heute sind gleich zwei EZB-Präsidenten in Brüssel. Christine Lagarde stellt sich ein erstes Mal seit den Europawahlen dem “Monetary Dialogue” im Wirtschaftsausschuss des Parlaments. Von konservativer Seite wird sie sich anhören müssen, dass die Inflation zu Unzufriedenheit in der Bevölkerung geführt habe, siehe das gestrige Wahlresultat in Österreich. Von linker Seite wird Lagarde zu hören kriegen, dass sie die Wirtschaftsentwicklung zu stark gebremst habe, was zu Unzufriedenheit in der Bevölkerung geführt habe, siehe das gestrige Wahlresultat in Österreich.
Lagardes Vorgänger Mario Draghi ist heute ebenfalls in Brüssel unterwegs und wirbt für seinen Bericht. So ist er zum Beispiel beim Think Tank Bruegel zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Es ist aber zu befürchten, dass er dort vor ohnehin schon konvertierten Geistern predigen wird. Überzeugen müsste er in den Mitgliedstaaten, aber die Einladung zu einem Treffen mit den EU-Industrieministern hatte er vergangenen Donnerstag aus Termingründen abgesagt.
Draghis Bericht wird heute zudem im Binnenmarktausschuss (IMCO) des Parlaments besprochen. Auch sonst laufen sich die Parlamentsausschüsse langsam warm. Der Handelsausschuss (INTA) diskutiert heute über die makrofinanzielle Unterstützung der Ukraine und gleich danach mit Noch-Vizepräsident Valdis Dombrovskis über die potenziellen Zölle auf Elektroautos aus China.
Konjunktur, Inflation, Krieg und die Zukunft der Industrie: alle großen Themen werden auch heute wieder in Brüssel diskutiert. Die Wähler zeigen sich aber vorerst unbeeindruckt vom Resultat dieser Diskussionen, siehe das gestrige Wahlresultat in Österreich.
Einen tatkräftigen Start in die Woche wünscht Ihnen,
Die EU-Kommission will den Einsatz chinesischer Technologie für die Produktion von grünem Wasserstoff für den europäischen Bedarf einschränken. Die Brüsseler Behörde veröffentlichte am Freitag die Bedingungen für die zweite Ausschreibung der Europäischen Wasserstoffbank. Zu den Bedingungen zählen auch neue Resilienzkriterien für Elektrolyseure. Zur Diversifizierung der Lieferkette müssten teilnehmende Projekte den Anteil von Elektrolyse-Stacks aus China auf höchstens 25 Prozent beschränken, heißt es in der Veröffentlichung.
Die Kommission rechtfertigt die Beschränkungen damit, dass bereits mehr als die Hälfte der weltweiten Produktionskapazitäten für Elektrolyseure in China beheimatet sei: “Es ist davon auszugehen, dass ein erhebliches Risiko einer zunehmenden und irreversiblen Abhängigkeit der EU von Einfuhren von Elektrolyseuren mit Ursprung in China besteht, was die Versorgungssicherheit der EU gefährden könnte.” Die europäische Wasserstoffbranche begrüßte den Schritt. “Die neuen Bedingungen schaffen ein positives Umfeld für Unternehmen, die in Europa investieren wollen”, sagte der CEO von Hydrogen Europe, Jorgo Chatzimarkakis.
In der zweiten Förderrunde stellt die EU 1,2 Milliarden Euro aus dem Innovationsfonds bereit. Mit der Summe soll für bis zu zehn Jahre ein fester Zuschuss für jedes im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) produzierte Kilogramm Wasserstoff oder dessen Derivate gezahlt werden. Die Höhe des Zuschusses wird in einer Ausschreibung ermittelt, die am 3. Dezember starten und bis Februar 2025 laufen soll.
Gesetzliche Grundlagen für Resilienzkriterien in öffentlichen Ausschreibungen hatte die EU bereits mit dem Net-Zero Industry Act (NZIA) geschaffen. Klimakommissar Wopke Hoekstra hatte Anfang des Monats ein Überangebot chinesischer Elektrolyseure beklagt, die “zu immer niedrigeren Preisen” auf den Markt kämen: “Deshalb werde ich dafür sorgen, dass die nächste Auktion anders verläuft. Wir werden klare Kriterien für den Aufbau europäischer Lieferketten für Elektrolyseure aufstellen.”
In der ersten Auktion waren chinesische Elektrolyseure an 20 der 130 Gebote beteiligt. Wie viele der sieben bezuschlagten Projekte mit chinesischen Anlagen gebaut werden, soll laut Reuters bis November feststehen. Dann müssen die Gewinner der europäischen Klimaagentur CINEA entsprechende Auftragsunterlagen vorlegen.
Das neue Diversifizierungskriterium ist nun so designt, dass es europäischen Herstellern einen Spielraum zum Einbau günstiger chinesischer Technik lässt. Es bezieht sich nicht auf die gesamte Anlage, sondern bestimmt nur eine Quote für deren Herzstück – die Zellstapel (Stacks) – und einzelne Wertschöpfungsstufen: “die Beschaffung von Elektrolyseur-Stacks, welche die Oberflächenbehandlung, die Produktion von Zelleneinheiten und die Stack-Montage umfassen”. Diese Strategie könnte wegweisend für andere Net-Zero-Güter wie Batterien werden, die ebenfalls mit dem Trade-off von Bezahlbarkeit einerseits sowie Industrie- und Sicherheitspolitik andererseits konfrontiert sind.
Mit der zweiten Wasserstoff-Auktion führt die Kommission aber auch ein Resilienzkriterium ein, das digitale Komponenten betrifft. In einem Cybersicherheitsplan müssen Teilnehmer künftig darlegen, dass “die betriebliche Kontrolle über die Anlage bei einer im EWR ansässigen Stelle verbleibt und die Daten im EWR gespeichert werden”. Bei einem Zuwiderhandeln will die Kommission nicht nur die Zuschüsse verweigern, sondern auch eine Geldbuße von acht Prozent der Fördersumme einfordern.
Die Kommission habe sich diesmal entschieden, proaktiv statt reaktiv zu handeln, lobte François Paquet die Ankündigung. Der Direktor der Renewable Hydrogen Coalition vertritt vor allem Unternehmen für erneuerbare Energien. Die Solarbranche hat die EU inzwischen wohl unwiederbringlich an China verloren, in der Windindustrie haben chinesische Produzenten ebenfalls eine starke Stellung erreicht.
Gerade für die Windbranche könnte das Cybersicherheitskriterium der Wasserstoffbank noch beispielhaft werden. Weil die Anlagen regelmäßig aus der Ferne überwacht, gesteuert und gewartet werden müssen, um Anforderungen an Betriebssicherheit und Gewährleistungen zu erfüllen, würde es eine hohe Hürde für chinesische Unternehmen bedeuten.
Auch die strengsten Resilienzkriterien hülfen allerdings nicht viel, wenn die Nachfrage nach erneuerbarem Wasserstoff ausbleibe, klagt die Renewable Hydrogen Coalition. “Nun bleibt die Finanzierungslücke für erneuerbaren Wasserstoff das größte Hindernis”, sagte Paquet. Er forderte auch von den Mitgliedstaaten, Leitmärkte für grüne Industriegüter wie Stahl, Chemikalien und Düngemittel zu schaffen. Mehrere Unternehmen hatten in den vergangenen Monaten nicht von der Wasserstoffbank geförderte Elektrolyse-Projekte auf Eis gelegt und dies mit gestiegenen Kosten und ausbleibender Nachfrage begründet.
Forderungen aus der Branche, den Höchstpreis für die Ausschreibungen zu erhöhen, ist die Kommission allerdings nur teilweise gefolgt. Der Deckel wird nicht wie geplant von 4,50 auf 3,50, sondern auf 4 Euro pro Kilogramm Wasserstoff gesenkt. Dafür werden die Geldbußen bei Nichterfüllung verdoppelt und die Aufsicht verschärft, um sicherzustellen, dass die Projekte tatsächlich kommen.
Die aktuellen Preisentwicklungen und Dilemmata der Industriepolitik bestätigte kürzlich auch eine Analyse von BNEF. Gegenüber dem letzten Report von 2022 seien die Prognosen für die Kostenentwicklung bis 2050 deutlich erhöht worden, schreibt Wasserstoff-Chefanalyst Martin Tengler. Zwar könnten die Kosten für Elektrolyseure bis dahin um die Hälfte sinken – bei einer restriktiven Handelspolitik sei aber nur mit einer Abnahme um 28 Prozent zu rechnen.
Ein weiteres wichtiges Dokument für die Wasserstoffwirtschaft veröffentlichte die Kommission ebenfalls am Freitag. Bis 25. Oktober konsultiert sie nun den Entwurf des Delegierten Rechtsakts für die Definition von kohlenstoffarmem Wasserstoff – also hauptsächlich blauem Wasserstoff aus Erdgas mit anschließender CO2-Abscheidung (CCS).
“Die nun vorgelegte EU-Definition für kohlenstoffarmen Wasserstoff schafft dringend benötigte Investitionssicherheit, insbesondere für erneuerbare Projekte, die mit kohlenstoffarmer Herstellung im Wettbewerb stehen”, sagt Michaela Holl von Agora Energiewende.
Die energieintensive Industrie setzt ihre Hoffnung auf eine neue Überprüfungsklausel. Bis Juli 2028 will die Kommission “alternative Pfade” untersuchen, die in der aktuellen Fassung nicht zum Zuge kamen – “insbesondere zur Erzeugung von kohlenstoffarmem Strom aus Kernkraftwerken auf der Grundlage geeigneter Kriterien”.
In dieser Überprüfungsklausel sieht die energieintensive europäische Industrie nun eine neue Chance vor allem für Kernkraftwerke und einige andere Formen der kohlenstoffarmen Stromerzeugung wie Müllverbrennungsanlagen und Teile der Stromproduktion aus Erneuerbaren. Frankreich hatte sich laut “Contexte” dafür eingesetzt, die CO2-Bilanzierung in dem Rechtsakt so anzupassen, dass Elektrolyseure klimafreundlicher dastehen, die über einen Langfristvertrag (PPA) Strom aus einem Kernkraftwerk beziehen. “Die Kommission scheint die Bedenken hinsichtlich des Ausschlusses von kohlenstoffarmen PPA gehört zu haben, da sie die Überprüfungsklausel einführt”, sagt ein Sprecher des europäischen Chemieverbands Cefic. Ausdrücklich erwähnt werden PPAs in der Klausel allerdings nicht.
