnehmer. Das IT-System und das Länder-Benchmarking seien zentrale Voraussetzungen für die Umsetzung.
Wann das Benchmarking fertig sein wird, dazu äußert sich die Kommission nicht. Nach Informationen von Table.Briefings liegt bereits ein Vorschlag vor; diesem muss jedoch noch auf höchster Ebene zugestimmt werden. “Die Arbeit der Kommission am Benchmarking ist noch nicht abgeschlossen“, sagte ein Sprecher zu Table.Briefings. Sie werde sich die nötige Zeit dafür nehmen, damit die Bewertung “auf der Grundlage einer wissenschaftlich und fachlich fundierten Methodik” geschehe. Sobald die vorläufigen Ergebnisse vorliegen, werde die Kommission einen Dialog mit den Ländern aufnehmen, die (ganz oder teilweise) als besonders risikoreich eingestuft wurden.
Eine Schnittstelle im IT-System “Traces” hat die Kommission in der Zwischenzeit eingerichtet. Über diese sollen Handelssysteme der Wirtschaft direkt an das System angebunden werden, um den Einzelnachweis für Entwaldungsfreiheit zu erbringen. Ein Sprecher des Bundeslandwirtschaftsministeriums (BMEL) sagte zu Table.Briefings, die Kommission hätte außerdem zugesichert, die Abgabe der Sorgfaltserklärung zu vereinfachen. Diese solle “mit nur wenigen Mausklicks” möglich sein. “Damit ist ein großer Schritt hin zu einer praktikablen Anwendung der Verordnung erfolgt”, so der Sprecher.
Auch Handelspartner der EU melden sich inzwischen zu Wort. Kürzlich berichtete die “Financial Times” über ein Schreiben von Ende Mai, in dem auch die US-Regierung die EU-Kommission zum Verschieben der Umsetzung auffordert. Die Vorgaben und Strafen würden vor allem die US-amerikanische Holz-, Papier- und Zellstoffindustrie hart treffen, heißt es demnach in dem Schreiben. Der dortige Wald- und Papierindustrie-Verband (AF&PA) halte es für unmöglich, das EU-Gesetz zu befolgen, da Papier und Zellstoff teilweise aus gemischten Abfällen hergestellt würden.
Die radikal-rechte PVV von Geert Wilders aus den Niederlanden sowie die sechs Abgeordneten der rechtspopulistischen Vox-Partei im Europaparlament folgen Viktor Orbán in die geplante neue Fraktion “Patrioten für Europa”. Die Vox-Abgeordneten aus Spanien verlassen dafür die EKR-Fraktion. Damit kommt diese Fraktion noch auf 78 Sitze und liegt mit zwei Sitzen knapp vor Renew.
Vox-Chef Santiago Abascal hatte am Freitag angekündigt, dass er und seine Mitstreiter sich der Rechtsfraktion anschließen wollen. Wilders schrieb bei X: “Wir wollen unsere Kräfte bündeln und werden uns mit Stolz den Patrioten für Europa anschließen.”
Rechtspopulisten um Viktor Orbán (Fidesz), Andrej Babiš (ANO) und Herbert Kickl (FPÖ) haben für den heutigen Montag die Gründung der neuen Fraktion angekündigt. Es wird damit gerechnet, dass Frankreichs Rassemblement National (RN) ebenfalls beitritt. Auch die portugiesische Chega hatte angekündigt, sich der Fraktion anzuschließen.
Man geht davon aus, dass weitere Delegationen der bisherigen rechtsextremen ID-Fraktion sich den “Patrioten” anschließen. Der RN hat 30 Sitze im nächsten Europaparlament, ANO bringt sieben Abgeordnete mit, die FPÖ sechs und der Fidesz elf. Es braucht 23 Abgeordnete aus sieben Mitgliedstaaten, um eine Fraktion zu gründen. Am Ende könnte die bisherige ID weitgehend in der neuen Fraktion aufgehen. mgr/dpa
Die EU-Kommission hat Amazon aufgefordert, im Rahmen des Digital Services Act (DSA) detaillierte Informationen über sein Empfehlungssystem zu übermitteln. Amazon muss darlegen, welche Maßnahmen das Unternehmen ergriffen hat, um die Verpflichtungen hinsichtlich der Transparenz von Empfehlungssystemen einzuhalten. Es geht auch um die Führung eines Anzeigenarchivs sowie des Risikobewertungsberichts. Die Frist zur Beantwortung endet am 26. Juli 2024.
Amazon war zuvor als sehr große Online-Plattform (VLOP) eingestuft worden. Zudem hatte der Gerichtshof der Europäischen Union Amazons Antrag abgelehnt, in dem das Unternehmen darum gebeten hatte, die Pflicht zur öffentlichen Bereitstellung des Anzeigenarchivs auszusetzen. Die Einstufung als VLOP verpflichtet Amazon, die vollständigen Anforderungen des DSA zu erfüllen.
Dazu gehört die Offenlegung der genutzten Algorithmen und der Optionen, die den Nutzern angeboten werden, um sich gegen die Erstellung von Profilen für die Empfehlungssysteme zu entscheiden. Amazon soll Informationen zur Transparenz der Empfehlungssysteme bereitstellen, einschließlich der verwendeten Eingabefaktoren, Merkmale, Signale, Informationen und Metadaten. Weiterhin verlangt die Kommission Angaben zum Design, zur Entwicklung, zum Einsatz, zur Prüfung und zur Wartung der Amazon Store Ad Library sowie unterstützende Dokumente zum Risikobewertungsbericht.
