es wird heute in Brüssel eine dreifache Premiere geben: Erstmals hält die EU einen Gipfel ausschließlich zur Verteidigung ab. Erstmals seit Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus kommen die Staats- und Regierungschefs zusammen. Und erstmals seit dem Brexit sitzt zumindest zeitweise wieder ein britischer Premier mit am Tisch.
Auch das neue Format des Retreats unterstreicht den geopolitischen Kontext. Der EU-Ratspräsident António Costa plant im Brüsseler Egmont-Palast ein Brainstorming ohne schriftliche Schlussfolgerungen. Doch was ist von der Klausur zu erwarten? Costa will zur Diskussion stellen: Was wollen die EU-Staaten mit Blick auf Europas Verteidigung gemeinsam tun. Und bei welchen Fähigkeiten bestehen die größten Defizite. Wie soll außerdem finanziert werden, was man als EU gemeinsam angehen will.
Dem EU-Ratspräsidenten ist dabei die Reihenfolge wichtig. Zuerst die Bedarfsanalyse, dann die leidige Geldfrage mit dem programmierten Streit um mögliche gemeinsame Schulden. Wobei einige Mitgliedstaaten auch bei der Bedarfsanalyse Fragezeichen sehen. Die EU müsse sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, nämlich eine Konsolidierung der Rüstungsindustrie zu unterstützen und deren Zugang zu Krediten zu verbessern.
Immerhin ist zum Mittagessen auch Nato-Generalsekretär Mark Rutte dabei, um vor Doppelstrukturen zu warnen. UK-Premier Keir Starmer stößt dann am Abend hinzu. Donald Trump zwinge Briten und Festland-Europäer, zusammenzurücken, sagen Diplomaten dazu. Erwartet wird, dass Dänemarks Mette Frederiksen das Thema Grönland vorbringt. Man sei gegenüber Trump bisher damit gut gefahren, Ruhe zu bewahren, Geschlossenheit zu demonstrieren und nicht auf jede Provokation zu reagieren, zeigen Diplomaten sich gelassen. Keine Schlussfolgerungen müssten nicht bedeuten, dass der Gipfel keine Ergebnisse bringen werde. Die Klausur soll die Richtung für das Weißbuch zur Verteidigung vorgeben, das die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas am 19. März präsentieren soll.
Kommen Sie gut in die Woche,
Wird ein Rechtsradikaler erstmals mit den Stimmen der Christdemokraten zum Regierungschef in Österreich gewählt? Das ist nicht ausgeschlossen. FPÖ-Chef Herbert Kickl, der die Wahlen gewonnen hatte, verhandelt mit der zweitplatzierten ÖVP über die Bildung einer Koalition. Wie zu hören ist, verlaufen die Gespräche schwierig, bis 15. Februar soll es eine Entscheidung geben. Auch ein Scheitern wird nicht ausgeschlossen.
Raufen sich aber FPÖ und ÖVP zusammen und bilden eine Regierung unter Führung der Rechtsradikalen, so provoziert diese Kapitulation der ÖVP die unangenehme Frage an den Chef der europäischen Parteienfamilie EVP, Manfred Weber (CSU): Gehört die ÖVP dann noch in die EVP? Es gibt keinen Zweifel, dass der EU-Hasser und Putin-Freund Kickl und seine Politik gegen die drei Kriterien verstoßen, die Weber zur Bedingung für eine Kooperation auf EU-Ebene gemacht hat:
Offiziell sagt Manfred Weber nichts zu der Frage in diesen Tagen. Er steht in engem Kontakt mit Reinhold Lopatka, der die fünf ÖVP-Abgeordneten in der EVP-Fraktion anführt. Europaabgeordneter Dennis Radtke (CDU) hatte Anfang Januar auf X vor einem “Horrorszenario” gewarnt, sollten die “Christdemokraten zum Steigbügelhalter für einen ,Volkskanzler’ Kickl” werden. In einer Fraktionssitzung hatte es kritische Fragen von Peter Liese (CDU) an Lopatka gegeben. Lopatka, der bei einer FPÖ-ÖVP-Koalition als möglicher Außenminister gilt, will im Koalitionsvertrag die drei Kriterien Webers für eine Zusammenarbeit festschreiben. Die Logik: Sollte Kickl ausfällig werden gegen die EU und gegen die Ukraine, dann würde die ÖVP die Koalition brechen.
Den Rauswurf der ÖVP aus der EVP fordert dem Vernehmen nach kein Christdemokrat aus der europäischen Parteienfamilie. Es wird eher darauf verwiesen, dass es Haltelinien in der österreichischen Verfassung gebe. So gebe es einen Ausschuss im österreichischen Parlament, in dem die Abgeordneten die Linie vorgeben können, die der österreichische Bundeskanzler auch im Europäischen Rat nicht überschreiten dürfe.
In den Meinungsumfragen hat die FPÖ seit den Wahlen zugelegt. Sollte die Regierungsbildung scheitern und käme es zu Neuwahlen, wäre die FPÖ der Profiteur und würde mit weiteren Abgeordneten ins Parlament einziehen. Kickl spekuliere daher auf Neuwahlen, heißt es. Wenn die FPÖ-Fraktion noch mehr Abgeordnete stelle, könnte es auch keine Sperrminorität mehr gegen sie in dem Ausschuss geben, der die Linien für den Europäischen Rat bestimmt.
Eine FPÖ-ÖVP-Regierung wäre eine Grenzüberschreitung. Im Gegensatz zur italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni von der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia ist Kickl nicht pro-europäisch. Die FPÖ hat sich in der Europapolitik radikalisiert, wobei sich Kickl zuletzt weniger über Brüssel kritisch geäußert hat.
Zusätzliche Sicherungen fordert der ÖVP-Politiker Othmar Karas, der früher Vizepräsident des Europäischen Parlaments war. “Eine Präambel (im Koalitionsvertrag, die Red.) reicht nicht“, sagte Karas dem ORF. “Das Niederschreiben von Selbstverständlichkeiten ist noch keine Europapolitik.” Es müsse klar sein, wofür Österreich einsteht, etwa bei Sanktionen gegen Russland, der Unterstützung der Ukraine, den Klimazielen oder der Wettbewerbsfähigkeit.
Scharfe Warnungen kommen von den Grünen. “Sollte die ÖVP Kickl zum Kanzler machen, muss sie aus der EVP geworfen werden”, fordert der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund. Die FPÖ sei korrupt, kremlhörig, europafeindlich und rechtsextrem. “Mit solchen Parteien koaliert man nicht, Punkt.” Freund appelliert auch an die EU-Kommission: “Wenn die FPÖ mit ÖVP-Unterstützung auf Viktor Orbáns Spuren wandelt und die Demokratie demontiert, darf es keine EU-Gelder mehr für Österreich geben.”
Ähnlich hatte sich zuvor Grünen-Fraktionschefin Terry Reintke geäußert. Kickl stehe im Konflikt mit den Grundwerten der EU, sagte sie. “Ein österreichischer Bundeskanzler Kickl würde die EU vor eine ernste Bewährungsprobe stellen.” Sorgen macht sich die deutsche Grünen-Politikerin vor allem um die Außenpolitik. “Gemeinsam mit Viktor Orbán und anderen prorussischen Kräften könnten die Ukraine-Hilfe und die Sanktionen gegen Moskau weiter torpediert werden.”