Einen explizit genannten “alternativen Pfad” hätte allerdings Agora schon jetzt gerne umgesetzt gesehen. So will die Kommission prüfen, ob nach 2028 die Anrechenbarkeit von grünem Strom zur Wasserstoffherstellung auf stündlicher statt jährlicher Basis erfolgen kann, was den Produzenten das Geschäft erleichtern würde.
Die stündliche Betrachtung würde sicherstellen, dass kohlenstoffarmer Wasserstoff dann produziert wird, wenn auch viel Ökostrom vorhanden ist. “Dies würde den bestehenden Anforderungen für Wasserstoff aus erneuerbaren Energiequellen und den EU-Vorschriften für staatliche Beihilfen entsprechen”, schrieb Agora am Sonntag. Gegen eine ähnliche Stunden-Anforderung für die Produktion von grünem Wasserstoff hatte sich erst kürzlich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ausgesprochen. Er bat die Kommission um eine Verschiebung.
Wie in früheren Leaks hat die Kommission die umstrittenen Standardwerte für die Annahmen zu Methanemissionen bei der Gasförderung beibehalten. Weil diese national und nicht projektspezifisch betrachtet werden, bleibt nach einer früheren Agora-Analyse zunächst wohl hauptsächlich Norwegen als Handelspartner für blauen Wasserstoff übrig. Cefic beklagt dagegen, dass wesentliche rechtliche Grundlagen für die Berechnung der Upstream-Emissionen erst mit einem weiteren Delegierten Rechtsakt zur Methanverordnung geklärt werden. Diesen muss die Kommission erst 2027 vorlegen.
Hinweis: In dem Teil zum Delegierten Rechtsakt für kohlenstoffarmen Wasserstoff haben wir den Absatz zu PPAs angepasst. Die Aussagen zu langfristigen Abnahmeverträgen beziehen sich in diesem Zusammenhang vor allem auf Strom aus Kernkraftwerken und nicht aus erneuerbaren Energien.
Der Präsident des Handelsausschusses im Europaparlament Bernd Lange (SPD) warnt die neue EU-Kommission vor Abschottung und Protektionismus. Zugleich fordert er mehr Mitsprache des Parlaments bei internationalen Abkommen und Dringlichkeitsverfahren in Krisenlagen.
Dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Akzent künftig auf “wirtschaftliche Sicherheit” lege, sei angesichts des Verhaltens anderer Akteure wie Chinas oder der USA zwar durchaus verständlich, sagte Lange im Gespräch mit “Europe.Table”. Dabei dürfe die Kommission aber nicht zu weit gehen. Vor der Anhörung der designierten neuen Kommissare erwarte er noch einige wichtige Klärungen und Zusagen. Dies gelte auch für den designierten neuen Kommissar für Handel und wirtschaftliche Sicherheit Maroš Šefčovič.
Zunächst gehe es darum, ein neues Rahmenabkommen mit der Kommission zu schließen, so Lange. Das Parlament erwarte, dass sich von der Leyen bereit erklärt, keinen Antrag auf vorläufige Anwendung eines Abkommens zu stellen, bevor das Parlament nicht Ja oder Nein gesagt hat.
Bei Handelsabkommen ist dies bisher schon üblich; künftig solle es aber für alle internationalen Abkommen gelten. Außerdem will das Parlament bei Dringlichkeitsverfahren nach Artikel 122 des AEUV besser eingebunden werden, so Lange. Es gehe um Gleichbehandlung mit dem Rat.
Von der Leyen hatte in der letzten Legislatur zahlreiche wichtige Maßnahmen etwa zu COVID19 oder zum Krieg in der Ukraine in einem Eilverfahren nach Artikel 122 auf den Weg gebracht. Das Europaparlament wurde nicht gefragt und hatte Mühe, auf die entsprechenden Dokumente zuzugreifen.
“Da muss man schon schauen, wie man die demokratisch gewählte Institution der EU besser einbindet“, so Lange. Er hoffe, noch vor der Wahl von der neuen Kommission entsprechende Commitments zu bekommen. Dies ist jedoch nicht das einzige Anliegen.
Offene Fragen gibt es auch noch vor den Anhörungen der designierten neuen Kommissare, da sich Portfolios und Kompetenzen überschneiden, sei es in vielen Fällen schwierig, zu entscheiden, welche Kommissare in welchen Parlamentsausschüssen angehört werden.
“Bisher ist es noch ein dreidimensionales Puzzle”, so Lange, der die Anhörungen in der “Conference of Committee Chairs” (CCC) als Vorsitzender des CCC vorbereitet. Daher sei auch nicht sicher, ob sich die CCC am kommenden Dienstag bereits wie geplant auf einen Zeitplan für die Anhörungen einigt.
“Die Titel sind ja alle ein bisschen vage”, die Diskussion über die neuen Arbeitsgebiete und Mission Letters habe gerade erst begonnen. “Wir müssen abwarten, was das in der Praxis bedeutet”, so Lange. Da sei noch manches zu klären.
Dies gelte auch für den designierten neuen Handelskommissar Maroš Šefčovič. Der ehemalige Brexit-Unterhändler der EU soll künftig nicht nur für den Handel, sondern auch für “wirtschaftliche Sicherheit” zuständig sein.
Šefčovič sei “eine gute Wahl”, sagte Lange. Er könne hart verhandeln und habe sich beim Brexit als zuverlässig erwiesen. Allerdings sei unklar, was “wirtschaftliche Sicherheit” in der Praxis bedeutet. “Mir ist wichtig, dass wir nicht genauso protektionistisch werden wie andere.”
Die EU habe bereits einige defensive Maßnahmen in der Wirtschafts- und Handelspolitik ergriffen und neue Instrumente geschaffen. Diese müssten ausgeschöpft werden, bevor man über neue Kompetenzen rede. Außerdem müssten alle Maßnahmen kompatibel mit dem WTO-Recht sein.
Dies gelte auch mit Blick auf den neuen Fokus in der Industriepolitik. “Wenn die Kommission künftig europäische Anbieter bevorzugen will, kann das problematisch werden”, warnt Lange. Bei seinen Gesprächen mit der WTO in Genf habe er immer wieder die Sorge gehört, dass sich die EU vom WTO-Konsens verabschieden könnte. Dies sei für die Partner eine reale Bedrohung.
“Ich habe ihnen deutlich gesagt, dass ich vielleicht der letzte Verteidiger des multilateralen Systems bin – aber ein starker Verteidiger. Wir wollen die Schotten nicht dicht machen.”
Sorgen bereitet Lange derzeit vor allem Frankreich, wo der Trend zu Protektionismus auch in der neuen Regierung ungebrochen scheint. Der neue Handelsminister in Paris habe sich schon gegen die Handelsabkommen CETA und Mercosur ausgesprochen. Deswegen rechne er nicht mehr damit, dass es bei diesen Themen in diesem Jahr noch Fortschritte geben werde.
“Irgendwann muss man sich entscheiden, ob man auch gegen Frankreich ein Handelsabkommen schließen kann”, fügte Lange hinzu. Der Moment sei jedoch noch nicht gekommen.
Verhalten optimistisch äußerte sich der SPD-Politiker mit Blick auf den Zollstreit um chinesische Autos. Die von der EU geplanten Ausgleichszölle seien ein “Anreiz zu Verhandlungen”, so Lange. “Im Grunde geht es um eine vernünftige Verhandlungslösung, sodass illegale Dumping- und Subventionsmaßnahmen aufhören”.
Dass eine ursprünglich am vergangenen Mittwoch geplante Vorabstimmung der EU-Staaten geplatzt ist, bereite ihm keine Sorgen. “Das ist wie bei Tarifverhandlungen. Der entscheidende Stichtag ist der 30. Oktober“.
Am kommenden Dienstag wollen sich die Vorsitzenden der Parlamentsausschüsse in der “Conference of the Committee Chairs” (CCC) einigen, wie die Leitung der Kommissarshearings unter den Ausschüssen verteilt wird. Ein Dokument, das Table.Briefings vorliegt, zeigt den Vorschlag, den der CCC-Vorsitzende Bernd Lange seinen Kollegen unterbreitet.
Dabei fällt auf: Besonders der Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) und der Umweltausschuss (ENVI) werden viel zu tun haben, sollte sich die CCC auf diesen Vorschlag einigen. Der ITRE-Ausschuss hätte die alleinige Hauptverantwortung für die Hearings von zwei Kommissaren (Dan Jørgensen und Ekaterina Zaharieva) und die geteilte Hauptverantwortung für fünf Kommissarshearings. Der ENVI-Ausschuss hätte die alleinige Hauptverantwortung für das Hearing von Jessika Roswall und die geteilte Hauptverantwortung für sechs Kommissarshearings.
Auch wenn die Verteilung der Verantwortlichkeiten noch nicht entschieden ist, wäre die hohe Auslastung von ITRE und ENVI angesichts des Fokus der neuen Kommission auf den “Clean Industry Deal” wenig überraschend.
Der Vorschlag des CCC-Vorsitzenden widerspiegelt auch die überlappenden Kompetenzen der designierten Kommissare. Bei der Hälfte aller Hearings wird die Hauptverantwortung von zwei oder mehr Parlamentsausschüssen geteilt. Auch bei den wirtschaftspolitisch wohl einflussreichsten designierten Kommissionsvizepräsidenten wird die Hearingleitung geteilt:
Die Verantwortung über ein Hearing gibt den Ausschüssen Einflussmöglichkeiten. Neben der physischen Beteiligung am Hearing regeln die Verantwortlichkeiten auch das Recht auf schriftliche Fragen. Ausschüsse mit der alleinigen Hauptverantwortung für ein Hearing können dem Kommissarskandidaten fünf schriftliche Fragen stellen, Ausschüsse mit geteilter Hauptverantwortung haben Anspruch auf drei schriftliche Fragen. Zudem gibt es in den meisten Hearings auch eingeladene Ausschüsse. Diese haben Anspruch auf eine schriftliche Frage. jaa/sti
Die rechte FPÖ ist erstmals stärkste politische Kraft in Österreich. Die Rechtspopulisten erreichten bei der Parlamentswahl laut Hochrechnung mit 28,8 Prozent ihr historisch bestes Ergebnis. Dies ist ein Plus von 12,6 Prozentpunkten gegenüber 2019. Die konservative Kanzlerpartei ÖVP kam auf 26,3 Prozent – ein Minus von 11,2 Punkten, wie aus Daten des Instituts Foresight im Auftrag des ORF hervorgeht. Die sozialdemokratische SPÖ fiel auf ein Rekordtief von 21,1 Prozent (minus 0,1 Punkte).