Die Kommission kann Geldstrafen verhängen, wenn die Informationen falsch, unvollständig oder irreführend sind. Die Antworten von Amazon werden die nächsten Schritte der Kommission bestimmen. Sie kann ein formelles Verfahren gemäß Artikel 66 des DSA einleiten. vis
Die Ursachen und Folgen des Klimawandels sowie mögliche Lösungen sind den über 50-Jährigen in Deutschland geläufiger als jüngeren Menschen. Das ergab eine Umfrage der Europäischen Investitionsbank (EIB). Dabei schnitten die 20- bis 29-Jährigen in Deutschland noch mal schlechter ab als die über 30-Jährigen. Auch im Vergleich zu anderen EU-Ländern schnitten die 20- bis 29-jährigen Deutschen schlechter ab.
Drei Viertel der Deutschen sehen demnach die Hauptursachen des Klimawandels in “menschlichen Aktivitäten wie Entwaldung, Landwirtschaft, Industrie und Verkehr”. Der Rest vermutet die Ursachen in “extremen Naturereignissen wie Vulkanausbrüchen und Hitzewellen” oder im Ozonloch.
Bei den Maßnahmen gegen den Klimawandel zeigt sich laut EIB ein anderes Bild. So gaben beispielsweise 43 Prozent der befragten Deutschen an, dass “niedrigere Tempolimits auf Straßen den Klimawandel eindämmen” können. EU-weit liegt der Durchschnitt bei dieser Frage nur bei 26 Prozent. Auch wisse nur eine knappe Mehrheit (53 Prozent, 42 Prozent im EU-Durchschnitt), dass besser gedämmte Gebäude gegen den Klimawandel helfen.
Beim EIB-Wissenstest über den Klimawandel, für den 30.000 Menschen aus 35 Ländern (EU, UK, USA, China, Japan, Indien und Kanada) befragt wurden, belegt Deutschland unter den EU-Mitgliedstaaten Platz 10 und liegt damit leicht über dem EU-Durchschnitt. Am besten schnitten Finnland, Luxemburg und Schweden ab. luk
Die neue britische Regierung will enger mit der EU zusammenarbeiten. “Diese neue Regierung im Vereinigten Königreich hat ihre Prioritäten sehr klar formuliert. Wir wollen einen Neustart – einen ‘Reset’ – unserer Beziehungen zu Europa”, sagte der britische Außenminister David Lammy im TV-Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters. Als erstes Land nach seiner Ernennung hatte Lammy am Wochenende Deutschland besucht.
Lammy betonte, dass auch die Labour-Regierung keinen EU-Beitritt anstrebe. “Wir werden weder dem Binnenmarkt noch der Zollunion wieder beitreten, aber es gibt vieles, was wir gemeinsam tun können.” Die neue Regierung wolle die Brexit-Jahre hinter sich lassen. “Das beginnt bei der Sicherheit und einem Sicherheitspakt zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU.”
Ein solcher Pakt könne Themen wie Verteidigung, Energie und Klima umfassen und sehr breit angelegt sein. Lammy kündigte zudem eine Überprüfung der Handelsbeziehungen zwischen dem Königreich und der EU an. “Ich möchte ganz klar sagen, dass die Europäer unsere Freunde sind und dass wir angesichts des Krieges in Europa unsere Verteidigungsausgaben weiter erhöhen und eng zusammenarbeiten müssen.”
Auch der neue britische Handelsminister Jonathan Reynolds sprach sich für eine engere Zusammenarbeit mit der EU aus. Großbritannien und die Europäische Union hätten beispielsweise dieselben Lebensmittelstandards, sagte Handelsminister Reynolds dem Sender Sky News. “Wenn wir mehr Whisky und Lachs auf einem für uns so wichtigen Markt verkaufen können, dann sollten wir solche Möglichkeiten ausloten.”
Der Politiker der sozialdemokratischen Labour-Partei machte die konservative Vorgängerregierung für Probleme im bilateralen Handel verantwortlich. “Um ehrlich zu sein, liegt es sehr im nationalen Interesse Großbritanniens, eine Beziehung zu Europa aufzubauen, die nicht von der internen Politik der Konservativen Partei bestimmt wird”, sagte Reynolds.
EU-Diplomaten und deutsche Wirtschaftsvertreter kritisierten die Starrköpfigkeit der abgewählten Regierung. Reynolds deutete nun “vernünftige, pragmatische” Lösungen an, etwa bei der gegenseitigen Anerkennung beruflicher Qualifikationen oder Visaregeln für Künstler und Musiker. Es ergebe Sinn, solche Hürden zu beseitigen.
Eine Rückkehr in die EU schloss auch der Wirtschaftsminister nachdrücklich aus. “Wir sind nicht offen für die Freizügigkeit von Personen, das ist Teil einer EU-Mitgliedschaft, und das werden wir nicht wieder aufgreifen”, sagte Reynolds. Grundsätzlich liege aber eine enge Zusammenarbeit im gegenseitigen Interesse der Europäischen Union und des Vereinigten Königreichs.
Großbritannien war Ende Januar 2020 aus der EU ausgetreten und ist seit 2021 auch nicht mehr Mitglied der EU-Zollunion und des Binnenmarkts. Trotz eines Freihandelsabkommens gibt es seitdem Hürden im bilateralen Warenaustausch. rtr/dpa
Die Wählerinnen und Wähler im Vereinigten Königreich haben mit dem Sieg von Keir Starmers Labour-Partei in den britischen Unterhauswahlen eine lange Serie politischer Fehleinschätzungen und persönlicher Unzulänglichkeiten der britischen Tories bestraft. Das deutliche Ergebnis erinnert an Tony Blairs legendären Wahlsieg im Jahr 1997. Aufseiten der Konservativen haben elf Kabinetts-Mitglieder ihre Wahlkreise verloren, darunter sowohl Ex-Premierministerin Liz Truss als auch politische Hoffnungen wie Penny Mordaunt.
