Table.Briefing: Europe

Estland bremst Mehrwertsteuerreform + Katalonische Separatisten bleiben in der Mehrheit + Liese gegen Agrar-ETS

Liebe Leserin, lieber Leser,

in Brüssel treffen sich heute und morgen die EU-Finanzminister, zuerst im Eurogruppen-Format und dann als ECOFIN-Rat. Nach einem Update zum aktuellen Konjunkturverlauf und einer Diskussion über die fehlende Innovationskraft der EU besprechen die Minister das aktuell wohl heißeste Thema der europäischen Wirtschaftspolitik: die Kapitalmarktunion.

Der ehemalige französische Nationalbankpräsident Christian Noyer wird während des Abendessens heute Abend einen Bericht präsentieren, den er im Auftrag des französischen Wirtschaftsministeriums geschrieben hat. Der Bericht zeigt etwas detaillierter auf, wie ein europäisches Sparprodukt, ein mit Staatsgarantien gestützter Verbriefungsmarkt und eine zentralisiertere Marktaufsicht operationalisiert werden könnten.

Morgen, Dienstag, beschäftigen sich die Minister dann mit zwei Steuerdossiers, welche die belgische Präsidentschaft gern noch zum Abschluss bringen würde: die Reform der Mehrwertsteuer sowie eine Reform der Quellenbesteuerung.

Das erste Anliegen soll die Erhebung der Mehrwertsteuern modernisieren und digitalisieren, was die Datenerhebung erleichtern und Mehrwertsteuerbetrug eindämmen soll. Eine der Maßnahmen würde große Plattformen in die Pflicht nehmen, dafür zu sorgen, dass die auf ihr aktiven Anbieter Mehrwertsteuern zahlen. Estland, Heimatland der Mobilitätsplattform Bolt, stellt sich noch gegen diese Bestimmung. Laut Informationen, die Table.Briefings vorliegen, ist der baltische Mitgliedstaat die einzige Hürde zur Annahme der Reform, die Einstimmigkeit benötigt.

Für diesen Start in die Woche wünsche ich Ihnen das Selbstvertrauen jener Kleinstaaten, die es immer wieder schaffen, die Steuerpolitik der ganzen EU nach ihren Vorstellungen zu formen.

Ihr
János Allenbach-Ammann
Bild von János  Allenbach-Ammann

Analyse

Europawahl: Wie die EU ihr Kommunikationsproblem lösen kann

Eine hohe Wahlbeteiligung, das erhoffen sich viele in der Europapolitik, ist der beste Schutz vor dem Erstarken demokratiefeindlicher Parteien im Europaparlament. Doch wie lassen sich Wählerinnen und Wähler mobilisieren – insbesondere die 16- und 17-Jährigen, die in Deutschland erstmals an den Europawahlen 2024 teilnehmen können?

“Das Wahlrecht für die 16- und 17-Jährigen wird als große Errungenschaft gefeiert”, sagt Stephanie Hartung, Mitgründerin und stellvertretende Vorsitzende von Pulse of Europe. Sie selbst sei jedoch hin- und hergerissen. “Ich fände es eine große Errungenschaft, wenn sie denn alle wenigstens davon wüssten, dass sie wählen können. Da ist für mich ein riesiges Fragezeichen dahinter.” Europa hat ein Kommunikationsproblem, meint Hartung – nicht nur rund um die Wahl.

Pulse of Europe: “Man kann nicht endlos demonstrieren”

Die Bürgerbewegung Pulse of Europe ist 2017 angetreten, um für die europäische Idee zu werben und sie vor undemokratischen Strömungen oder auch vor Desinteresse und sinkender Wahlbeteiligung zu schützen. Dazu nutzt sie niederschwellige Aktionen, wie etwa das gemeinsame Singen der Europahymne vergangene Woche in Köln. Doch während Pulse of Europe mit seinen Sonntagsdemonstrationen in den Jahren nach seiner Gründung für viel Aufmerksamkeit sorgte, ist es zuletzt ruhiger um die Bewegung geworden.

“Man sieht es an Fridays for Future: Man kann natürlich nicht endlos demonstrieren, aber anlassbezogen”, erklärt Hartung. Und die Europawahl ist ein solcher Anlass. Pulse of Europe hat nicht nur seine eigene Europawahlkampagne gestartet, sondern es finden auch wieder Aktionen auf Straßen und Plätzen statt. “Wir sind in etlichen Städten unterwegs. Am Sonntag vor der Europawahl wollen noch einmal möglichst viele Pulse-of-Europe-Städte demonstrieren gehen.” Mittlerweile sei Pulse of Europe jedoch wesentlich mehr als das, sagt Hartung. “Es gibt unterschiedlichste Formate, wie etwa die europäischen Hausparlamente, wo wir über die Reform Europas diskutieren. Wir stellen kritische Fragen und lassen Bürger darüber diskutieren, wie sie sich ihr Europa vorstellen.”