Demgegenüber hat Übergangskanzler Alexander Schallenberg versucht, die Sorgen zu zerstreuen: “Österreich ist und bleibt ein verlässlicher und konstruktiver Partner in der Europäischen Union”, erklärte er Mitte Januar bei einem Besuch in Brüssel. Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und freie Medien seien auch unter der neuen Regierung nicht verhandelbar. Seither hat sich die Kritik an Österreich in Brüssel etwas gelegt.
Das Jahr 2024 wird als annus horribilis in die politischen Annalen Frankreichs eingehen: Vier Regierungschefs in einem Jahr, das letzte Mal kam dies 1934 vor. Dann die Entdeckung eines abgrundtiefen Defizits und noch immer kein Staatshaushalt. Die Lage ist so desolat, dass Premierminister François Bayrou ankündigte, heute den Staatshaushalt womöglich mit Hilfe einer Ausnahme in der französischen Verfassung ohne Abstimmung durchs Parlament zu bringen.
Zudem Regierungen, die Misstrauensanträgen ausgeliefert sind. Außerdem sind wichtige Gesetze in der Schwebe, wie das Gesetz zur Ausrichtung der Landwirtschaft oder das Gesetz über die Neuausrichtung der Sterbehilfe. Kurzum, ein Land, das ohne Kurs ist und auf Stillstand reduziert wird. Diese Situation hat Präsident Emmanuel Macron herbeigeführt, als er am Abend der Europawahlen im Juni 2024 überraschend die Auflösung der Nationalversammlung ankündigte. Nun zahlt er den politischen Preis dafür.
Die Entscheidung, vorgezogene Wahlen auszurufen, können die Franzosen – auch die ehemaligen Unterstützer des Staatschefs – nach wie vor nicht verstehen. Sie hat zu einer Marginalisierung des Präsidenten geführt, beobachtet Vincent Martigny, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Côte d’Azur in Nizza und assoziierter Forscher an der Sciences Po. “Die Auflösung der Nationalversammlung hat zu einer regelrechten Zerreißprobe innerhalb seines eigenen Lagers geführt”, sagt Martigny.
Der ehemalige Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Lemaire hatte nach der Ankündigung der Parlamentsauflösung einen Präsidenten beschrieben, der unter dem Einfluss eines kleinen Kreises politischer Berater gehandelt habe: “Die Parkettböden der Ministerien und der Paläste der Republik sind voller Kellerasseln.” Sein ehemaliger Premierminister, der beliebte Edouard Philippe, derzeit Bürgermeister der Stadt Le Havre in der Normandie, hatte erklärt, dass sein Ziel “nicht darin besteht, die alte präsidiale Mehrheit aufzubauen”. Ihm gehe es vielmehr darum, eine “neue präsidiale Mehrheit” zu schaffen. Diese Formulierung ist als klare Distanzierung von Emmanuel Macron zu verstehen.
Der kometenhafte Aufstieg von Gabriel Attal, der plötzlich Premierminister war, wurde durch die Auflösung der Nationalversammlung abrupt gestoppt. Seitdem sind die Beziehungen zwischen Macron und Attal, Chef sowohl der macronistischen Partei Renaissance als auch der Fraktion in der Nationalversammlung, “gegensätzlich”, wie aus Paris berichtet wird. Derzeit versucht Attal, die Renaissance-Partei fit zu machen. Sie muss kampagnenfähig werden für die Präsidentschaftswahlen, die für 2027 geplant sind. Viele Mitglieder haben der Partei den Rücken gekehrt. Attal geht merklich auf Distanz zu Macron. Wohl auch, um seinen eigenen politischen Ruf aufzupolieren.
Das schnelle Ende der Regierung von Michel Barnier nach nur drei Monaten und die anschließende Ernennung von François Bayrou, offensichtlich gegen die Interessen Macrons, haben den Staatspräsidenten geschwächt. Inzwischen gilt er auf nationaler Ebene weitgehend als isoliert. “Der Präsident muss sich mit seinem exklusiven Bereich, nämlich den internationalen Angelegenheiten, begnügen. Er ist heute nicht mehr in der Lage, sich in der Innenpolitik gegen ein Parlament und eine Regierung durchzusetzen, die ihm entgleiten”, erklärt Politixexperte Vincent Martigny.
Mit dem Aufrollen der umstrittenen Rentenreform macht Bayrou deutlich, dass er sich unabhängig gemacht hat von Macron. Er kümmert sich – erkennbar mit anderen politischen Zielen – um das Politikfeld, das die große soziale Baustelle der zweiten Amtszeit des Staatschefs sein sollte. Vor allem ändert Bayrou dabei radikal die Methode: Macron hatte die Sozialpartner, also Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, von den Gesprächen über die Rentenreform ausgeschlossen. Bayrou hingegen öffnet ihnen die Tür. “Da es in der Nationalversammlung keine Mehrheit gibt, gewinnen die Sozialpartner wieder an Stärke. Sie einzubeziehen ermöglicht es, Projekte zu legitimieren”, analysiert Thierry Pech, Generaldirektor des Think Tanks Terra Nova.
Es ist das erste Mal, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber bei dieser Reform mitreden. Mitte Januar fand das erste Treffen zwischen der Regierung Bayrou und Gewerkschaften sowie Unternehmerverbänden statt. Damit ist ein neues Kapitel im Ringen um diese Reform aufgeschlagen. Bayrou hat “Ende Mai” als Ziel für eine Einigung zwischen den Sozialpartnern gesetzt.
Der ehemalige hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) hat von der EU mehr Zusammenarbeit und neue Ideen für Erfolg auf internationaler Bühne gefordert. “Die Welt da draußen muss wieder spüren, dass wir Europäer einen Plan haben und dass wir Willens und in der Lage sind, den auch umzusetzen”, sagte Koch zu Table.Briefings.
Die EU brauche neue Ziele bei der Kooperation untereinander und für Wettbewerbsfähigkeit. “Das Fehlen solcher Impulse war der Grund für die mangelnde Wertschätzung der Amerikaner.” Koch warf europäischen Staats- und Regierungschefs einen “Totalausfall an politischer Führung” vor. Und ließ in dem Zusammenhang Kritik an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen anklingen: “Das überhöht auch die Rolle der EU-Kommissionspräsidentin, die eigentlich vor allem die Hüterin der Grundsätze ist und nicht die Chefin einer Regierung. Aber wenn alle anderen ausfallen, können wir froh sein, dass wir sie haben.”
Er erwarte vom nächsten Bundeskanzler, “dass er Tusk, Macron und Meloni schnell zusammenbringt und zu einer gemeinsamen Position zusammenführt.” Dann werde die Mehrheit “der europäischen Länder dankbar und bereitwillig” folgen. Im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit sei die EU “stark davon ausgegangen, dass europäische Standards sehr attraktiv sind und wir sie deshalb zum eigenen Nutzen für die ganze Welt prägen können”, sagte Koch. Aber mit Donald Trump als neuen US-Präsidenten müsse sich die Staatenunion fragen, welche “Regularien, Beschränkungen, Fesseln wir noch verkraften können“, ohne an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren.