Zwar wurde der Sieg von Labour in England, Schottland, Nordirland und Wales hochgradig begünstigt durch ein eigentlich für ein Zwei-Parteien-System entwickeltes Mehrheitswahlrecht. Der Anteil der Wählerstimmen ist tatsächlicher minimal höher als bei Labours Niederlage 2019, und der Sieg somit auch zurückzuführend auf spaltende Kräfte wie die populistische Reformpartei sowie die Renaissance der Liberal Democrats. Er ist aber auch das Ergebnis eines von Labour strategisch überlegt geführten Wahlkampfes.
In allererster Linie ist er jedoch Ausdruck der unbändigen Wut britischer Wähler auf den schleichenden wirtschaftlichen Niedergang der letzten 15 Jahre. Britische Reallöhne im Jahr 2023 waren niedriger als im Jahr 2008, der durchschnittliche britische Haushalt mit mittlerem Einkommen ist heute 20 Prozent ärmer als sein Pendant in Deutschland. Wichtigster Treiber ist ein Produktivitätsrückstand, der sich seit 2008 im Vergleich mit Ländern wie Deutschland und Frankreich verdreifacht hat.
Der EU-Austritt verschärfte langjährige und tief verwurzelte Probleme, insbesondere eine toxische Kombination aus niedrigem Wachstum und hoher regionaler Ungleichheit. Im Gegensatz zu Blair steht Keir Starmer heute somit vor einer finanziellen Lage, die eher mit der Ausgangssituation der Labour-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen ist.
Leicht zu vergessen ist vor diesem Hintergrund, dass UK weiterhin zu den reichsten und ressourcenstärksten Ländern der Welt gehört. Die sechstgrößte Volkswirtschaft bringt weltweit führende Unternehmen in Zukunftssektoren wie Finanzdienstleistungen, Luft- und Raumfahrt, Biowissenschaften, sowie in der Kreativwirtschaft und Bildung hervor. Hinzu kommen Vorteile in der Produktion erneuerbarer Energien. Der Fokus der Labour-Partei liegt entsprechend auf der Wiederbelebung der britischen Wirtschaft.
Britische soft power, diplomatischer Einfluss und militärische Ressourcen (einschließlich der Stellung als Nuklearmacht) machen das Land jedoch auch zu einem relevanten Akteur in der europäischen Sicherheit. Der Wunsch von Labour nach einem Sicherheitspakt mit der EU wird in Brüssel entsprechend auf Offenheit stoßen. Die unruhige Situation in Frankreich schafft zudem neuen Raum für eine stärkere britisch-deutsche Achse – tatsächlich stehen beide Länder kurz vor einem neuen bilateralen Sicherheitsabkommen.
Doch wenn die vorsichtige Neuorientierung der Labour-Partei in Richtung Europa zu greifbaren Ergebnissen führen soll, bedarf es beidseitiger Bewegung. Die EU hat seit Abschluss der Brexit-Verhandlungen im Jahr 2020 keine erkennbare politische Position zu ihren Beziehungen zum Vereinigten Königreich geäußert, die den geopolitischen Entwicklungen seitdem Rechnung tragen würden. Anstrengungen der EU für eine neue europäische Sicherheitsordnung durch verstärkte wirtschaftliche Sicherheit, EU-Erweiterung und strategische Zusammenarbeit mit “like-minded allies” bieten nun neue Räume für Kooperation mit einem Vereinigten Königreich, das Europa zugewandt ist.
Für die Neugestaltung der EU-UK-Beziehungen sollten beide Seiten zügig gemeinsame strategische Prioritäten festlegen und das institutionelle Rückgrat der Zusammenarbeit stärken. Gipfeltreffen (wie die EU sie mit Norwegen, der Schweiz oder der Türkei unterhält) würden eine neue Ära der verbesserten Zusammenarbeit unterstreichen. Zudem kann die außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit auch ohne EU-Mitgliedschaft Großbritanniens durch eigens eingerichtete Strukturen verbessert werden.
Die schrittweise Vertiefung und Ausweitung der derzeitigen Handels- und Investitionsbeziehungen sollte in einem parallelen und einheitlichen Prozess erfolgen. Dies erfordert ein neues Maß an Pragmatismus, Flexibilität und politischer Kohärenz seitens der EU, der es oft schwerfällt, Sicherheit und Wirtschaft zusammenzudenken. Fortschritte in diesem Bereich würden sicherlich den Anspruch Brüssels untermauern, ein kohärenter geopolitischer Akteur zu werden.
Die innenpolitische Dynamik in UK bleibt jedoch trotz der Mehrheit von Labour weiterhin relevant. Zum einen könnten neue Stimmen der großen Labour-Fraktion Druck ausüben, die Annäherung an die EU ehrgeiziger zu gestalten. Das starke Abschneiden der pro-europäischen Liberal Democrats, die 72 Sitze gewonnen haben, würde diesen weiter erhöhen.
Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die populistische, inhaltlich substanzlose Reformpartei 14 Prozent der Stimmen britischer Wähler bekommen hat. Dieses bemerkenswerte Ergebnis ist zweifellos eine Erinnerung an das volatile politische Klima dieses Jahrzehnts. Parteiführer Nigel Farage, ein überaus geschickter politischer Akteur, hat mit dem Einzug ins Parlament eine neue politische Bühne gewonnen. Er wird sie zu nutzen wissen.
Jake Benford ist Europa-Experte der Bertelsmann Stiftung. Seine neue Publikation “Eyes on the Prize: Shifts in EU interests require a reassessment of relations with the United Kingdom” (mit Daniela Schwarzer) finden Sie hier.
über den überraschenden Sieg des linken Bündnisses bei den Parlamentswahlen in Frankreich haben sich deutsche Außen- und Europapolitiker größtenteils erleichtert gezeigt. “Das Schlimmste ist vermieden worden”, sagt Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Natürlich freue er sich über das gute Abschneiden des Linksbündnisses. Macron gewinne an Spielraum, werde aber auch mit Unsicherheiten zu kämpfen haben. Der neue Premier, so Schmid, dürfte wohl aus dem Lager der linken Mitte kommen.