Doch dem klaren Wahlsieger, Herbert Kickl, ist als FPÖ-Chef der Weg ins Kanzleramt versperrt. Die ÖVP als einziger denkbarer Koalitionspartner weigert sich, mit dem rechten Politiker zusammenzuarbeiten.
Kickl sieht den historischen Wahlsieg seiner rechten Partei als Signal für einen Richtungswechsel in Österreich. «Der Wähler hat heute ein Machtwort gesprochen», sagte er in einer ersten Reaktion. Die Wähler hätten «ein klares Bekenntnis dafür abgegeben, dass es so nicht weitergehen kann in diesem Land.»
Das Wahlergebnis ist für Österreich gleich in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur. Noch nie waren die machtverwöhnte ÖVP und die SPÖ zeitgleich so schwach. Die Sozialdemokraten erreichten erstmals nur Platz drei, die ÖVP mit Kanzler Karl Nehammer an der Spitze verbuchte eines ihrer schlechtesten Wahlresultate. Nach Erkenntnissen der Wahlforscher profitierte die FPÖ enorm von der großen Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Österreich steckt tief in einer Wirtschaftsflaute, die Arbeitslosigkeit wächst. Zudem gehörte die Alpenrepublik in den vergangenen Jahren zu den Ländern in der EU mit besonders hoher Inflation. Außerdem gilt der strikte Anti-Migrationskurs der FPÖ als populär.
Die Grünen können den Angaben zufolge mit 8,3 Prozent (minus 5,6 Prozentpunkte) rechnen, die liberalen Neos mit 9,2 Prozent – das wäre ein kleines Plus. Die Bierpartei und die kommunistische KPÖ scheitern klar an der Vier-Prozent-Hürde. Insgesamt waren knapp 6,4 Millionen Bürger aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Zuletzt wurde das Land von einer Koalition aus ÖVP und Grünen regiert.
In ihrem Wahlprogramm hatte die FPÖ unter dem Motto «Festung Österreich – Festung Freiheit» für eine extrem restriktive Migrationspolitik geworben. Die Partei fordert eine Rückführung von Migranten in ihre Heimatländer und wünscht sich als Gegenentwurf zur international vielfach angestrebten Diversität «Homogenität» in der Gesellschaft. Außenpolitisch sieht die FPÖ die EU äußerst kritisch. Gegenüber Russland fährt sie trotz des Ukraine-Kriegs einen eher wohlwollenden Kurs und sieht kein Problem in der Abhängigkeit Österreichs von russischem Gas.
Trotz des Siegs dürfte es für Kickl sehr schwer werden, nächster Kanzler zu werden. Alle Parteien lehnen bisher eine Zusammenarbeit mit dem 55-Jährigen ab. Unter Kickls Ägide hat die FPÖ zum Beispiel ihre einstige Distanz zu den als rechtsextrem eingestuften Identitären aufgegeben. Bundespräsident Alexander Van der Bellen muss den Auftrag zur Regierungsbildung nicht zwingend der stimmenstärksten Partei übertragen. Der ehemalige Grünen-Chef hat immer wieder seine Kritik an politischen Positionen der FPÖ in Sachen EU, Migration und Ukraine-Krieg deutlich gemacht.
So gilt es als wahrscheinlich, dass Kanzler Nehammer den Auftrag bekommt, eine Regierungskoalition zu schmieden. Die Alternative zur FPÖ ist die SPÖ. Allerdings gilt ein Bündnis als schwierig, weil SPÖ-Chef Andreas Babler die Sozialdemokraten mit Forderungen wie der nach einer 32-Stunden-Woche weit nach links gerückt hat. Ob sich Babler angesichts des Ergebnisses im Amt halten kann, ist unklar. dpa
Kurz nach ihrem Sieg bei den Regionalwahlen hat die populistische Oppositionspartei ANO in Tschechien einen weiteren Erfolg verbuchen können. Die Gruppierung des Ex-Regierungschefs Andrej Babiš errang bei den Teil-Senatswahlen überraschend die meisten Mandate. In der Stichwahl-Runde, die am Samstag endete, wurde wie alle zwei Jahre nur ein Drittel der insgesamt 81 Sitze im Senat neu bestimmt. Die bestehende liberalkonservative Regierungsmehrheit in der zweiten Kammer des Parlaments war daher nicht in Gefahr.
Nach Auszählung aller Stimmen steht fest, dass die ANO insgesamt acht Sitze gewonnen hat – ein Zuwachs um sieben. Die liberalkonservativen Regierungsparteien sichern sich zusammengerechnet 15 Senatorenposten, müssen aber teils Verluste hinnehmen. Die Demokratische Bürgerpartei (ODS) von Ministerpräsident Petr Fiala gewinnt nur in fünf von zehn zu verteidigenden Wahlkreisen. Die Bürgermeisterpartei (STAN) von Innenminister Vit Rakusan holt sechs, die christdemokratische KDU-CSL zwei und die konservative TOP09 ebenfalls zwei Mandate.
Der Senat hat ein Mitspracherecht bei der Gesetzgebung und kann Verfassungsänderungen verhindern. Kurz nach der Hochwasser-Katastrophe im Osten Tschechiens fiel die Beteiligung bei der Stichwahl mit 17,5 Prozent äußerst niedrig aus.
Die Abstimmungen gelten als wichtiger Stimmungstest vor den Wahlen zum Abgeordnetenhaus, der wichtigeren der beiden Parlamentskammern, im nächsten Jahr. Die sich immer stärker rechtspopulistisch positionierende ANO des Milliardärs Babis kooperiert auf EU-Ebene mit der ungarischen Fidesz und der österreichischen FPÖ in der Patriots for Europe (PFE) Fraktion. Bei den Regionalwahlen vor einer Woche war sie in zehn von 13 Regionen stärkste Kraft geworden.
Nach den ernüchternden Wahlergebnissen wächst die Verunsicherung in der Koalition in Prag. Wegen des angekündigten Rauswurfs ihres Vorsitzenden Ivan Bartos als Minister für Regionalentwicklung gilt es als sicher, dass die Piratenpartei in die Opposition geht. Offen bleibt damit auch die Zukunft von Außenminister Jan Lipavsky, der sich als Unterstützer der Ukraine hervorgetan hat. Die Mehrheit der Regierung im Abgeordnetenhaus würde sich indes nur von 108 auf 104 der insgesamt 200 Sitze verkleinern. dpa
Chinas neuer Botschafter bei der EU hat sein neues Amt in Brüssel angetreten. Cai Run sei am Freitag in der belgischen Hauptstadt angekommen, teilte die chinesische Mission mit. Cai folgt damit auf Fu Cong, der seit dem Frühjahr China bei den Vereinten Nationen repräsentiert. Cai ist seit 2021 Botschafter in Israel.
Cai hatte bereits eine längere Station in Europa: Zwischen 2015 und 2020 war er Chinas Gesandter in Portugal. Zuvor hatte er verschiedene Posten im chinesischen Außenministerium inne. Zwischen 2005 und 2008 war er als Gesandter-Botschaftsrat (Minister counselor) in der Botschaft in den USA tätig. ari
Seinen Einstieg in die Politik verdankt der Österreicher Magnus Brunner einem Praktikum in Brüssel. Nach seiner Promotion heuerte der Jurist beim Ausschuss der Regionen an und lernte dort an der Kaffeebar den Landeshauptmann seiner Heimatregion Voralberg kennen. Einige Jahre später erinnerte der sich an ihn und machte Brunner zu seinem Büroleiter. “Ohne diese Begegnung wäre mein Weg womöglich ein ganz anderer gewesen”, sagte Brunner der Tageszeitung “Der Standard”.
Ehe der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer den heute 52-jährigen Brunner 2021 als Finanzminister in die Regierung holte, hatte Brunner mehrere Posten in der Wirtschaft innegehabt und sich als Staatssekretär um Klimaschutz und Energie gekümmert. Mit Innerem und Migration, seinem künftigen Aufgabengebiet in der EU-Kommission, hatte er dagegen keinerlei Berührungspunkte. Nehammer bezeichnet sein bisheriges Kabinettsmitglied dennoch als “hochqualifiziert” für den künftigen Posten: “Er hat bewiesen, dass er bei schwierigen Themen unterschiedliche Standpunkte zusammenführen kann und einen Kompromiss herstellen kann.”
Diese Fähigkeit wird er in den kommenden fünf Jahren unter Beweis stellen müssen, denn sein Ressort umfasst einige der am härtesten umstrittenen Themen in der EU. Es war eine der größten Überraschungen des Personaltableaus von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass sie ausgerechnet Brunner das Innenressort zuschlug. Er selbst und der Polit-Betrieb in Wien hatten fest mit einem Wirtschaftsportfolio in der künftigen EU-Kommission gerechnet. Doch die angepeilten Bereiche Finanzmärkte und Wettbewerb gingen an Frauen.
Von der Leyen kommt ein umgänglicher Typ wie Brunner sehr gelegen. In Österreich gilt er als freundlich und unauffällig. Er ist keiner, der wegen inhaltlichen Überzeugungen auf die Barrikaden geht. In seiner bisherigen Karriere hat er es hervorragend verstanden, Fehler zu vermeiden und sich so nach oben zu arbeiten. Widerworte und Profilierungsversuche muss von der Leyen von Brunner nicht erwarten, der als Mitglied der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) ihrer eigenen Parteienfamilie angehört.
Es war womöglich ein kalkulierter Schachzug von der Leyens, ausgerechnet einem Österreicher das Migrations-Portfolio anzuvertrauen, pocht Österreich doch schon seit Jahren auf einen härteren Kurs in Europa. Die Tendenz dürfte sich in den kommenden Jahren eher noch verstärken, denn die rechte Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) ist bei der gestrigen Parlamentswahl stärkste Partei geworden.