Zudem schlug Koch eine erweiterte Handelspolitik mit Drittländern vor. “Im wirtschaftlichen Wettbewerb der Blöcke, die gerade entstehen, ist die Milliardengrenze eigentlich die untere kritische Grenze für Marktteilnehmer, für Relevanz, für wirtschaftliche Entwicklung, für politische Kraft.” Die EU müsse daher stärker mit Ländern wie Norwegen, der Ukraine, Israel zusammenarbeiten und dafür sorgen, dass “in 30, 40 Jahren auch die Staaten Nordafrikas zu unserer wirtschaftlichen Hemisphäre gehören”. mbn
Auch der dritte Versuch Italiens, in Albanien Asylschnellverfahren durchzuführen, ist gescheitert. Am Freitag hat das Berufungsgericht in Rom, das seit neustem für dieses Thema zuständig ist, die Unterbringung von Migranten in den von Italien betriebenen Asylzentren unterbunden. Am Samstagabend gingen daraufhin 43 Migranten, die in der vergangenen Woche von der italienischen Küstenwache vor Lampedusa im Mittelmeer aufgegriffen und in die Zentren nach Albanien gebracht worden waren, in Bari (Apulien) an Land.
Die Männer, die nach Albanien gebracht worden waren, stammen aus Bangladesch, Ägypten, Gambia und der Elfenbeinküste. Diese Staaten werden in einem Dekret der italienischen Regierung als sicher eingestuft. Über diese Eingruppierung und die Frage, wer die Kompetenz dazu hat, diese festzulegen, hat sich in den vergangenen Monaten ein Streit zwischen Regierung und Justiz in Italien entsponnen. Es geht aber auch um den Vorrang Europäischen Rechts vor italienischem.
Das Berufungsgericht in Rom berief sich in seiner Entscheidung am Freitagabend wie auch das zuvor zuständige Zivilgericht im November auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 4. Oktober 2024. Demnach können Herkunftsstaaten nur als “sicher” gelten, wenn diese Einschätzung auf das ganze Land zutrifft. Die Frage, wann ein Staat als sicherer Herkunftsstaat gelten kann, wurde von den italienischen Richtern nun erneut zur Klärung an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weitergegeben. Erwartet wird, dass sich dieser in seiner Sitzung am 25. Februar mit dem Thema befasst.
Laut La Repubblica gibt es in der rechtsnationalen Regierung von Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia) bereits Überlegungen, erneut Einfluss auf die Zusammensetzung der Richter zu nehmen, die über die Asylzentren in Albanien entscheiden. Erst vor wenigen Wochen war der Einwanderungsabteilung des Zivilgerichts in Rom die Zuständigkeit genommen und diese an das Berufungsgericht in Rom gegeben worden.
Die Regierung hatte den Richtern politische Gründe für ihre Entscheidung vorgeworfen. Die fünf Richter, die am Freitag gegen die Unterbringung der 43 Migranten in Albanien votiert haben, waren aber genau jene, die zuvor am Zivilgericht über die Asylzentren entschieden hatten. Der Präsident des Gerichts hatte sie aus ihrer vorherigen Abteilung ausgeliehen, um sein Personal für die nun zusätzliche Arbeit aufzustocken. Damit werde das Parlament “auf die Schippe genommen”, heißt es aus Abgeordnetenkreisen.
Als Digital Services Coordinator (DSC) im Rahmen des Digital Services Act (DSA) hat die Bundesnetzagentur am Freitag gemeinsam mit der EU-Kommission einen Stresstest (Tabletop Exercise) im Vorfeld der Bundestagswahl durchgeführt. “Was wir vergangene Woche mit den großen Online-Plattformen vereinbart haben, wurde heute praktisch getestet”, sagte Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur und kommissarischer Leiter des DSC.
Mögliche Verstöße seien realistisch simuliert, die Meldewege und Mechanismen der Plattformen getestet sowie die relevanten Wege zum Informationsaustausch und erforderliche Maßnahmen eingeübt worden. “Als DSC sind wir vorbereitet, die Aufgabenverteilung der nationalen Behörden und unsere Kommunikationswege zu allen relevanten Akteuren stehen”,
sagte Müller.
An der Simulationsübung nahmen demnach Vertreterinnen und Vertreter von Google (Youtube), Linkedin, Microsoft, Meta (Facebook, Instagram), Snapchat, Tiktok und X sowie von nationalen Behörden und zivilgesellschaftlichen Organisationen teil. vis
Die vergangenen Wochen haben erneut gezeigt, dass Europa seine Wettbewerbsfähigkeit steigern und seinen Binnenmarkt stärken muss. Als Technologie- und Innovationsstandort ist Europa nur die Nummer drei hinter den USA und China, die sich in zentralen Bereichen immer weiter absetzen. “Wir müssen erkennen, dass wir dieses Problem nur von innen heraus lösen können. Von außen wird uns niemand helfen“, sagte Enrico Letta, ehemaliger italienischer Premierminister und Autor des Binnenmarktberichts Much More Than a Market am Freitag in Berlin.
Letta war Teilnehmer der Diskussion “Don’t Stop Innovating: Europe’s Path to Tech Leadership”, organisiert von der Innovate Europe Foundation, dem Jacques Delors Centre und der European School of Management and Technology Berlin (ESMT). Neben Letta nahmen an der Diskussion ESMT-Professor Lars-Hendrik Röller, ehemaliger wirtschaftspolitischer Berater der Bundesregierung, René Obermann, Geschäftsführender Direktor und Europa-Vorsitzender von Warburg Pincus sowie Aufsichtsratschef von Airbus, und Annika von Mutius, Gründerin des KI-Start-ups Empion, teil.
Einig waren sich die Teilnehmer, dass Europa einen strukturellen Innovationsrückstand hat – und dass sich daran nur etwas ändern wird, wenn die Politik schneller handelt. “Wir haben keine vier oder fünf Jahre, um nachzudenken. Wenn Europa im globalen Innovationswettlauf nicht sofort handelt, werden wir technologisch irrelevant”, sagte Röller.
Ein zentraler Diskussionspunkt war die europäische Regulierung. “Start-ups in Europa kämpfen mit einer Regelwut, die sie von Beginn an ausbremst”, kritisierte Obermann. “Wir müssen den Mut haben, bestimmte Regularien radikal zu vereinfachen, sonst werden wir immer hinterherlaufen.” Letta schlug vor: “Wir müssen aufhören, Direktiven zu nutzen, die dann in jedem Land unterschiedlich umgesetzt werden. Stattdessen brauchen wir einheitliche Verordnungen, um echte Wettbewerbsfähigkeit zu ermöglichen.” Röller forderte eine klare Industriepolitik. “Es reicht nicht, nur über Regulierung zu sprechen – die EU muss gezielt in Schlüsseltechnologien investieren, anstatt Innovationen durch zu viele Auflagen zu behindern.”