Schmid rechnet mit einer “steinigen und komplizierten Regierungsbildung”. Für Europa werde es nicht einfacher werden. Für weitere EU-Handelsabkommen werde sich auch die neue Parlamentsmehrheit kaum stark machen und auch der Green Deal der EU werde aus Paris kaum zusätzliche Unterstützung erfahren.
Von einer “Verschnaufpause” sprach der grüne EU-Abgeordnete Sergey Lagodinsky: “Das ist ein guter Wahlsonntag für Europa. Die Koalitionspraxis wird eine Premiere und ein weiterer Test für Frankreichs Demokratie und für den unbeliebten Präsidenten werden.”
Weniger zuversichtlich ist Gunther Krichbaum, europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion. “Marine Le Pen ist mit ihrem Ziel einer absoluten Mehrheit gescheitert.” Trotzdem hätten “rechts- und linksradikale Kräfte, die ein gemeinsames Europa ablehnen, enorm an Einfluss gewonnen.” Das mache ihm “tiefe Sorgen”. Krichbaum weiter: “In Frankreich, in den deutsch-französischen Beziehungen und innerhalb der europäischen Zusammenarbeit stehen wir vor schwierigsten Zeiten.” Nun räche sich, “dass die Bundesregierung in der Vergangenheit die vielen ausgestreckten Hände von Präsident Macron nicht ergriffen hat”.
NRW-Europaminister Nathanael Liminski, (CDU), Sohn einer Französin, zeigte sich erleichtert. “Es ist eine gute Nachricht, dass die Nationalisten um Marine Le Pen, anders als manche Umfragen prognostizierten, keine Vormachtstellung im Parlament erringen konnten.” Es sei Macron gelungen, die Rechtspopulisten vom Sockel ihres Erdrutsch-Siegs bei der Europawahl herunterzuholen.
“Die Franzosen haben die Neuwahl aber gleichzeitig nicht zu einem Plebiszit für ihren Präsidenten gemacht“, sagt Liminski. Die zweitgrößte Volkswirtschaft in der EU, “die einzige EU-Vetomacht bei den UN und einzige Atommacht in der EU wird politisch instabiler und unberechenbarer”.
Der Wahlabend in Frankreich brachte eine große Überraschung: Das linke Bündnis Nouveau Front Populaire (NFP) ist am gestrigen Sonntag stärkste Kraft in der Nationalversammlung geworden und kommt auf 182 Abgeordnetensitze. Die Koalition “Ensemble pour la République”, die das Lager von Präsident Emmanuel Macron vertritt, wurde mit 168 Abgeordneten zweitstärkste Kraft.
Erst an dritter Stelle folgt der Rassemblement National (RN) mit seinen Verbündeten, die 143 Abgeordnete stellen. Die Wahlbeteiligung war mit über 67 Prozent ungewöhnlich hoch, so hoch wie seit 1997 nicht mehr.
Allerdings erreichte keiner der großen politischen Blöcke die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung mit ihren 289 Sitzen. Damit ist die Frage nach der künftigen Regierung weiterhin offen.
Wie erwartet reichte der Premierminister seinen Rücktritt ein und machte damit den Weg frei für die verschiedenen Forderungen der Parteien. “Ich habe diese Auflösung nicht gewählt und ich habe mich geweigert, sie zu ertragen”, sagte Gabriel Attal. “Getreu der republikanischen Tradition werde ich morgen früh dem Präsidenten der Republik meinen Rücktritt anbieten.” Das Schicksal Frankreichs werde “mehr denn je im Parlament” entschieden, sagte er.
Die französische Verfassung sieht vor, dass der Staatspräsident den Premierminister ernennt. Aus Gründen der Konvention und der politischen Legitimität muss der Premierminister jedoch von der politischen Kraft gestellt werden, die in der Nationalversammlung die Mehrheit hat. “Niemand würde es verstehen, wenn Emmanuel Macron sich weigern würde, den Kandidaten der Nouveau Front Populaire zu ernennen”, sagte ein Abgeordneter der NFP auf der Wahlparty der Partei in Paris.
Der Élysée-Palast kündigte an, dass Emmanuel Macron in nächster Zeit keinen neuen Premierminister berufen wird. Der Staatschef will mit der Ernennung eines neuen Regierungschefs warten, bis sich die Nationalversammlung strukturiert hat, heißt es. Macron plane “zum jetzigen Zeitpunkt”, voraussichtlich am Mittwoch zum Nato-Gipfel nach Washington zu reisen.
Außenminister Stéphane Séjourné sagte, dass das Präsidentenlager “Vorbedingungen für jede Diskussion” über eine künftige Regierung stellen werde. Er wolle nicht, dass “Jean-Luc Mélenchon und eine Reihe seiner Verbündeten” Frankreich regieren könnten, sagte der ehemalige Europaabgeordnete und Chef der Renew-Fraktion im Europäischen Parlament am Wahlabend.
Der Europaabgeordnete Raphaël Glucksmann (S&D), dessen Partei Place Publique Teil der Nouveau Front Populaire ist, freute sich über den Wahlsieg, schlug aber schnell kritische Töne an. Das Parlament sei nach der Wahl gespalten, weshalb die Abgeordneten Disziplin zeigen und sich “wie Erwachsene” verhalten müssten. “Wir werden einen Dialog führen müssen”, sagte Glucksmann. Mit der Wahl habe eine Machtverschiebung zugunsten des Parlaments stattgefunden. “Der Kern der Macht wurde auf die Nationalversammlung übertragen. Es ist eine Veränderung der politischen Kultur, die notwendig ist und die grundlegend sein wird.”
Auch innerhalb der Linken wird es schwierig sein, die Einheit zu wahren. Für die Sozialisten und ihren Chef Olivier Faure wird es darum gehen, die Führungsrolle auf der linken Seite zurückzuerobern und Jean-Luc Mélenchon loszuwerden, den äußerst umstrittenen Chef der linkspopulistischen La France Insoumise. Bereits während des Wahlkampfs hatte Mélenchon für Spannungen gesorgt.