Brunner ist im Laufe seiner Karriere immer wieder überraschend auf Posten gelandet. Vor seiner Ernennung als Finanzminister hatte ihn niemand im Blick. Auch für den EU-Kommissarsposten war er zunächst nicht der Favorit. Wegen seiner hohen Umfragewerte habe Nehammer ihn nach Brüssel geschickt, heißt es in Wien. Zudem komme es Nehammer angesichts des schlechten Abschneidens bei der Parlamentswahl gelegen, wenn sich kein offensichtlicher Konkurrent in seinem Umfeld befinde.
In seiner künftigen Aufgabe wird Brunner stark im Blick stehen. Von der Leyen schreibt in ihrem Mission Letter für Brunner, dass Migration eine “Herausforderung” für Europa bleibe und eine Priorität für die Bürger. Brunner wird unter anderem für die Umsetzung des Migrationspakts zuständig sein und einen gemeinsamen Ansatz bei der Rückführung erarbeiten müssen. Auch der Kampf gegen Schlepper fällt in seinen Aufgabenbereich. Hinzu kommt die Stärkung der gemeinsamen Grenzen und natürlich auch der große Aspekt Innere Sicherheit, für die er kommendes Jahr eine Strategie vorlegen soll.
Bei seiner künftigen Aufgabe wird Brunner sein exzellentes Englisch zugutekommen. Mit 16 Jahren verbrachte er ein Jahr im britischen Internat Eton, die Kaderschmiede, die 20 britische Premiers besucht haben, darunter Boris Johnson und David Cameron. Nach dem Jura-Studium in Innsbruck absolvierte Brunner ein Post-Graduiertenstudium am renommierten King´s College in London.
Für sein Hobby Tennis wird nur wenig Zeit bleiben im neuen Job. Brunner spielte in seiner Jugend professionell Tennis und besiegte damals sogar den späteren US-Open-Sieger Julian Knowle. Sein Amt als Präsident des österreichischen Tennisverbands legte er nieder, als er Finanzminister wurde. Silke Wettach
Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 13. Dezember 2023 im Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung zum anstehenden Europäischen Rat abgibt, passiert etwas Ungewöhnliches: In den ersten Minuten seiner Regierungserklärung wendet sich der Kanzler nicht etwa den Herausforderungen für die EU zu, sondern ausschließlich einem EU-Mitgliedsstaat. Scholz gratuliert Donald Tusk zu seiner Vereidigung als Ministerpräsident, die am gleichen Tag stattgefunden hat. Und dann holt er weit aus, um mit viel Empathie die Chancen, die sich für die bilateralen Beziehungen, aber insbesondere auch für die Europäische Union mit der neuen polnischen Regierung ergeben, hervorzuheben. Unter anderem sagt er: “Donald Tusk hat angekündigt, Polen zurück ins Herz der Europäischen Union zu führen. Und genau da gehört Polen hin: in die Mitte Europas als unverzichtbarer Teil unserer Europäischen Union.” Und er fährt fort: “Polens Rolle in und für Europa ist heute größer denn je.“
Dass Olaf Scholz eine Regierungserklärung nutzt, um vor dem Deutschen Bundestag die neue polnische Regierung zu würdigen, zeigt, dass er sich der historischen Chance, die sich für Europa und die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen mit der neuen Regierung in Warschau aufgetan hat, sehr bewusst ist. Und doch stellt sich genau an dieser Stelle eine ganz entscheidende Frage, die nicht nur für Deutschland und Polen, sondern für ganz Europa von eminenter Bedeutung ist:
Inwiefern ist sich Deutschland, ist sich die Bundesregierung darüber im Klaren, dass der Sieg der demokratischen Kräfte bei den Sejm-Wahlen am 15. Oktober 2023 und die daraus hervorgegangene neue Regierung nicht nur als hoffnungsvolle Wendung der Geschichte, sondern als eine große Chance und Bewährungsprobe gleichermaßen für die Bundesrepublik Deutschland selbst begriffen werden müssen?
Die Freiheitsliebe des polnischen Volkes hat der amtierenden Bundesregierung die einmalige historische Chance eröffnet, Versäumnisse der deutschen Vorgängerregierungen aufzuarbeiten. Mit einem beherzten Eintreten für die Sicherheit Polens, einer Würdigung seines Beitrags zur Sicherung der EU-Ostgrenze und einer Aufarbeitung der blinden Flecken im deutschen historischen Bewusstsein für die unglaublichen Verbrechen, die Deutsche in Polen zwischen 1939 und 1945 begangen haben, würde Deutschland nicht nur bei vielen Menschen in Polen wieder einiges von dem Ansehen zurückerlangen, welches es mit seiner falschen und gefährlichen Russlandpolitik verspielt hat. Berlin würde darüber hinaus der neuen polnischen Regierung die Möglichkeit verschaffen, so eng wie vielleicht noch nie mit der deutschen Seite zu kooperieren.
Eine solche Zeitenwende in den deutsch-polnischen Beziehungen wäre nicht nur ein Segen für die Menschen auf beiden Seiten von Oder und Neiße. Sie ist angesichts der derzeitigen multiplen Gefährdungen für den “European Way of Life” vielmehr eine historische Notwendigkeit, um die Freiheit in Europa gegen ihre inneren und äußeren Feinde zu verteidigen.
Deshalb muss jetzt der Bundeskanzler selbst mit viel Mut und Empathie die Initiative ergreifen und seine Richtlinienkompetenz im Sinne dieser historischen Chance in die Waagschale werfen. Die folgenden fünf Punkte sollte Olaf Scholz zur Chefsache machen und beherzt angehen:
1. Für Eure und unsere Freiheit!
Angesichts des brutalen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der Bedrohung von Frieden und Freiheit in Europa sollte Deutschland, über das bisher schon in beachtlicher Weise Geleistete hinaus die Verteidigungsfähigkeiten der östlichen Flanke der NATO auch in Polen substanziell stärken, insbesondere im Bereich der Luftabwehr. Deutschland könnte sich hier der Unterstützung der jetzigen polnischen Regierung gewiss sein und würde mit solch einem Vorstoß (nicht nur) in Polen das Vertrauen in Deutschland wesentlich stärken. Wer einen solchen Vorstoß mit dem Hinweis auf die Kosten nicht wagt, hat immer noch nicht verstanden, dass man die Verteidigung der Freiheit nicht von der Haushaltslage abhängig machen kann.
2. Für eine echte humanitäre Geste
Die Bundesregierung hat Vorschläge entwickelt, wie eine angemessene humanitäre Geste gegenüber den in Polen noch lebenden Opfern der verbrecherischen deutschen Besatzung zwischen 1939 und 1945 aussehen könnte. Solch eine Geste sollte im Sinne der Wiedergutmachung, auch wenn diese mit keinem Geld der Welt erreicht werden kann, schnell auf den Weg gebracht werden. Und sie sollte mehr als nur symbolischer Art sein, sondern die noch lebenden Menschen materiell deutlich spürbar entlasten.
3. Für eine Aufarbeitung der blinden Flecken der Vergangenheit
Es ist die Aufgabe der heute Verantwortung tragenden politischen Generation, die deutschen Verbrechen in Polen in das Bewusstsein der deutschen Gesellschaft zu rücken. Das sind wir den polnischen Opfern schuldig, und das dürfen die heute lebenden Polinnen und Polen zurecht von uns erwarten. Deshalb sollte die Bundesregierung gemeinsam mit dem Deutschen Bundestag schnell die Voraussetzungen dafür schaffen, dass nicht nur das sogenannte Deutsch-Polnische Haus, sondern insbesondere ein Denkmal, welches der polnischen Opfer der unbeschreiblichen Verbrechen während der deutschen Besatzung zwischen 1939 und 1945 gedenkt, konsequent und zügig realisiert werden.
4. Für mehr Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Akteure
Als sich die deutsche und die polnische Regierung erstmals nach sechs Jahren am 2. Juli in Warschau wieder zur Regierungskonsultation trafen, wurde ein Aktionsplan verabschiedet, der gerade auch zivilgesellschaftlichen Akteuren eine große Bedeutung zumisst. Allerdings findet sich dieses Bekenntnis im Haushaltsentwurf 2025 der Bundesregierung in keinster Weise wieder. Deutsch-polnische Akteure, wie der Bundesverband der Deutsch-Polnischen Gesellschaften, das Deutsche Polen-Institut, das Deutsch-Polnische Jugendwerk oder gerade auch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit sollten im Bundeshaushalt jetzt mit mehr Mittel ausgestattet werden, die diese dann auch ohne die üblichen bürokratischen Hürden zielgerichtet einsetzen können.
5. Für einen neuen deutsch-polnischen Vertrag
Mit dem Vertrag von Aachen haben Deutschland und Frankreich ein neues Kapitel ihrer Beziehungen aufgeschlagen. Dieser Vertrag stellt eine Weiterentwicklung des Élysée-Vertrages dar, die den neuen Realitäten Rechnung trägt und auch die parlamentarischen Beziehungen zwischen beiden Ländern auf eine höhere Ebene bringt. Deutschland und Polen sollten aber nicht erst warten, bis der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag so alt wie der damalige Élysée-Vertrag geworden ist, bevor sie sich ans Werk machen und einen neuen deutsch-polnischen Vertrag miteinander entwickeln. Mit einem solchen neuen Vertrag könnten Polen und Deutschland dringend notwendige Impulse zur Verteidigung von Frieden und Freiheit auf unserem Kontinent gegen die inneren und äußeren Feinde der offenen Gesellschaft setzen.
In diesen Zeiten der Bedrohung von Frieden und Freiheit in Europa nicht mit Worten, sondern mit Taten auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, ist das Gebot der Stunde. Mit dem polnischen Premierminister Donald Tusk hat Olaf Scholz jetzt den Partner an seiner Seite, dessen es bedarf, um das historisch Notwendige zu tun – jetzt oder nie!