Die Einführung des europäischen AI Acts sollte Klarheit und Sicherheit für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz schaffen. Doch viele Unternehmen sehen darin eine Wachstumsbremse – insbesondere Start-ups. Gründerin Annika von Mutius berichtete aus eigener Erfahrung: “Der AI Act ist für kleine Unternehmen ein Albtraum. Während große Konzerne die bürokratischen Hürden leicht nehmen, stehen Start-ups vor einer Wand aus Dokumentationspflichten, die sie ausbremsen.” Sie warnte, dass längere Entscheidungswege und regulatorische Unsicherheit Start-ups in die USA oder Asien abwandern lassen könnten.
Auch das europäische Finanzierungssystem sei ein großes Problem. Während in den USA Milliarden Dollar von privaten Pensionsfonds in Technologieunternehmen investiert werden, fehlt in Europa eine vergleichbare Kapitalquelle. “Wir haben genug Kapital in Europa – es ist nur zu fragmentiert”, sagte Obermann. “Deutsche Versicherungen investieren Milliarden in US-Technologieunternehmen, anstatt in europäische Start-ups. Wir müssen diese Kapitalströme zurück nach Europa lenken.”
Enrico Letta warb erneut für sein Konzept der fünften Freiheit. Neben den vier bestehenden Freiheiten des Binnenmarkts (Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen) fordert er eine zusätzliche: die freie Bewegung von Wissen, Forschung, Innovation und Bildung. Seine Vision: ein gesamteuropäisches Innovations-Ökosystem, das Investitionen bündelt und grenzübergreifend Innovationen vorantreibt. “Europa hat das Potenzial, ein globaler Technologieführer zu sein. Aber wir müssen endlich verstehen, dass Innovation keine nationale, sondern eine europäische Aufgabe ist.” vis
Wegen mangelnder Zusammenarbeit mit Polizeibehörden anderer EU-Länder hat die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland und 17 weitere Mitgliedstaaten eingeleitet. Die Länder hätten die Richtlinie zum Informationsaustausch zwischen Strafverfolgungsbehörden nicht vollständig umgesetzt, erklärte die Kommission am Freitag. Demnach sollen mit der Richtlinie Straftaten in der EU besser aufgeklärt werden können.
Die Richtlinie soll es Ermittlern ermöglichen, “gleichwertigen Zugang zu den Informationen zu erhalten, die ihren Kollegen in einem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung stehen”. Auch gegen unter anderem Belgien, Frankreich, Spanien und Frankreich leitete die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren deshalb ein. Die Staaten haben nun zwei Monate Zeit, darauf zu reagieren. mbn
In Belgien wird es erstmals eine von der rechten Partei N-VA angeführte Regierung geben. Knapp 240 Tage nach der Parlamentswahl wird der belgische König an diesem Montag die neue Regierung vereidigen. Neuer Premierminister soll der N-VA-Vorsitzende Bart de Wever werden, der auch gleich am informellen EU-Gipfel teilnehmen will. Der 54-Jährige de Wever ist bislang Bürgermeister von Belgiens zweitgrößter Stadt Antwerpen.
Am Freitagabend war es den flämischen Nationalisten der N-VA gelungen, sich mit vier weiteren Parteien auf eine Koalition zu verständigen. Ein drastischer Rechtsruck ist in Belgien trotz der Regierungsbeteiligung der bei der Wahl im Juni siegreichen N-VA nicht zu erwarten. Die anderen Parteien der Mitte haben zusammen weiter eine klare Mehrheit in der Koalition. Zu ihnen gehören die liberale Partei MR aus der französischsprachigen Wallonie, die Christdemokraten aus beiden Landesteilen sowie die flämischen Sozialdemokraten.
Neben dem Premierminister wird die N-VA in der neuen Regierung den Posten des Verteidigungsministers (Theo Francken), der Migrationsministerin (Anneleen Van Bossuyt) sowie den des Finanzministers (Jan Jambon) besetzen. Jambon war bereits zwischen 2014 und 2018 unter dem damaligen liberalen Regierungschef Charles Michel Innenminister gewesen, Francken Staatssekretär für Asyl und Migration. dpa
Seit mehr als einem Jahrzehnt schlummert die Europäische Union am digitalen Kontrollpult, ignoriert die blinkenden roten Warnlichter. Amerikanische und chinesische Social-Media-Plattformen, zusammen mit russischen Troll-Armeen, untergraben unsere Demokratien und richten Chaos in unseren politischen Systemen an.
Ähnlich wie Wladimir Putins Kontrolle über Europas Energieversorgung unsere Schwächen offenlegte, zeigt die amerikanische und chinesische Dominanz in der digitalen Öffentlichkeit Europas eine gefährliche Abhängigkeit von ausländischer kritischer Infrastruktur.
X-Plattform-Besitzer Elon Musks Einfluss reicht noch weiter: Über seine Platfform fördert er Extremismus und ruft offen zu einem Regimewechsel in Europa auf. Doch anstatt X abzuschalten, nutzen und finanzieren wir es weiterhin. Dies ist ein gefährlicher Akt der Selbstverletzung – oder Schlimmeres.
Die bisherige Strategie, primär auf Regulierung zu setzen, reicht nicht aus. Es ist Zeit für eine aktive digitale Industrie- und Investitionspolitik. Europa muss eigene Plattformen entwickeln und ein resilientes digitales Ökosystem aufbauen, das unseren Werten entspricht. Die Lösung liegt in einem europäischen Plattformprogramm nach dem Vorbild des Airbus-Konsortiums, das Europas Unabhängigkeit in der Luftfahrt sicherte. Ein solcher strategischer Ansatz könnte europäische Innovation fördern und gleichzeitig Europa vor externer Manipulation schützen.
Ein solches Programm sollte:
Wer soll das bezahlen? Die Finanzierung eines solchen Fonds könnte teilweise durch Abgaben auf nicht-europäische Tech-Giganten wie X, Meta, Google und TikTok erfolgen. Diese Unternehmen haben massiv von europäischen Nutzern profitiert, ohne nennenswert in das europäische digitale Ökosystem zu investieren. Die Reinvestition dieser Mittel in eine europäische digitale Infrastruktur sollte als Wiedergutmachung für die angerichteten Schäden betrachtet werden. So könnte der Fonds zum Beispiel die Übernahme des europäischen Geschäfts von X und TikTok finanzieren oder absichern.
Die EU hat ihre Abhängigkeit von russischer Energie erst nach Putins Krieg gegen die Ukraine reduziert. Diese Fehler dürfen sich in der digitalen Souveränität nicht wiederholen. Europa muss die Kontrolle über seine digitale Infrastruktur zurückgewinnen und gleichzeitig etwas Besseres schaffen – eine digitale Öffentlichkeit, die Europa verbindet, nationale Grenzen überwindet und eine gemeinsame Identität stärkt.
Die Zeit zum Handeln ist jetzt. Ein europäisches Plattformprogramm kann die digitale Schlacht um Europa in eine Chance für Innovation, demokratische Resilienz und digitale Souveränität verwandeln. Weitere europäische Prokrastination ist keine Option.