“Die französischen Wähler haben der EU gerade eine Atempause verschafft“, sagt Manon Dufour, Leiterin des Brüsseler Büros des Thinktanks E3G. “Mit einem geschwächten Präsidenten und einer Regierung, die mit politischen Spaltungen und einer starken Polarisierung der Wählerschaft beschäftigt ist, besteht das Risiko für Europa darin, dass Frankreich passiv und auf sich selbst bezogen ist”, sagt Dufour. “Die nächste französische Regierung wäre schlecht beraten, wenn sie ihre europäische Rolle in einem turbulenten geopolitischen Umfeld vernachlässigen würde.”
Auch bei den anstehenden Verhandlungen um den EU-Haushalt könne man nicht auf Frankreichs Einfluss verzichten. “Dieser Haushalt kann helfen, die weit verbreitete Wohnungskrise zu lösen, die Bürger vor den zunehmenden Klimaauswirkungen zu schützen und für Ernährungssicherheit zukünftiger Generationen zu sorgen”, sagt Dufour.
Vor der Sommerpause in Brüssel hat die Debatte um die Anti-Entwaldungs-Verordnung nochmal Fahrt aufgenommen. Die EVP-Fraktion hat vergangene Woche in Portugal unter anderem auch über ihre Position zu dem Gesetz beraten, das in wenigen Monaten umgesetzt werden soll. Im 5-Punkte-Plan, den die Abgeordneten am Ende beschlossen, ist nun die Rede davon, die Anwendung der Verordnung zu verschieben und “die Probleme im Zusammenhang mit ihrer Umsetzung zu lösen”. Die S&D-Fraktion hingegen hat ihren Forderungskatalog für die nächste Kommission während der letzten Abstimmungen ergänzt und erwähnt nun explizit, die Verordnung müsse bestehen bleiben.
Gemäß der Verordnung für entwaldungsfreie Lieferketten, so der volle Titel, müssen Unternehmen die Vorschriften ab dem 30. Dezember anwenden, kleinere Unternehmen ab Ende Juni 2025. Dann dürfen sie Einfuhren bestimmter Produkte – unter anderem Kakao, Kaffee, Palmöl, Soja und Holz – nur in der EU verkaufen, wenn die Lieferanten eine Sorgfaltserklärung eingereicht haben. Diese bestätigt, dass ein Produkt nicht von einer nach dem 31. Dezember 2020 abgeholzten Fläche stammt, und dass bei seiner Herstellung die lokale Gesetzgebung eingehalten wurde.
Viele kritisieren, dass die Kommission wichtige Grundlagen für die Umsetzung noch nicht vorgelegt habe, etwa bestimmte Leitlinien und das Länder-Benchmarking. Mit diesem will die Kommission jedem Land eine bestimmte Risikostufe für Entwaldung zuweisen. Auf dieser Basis gelten dann bestimmte Kontrollquoten für die einzelnen Produktgruppen: Die nationalen Behörden müssen pro Produktgruppe jeweils ein Prozent der Marktteilnehmer kontrollieren, die aus Ländern mit niedrigem Risiko importieren, drei Prozent bei Ländern mit Standardrisiko und neun Prozent bei Ländern mit hohem Risiko.
Bei der Abstimmung im EU-Parlament im April 2023 hatten die meisten Abgeordneten der EVP das Gesetz unterstützt. Der Luxemburger EVPler Christophe Hansen hatte als Berichterstatter die Verhandlungen mit Rat und Kommission geführt. Er äußert sich gelassen: “Wenn die Kommission in den nächsten Wochen den versprochenen Leitfaden und die Benchmarking-Methode vorlegt, gibt es keinen Grund für einen Aufschub.” Ein Aufschub verlängere möglicherweise auch die Zeit der Unsicherheit für die Unternehmen.
Der CDU-Abgeordnete Peter Liese, umweltpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion (der sich damals enthielt), ist der wohl lauteste Verfechter eines Aufschubs. In einem Pressegespräch Anfang der Woche nannte er das Jahr 2027 als seine Wunschfrist. “Wir können die Verschiebung kurzfristig im Dringlichkeitsverfahren annehmen, sodass alle Seiten erst mal Luft zum Atmen haben und dann in Ruhe über Änderungen am Text beraten, die weniger Bürokratie, aber trotzdem Schutz vor Entwaldung bedeuten”, sagte er. Er unterstütze die Ziele der Verordnung, bezichtigt aber Grüne, Sozialdemokraten, Linke und französische Liberale, ein “bürokratisches Monstrum” geschaffen zu haben.
“Wir stehen regelmäßig mit der EU-Kommission im Austausch und wissen, dass dort mit Hochdruck an der Umsetzung gearbeitet wird und alles nach Plan verläuft”, sagte Anna Cavazzini (Grüne), die ebenfalls an den Verhandlungen beteiligt war. “Nun den Forderungen nach einer Verschiebung nachzukommen, würde zu weniger Planungssicherheit für die Wirtschaft führen und die vorausschauenden Unternehmen bestrafen.” Für den Fall, dass die Kommission mit dem Länder-Benchmarking nicht fertig sein sollte, gebe es Vorkehrungen im Gesetz, so Cavazzini.
Liegt am 30. Dezember noch kein Benchmarking vor, gelten erst einmal alle Länder als “Standardrisiko”. Das bedeutet: Auch Länder mit einem niedrigen Risiko für Entwaldung – wie Deutschland – werden zunächst höher eingestuft.
“Es kann nicht sein, dass wir wie ein Hochrisikoland behandelt werden”, hatte Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) beim Agrarrat im April gesagt. “Das wird die letzten Wohlmeinenden im wahrsten Sinne des Wortes auf die Bäume treiben und die Akzeptanz für das Gesetz kaputt machen.” Im Ziel unterstütze die Bundesregierung die EU-Kommission, jedoch brauche es auf dem Weg dringend mehr Flexibilität.