Dietmar Nietan, 60, ist SPD-Bundestagsabgeordneter aus dem Wahlkreis Düren und Polen-Beauftragter der Bundesregierung
heute sind gleich zwei EZB-Präsidenten in Brüssel. Christine Lagarde stellt sich ein erstes Mal seit den Europawahlen dem “Monetary Dialogue” im Wirtschaftsausschuss des Parlaments. Von konservativer Seite wird sie sich anhören müssen, dass die Inflation zu Unzufriedenheit in der Bevölkerung geführt habe, siehe das gestrige Wahlresultat in Österreich. Von linker Seite wird Lagarde zu hören kriegen, dass sie die Wirtschaftsentwicklung zu stark gebremst habe, was zu Unzufriedenheit in der Bevölkerung geführt habe, siehe das gestrige Wahlresultat in Österreich.
Lagardes Vorgänger Mario Draghi ist heute ebenfalls in Brüssel unterwegs und wirbt für seinen Bericht. So ist er zum Beispiel beim Think Tank Bruegel zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Es ist aber zu befürchten, dass er dort vor ohnehin schon konvertierten Geistern predigen wird. Überzeugen müsste er in den Mitgliedstaaten, aber die Einladung zu einem Treffen mit den EU-Industrieministern hatte er vergangenen Donnerstag aus Termingründen abgesagt.
Draghis Bericht wird heute zudem im Binnenmarktausschuss (IMCO) des Parlaments besprochen. Auch sonst laufen sich die Parlamentsausschüsse langsam warm. Der Handelsausschuss (INTA) diskutiert heute über die makrofinanzielle Unterstützung der Ukraine und gleich danach mit Noch-Vizepräsident Valdis Dombrovskis über die potenziellen Zölle auf Elektroautos aus China.
Konjunktur, Inflation, Krieg und die Zukunft der Industrie: alle großen Themen werden auch heute wieder in Brüssel diskutiert. Die Wähler zeigen sich aber vorerst unbeeindruckt vom Resultat dieser Diskussionen, siehe das gestrige Wahlresultat in Österreich.
Einen tatkräftigen Start in die Woche wünscht Ihnen,
Die EU-Kommission will den Einsatz chinesischer Technologie für die Produktion von grünem Wasserstoff für den europäischen Bedarf einschränken. Die Brüsseler Behörde veröffentlichte am Freitag die Bedingungen für die zweite Ausschreibung der Europäischen Wasserstoffbank. Zu den Bedingungen zählen auch neue Resilienzkriterien für Elektrolyseure. Zur Diversifizierung der Lieferkette müssten teilnehmende Projekte den Anteil von Elektrolyse-Stacks aus China auf höchstens 25 Prozent beschränken, heißt es in der Veröffentlichung.
Die Kommission rechtfertigt die Beschränkungen damit, dass bereits mehr als die Hälfte der weltweiten Produktionskapazitäten für Elektrolyseure in China beheimatet sei: “Es ist davon auszugehen, dass ein erhebliches Risiko einer zunehmenden und irreversiblen Abhängigkeit der EU von Einfuhren von Elektrolyseuren mit Ursprung in China besteht, was die Versorgungssicherheit der EU gefährden könnte.” Die europäische Wasserstoffbranche begrüßte den Schritt. “Die neuen Bedingungen schaffen ein positives Umfeld für Unternehmen, die in Europa investieren wollen”, sagte der CEO von Hydrogen Europe, Jorgo Chatzimarkakis.
In der zweiten Förderrunde stellt die EU 1,2 Milliarden Euro aus dem Innovationsfonds bereit. Mit der Summe soll für bis zu zehn Jahre ein fester Zuschuss für jedes im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) produzierte Kilogramm Wasserstoff oder dessen Derivate gezahlt werden. Die Höhe des Zuschusses wird in einer Ausschreibung ermittelt, die am 3. Dezember starten und bis Februar 2025 laufen soll.
Gesetzliche Grundlagen für Resilienzkriterien in öffentlichen Ausschreibungen hatte die EU bereits mit dem Net-Zero Industry Act (NZIA) geschaffen. Klimakommissar Wopke Hoekstra hatte Anfang des Monats ein Überangebot chinesischer Elektrolyseure beklagt, die “zu immer niedrigeren Preisen” auf den Markt kämen: “Deshalb werde ich dafür sorgen, dass die nächste Auktion anders verläuft. Wir werden klare Kriterien für den Aufbau europäischer Lieferketten für Elektrolyseure aufstellen.”
In der ersten Auktion waren chinesische Elektrolyseure an 20 der 130 Gebote beteiligt. Wie viele der sieben bezuschlagten Projekte mit chinesischen Anlagen gebaut werden, soll laut Reuters bis November feststehen. Dann müssen die Gewinner der europäischen Klimaagentur CINEA entsprechende Auftragsunterlagen vorlegen.
Das neue Diversifizierungskriterium ist nun so designt, dass es europäischen Herstellern einen Spielraum zum Einbau günstiger chinesischer Technik lässt. Es bezieht sich nicht auf die gesamte Anlage, sondern bestimmt nur eine Quote für deren Herzstück – die Zellstapel (Stacks) – und einzelne Wertschöpfungsstufen: “die Beschaffung von Elektrolyseur-Stacks, welche die Oberflächenbehandlung, die Produktion von Zelleneinheiten und die Stack-Montage umfassen”. Diese Strategie könnte wegweisend für andere Net-Zero-Güter wie Batterien werden, die ebenfalls mit dem Trade-off von Bezahlbarkeit einerseits sowie Industrie- und Sicherheitspolitik andererseits konfrontiert sind.
Mit der zweiten Wasserstoff-Auktion führt die Kommission aber auch ein Resilienzkriterium ein, das digitale Komponenten betrifft. In einem Cybersicherheitsplan müssen Teilnehmer künftig darlegen, dass “die betriebliche Kontrolle über die Anlage bei einer im EWR ansässigen Stelle verbleibt und die Daten im EWR gespeichert werden”. Bei einem Zuwiderhandeln will die Kommission nicht nur die Zuschüsse verweigern, sondern auch eine Geldbuße von acht Prozent der Fördersumme einfordern.
Die Kommission habe sich diesmal entschieden, proaktiv statt reaktiv zu handeln, lobte François Paquet die Ankündigung. Der Direktor der Renewable Hydrogen Coalition vertritt vor allem Unternehmen für erneuerbare Energien. Die Solarbranche hat die EU inzwischen wohl unwiederbringlich an China verloren, in der Windindustrie haben chinesische Produzenten ebenfalls eine starke Stellung erreicht.
Gerade für die Windbranche könnte das Cybersicherheitskriterium der Wasserstoffbank noch beispielhaft werden. Weil die Anlagen regelmäßig aus der Ferne überwacht, gesteuert und gewartet werden müssen, um Anforderungen an Betriebssicherheit und Gewährleistungen zu erfüllen, würde es eine hohe Hürde für chinesische Unternehmen bedeuten.
Auch die strengsten Resilienzkriterien hülfen allerdings nicht viel, wenn die Nachfrage nach erneuerbarem Wasserstoff ausbleibe, klagt die Renewable Hydrogen Coalition. “Nun bleibt die Finanzierungslücke für erneuerbaren Wasserstoff das größte Hindernis”, sagte Paquet. Er forderte auch von den Mitgliedstaaten, Leitmärkte für grüne Industriegüter wie Stahl, Chemikalien und Düngemittel zu schaffen. Mehrere Unternehmen hatten in den vergangenen Monaten nicht von der Wasserstoffbank geförderte Elektrolyse-Projekte auf Eis gelegt und dies mit gestiegenen Kosten und ausbleibender Nachfrage begründet.
Forderungen aus der Branche, den Höchstpreis für die Ausschreibungen zu erhöhen, ist die Kommission allerdings nur teilweise gefolgt. Der Deckel wird nicht wie geplant von 4,50 auf 3,50, sondern auf 4 Euro pro Kilogramm Wasserstoff gesenkt. Dafür werden die Geldbußen bei Nichterfüllung verdoppelt und die Aufsicht verschärft, um sicherzustellen, dass die Projekte tatsächlich kommen.
Die aktuellen Preisentwicklungen und Dilemmata der Industriepolitik bestätigte kürzlich auch eine Analyse von BNEF. Gegenüber dem letzten Report von 2022 seien die Prognosen für die Kostenentwicklung bis 2050 deutlich erhöht worden, schreibt Wasserstoff-Chefanalyst Martin Tengler. Zwar könnten die Kosten für Elektrolyseure bis dahin um die Hälfte sinken – bei einer restriktiven Handelspolitik sei aber nur mit einer Abnahme um 28 Prozent zu rechnen.
Ein weiteres wichtiges Dokument für die Wasserstoffwirtschaft veröffentlichte die Kommission ebenfalls am Freitag. Bis 25. Oktober konsultiert sie nun den Entwurf des Delegierten Rechtsakts für die Definition von kohlenstoffarmem Wasserstoff – also hauptsächlich blauem Wasserstoff aus Erdgas mit anschließender CO2-Abscheidung (CCS).
“Die nun vorgelegte EU-Definition für kohlenstoffarmen Wasserstoff schafft dringend benötigte Investitionssicherheit, insbesondere für erneuerbare Projekte, die mit kohlenstoffarmer Herstellung im Wettbewerb stehen”, sagt Michaela Holl von Agora Energiewende.
Die energieintensive Industrie setzt ihre Hoffnung auf eine neue Überprüfungsklausel. Bis Juli 2028 will die Kommission “alternative Pfade” untersuchen, die in der aktuellen Fassung nicht zum Zuge kamen – “insbesondere zur Erzeugung von kohlenstoffarmem Strom aus Kernkraftwerken auf der Grundlage geeigneter Kriterien”.
In dieser Überprüfungsklausel sieht die energieintensive europäische Industrie nun eine neue Chance vor allem für Kernkraftwerke und einige andere Formen der kohlenstoffarmen Stromerzeugung wie Müllverbrennungsanlagen und Teile der Stromproduktion aus Erneuerbaren. Frankreich hatte sich laut “Contexte” dafür eingesetzt, die CO2-Bilanzierung in dem Rechtsakt so anzupassen, dass Elektrolyseure klimafreundlicher dastehen, die über einen Langfristvertrag (PPA) Strom aus einem Kernkraftwerk beziehen. “Die Kommission scheint die Bedenken hinsichtlich des Ausschlusses von kohlenstoffarmen PPA gehört zu haben, da sie die Überprüfungsklausel einführt”, sagt ein Sprecher des europäischen Chemieverbands Cefic. Ausdrücklich erwähnt werden PPAs in der Klausel allerdings nicht.