André Wilkens ist Direktor der European Cultural Foundation in Amsterdam. Er ist Vorstandsvorsitzender von Tactical Tech und Gründungsvorstand der Initiative Offene Gesellschaft. Seit vielen Jahren beschäftigt sich Wilkens mit den Herausforderungen und Chancen einer europäischen Öffentlichkeit.
es wird heute in Brüssel eine dreifache Premiere geben: Erstmals hält die EU einen Gipfel ausschließlich zur Verteidigung ab. Erstmals seit Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus kommen die Staats- und Regierungschefs zusammen. Und erstmals seit dem Brexit sitzt zumindest zeitweise wieder ein britischer Premier mit am Tisch.
Auch das neue Format des Retreats unterstreicht den geopolitischen Kontext. Der EU-Ratspräsident António Costa plant im Brüsseler Egmont-Palast ein Brainstorming ohne schriftliche Schlussfolgerungen. Doch was ist von der Klausur zu erwarten? Costa will zur Diskussion stellen: Was wollen die EU-Staaten mit Blick auf Europas Verteidigung gemeinsam tun. Und bei welchen Fähigkeiten bestehen die größten Defizite. Wie soll außerdem finanziert werden, was man als EU gemeinsam angehen will.
Dem EU-Ratspräsidenten ist dabei die Reihenfolge wichtig. Zuerst die Bedarfsanalyse, dann die leidige Geldfrage mit dem programmierten Streit um mögliche gemeinsame Schulden. Wobei einige Mitgliedstaaten auch bei der Bedarfsanalyse Fragezeichen sehen. Die EU müsse sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, nämlich eine Konsolidierung der Rüstungsindustrie zu unterstützen und deren Zugang zu Krediten zu verbessern.
Immerhin ist zum Mittagessen auch Nato-Generalsekretär Mark Rutte dabei, um vor Doppelstrukturen zu warnen. UK-Premier Keir Starmer stößt dann am Abend hinzu. Donald Trump zwinge Briten und Festland-Europäer, zusammenzurücken, sagen Diplomaten dazu. Erwartet wird, dass Dänemarks Mette Frederiksen das Thema Grönland vorbringt. Man sei gegenüber Trump bisher damit gut gefahren, Ruhe zu bewahren, Geschlossenheit zu demonstrieren und nicht auf jede Provokation zu reagieren, zeigen Diplomaten sich gelassen. Keine Schlussfolgerungen müssten nicht bedeuten, dass der Gipfel keine Ergebnisse bringen werde. Die Klausur soll die Richtung für das Weißbuch zur Verteidigung vorgeben, das die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas am 19. März präsentieren soll.
Kommen Sie gut in die Woche,
Wird ein Rechtsradikaler erstmals mit den Stimmen der Christdemokraten zum Regierungschef in Österreich gewählt? Das ist nicht ausgeschlossen. FPÖ-Chef Herbert Kickl, der die Wahlen gewonnen hatte, verhandelt mit der zweitplatzierten ÖVP über die Bildung einer Koalition. Wie zu hören ist, verlaufen die Gespräche schwierig, bis 15. Februar soll es eine Entscheidung geben. Auch ein Scheitern wird nicht ausgeschlossen.
Raufen sich aber FPÖ und ÖVP zusammen und bilden eine Regierung unter Führung der Rechtsradikalen, so provoziert diese Kapitulation der ÖVP die unangenehme Frage an den Chef der europäischen Parteienfamilie EVP, Manfred Weber (CSU): Gehört die ÖVP dann noch in die EVP? Es gibt keinen Zweifel, dass der EU-Hasser und Putin-Freund Kickl und seine Politik gegen die drei Kriterien verstoßen, die Weber zur Bedingung für eine Kooperation auf EU-Ebene gemacht hat:
Offiziell sagt Manfred Weber nichts zu der Frage in diesen Tagen. Er steht in engem Kontakt mit Reinhold Lopatka, der die fünf ÖVP-Abgeordneten in der EVP-Fraktion anführt. Europaabgeordneter Dennis Radtke (CDU) hatte Anfang Januar auf X vor einem “Horrorszenario” gewarnt, sollten die “Christdemokraten zum Steigbügelhalter für einen ,Volkskanzler’ Kickl” werden. In einer Fraktionssitzung hatte es kritische Fragen von Peter Liese (CDU) an Lopatka gegeben. Lopatka, der bei einer FPÖ-ÖVP-Koalition als möglicher Außenminister gilt, will im Koalitionsvertrag die drei Kriterien Webers für eine Zusammenarbeit festschreiben. Die Logik: Sollte Kickl ausfällig werden gegen die EU und gegen die Ukraine, dann würde die ÖVP die Koalition brechen.
Den Rauswurf der ÖVP aus der EVP fordert dem Vernehmen nach kein Christdemokrat aus der europäischen Parteienfamilie. Es wird eher darauf verwiesen, dass es Haltelinien in der österreichischen Verfassung gebe. So gebe es einen Ausschuss im österreichischen Parlament, in dem die Abgeordneten die Linie vorgeben können, die der österreichische Bundeskanzler auch im Europäischen Rat nicht überschreiten dürfe.
In den Meinungsumfragen hat die FPÖ seit den Wahlen zugelegt. Sollte die Regierungsbildung scheitern und käme es zu Neuwahlen, wäre die FPÖ der Profiteur und würde mit weiteren Abgeordneten ins Parlament einziehen. Kickl spekuliere daher auf Neuwahlen, heißt es. Wenn die FPÖ-Fraktion noch mehr Abgeordnete stelle, könnte es auch keine Sperrminorität mehr gegen sie in dem Ausschuss geben, der die Linien für den Europäischen Rat bestimmt.
Eine FPÖ-ÖVP-Regierung wäre eine Grenzüberschreitung. Im Gegensatz zur italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni von der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia ist Kickl nicht pro-europäisch. Die FPÖ hat sich in der Europapolitik radikalisiert, wobei sich Kickl zuletzt weniger über Brüssel kritisch geäußert hat.
Zusätzliche Sicherungen fordert der ÖVP-Politiker Othmar Karas, der früher Vizepräsident des Europäischen Parlaments war. “Eine Präambel (im Koalitionsvertrag, die Red.) reicht nicht“, sagte Karas dem ORF. “Das Niederschreiben von Selbstverständlichkeiten ist noch keine Europapolitik.” Es müsse klar sein, wofür Österreich einsteht, etwa bei Sanktionen gegen Russland, der Unterstützung der Ukraine, den Klimazielen oder der Wettbewerbsfähigkeit.
Scharfe Warnungen kommen von den Grünen. “Sollte die ÖVP Kickl zum Kanzler machen, muss sie aus der EVP geworfen werden”, fordert der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund. Die FPÖ sei korrupt, kremlhörig, europafeindlich und rechtsextrem. “Mit solchen Parteien koaliert man nicht, Punkt.” Freund appelliert auch an die EU-Kommission: “Wenn die FPÖ mit ÖVP-Unterstützung auf Viktor Orbáns Spuren wandelt und die Demokratie demontiert, darf es keine EU-Gelder mehr für Österreich geben.”
Ähnlich hatte sich zuvor Grünen-Fraktionschefin Terry Reintke geäußert. Kickl stehe im Konflikt mit den Grundwerten der EU, sagte sie. “Ein österreichischer Bundeskanzler Kickl würde die EU vor eine ernste Bewährungsprobe stellen.” Sorgen macht sich die deutsche Grünen-Politikerin vor allem um die Außenpolitik. “Gemeinsam mit Viktor Orbán und anderen prorussischen Kräften könnten die Ukraine-Hilfe und die Sanktionen gegen Moskau weiter torpediert werden.”