Gemeinsam mit Ministern aus weiteren Mitgliedstaaten forderte Özdemir im Mai die EU-Kommission auf, schnell die noch fehlenden Grundlagen für das Inkrafttreten zu schaffen – oder die Umsetzung zu verschieben. Sie befürchten unverhältnismäßig hohen bürokratischen Aufwand für Verwaltung und Marktteilnehmer. Das IT-System und das Länder-Benchmarking seien zentrale Voraussetzungen für die Umsetzung.
Wann das Benchmarking fertig sein wird, dazu äußert sich die Kommission nicht. Nach Informationen von Table.Briefings liegt bereits ein Vorschlag vor; diesem muss jedoch noch auf höchster Ebene zugestimmt werden. “Die Arbeit der Kommission am Benchmarking ist noch nicht abgeschlossen“, sagte ein Sprecher zu Table.Briefings. Sie werde sich die nötige Zeit dafür nehmen, damit die Bewertung “auf der Grundlage einer wissenschaftlich und fachlich fundierten Methodik” geschehe. Sobald die vorläufigen Ergebnisse vorliegen, werde die Kommission einen Dialog mit den Ländern aufnehmen, die (ganz oder teilweise) als besonders risikoreich eingestuft wurden.
Eine Schnittstelle im IT-System “Traces” hat die Kommission in der Zwischenzeit eingerichtet. Über diese sollen Handelssysteme der Wirtschaft direkt an das System angebunden werden, um den Einzelnachweis für Entwaldungsfreiheit zu erbringen. Ein Sprecher des Bundeslandwirtschaftsministeriums (BMEL) sagte zu Table.Briefings, die Kommission hätte außerdem zugesichert, die Abgabe der Sorgfaltserklärung zu vereinfachen. Diese solle “mit nur wenigen Mausklicks” möglich sein. “Damit ist ein großer Schritt hin zu einer praktikablen Anwendung der Verordnung erfolgt”, so der Sprecher.
Auch Handelspartner der EU melden sich inzwischen zu Wort. Kürzlich berichtete die “Financial Times” über ein Schreiben von Ende Mai, in dem auch die US-Regierung die EU-Kommission zum Verschieben der Umsetzung auffordert. Die Vorgaben und Strafen würden vor allem die US-amerikanische Holz-, Papier- und Zellstoffindustrie hart treffen, heißt es demnach in dem Schreiben. Der dortige Wald- und Papierindustrie-Verband (AF&PA) halte es für unmöglich, das EU-Gesetz zu befolgen, da Papier und Zellstoff teilweise aus gemischten Abfällen hergestellt würden.
Die radikal-rechte PVV von Geert Wilders aus den Niederlanden sowie die sechs Abgeordneten der rechtspopulistischen Vox-Partei im Europaparlament folgen Viktor Orbán in die geplante neue Fraktion “Patrioten für Europa”. Die Vox-Abgeordneten aus Spanien verlassen dafür die EKR-Fraktion. Damit kommt diese Fraktion noch auf 78 Sitze und liegt mit zwei Sitzen knapp vor Renew.
Vox-Chef Santiago Abascal hatte am Freitag angekündigt, dass er und seine Mitstreiter sich der Rechtsfraktion anschließen wollen. Wilders schrieb bei X: “Wir wollen unsere Kräfte bündeln und werden uns mit Stolz den Patrioten für Europa anschließen.”
Rechtspopulisten um Viktor Orbán (Fidesz), Andrej Babiš (ANO) und Herbert Kickl (FPÖ) haben für den heutigen Montag die Gründung der neuen Fraktion angekündigt. Es wird damit gerechnet, dass Frankreichs Rassemblement National (RN) ebenfalls beitritt. Auch die portugiesische Chega hatte angekündigt, sich der Fraktion anzuschließen.
Man geht davon aus, dass weitere Delegationen der bisherigen rechtsextremen ID-Fraktion sich den “Patrioten” anschließen. Der RN hat 30 Sitze im nächsten Europaparlament, ANO bringt sieben Abgeordnete mit, die FPÖ sechs und der Fidesz elf. Es braucht 23 Abgeordnete aus sieben Mitgliedstaaten, um eine Fraktion zu gründen. Am Ende könnte die bisherige ID weitgehend in der neuen Fraktion aufgehen. mgr/dpa
Die EU-Kommission hat Amazon aufgefordert, im Rahmen des Digital Services Act (DSA) detaillierte Informationen über sein Empfehlungssystem zu übermitteln. Amazon muss darlegen, welche Maßnahmen das Unternehmen ergriffen hat, um die Verpflichtungen hinsichtlich der Transparenz von Empfehlungssystemen einzuhalten. Es geht auch um die Führung eines Anzeigenarchivs sowie des Risikobewertungsberichts. Die Frist zur Beantwortung endet am 26. Juli 2024.
Amazon war zuvor als sehr große Online-Plattform (VLOP) eingestuft worden. Zudem hatte der Gerichtshof der Europäischen Union Amazons Antrag abgelehnt, in dem das Unternehmen darum gebeten hatte, die Pflicht zur öffentlichen Bereitstellung des Anzeigenarchivs auszusetzen. Die Einstufung als VLOP verpflichtet Amazon, die vollständigen Anforderungen des DSA zu erfüllen.
Dazu gehört die Offenlegung der genutzten Algorithmen und der Optionen, die den Nutzern angeboten werden, um sich gegen die Erstellung von Profilen für die Empfehlungssysteme zu entscheiden. Amazon soll Informationen zur Transparenz der Empfehlungssysteme bereitstellen, einschließlich der verwendeten Eingabefaktoren, Merkmale, Signale, Informationen und Metadaten. Weiterhin verlangt die Kommission Angaben zum Design, zur Entwicklung, zum Einsatz, zur Prüfung und zur Wartung der Amazon Store Ad Library sowie unterstützende Dokumente zum Risikobewertungsbericht.