Einen explizit genannten “alternativen Pfad” hätte allerdings Agora schon jetzt gerne umgesetzt gesehen. So will die Kommission prüfen, ob nach 2028 die Anrechenbarkeit von grünem Strom zur Wasserstoffherstellung auf stündlicher statt jährlicher Basis erfolgen kann, was den Produzenten das Geschäft erleichtern würde.
Die stündliche Betrachtung würde sicherstellen, dass kohlenstoffarmer Wasserstoff dann produziert wird, wenn auch viel Ökostrom vorhanden ist. “Dies würde den bestehenden Anforderungen für Wasserstoff aus erneuerbaren Energiequellen und den EU-Vorschriften für staatliche Beihilfen entsprechen”, schrieb Agora am Sonntag. Gegen eine ähnliche Stunden-Anforderung für die Produktion von grünem Wasserstoff hatte sich erst kürzlich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ausgesprochen. Er bat die Kommission um eine Verschiebung.
Wie in früheren Leaks hat die Kommission die umstrittenen Standardwerte für die Annahmen zu Methanemissionen bei der Gasförderung beibehalten. Weil diese national und nicht projektspezifisch betrachtet werden, bleibt nach einer früheren Agora-Analyse zunächst wohl hauptsächlich Norwegen als Handelspartner für blauen Wasserstoff übrig. Cefic beklagt dagegen, dass wesentliche rechtliche Grundlagen für die Berechnung der Upstream-Emissionen erst mit einem weiteren Delegierten Rechtsakt zur Methanverordnung geklärt werden. Diesen muss die Kommission erst 2027 vorlegen.
Hinweis: In dem Teil zum Delegierten Rechtsakt für kohlenstoffarmen Wasserstoff haben wir den Absatz zu PPAs angepasst. Die Aussagen zu langfristigen Abnahmeverträgen beziehen sich in diesem Zusammenhang vor allem auf Strom aus Kernkraftwerken und nicht aus erneuerbaren Energien.
Der Präsident des Handelsausschusses im Europaparlament Bernd Lange (SPD) warnt die neue EU-Kommission vor Abschottung und Protektionismus. Zugleich fordert er mehr Mitsprache des Parlaments bei internationalen Abkommen und Dringlichkeitsverfahren in Krisenlagen.
Dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Akzent künftig auf “wirtschaftliche Sicherheit” lege, sei angesichts des Verhaltens anderer Akteure wie Chinas oder der USA zwar durchaus verständlich, sagte Lange im Gespräch mit “Europe.Table”. Dabei dürfe die Kommission aber nicht zu weit gehen. Vor der Anhörung der designierten neuen Kommissare erwarte er noch einige wichtige Klärungen und Zusagen. Dies gelte auch für den designierten neuen Kommissar für Handel und wirtschaftliche Sicherheit Maroš Šefčovič.
Zunächst gehe es darum, ein neues Rahmenabkommen mit der Kommission zu schließen, so Lange. Das Parlament erwarte, dass sich von der Leyen bereit erklärt, keinen Antrag auf vorläufige Anwendung eines Abkommens zu stellen, bevor das Parlament nicht Ja oder Nein gesagt hat.
Bei Handelsabkommen ist dies bisher schon üblich; künftig solle es aber für alle internationalen Abkommen gelten. Außerdem will das Parlament bei Dringlichkeitsverfahren nach Artikel 122 des AEUV besser eingebunden werden, so Lange. Es gehe um Gleichbehandlung mit dem Rat.
Von der Leyen hatte in der letzten Legislatur zahlreiche wichtige Maßnahmen etwa zu COVID19 oder zum Krieg in der Ukraine in einem Eilverfahren nach Artikel 122 auf den Weg gebracht. Das Europaparlament wurde nicht gefragt und hatte Mühe, auf die entsprechenden Dokumente zuzugreifen.
“Da muss man schon schauen, wie man die demokratisch gewählte Institution der EU besser einbindet“, so Lange. Er hoffe, noch vor der Wahl von der neuen Kommission entsprechende Commitments zu bekommen. Dies ist jedoch nicht das einzige Anliegen.
Offene Fragen gibt es auch noch vor den Anhörungen der designierten neuen Kommissare, da sich Portfolios und Kompetenzen überschneiden, sei es in vielen Fällen schwierig, zu entscheiden, welche Kommissare in welchen Parlamentsausschüssen angehört werden.
“Bisher ist es noch ein dreidimensionales Puzzle”, so Lange, der die Anhörungen in der “Conference of Committee Chairs” (CCC) als Vorsitzender des CCC vorbereitet. Daher sei auch nicht sicher, ob sich die CCC am kommenden Dienstag bereits wie geplant auf einen Zeitplan für die Anhörungen einigt.
“Die Titel sind ja alle ein bisschen vage”, die Diskussion über die neuen Arbeitsgebiete und Mission Letters habe gerade erst begonnen. “Wir müssen abwarten, was das in der Praxis bedeutet”, so Lange. Da sei noch manches zu klären.
Dies gelte auch für den designierten neuen Handelskommissar Maroš Šefčovič. Der ehemalige Brexit-Unterhändler der EU soll künftig nicht nur für den Handel, sondern auch für “wirtschaftliche Sicherheit” zuständig sein.
Šefčovič sei “eine gute Wahl”, sagte Lange. Er könne hart verhandeln und habe sich beim Brexit als zuverlässig erwiesen. Allerdings sei unklar, was “wirtschaftliche Sicherheit” in der Praxis bedeutet. “Mir ist wichtig, dass wir nicht genauso protektionistisch werden wie andere.”
Die EU habe bereits einige defensive Maßnahmen in der Wirtschafts- und Handelspolitik ergriffen und neue Instrumente geschaffen. Diese müssten ausgeschöpft werden, bevor man über neue Kompetenzen rede. Außerdem müssten alle Maßnahmen kompatibel mit dem WTO-Recht sein.
Dies gelte auch mit Blick auf den neuen Fokus in der Industriepolitik. “Wenn die Kommission künftig europäische Anbieter bevorzugen will, kann das problematisch werden”, warnt Lange. Bei seinen Gesprächen mit der WTO in Genf habe er immer wieder die Sorge gehört, dass sich die EU vom WTO-Konsens verabschieden könnte. Dies sei für die Partner eine reale Bedrohung.
“Ich habe ihnen deutlich gesagt, dass ich vielleicht der letzte Verteidiger des multilateralen Systems bin – aber ein starker Verteidiger. Wir wollen die Schotten nicht dicht machen.”
Sorgen bereitet Lange derzeit vor allem Frankreich, wo der Trend zu Protektionismus auch in der neuen Regierung ungebrochen scheint. Der neue Handelsminister in Paris habe sich schon gegen die Handelsabkommen CETA und Mercosur ausgesprochen. Deswegen rechne er nicht mehr damit, dass es bei diesen Themen in diesem Jahr noch Fortschritte geben werde.
“Irgendwann muss man sich entscheiden, ob man auch gegen Frankreich ein Handelsabkommen schließen kann”, fügte Lange hinzu. Der Moment sei jedoch noch nicht gekommen.
Verhalten optimistisch äußerte sich der SPD-Politiker mit Blick auf den Zollstreit um chinesische Autos. Die von der EU geplanten Ausgleichszölle seien ein “Anreiz zu Verhandlungen”, so Lange. “Im Grunde geht es um eine vernünftige Verhandlungslösung, sodass illegale Dumping- und Subventionsmaßnahmen aufhören”.
Dass eine ursprünglich am vergangenen Mittwoch geplante Vorabstimmung der EU-Staaten geplatzt ist, bereite ihm keine Sorgen. “Das ist wie bei Tarifverhandlungen. Der entscheidende Stichtag ist der 30. Oktober“.
Am kommenden Dienstag wollen sich die Vorsitzenden der Parlamentsausschüsse in der “Conference of the Committee Chairs” (CCC) einigen, wie die Leitung der Kommissarshearings unter den Ausschüssen verteilt wird. Ein Dokument, das Table.Briefings vorliegt, zeigt den Vorschlag, den der CCC-Vorsitzende Bernd Lange seinen Kollegen unterbreitet.
Dabei fällt auf: Besonders der Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) und der Umweltausschuss (ENVI) werden viel zu tun haben, sollte sich die CCC auf diesen Vorschlag einigen. Der ITRE-Ausschuss hätte die alleinige Hauptverantwortung für die Hearings von zwei Kommissaren (Dan Jørgensen und Ekaterina Zaharieva) und die geteilte Hauptverantwortung für fünf Kommissarshearings. Der ENVI-Ausschuss hätte die alleinige Hauptverantwortung für das Hearing von Jessika Roswall und die geteilte Hauptverantwortung für sechs Kommissarshearings.
Auch wenn die Verteilung der Verantwortlichkeiten noch nicht entschieden ist, wäre die hohe Auslastung von ITRE und ENVI angesichts des Fokus der neuen Kommission auf den “Clean Industry Deal” wenig überraschend.
Der Vorschlag des CCC-Vorsitzenden widerspiegelt auch die überlappenden Kompetenzen der designierten Kommissare. Bei der Hälfte aller Hearings wird die Hauptverantwortung von zwei oder mehr Parlamentsausschüssen geteilt. Auch bei den wirtschaftspolitisch wohl einflussreichsten designierten Kommissionsvizepräsidenten wird die Hearingleitung geteilt:
Die Verantwortung über ein Hearing gibt den Ausschüssen Einflussmöglichkeiten. Neben der physischen Beteiligung am Hearing regeln die Verantwortlichkeiten auch das Recht auf schriftliche Fragen. Ausschüsse mit der alleinigen Hauptverantwortung für ein Hearing können dem Kommissarskandidaten fünf schriftliche Fragen stellen, Ausschüsse mit geteilter Hauptverantwortung haben Anspruch auf drei schriftliche Fragen. Zudem gibt es in den meisten Hearings auch eingeladene Ausschüsse. Diese haben Anspruch auf eine schriftliche Frage. jaa/sti
Die rechte FPÖ ist erstmals stärkste politische Kraft in Österreich. Die Rechtspopulisten erreichten bei der Parlamentswahl laut Hochrechnung mit 28,8 Prozent ihr historisch bestes Ergebnis. Dies ist ein Plus von 12,6 Prozentpunkten gegenüber 2019. Die konservative Kanzlerpartei ÖVP kam auf 26,3 Prozent – ein Minus von 11,2 Punkten, wie aus Daten des Instituts Foresight im Auftrag des ORF hervorgeht. Die sozialdemokratische SPÖ fiel auf ein Rekordtief von 21,1 Prozent (minus 0,1 Punkte).