Demgegenüber hat Übergangskanzler Alexander Schallenberg versucht, die Sorgen zu zerstreuen: “Österreich ist und bleibt ein verlässlicher und konstruktiver Partner in der Europäischen Union”, erklärte er Mitte Januar bei einem Besuch in Brüssel. Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und freie Medien seien auch unter der neuen Regierung nicht verhandelbar. Seither hat sich die Kritik an Österreich in Brüssel etwas gelegt.
Das Jahr 2024 wird als annus horribilis in die politischen Annalen Frankreichs eingehen: Vier Regierungschefs in einem Jahr, das letzte Mal kam dies 1934 vor. Dann die Entdeckung eines abgrundtiefen Defizits und noch immer kein Staatshaushalt. Die Lage ist so desolat, dass Premierminister François Bayrou ankündigte, heute den Staatshaushalt womöglich mit Hilfe einer Ausnahme in der französischen Verfassung ohne Abstimmung durchs Parlament zu bringen.
Zudem Regierungen, die Misstrauensanträgen ausgeliefert sind. Außerdem sind wichtige Gesetze in der Schwebe, wie das Gesetz zur Ausrichtung der Landwirtschaft oder das Gesetz über die Neuausrichtung der Sterbehilfe. Kurzum, ein Land, das ohne Kurs ist und auf Stillstand reduziert wird. Diese Situation hat Präsident Emmanuel Macron herbeigeführt, als er am Abend der Europawahlen im Juni 2024 überraschend die Auflösung der Nationalversammlung ankündigte. Nun zahlt er den politischen Preis dafür.
Die Entscheidung, vorgezogene Wahlen auszurufen, können die Franzosen – auch die ehemaligen Unterstützer des Staatschefs – nach wie vor nicht verstehen. Sie hat zu einer Marginalisierung des Präsidenten geführt, beobachtet Vincent Martigny, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Côte d’Azur in Nizza und assoziierter Forscher an der Sciences Po. “Die Auflösung der Nationalversammlung hat zu einer regelrechten Zerreißprobe innerhalb seines eigenen Lagers geführt”, sagt Martigny.
Der ehemalige Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Lemaire hatte nach der Ankündigung der Parlamentsauflösung einen Präsidenten beschrieben, der unter dem Einfluss eines kleinen Kreises politischer Berater gehandelt habe: “Die Parkettböden der Ministerien und der Paläste der Republik sind voller Kellerasseln.” Sein ehemaliger Premierminister, der beliebte Edouard Philippe, derzeit Bürgermeister der Stadt Le Havre in der Normandie, hatte erklärt, dass sein Ziel “nicht darin besteht, die alte präsidiale Mehrheit aufzubauen”. Ihm gehe es vielmehr darum, eine “neue präsidiale Mehrheit” zu schaffen. Diese Formulierung ist als klare Distanzierung von Emmanuel Macron zu verstehen.
Der kometenhafte Aufstieg von Gabriel Attal, der plötzlich Premierminister war, wurde durch die Auflösung der Nationalversammlung abrupt gestoppt. Seitdem sind die Beziehungen zwischen Macron und Attal, Chef sowohl der macronistischen Partei Renaissance als auch der Fraktion in der Nationalversammlung, “gegensätzlich”, wie aus Paris berichtet wird. Derzeit versucht Attal, die Renaissance-Partei fit zu machen. Sie muss kampagnenfähig werden für die Präsidentschaftswahlen, die für 2027 geplant sind. Viele Mitglieder haben der Partei den Rücken gekehrt. Attal geht merklich auf Distanz zu Macron. Wohl auch, um seinen eigenen politischen Ruf aufzupolieren.
Das schnelle Ende der Regierung von Michel Barnier nach nur drei Monaten und die anschließende Ernennung von François Bayrou, offensichtlich gegen die Interessen Macrons, haben den Staatspräsidenten geschwächt. Inzwischen gilt er auf nationaler Ebene weitgehend als isoliert. “Der Präsident muss sich mit seinem exklusiven Bereich, nämlich den internationalen Angelegenheiten, begnügen. Er ist heute nicht mehr in der Lage, sich in der Innenpolitik gegen ein Parlament und eine Regierung durchzusetzen, die ihm entgleiten”, erklärt Politixexperte Vincent Martigny.
Mit dem Aufrollen der umstrittenen Rentenreform macht Bayrou deutlich, dass er sich unabhängig gemacht hat von Macron. Er kümmert sich – erkennbar mit anderen politischen Zielen – um das Politikfeld, das die große soziale Baustelle der zweiten Amtszeit des Staatschefs sein sollte. Vor allem ändert Bayrou dabei radikal die Methode: Macron hatte die Sozialpartner, also Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, von den Gesprächen über die Rentenreform ausgeschlossen. Bayrou hingegen öffnet ihnen die Tür. “Da es in der Nationalversammlung keine Mehrheit gibt, gewinnen die Sozialpartner wieder an Stärke. Sie einzubeziehen ermöglicht es, Projekte zu legitimieren”, analysiert Thierry Pech, Generaldirektor des Think Tanks Terra Nova.
Es ist das erste Mal, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber bei dieser Reform mitreden. Mitte Januar fand das erste Treffen zwischen der Regierung Bayrou und Gewerkschaften sowie Unternehmerverbänden statt. Damit ist ein neues Kapitel im Ringen um diese Reform aufgeschlagen. Bayrou hat “Ende Mai” als Ziel für eine Einigung zwischen den Sozialpartnern gesetzt.
Der ehemalige hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) hat von der EU mehr Zusammenarbeit und neue Ideen für Erfolg auf internationaler Bühne gefordert. “Die Welt da draußen muss wieder spüren, dass wir Europäer einen Plan haben und dass wir Willens und in der Lage sind, den auch umzusetzen”, sagte Koch zu Table.Briefings.
Die EU brauche neue Ziele bei der Kooperation untereinander und für Wettbewerbsfähigkeit. “Das Fehlen solcher Impulse war der Grund für die mangelnde Wertschätzung der Amerikaner.” Koch warf europäischen Staats- und Regierungschefs einen “Totalausfall an politischer Führung” vor. Und ließ in dem Zusammenhang Kritik an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen anklingen: “Das überhöht auch die Rolle der EU-Kommissionspräsidentin, die eigentlich vor allem die Hüterin der Grundsätze ist und nicht die Chefin einer Regierung. Aber wenn alle anderen ausfallen, können wir froh sein, dass wir sie haben.”
Er erwarte vom nächsten Bundeskanzler, “dass er Tusk, Macron und Meloni schnell zusammenbringt und zu einer gemeinsamen Position zusammenführt.” Dann werde die Mehrheit “der europäischen Länder dankbar und bereitwillig” folgen. Im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit sei die EU “stark davon ausgegangen, dass europäische Standards sehr attraktiv sind und wir sie deshalb zum eigenen Nutzen für die ganze Welt prägen können”, sagte Koch. Aber mit Donald Trump als neuen US-Präsidenten müsse sich die Staatenunion fragen, welche “Regularien, Beschränkungen, Fesseln wir noch verkraften können“, ohne an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren.