Die Kommission kann Geldstrafen verhängen, wenn die Informationen falsch, unvollständig oder irreführend sind. Die Antworten von Amazon werden die nächsten Schritte der Kommission bestimmen. Sie kann ein formelles Verfahren gemäß Artikel 66 des DSA einleiten. vis
Die Ursachen und Folgen des Klimawandels sowie mögliche Lösungen sind den über 50-Jährigen in Deutschland geläufiger als jüngeren Menschen. Das ergab eine Umfrage der Europäischen Investitionsbank (EIB). Dabei schnitten die 20- bis 29-Jährigen in Deutschland noch mal schlechter ab als die über 30-Jährigen. Auch im Vergleich zu anderen EU-Ländern schnitten die 20- bis 29-jährigen Deutschen schlechter ab.
Drei Viertel der Deutschen sehen demnach die Hauptursachen des Klimawandels in “menschlichen Aktivitäten wie Entwaldung, Landwirtschaft, Industrie und Verkehr”. Der Rest vermutet die Ursachen in “extremen Naturereignissen wie Vulkanausbrüchen und Hitzewellen” oder im Ozonloch.
Bei den Maßnahmen gegen den Klimawandel zeigt sich laut EIB ein anderes Bild. So gaben beispielsweise 43 Prozent der befragten Deutschen an, dass “niedrigere Tempolimits auf Straßen den Klimawandel eindämmen” können. EU-weit liegt der Durchschnitt bei dieser Frage nur bei 26 Prozent. Auch wisse nur eine knappe Mehrheit (53 Prozent, 42 Prozent im EU-Durchschnitt), dass besser gedämmte Gebäude gegen den Klimawandel helfen.
Beim EIB-Wissenstest über den Klimawandel, für den 30.000 Menschen aus 35 Ländern (EU, UK, USA, China, Japan, Indien und Kanada) befragt wurden, belegt Deutschland unter den EU-Mitgliedstaaten Platz 10 und liegt damit leicht über dem EU-Durchschnitt. Am besten schnitten Finnland, Luxemburg und Schweden ab. luk
Die neue britische Regierung will enger mit der EU zusammenarbeiten. “Diese neue Regierung im Vereinigten Königreich hat ihre Prioritäten sehr klar formuliert. Wir wollen einen Neustart – einen ‘Reset’ – unserer Beziehungen zu Europa”, sagte der britische Außenminister David Lammy im TV-Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters. Als erstes Land nach seiner Ernennung hatte Lammy am Wochenende Deutschland besucht.
Lammy betonte, dass auch die Labour-Regierung keinen EU-Beitritt anstrebe. “Wir werden weder dem Binnenmarkt noch der Zollunion wieder beitreten, aber es gibt vieles, was wir gemeinsam tun können.” Die neue Regierung wolle die Brexit-Jahre hinter sich lassen. “Das beginnt bei der Sicherheit und einem Sicherheitspakt zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU.”
Ein solcher Pakt könne Themen wie Verteidigung, Energie und Klima umfassen und sehr breit angelegt sein. Lammy kündigte zudem eine Überprüfung der Handelsbeziehungen zwischen dem Königreich und der EU an. “Ich möchte ganz klar sagen, dass die Europäer unsere Freunde sind und dass wir angesichts des Krieges in Europa unsere Verteidigungsausgaben weiter erhöhen und eng zusammenarbeiten müssen.”
Auch der neue britische Handelsminister Jonathan Reynolds sprach sich für eine engere Zusammenarbeit mit der EU aus. Großbritannien und die Europäische Union hätten beispielsweise dieselben Lebensmittelstandards, sagte Handelsminister Reynolds dem Sender Sky News. “Wenn wir mehr Whisky und Lachs auf einem für uns so wichtigen Markt verkaufen können, dann sollten wir solche Möglichkeiten ausloten.”
Der Politiker der sozialdemokratischen Labour-Partei machte die konservative Vorgängerregierung für Probleme im bilateralen Handel verantwortlich. “Um ehrlich zu sein, liegt es sehr im nationalen Interesse Großbritanniens, eine Beziehung zu Europa aufzubauen, die nicht von der internen Politik der Konservativen Partei bestimmt wird”, sagte Reynolds.
EU-Diplomaten und deutsche Wirtschaftsvertreter kritisierten die Starrköpfigkeit der abgewählten Regierung. Reynolds deutete nun “vernünftige, pragmatische” Lösungen an, etwa bei der gegenseitigen Anerkennung beruflicher Qualifikationen oder Visaregeln für Künstler und Musiker. Es ergebe Sinn, solche Hürden zu beseitigen.
Eine Rückkehr in die EU schloss auch der Wirtschaftsminister nachdrücklich aus. “Wir sind nicht offen für die Freizügigkeit von Personen, das ist Teil einer EU-Mitgliedschaft, und das werden wir nicht wieder aufgreifen”, sagte Reynolds. Grundsätzlich liege aber eine enge Zusammenarbeit im gegenseitigen Interesse der Europäischen Union und des Vereinigten Königreichs.
Großbritannien war Ende Januar 2020 aus der EU ausgetreten und ist seit 2021 auch nicht mehr Mitglied der EU-Zollunion und des Binnenmarkts. Trotz eines Freihandelsabkommens gibt es seitdem Hürden im bilateralen Warenaustausch. rtr/dpa
Die Wählerinnen und Wähler im Vereinigten Königreich haben mit dem Sieg von Keir Starmers Labour-Partei in den britischen Unterhauswahlen eine lange Serie politischer Fehleinschätzungen und persönlicher Unzulänglichkeiten der britischen Tories bestraft. Das deutliche Ergebnis erinnert an Tony Blairs legendären Wahlsieg im Jahr 1997. Aufseiten der Konservativen haben elf Kabinetts-Mitglieder ihre Wahlkreise verloren, darunter sowohl Ex-Premierministerin Liz Truss als auch politische Hoffnungen wie Penny Mordaunt.