Doch dem klaren Wahlsieger, Herbert Kickl, ist als FPÖ-Chef der Weg ins Kanzleramt versperrt. Die ÖVP als einziger denkbarer Koalitionspartner weigert sich, mit dem rechten Politiker zusammenzuarbeiten.
Kickl sieht den historischen Wahlsieg seiner rechten Partei als Signal für einen Richtungswechsel in Österreich. «Der Wähler hat heute ein Machtwort gesprochen», sagte er in einer ersten Reaktion. Die Wähler hätten «ein klares Bekenntnis dafür abgegeben, dass es so nicht weitergehen kann in diesem Land.»
Das Wahlergebnis ist für Österreich gleich in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur. Noch nie waren die machtverwöhnte ÖVP und die SPÖ zeitgleich so schwach. Die Sozialdemokraten erreichten erstmals nur Platz drei, die ÖVP mit Kanzler Karl Nehammer an der Spitze verbuchte eines ihrer schlechtesten Wahlresultate. Nach Erkenntnissen der Wahlforscher profitierte die FPÖ enorm von der großen Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Österreich steckt tief in einer Wirtschaftsflaute, die Arbeitslosigkeit wächst. Zudem gehörte die Alpenrepublik in den vergangenen Jahren zu den Ländern in der EU mit besonders hoher Inflation. Außerdem gilt der strikte Anti-Migrationskurs der FPÖ als populär.
Die Grünen können den Angaben zufolge mit 8,3 Prozent (minus 5,6 Prozentpunkte) rechnen, die liberalen Neos mit 9,2 Prozent – das wäre ein kleines Plus. Die Bierpartei und die kommunistische KPÖ scheitern klar an der Vier-Prozent-Hürde. Insgesamt waren knapp 6,4 Millionen Bürger aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Zuletzt wurde das Land von einer Koalition aus ÖVP und Grünen regiert.
In ihrem Wahlprogramm hatte die FPÖ unter dem Motto «Festung Österreich – Festung Freiheit» für eine extrem restriktive Migrationspolitik geworben. Die Partei fordert eine Rückführung von Migranten in ihre Heimatländer und wünscht sich als Gegenentwurf zur international vielfach angestrebten Diversität «Homogenität» in der Gesellschaft. Außenpolitisch sieht die FPÖ die EU äußerst kritisch. Gegenüber Russland fährt sie trotz des Ukraine-Kriegs einen eher wohlwollenden Kurs und sieht kein Problem in der Abhängigkeit Österreichs von russischem Gas.
Trotz des Siegs dürfte es für Kickl sehr schwer werden, nächster Kanzler zu werden. Alle Parteien lehnen bisher eine Zusammenarbeit mit dem 55-Jährigen ab. Unter Kickls Ägide hat die FPÖ zum Beispiel ihre einstige Distanz zu den als rechtsextrem eingestuften Identitären aufgegeben. Bundespräsident Alexander Van der Bellen muss den Auftrag zur Regierungsbildung nicht zwingend der stimmenstärksten Partei übertragen. Der ehemalige Grünen-Chef hat immer wieder seine Kritik an politischen Positionen der FPÖ in Sachen EU, Migration und Ukraine-Krieg deutlich gemacht.
So gilt es als wahrscheinlich, dass Kanzler Nehammer den Auftrag bekommt, eine Regierungskoalition zu schmieden. Die Alternative zur FPÖ ist die SPÖ. Allerdings gilt ein Bündnis als schwierig, weil SPÖ-Chef Andreas Babler die Sozialdemokraten mit Forderungen wie der nach einer 32-Stunden-Woche weit nach links gerückt hat. Ob sich Babler angesichts des Ergebnisses im Amt halten kann, ist unklar. dpa
Kurz nach ihrem Sieg bei den Regionalwahlen hat die populistische Oppositionspartei ANO in Tschechien einen weiteren Erfolg verbuchen können. Die Gruppierung des Ex-Regierungschefs Andrej Babiš errang bei den Teil-Senatswahlen überraschend die meisten Mandate. In der Stichwahl-Runde, die am Samstag endete, wurde wie alle zwei Jahre nur ein Drittel der insgesamt 81 Sitze im Senat neu bestimmt. Die bestehende liberalkonservative Regierungsmehrheit in der zweiten Kammer des Parlaments war daher nicht in Gefahr.
Nach Auszählung aller Stimmen steht fest, dass die ANO insgesamt acht Sitze gewonnen hat – ein Zuwachs um sieben. Die liberalkonservativen Regierungsparteien sichern sich zusammengerechnet 15 Senatorenposten, müssen aber teils Verluste hinnehmen. Die Demokratische Bürgerpartei (ODS) von Ministerpräsident Petr Fiala gewinnt nur in fünf von zehn zu verteidigenden Wahlkreisen. Die Bürgermeisterpartei (STAN) von Innenminister Vit Rakusan holt sechs, die christdemokratische KDU-CSL zwei und die konservative TOP09 ebenfalls zwei Mandate.
Der Senat hat ein Mitspracherecht bei der Gesetzgebung und kann Verfassungsänderungen verhindern. Kurz nach der Hochwasser-Katastrophe im Osten Tschechiens fiel die Beteiligung bei der Stichwahl mit 17,5 Prozent äußerst niedrig aus.
Die Abstimmungen gelten als wichtiger Stimmungstest vor den Wahlen zum Abgeordnetenhaus, der wichtigeren der beiden Parlamentskammern, im nächsten Jahr. Die sich immer stärker rechtspopulistisch positionierende ANO des Milliardärs Babis kooperiert auf EU-Ebene mit der ungarischen Fidesz und der österreichischen FPÖ in der Patriots for Europe (PFE) Fraktion. Bei den Regionalwahlen vor einer Woche war sie in zehn von 13 Regionen stärkste Kraft geworden.
Nach den ernüchternden Wahlergebnissen wächst die Verunsicherung in der Koalition in Prag. Wegen des angekündigten Rauswurfs ihres Vorsitzenden Ivan Bartos als Minister für Regionalentwicklung gilt es als sicher, dass die Piratenpartei in die Opposition geht. Offen bleibt damit auch die Zukunft von Außenminister Jan Lipavsky, der sich als Unterstützer der Ukraine hervorgetan hat. Die Mehrheit der Regierung im Abgeordnetenhaus würde sich indes nur von 108 auf 104 der insgesamt 200 Sitze verkleinern. dpa
Chinas neuer Botschafter bei der EU hat sein neues Amt in Brüssel angetreten. Cai Run sei am Freitag in der belgischen Hauptstadt angekommen, teilte die chinesische Mission mit. Cai folgt damit auf Fu Cong, der seit dem Frühjahr China bei den Vereinten Nationen repräsentiert. Cai ist seit 2021 Botschafter in Israel.
Cai hatte bereits eine längere Station in Europa: Zwischen 2015 und 2020 war er Chinas Gesandter in Portugal. Zuvor hatte er verschiedene Posten im chinesischen Außenministerium inne. Zwischen 2005 und 2008 war er als Gesandter-Botschaftsrat (Minister counselor) in der Botschaft in den USA tätig. ari
Seinen Einstieg in die Politik verdankt der Österreicher Magnus Brunner einem Praktikum in Brüssel. Nach seiner Promotion heuerte der Jurist beim Ausschuss der Regionen an und lernte dort an der Kaffeebar den Landeshauptmann seiner Heimatregion Voralberg kennen. Einige Jahre später erinnerte der sich an ihn und machte Brunner zu seinem Büroleiter. “Ohne diese Begegnung wäre mein Weg womöglich ein ganz anderer gewesen”, sagte Brunner der Tageszeitung “Der Standard”.
Ehe der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer den heute 52-jährigen Brunner 2021 als Finanzminister in die Regierung holte, hatte Brunner mehrere Posten in der Wirtschaft innegehabt und sich als Staatssekretär um Klimaschutz und Energie gekümmert. Mit Innerem und Migration, seinem künftigen Aufgabengebiet in der EU-Kommission, hatte er dagegen keinerlei Berührungspunkte. Nehammer bezeichnet sein bisheriges Kabinettsmitglied dennoch als “hochqualifiziert” für den künftigen Posten: “Er hat bewiesen, dass er bei schwierigen Themen unterschiedliche Standpunkte zusammenführen kann und einen Kompromiss herstellen kann.”
Diese Fähigkeit wird er in den kommenden fünf Jahren unter Beweis stellen müssen, denn sein Ressort umfasst einige der am härtesten umstrittenen Themen in der EU. Es war eine der größten Überraschungen des Personaltableaus von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass sie ausgerechnet Brunner das Innenressort zuschlug. Er selbst und der Polit-Betrieb in Wien hatten fest mit einem Wirtschaftsportfolio in der künftigen EU-Kommission gerechnet. Doch die angepeilten Bereiche Finanzmärkte und Wettbewerb gingen an Frauen.
Von der Leyen kommt ein umgänglicher Typ wie Brunner sehr gelegen. In Österreich gilt er als freundlich und unauffällig. Er ist keiner, der wegen inhaltlichen Überzeugungen auf die Barrikaden geht. In seiner bisherigen Karriere hat er es hervorragend verstanden, Fehler zu vermeiden und sich so nach oben zu arbeiten. Widerworte und Profilierungsversuche muss von der Leyen von Brunner nicht erwarten, der als Mitglied der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) ihrer eigenen Parteienfamilie angehört.
Es war womöglich ein kalkulierter Schachzug von der Leyens, ausgerechnet einem Österreicher das Migrations-Portfolio anzuvertrauen, pocht Österreich doch schon seit Jahren auf einen härteren Kurs in Europa. Die Tendenz dürfte sich in den kommenden Jahren eher noch verstärken, denn die rechte Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) ist bei der gestrigen Parlamentswahl stärkste Partei geworden.