Zudem schlug Koch eine erweiterte Handelspolitik mit Drittländern vor. “Im wirtschaftlichen Wettbewerb der Blöcke, die gerade entstehen, ist die Milliardengrenze eigentlich die untere kritische Grenze für Marktteilnehmer, für Relevanz, für wirtschaftliche Entwicklung, für politische Kraft.” Die EU müsse daher stärker mit Ländern wie Norwegen, der Ukraine, Israel zusammenarbeiten und dafür sorgen, dass “in 30, 40 Jahren auch die Staaten Nordafrikas zu unserer wirtschaftlichen Hemisphäre gehören”. mbn
Auch der dritte Versuch Italiens, in Albanien Asylschnellverfahren durchzuführen, ist gescheitert. Am Freitag hat das Berufungsgericht in Rom, das seit neustem für dieses Thema zuständig ist, die Unterbringung von Migranten in den von Italien betriebenen Asylzentren unterbunden. Am Samstagabend gingen daraufhin 43 Migranten, die in der vergangenen Woche von der italienischen Küstenwache vor Lampedusa im Mittelmeer aufgegriffen und in die Zentren nach Albanien gebracht worden waren, in Bari (Apulien) an Land.
Die Männer, die nach Albanien gebracht worden waren, stammen aus Bangladesch, Ägypten, Gambia und der Elfenbeinküste. Diese Staaten werden in einem Dekret der italienischen Regierung als sicher eingestuft. Über diese Eingruppierung und die Frage, wer die Kompetenz dazu hat, diese festzulegen, hat sich in den vergangenen Monaten ein Streit zwischen Regierung und Justiz in Italien entsponnen. Es geht aber auch um den Vorrang Europäischen Rechts vor italienischem.
Das Berufungsgericht in Rom berief sich in seiner Entscheidung am Freitagabend wie auch das zuvor zuständige Zivilgericht im November auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 4. Oktober 2024. Demnach können Herkunftsstaaten nur als “sicher” gelten, wenn diese Einschätzung auf das ganze Land zutrifft. Die Frage, wann ein Staat als sicherer Herkunftsstaat gelten kann, wurde von den italienischen Richtern nun erneut zur Klärung an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weitergegeben. Erwartet wird, dass sich dieser in seiner Sitzung am 25. Februar mit dem Thema befasst.
Laut La Repubblica gibt es in der rechtsnationalen Regierung von Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia) bereits Überlegungen, erneut Einfluss auf die Zusammensetzung der Richter zu nehmen, die über die Asylzentren in Albanien entscheiden. Erst vor wenigen Wochen war der Einwanderungsabteilung des Zivilgerichts in Rom die Zuständigkeit genommen und diese an das Berufungsgericht in Rom gegeben worden.
Die Regierung hatte den Richtern politische Gründe für ihre Entscheidung vorgeworfen. Die fünf Richter, die am Freitag gegen die Unterbringung der 43 Migranten in Albanien votiert haben, waren aber genau jene, die zuvor am Zivilgericht über die Asylzentren entschieden hatten. Der Präsident des Gerichts hatte sie aus ihrer vorherigen Abteilung ausgeliehen, um sein Personal für die nun zusätzliche Arbeit aufzustocken. Damit werde das Parlament “auf die Schippe genommen”, heißt es aus Abgeordnetenkreisen.
Als Digital Services Coordinator (DSC) im Rahmen des Digital Services Act (DSA) hat die Bundesnetzagentur am Freitag gemeinsam mit der EU-Kommission einen Stresstest (Tabletop Exercise) im Vorfeld der Bundestagswahl durchgeführt. “Was wir vergangene Woche mit den großen Online-Plattformen vereinbart haben, wurde heute praktisch getestet”, sagte Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur und kommissarischer Leiter des DSC.
Mögliche Verstöße seien realistisch simuliert, die Meldewege und Mechanismen der Plattformen getestet sowie die relevanten Wege zum Informationsaustausch und erforderliche Maßnahmen eingeübt worden. “Als DSC sind wir vorbereitet, die Aufgabenverteilung der nationalen Behörden und unsere Kommunikationswege zu allen relevanten Akteuren stehen”,
sagte Müller.
An der Simulationsübung nahmen demnach Vertreterinnen und Vertreter von Google (Youtube), Linkedin, Microsoft, Meta (Facebook, Instagram), Snapchat, Tiktok und X sowie von nationalen Behörden und zivilgesellschaftlichen Organisationen teil. vis
Die vergangenen Wochen haben erneut gezeigt, dass Europa seine Wettbewerbsfähigkeit steigern und seinen Binnenmarkt stärken muss. Als Technologie- und Innovationsstandort ist Europa nur die Nummer drei hinter den USA und China, die sich in zentralen Bereichen immer weiter absetzen. “Wir müssen erkennen, dass wir dieses Problem nur von innen heraus lösen können. Von außen wird uns niemand helfen“, sagte Enrico Letta, ehemaliger italienischer Premierminister und Autor des Binnenmarktberichts Much More Than a Market am Freitag in Berlin.
Letta war Teilnehmer der Diskussion “Don’t Stop Innovating: Europe’s Path to Tech Leadership”, organisiert von der Innovate Europe Foundation, dem Jacques Delors Centre und der European School of Management and Technology Berlin (ESMT). Neben Letta nahmen an der Diskussion ESMT-Professor Lars-Hendrik Röller, ehemaliger wirtschaftspolitischer Berater der Bundesregierung, René Obermann, Geschäftsführender Direktor und Europa-Vorsitzender von Warburg Pincus sowie Aufsichtsratschef von Airbus, und Annika von Mutius, Gründerin des KI-Start-ups Empion, teil.
Einig waren sich die Teilnehmer, dass Europa einen strukturellen Innovationsrückstand hat – und dass sich daran nur etwas ändern wird, wenn die Politik schneller handelt. “Wir haben keine vier oder fünf Jahre, um nachzudenken. Wenn Europa im globalen Innovationswettlauf nicht sofort handelt, werden wir technologisch irrelevant”, sagte Röller.
Ein zentraler Diskussionspunkt war die europäische Regulierung. “Start-ups in Europa kämpfen mit einer Regelwut, die sie von Beginn an ausbremst”, kritisierte Obermann. “Wir müssen den Mut haben, bestimmte Regularien radikal zu vereinfachen, sonst werden wir immer hinterherlaufen.” Letta schlug vor: “Wir müssen aufhören, Direktiven zu nutzen, die dann in jedem Land unterschiedlich umgesetzt werden. Stattdessen brauchen wir einheitliche Verordnungen, um echte Wettbewerbsfähigkeit zu ermöglichen.” Röller forderte eine klare Industriepolitik. “Es reicht nicht, nur über Regulierung zu sprechen – die EU muss gezielt in Schlüsseltechnologien investieren, anstatt Innovationen durch zu viele Auflagen zu behindern.”