Zwar wurde der Sieg von Labour in England, Schottland, Nordirland und Wales hochgradig begünstigt durch ein eigentlich für ein Zwei-Parteien-System entwickeltes Mehrheitswahlrecht. Der Anteil der Wählerstimmen ist tatsächlicher minimal höher als bei Labours Niederlage 2019, und der Sieg somit auch zurückzuführend auf spaltende Kräfte wie die populistische Reformpartei sowie die Renaissance der Liberal Democrats. Er ist aber auch das Ergebnis eines von Labour strategisch überlegt geführten Wahlkampfes.
In allererster Linie ist er jedoch Ausdruck der unbändigen Wut britischer Wähler auf den schleichenden wirtschaftlichen Niedergang der letzten 15 Jahre. Britische Reallöhne im Jahr 2023 waren niedriger als im Jahr 2008, der durchschnittliche britische Haushalt mit mittlerem Einkommen ist heute 20 Prozent ärmer als sein Pendant in Deutschland. Wichtigster Treiber ist ein Produktivitätsrückstand, der sich seit 2008 im Vergleich mit Ländern wie Deutschland und Frankreich verdreifacht hat.
Der EU-Austritt verschärfte langjährige und tief verwurzelte Probleme, insbesondere eine toxische Kombination aus niedrigem Wachstum und hoher regionaler Ungleichheit. Im Gegensatz zu Blair steht Keir Starmer heute somit vor einer finanziellen Lage, die eher mit der Ausgangssituation der Labour-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen ist.
Leicht zu vergessen ist vor diesem Hintergrund, dass UK weiterhin zu den reichsten und ressourcenstärksten Ländern der Welt gehört. Die sechstgrößte Volkswirtschaft bringt weltweit führende Unternehmen in Zukunftssektoren wie Finanzdienstleistungen, Luft- und Raumfahrt, Biowissenschaften, sowie in der Kreativwirtschaft und Bildung hervor. Hinzu kommen Vorteile in der Produktion erneuerbarer Energien. Der Fokus der Labour-Partei liegt entsprechend auf der Wiederbelebung der britischen Wirtschaft.
Britische soft power, diplomatischer Einfluss und militärische Ressourcen (einschließlich der Stellung als Nuklearmacht) machen das Land jedoch auch zu einem relevanten Akteur in der europäischen Sicherheit. Der Wunsch von Labour nach einem Sicherheitspakt mit der EU wird in Brüssel entsprechend auf Offenheit stoßen. Die unruhige Situation in Frankreich schafft zudem neuen Raum für eine stärkere britisch-deutsche Achse – tatsächlich stehen beide Länder kurz vor einem neuen bilateralen Sicherheitsabkommen.
Doch wenn die vorsichtige Neuorientierung der Labour-Partei in Richtung Europa zu greifbaren Ergebnissen führen soll, bedarf es beidseitiger Bewegung. Die EU hat seit Abschluss der Brexit-Verhandlungen im Jahr 2020 keine erkennbare politische Position zu ihren Beziehungen zum Vereinigten Königreich geäußert, die den geopolitischen Entwicklungen seitdem Rechnung tragen würden. Anstrengungen der EU für eine neue europäische Sicherheitsordnung durch verstärkte wirtschaftliche Sicherheit, EU-Erweiterung und strategische Zusammenarbeit mit “like-minded allies” bieten nun neue Räume für Kooperation mit einem Vereinigten Königreich, das Europa zugewandt ist.
Für die Neugestaltung der EU-UK-Beziehungen sollten beide Seiten zügig gemeinsame strategische Prioritäten festlegen und das institutionelle Rückgrat der Zusammenarbeit stärken. Gipfeltreffen (wie die EU sie mit Norwegen, der Schweiz oder der Türkei unterhält) würden eine neue Ära der verbesserten Zusammenarbeit unterstreichen. Zudem kann die außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit auch ohne EU-Mitgliedschaft Großbritanniens durch eigens eingerichtete Strukturen verbessert werden.
Die schrittweise Vertiefung und Ausweitung der derzeitigen Handels- und Investitionsbeziehungen sollte in einem parallelen und einheitlichen Prozess erfolgen. Dies erfordert ein neues Maß an Pragmatismus, Flexibilität und politischer Kohärenz seitens der EU, der es oft schwerfällt, Sicherheit und Wirtschaft zusammenzudenken. Fortschritte in diesem Bereich würden sicherlich den Anspruch Brüssels untermauern, ein kohärenter geopolitischer Akteur zu werden.
Die innenpolitische Dynamik in UK bleibt jedoch trotz der Mehrheit von Labour weiterhin relevant. Zum einen könnten neue Stimmen der großen Labour-Fraktion Druck ausüben, die Annäherung an die EU ehrgeiziger zu gestalten. Das starke Abschneiden der pro-europäischen Liberal Democrats, die 72 Sitze gewonnen haben, würde diesen weiter erhöhen.
Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die populistische, inhaltlich substanzlose Reformpartei 14 Prozent der Stimmen britischer Wähler bekommen hat. Dieses bemerkenswerte Ergebnis ist zweifellos eine Erinnerung an das volatile politische Klima dieses Jahrzehnts. Parteiführer Nigel Farage, ein überaus geschickter politischer Akteur, hat mit dem Einzug ins Parlament eine neue politische Bühne gewonnen. Er wird sie zu nutzen wissen.
Jake Benford ist Europa-Experte der Bertelsmann Stiftung. Seine neue Publikation “Eyes on the Prize: Shifts in EU interests require a reassessment of relations with the United Kingdom” (mit Daniela Schwarzer) finden Sie hier.