Brunner ist im Laufe seiner Karriere immer wieder überraschend auf Posten gelandet. Vor seiner Ernennung als Finanzminister hatte ihn niemand im Blick. Auch für den EU-Kommissarsposten war er zunächst nicht der Favorit. Wegen seiner hohen Umfragewerte habe Nehammer ihn nach Brüssel geschickt, heißt es in Wien. Zudem komme es Nehammer angesichts des schlechten Abschneidens bei der Parlamentswahl gelegen, wenn sich kein offensichtlicher Konkurrent in seinem Umfeld befinde.
In seiner künftigen Aufgabe wird Brunner stark im Blick stehen. Von der Leyen schreibt in ihrem Mission Letter für Brunner, dass Migration eine “Herausforderung” für Europa bleibe und eine Priorität für die Bürger. Brunner wird unter anderem für die Umsetzung des Migrationspakts zuständig sein und einen gemeinsamen Ansatz bei der Rückführung erarbeiten müssen. Auch der Kampf gegen Schlepper fällt in seinen Aufgabenbereich. Hinzu kommt die Stärkung der gemeinsamen Grenzen und natürlich auch der große Aspekt Innere Sicherheit, für die er kommendes Jahr eine Strategie vorlegen soll.
Bei seiner künftigen Aufgabe wird Brunner sein exzellentes Englisch zugutekommen. Mit 16 Jahren verbrachte er ein Jahr im britischen Internat Eton, die Kaderschmiede, die 20 britische Premiers besucht haben, darunter Boris Johnson und David Cameron. Nach dem Jura-Studium in Innsbruck absolvierte Brunner ein Post-Graduiertenstudium am renommierten King´s College in London.
Für sein Hobby Tennis wird nur wenig Zeit bleiben im neuen Job. Brunner spielte in seiner Jugend professionell Tennis und besiegte damals sogar den späteren US-Open-Sieger Julian Knowle. Sein Amt als Präsident des österreichischen Tennisverbands legte er nieder, als er Finanzminister wurde. Silke Wettach
Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 13. Dezember 2023 im Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung zum anstehenden Europäischen Rat abgibt, passiert etwas Ungewöhnliches: In den ersten Minuten seiner Regierungserklärung wendet sich der Kanzler nicht etwa den Herausforderungen für die EU zu, sondern ausschließlich einem EU-Mitgliedsstaat. Scholz gratuliert Donald Tusk zu seiner Vereidigung als Ministerpräsident, die am gleichen Tag stattgefunden hat. Und dann holt er weit aus, um mit viel Empathie die Chancen, die sich für die bilateralen Beziehungen, aber insbesondere auch für die Europäische Union mit der neuen polnischen Regierung ergeben, hervorzuheben. Unter anderem sagt er: “Donald Tusk hat angekündigt, Polen zurück ins Herz der Europäischen Union zu führen. Und genau da gehört Polen hin: in die Mitte Europas als unverzichtbarer Teil unserer Europäischen Union.” Und er fährt fort: “Polens Rolle in und für Europa ist heute größer denn je.“
Dass Olaf Scholz eine Regierungserklärung nutzt, um vor dem Deutschen Bundestag die neue polnische Regierung zu würdigen, zeigt, dass er sich der historischen Chance, die sich für Europa und die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen mit der neuen Regierung in Warschau aufgetan hat, sehr bewusst ist. Und doch stellt sich genau an dieser Stelle eine ganz entscheidende Frage, die nicht nur für Deutschland und Polen, sondern für ganz Europa von eminenter Bedeutung ist:
Inwiefern ist sich Deutschland, ist sich die Bundesregierung darüber im Klaren, dass der Sieg der demokratischen Kräfte bei den Sejm-Wahlen am 15. Oktober 2023 und die daraus hervorgegangene neue Regierung nicht nur als hoffnungsvolle Wendung der Geschichte, sondern als eine große Chance und Bewährungsprobe gleichermaßen für die Bundesrepublik Deutschland selbst begriffen werden müssen?
Die Freiheitsliebe des polnischen Volkes hat der amtierenden Bundesregierung die einmalige historische Chance eröffnet, Versäumnisse der deutschen Vorgängerregierungen aufzuarbeiten. Mit einem beherzten Eintreten für die Sicherheit Polens, einer Würdigung seines Beitrags zur Sicherung der EU-Ostgrenze und einer Aufarbeitung der blinden Flecken im deutschen historischen Bewusstsein für die unglaublichen Verbrechen, die Deutsche in Polen zwischen 1939 und 1945 begangen haben, würde Deutschland nicht nur bei vielen Menschen in Polen wieder einiges von dem Ansehen zurückerlangen, welches es mit seiner falschen und gefährlichen Russlandpolitik verspielt hat. Berlin würde darüber hinaus der neuen polnischen Regierung die Möglichkeit verschaffen, so eng wie vielleicht noch nie mit der deutschen Seite zu kooperieren.
Eine solche Zeitenwende in den deutsch-polnischen Beziehungen wäre nicht nur ein Segen für die Menschen auf beiden Seiten von Oder und Neiße. Sie ist angesichts der derzeitigen multiplen Gefährdungen für den “European Way of Life” vielmehr eine historische Notwendigkeit, um die Freiheit in Europa gegen ihre inneren und äußeren Feinde zu verteidigen.
Deshalb muss jetzt der Bundeskanzler selbst mit viel Mut und Empathie die Initiative ergreifen und seine Richtlinienkompetenz im Sinne dieser historischen Chance in die Waagschale werfen. Die folgenden fünf Punkte sollte Olaf Scholz zur Chefsache machen und beherzt angehen:
1. Für Eure und unsere Freiheit!
Angesichts des brutalen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der Bedrohung von Frieden und Freiheit in Europa sollte Deutschland, über das bisher schon in beachtlicher Weise Geleistete hinaus die Verteidigungsfähigkeiten der östlichen Flanke der NATO auch in Polen substanziell stärken, insbesondere im Bereich der Luftabwehr. Deutschland könnte sich hier der Unterstützung der jetzigen polnischen Regierung gewiss sein und würde mit solch einem Vorstoß (nicht nur) in Polen das Vertrauen in Deutschland wesentlich stärken. Wer einen solchen Vorstoß mit dem Hinweis auf die Kosten nicht wagt, hat immer noch nicht verstanden, dass man die Verteidigung der Freiheit nicht von der Haushaltslage abhängig machen kann.
2. Für eine echte humanitäre Geste
Die Bundesregierung hat Vorschläge entwickelt, wie eine angemessene humanitäre Geste gegenüber den in Polen noch lebenden Opfern der verbrecherischen deutschen Besatzung zwischen 1939 und 1945 aussehen könnte. Solch eine Geste sollte im Sinne der Wiedergutmachung, auch wenn diese mit keinem Geld der Welt erreicht werden kann, schnell auf den Weg gebracht werden. Und sie sollte mehr als nur symbolischer Art sein, sondern die noch lebenden Menschen materiell deutlich spürbar entlasten.
3. Für eine Aufarbeitung der blinden Flecken der Vergangenheit
Es ist die Aufgabe der heute Verantwortung tragenden politischen Generation, die deutschen Verbrechen in Polen in das Bewusstsein der deutschen Gesellschaft zu rücken. Das sind wir den polnischen Opfern schuldig, und das dürfen die heute lebenden Polinnen und Polen zurecht von uns erwarten. Deshalb sollte die Bundesregierung gemeinsam mit dem Deutschen Bundestag schnell die Voraussetzungen dafür schaffen, dass nicht nur das sogenannte Deutsch-Polnische Haus, sondern insbesondere ein Denkmal, welches der polnischen Opfer der unbeschreiblichen Verbrechen während der deutschen Besatzung zwischen 1939 und 1945 gedenkt, konsequent und zügig realisiert werden.
4. Für mehr Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Akteure
Als sich die deutsche und die polnische Regierung erstmals nach sechs Jahren am 2. Juli in Warschau wieder zur Regierungskonsultation trafen, wurde ein Aktionsplan verabschiedet, der gerade auch zivilgesellschaftlichen Akteuren eine große Bedeutung zumisst. Allerdings findet sich dieses Bekenntnis im Haushaltsentwurf 2025 der Bundesregierung in keinster Weise wieder. Deutsch-polnische Akteure, wie der Bundesverband der Deutsch-Polnischen Gesellschaften, das Deutsche Polen-Institut, das Deutsch-Polnische Jugendwerk oder gerade auch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit sollten im Bundeshaushalt jetzt mit mehr Mittel ausgestattet werden, die diese dann auch ohne die üblichen bürokratischen Hürden zielgerichtet einsetzen können.
5. Für einen neuen deutsch-polnischen Vertrag
Mit dem Vertrag von Aachen haben Deutschland und Frankreich ein neues Kapitel ihrer Beziehungen aufgeschlagen. Dieser Vertrag stellt eine Weiterentwicklung des Élysée-Vertrages dar, die den neuen Realitäten Rechnung trägt und auch die parlamentarischen Beziehungen zwischen beiden Ländern auf eine höhere Ebene bringt. Deutschland und Polen sollten aber nicht erst warten, bis der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag so alt wie der damalige Élysée-Vertrag geworden ist, bevor sie sich ans Werk machen und einen neuen deutsch-polnischen Vertrag miteinander entwickeln. Mit einem solchen neuen Vertrag könnten Polen und Deutschland dringend notwendige Impulse zur Verteidigung von Frieden und Freiheit auf unserem Kontinent gegen die inneren und äußeren Feinde der offenen Gesellschaft setzen.
In diesen Zeiten der Bedrohung von Frieden und Freiheit in Europa nicht mit Worten, sondern mit Taten auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, ist das Gebot der Stunde. Mit dem polnischen Premierminister Donald Tusk hat Olaf Scholz jetzt den Partner an seiner Seite, dessen es bedarf, um das historisch Notwendige zu tun – jetzt oder nie!
Dietmar Nietan, 60, ist SPD-Bundestagsabgeordneter aus dem Wahlkreis Düren und Polen-Beauftragter der Bundesregierung