Die Einführung des europäischen AI Acts sollte Klarheit und Sicherheit für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz schaffen. Doch viele Unternehmen sehen darin eine Wachstumsbremse – insbesondere Start-ups. Gründerin Annika von Mutius berichtete aus eigener Erfahrung: “Der AI Act ist für kleine Unternehmen ein Albtraum. Während große Konzerne die bürokratischen Hürden leicht nehmen, stehen Start-ups vor einer Wand aus Dokumentationspflichten, die sie ausbremsen.” Sie warnte, dass längere Entscheidungswege und regulatorische Unsicherheit Start-ups in die USA oder Asien abwandern lassen könnten.
Auch das europäische Finanzierungssystem sei ein großes Problem. Während in den USA Milliarden Dollar von privaten Pensionsfonds in Technologieunternehmen investiert werden, fehlt in Europa eine vergleichbare Kapitalquelle. “Wir haben genug Kapital in Europa – es ist nur zu fragmentiert”, sagte Obermann. “Deutsche Versicherungen investieren Milliarden in US-Technologieunternehmen, anstatt in europäische Start-ups. Wir müssen diese Kapitalströme zurück nach Europa lenken.”
Enrico Letta warb erneut für sein Konzept der fünften Freiheit. Neben den vier bestehenden Freiheiten des Binnenmarkts (Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen) fordert er eine zusätzliche: die freie Bewegung von Wissen, Forschung, Innovation und Bildung. Seine Vision: ein gesamteuropäisches Innovations-Ökosystem, das Investitionen bündelt und grenzübergreifend Innovationen vorantreibt. “Europa hat das Potenzial, ein globaler Technologieführer zu sein. Aber wir müssen endlich verstehen, dass Innovation keine nationale, sondern eine europäische Aufgabe ist.” vis
Wegen mangelnder Zusammenarbeit mit Polizeibehörden anderer EU-Länder hat die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland und 17 weitere Mitgliedstaaten eingeleitet. Die Länder hätten die Richtlinie zum Informationsaustausch zwischen Strafverfolgungsbehörden nicht vollständig umgesetzt, erklärte die Kommission am Freitag. Demnach sollen mit der Richtlinie Straftaten in der EU besser aufgeklärt werden können.
Die Richtlinie soll es Ermittlern ermöglichen, “gleichwertigen Zugang zu den Informationen zu erhalten, die ihren Kollegen in einem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung stehen”. Auch gegen unter anderem Belgien, Frankreich, Spanien und Frankreich leitete die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren deshalb ein. Die Staaten haben nun zwei Monate Zeit, darauf zu reagieren. mbn
In Belgien wird es erstmals eine von der rechten Partei N-VA angeführte Regierung geben. Knapp 240 Tage nach der Parlamentswahl wird der belgische König an diesem Montag die neue Regierung vereidigen. Neuer Premierminister soll der N-VA-Vorsitzende Bart de Wever werden, der auch gleich am informellen EU-Gipfel teilnehmen will. Der 54-Jährige de Wever ist bislang Bürgermeister von Belgiens zweitgrößter Stadt Antwerpen.
Am Freitagabend war es den flämischen Nationalisten der N-VA gelungen, sich mit vier weiteren Parteien auf eine Koalition zu verständigen. Ein drastischer Rechtsruck ist in Belgien trotz der Regierungsbeteiligung der bei der Wahl im Juni siegreichen N-VA nicht zu erwarten. Die anderen Parteien der Mitte haben zusammen weiter eine klare Mehrheit in der Koalition. Zu ihnen gehören die liberale Partei MR aus der französischsprachigen Wallonie, die Christdemokraten aus beiden Landesteilen sowie die flämischen Sozialdemokraten.
Neben dem Premierminister wird die N-VA in der neuen Regierung den Posten des Verteidigungsministers (Theo Francken), der Migrationsministerin (Anneleen Van Bossuyt) sowie den des Finanzministers (Jan Jambon) besetzen. Jambon war bereits zwischen 2014 und 2018 unter dem damaligen liberalen Regierungschef Charles Michel Innenminister gewesen, Francken Staatssekretär für Asyl und Migration. dpa
Seit mehr als einem Jahrzehnt schlummert die Europäische Union am digitalen Kontrollpult, ignoriert die blinkenden roten Warnlichter. Amerikanische und chinesische Social-Media-Plattformen, zusammen mit russischen Troll-Armeen, untergraben unsere Demokratien und richten Chaos in unseren politischen Systemen an.
Ähnlich wie Wladimir Putins Kontrolle über Europas Energieversorgung unsere Schwächen offenlegte, zeigt die amerikanische und chinesische Dominanz in der digitalen Öffentlichkeit Europas eine gefährliche Abhängigkeit von ausländischer kritischer Infrastruktur.
X-Plattform-Besitzer Elon Musks Einfluss reicht noch weiter: Über seine Platfform fördert er Extremismus und ruft offen zu einem Regimewechsel in Europa auf. Doch anstatt X abzuschalten, nutzen und finanzieren wir es weiterhin. Dies ist ein gefährlicher Akt der Selbstverletzung – oder Schlimmeres.
Die bisherige Strategie, primär auf Regulierung zu setzen, reicht nicht aus. Es ist Zeit für eine aktive digitale Industrie- und Investitionspolitik. Europa muss eigene Plattformen entwickeln und ein resilientes digitales Ökosystem aufbauen, das unseren Werten entspricht. Die Lösung liegt in einem europäischen Plattformprogramm nach dem Vorbild des Airbus-Konsortiums, das Europas Unabhängigkeit in der Luftfahrt sicherte. Ein solcher strategischer Ansatz könnte europäische Innovation fördern und gleichzeitig Europa vor externer Manipulation schützen.
Ein solches Programm sollte:
Wer soll das bezahlen? Die Finanzierung eines solchen Fonds könnte teilweise durch Abgaben auf nicht-europäische Tech-Giganten wie X, Meta, Google und TikTok erfolgen. Diese Unternehmen haben massiv von europäischen Nutzern profitiert, ohne nennenswert in das europäische digitale Ökosystem zu investieren. Die Reinvestition dieser Mittel in eine europäische digitale Infrastruktur sollte als Wiedergutmachung für die angerichteten Schäden betrachtet werden. So könnte der Fonds zum Beispiel die Übernahme des europäischen Geschäfts von X und TikTok finanzieren oder absichern.
Die EU hat ihre Abhängigkeit von russischer Energie erst nach Putins Krieg gegen die Ukraine reduziert. Diese Fehler dürfen sich in der digitalen Souveränität nicht wiederholen. Europa muss die Kontrolle über seine digitale Infrastruktur zurückgewinnen und gleichzeitig etwas Besseres schaffen – eine digitale Öffentlichkeit, die Europa verbindet, nationale Grenzen überwindet und eine gemeinsame Identität stärkt.
Die Zeit zum Handeln ist jetzt. Ein europäisches Plattformprogramm kann die digitale Schlacht um Europa in eine Chance für Innovation, demokratische Resilienz und digitale Souveränität verwandeln. Weitere europäische Prokrastination ist keine Option.
André Wilkens ist Direktor der European Cultural Foundation in Amsterdam. Er ist Vorstandsvorsitzender von Tactical Tech und Gründungsvorstand der Initiative Offene Gesellschaft. Seit vielen Jahren beschäftigt sich Wilkens mit den Herausforderungen und Chancen einer europäischen Öffentlichkeit.