Europa hat ein Kommunikationsproblem

Die Stimmung gegenüber Europa sei kritisch. “Und das nicht zu Unrecht, das sehen wir auch als pro-europäische Bürgerbewegung so. Es gibt Reformbedarf”, sagt Hartung. Tatsächlich sei Europa aber besser als sein Ruf. Auch das sei keine neue Symptomatik. “Würden Kommunalpolitiker bei ihrem Schaffen vor Ort den Bürgerinnen und Bürgern jeden Tag klarmachen, wie viel – und in dem Fall dann doch auch Gutes – aus Europa kommt, dann stünde Europa sicherlich besser da.”

Europa sei komplex und schlecht darin, seine Politik zu vermitteln, meint Hartung. “Europa müsste eine riesige Kommunikationsmaschine täglich vorhalten, um zu sagen, was Europa alles Gutes tut.” Denn auf nationaler Ebene würde die Verbindung zu Europa nicht immer in dem Maße hergestellt, wie sie hergestellt werden müsste. “Auch jetzt zur Europawahl sehen wir wieder, dass Europa ganz speziell funktionalisiert, instrumentalisiert, um nicht zu sagen missbraucht wird.”

Dennoch sei die Stimmung nicht so schlecht, wie oft behauptet. “Wir müssen trennen zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten und ihren Bürgerinnen und Bürgern“, mahnt Hartung. Polen sei ein gutes Beispiel. “Eine Mehrheit der Polen war auch unter der PiS-Regierung ganz eindeutig pro Europa. Seit Donald Tusk übernommen hat, haben sie endlich wieder das Gefühl, dass es in Brüssel ankommt, wie sie das Empfinden.”

Großer Reformbedarf

Ein Problem Europas sei der anspruchsvolle Versuch, “ein maximales Miteinander bei maximaler Souveränität zu erreichen”, meint Hartung. Ein Beispiel dafür: Das Einstimmigkeitsprinzip, das die Gemeinschaft zunächst groß gemacht habe, sie nun aber zu langsam und erpressbar mache. Die Lösung: Die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips hin zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen.

Reformbedarf sieht Hartung auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. “Da müssen wir uns angesichts der globalen Herausforderungen dringend anders aufstellen”, sagt Hartung. Allerdings sei das ein dickes Brett. Unterm Strich wisse aber die Mehrheit, dass es sich nicht gut anfühle, im Zusammenspiel mit den USA, China und Russland, aber auch Indien und Brasilien als Land allein dazustehen.

Auch müsse die Union das europäische Gemeinschaftsgefühl stärken. Dazu schlägt sie einen europäischen Sender mit einem gemeinsamen Programm vor – übersetzt in alle 24 offizielle Sprachen der EU. “Ein großer gemeinsamer Medienkanal wäre gut, damit eben in Rumänien auch ankommt, was in Finnland passiert – und zwar auch mal auf dem platten Land”, findet Hartung. Auch eine gemeinsame Amtssprache wäre hilfreich, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken.

Initiativrecht des Parlaments

Deutlich weitergehend sind die Reformforderungen von Volt. “Wir wollen der EU eine Verfassung zu geben“, sagt Nela Riehl, die für Volt für das Europaparlament kandidiert. Dafür gelte es nun, Mehrheiten zu finden. “Uns schwebt eine richtige europäische Regierung mit einer europäischen Premierministerin vor.” Auch europäische Ministerien soll es geben. Europa wäre dann föderal aufgebaut wie die Bundesrepublik. Dafür gebe es durchaus Unterstützung, sagt Riehl. “Viele nehmen das als Gegenentwurf wahr zu diesem ,Wir müssen zurück zum Nationalstaat’, was ja das rechtskonservative Narrativ gerade ist.”

Nicht gerade eine europäische Regierung, aber die Direktwahl der Kommissionspräsidenten fordert auch die Linke. Es gehe darum, “dass es da eine direkte Legitimität gibt”, dass die Personalie nicht einfach hinter verschlossenen Türen ausgehandelt werde, sagt Martin Schirdewan, Co-Vorsitzender der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament. “Wir wollen eine stärkere BürgerInnenbeteiligung, dass Europäische Bürgerinitiativen, wenn sie erfolgreich sind, auch direkt in den Gesetzgebungsprozess aufgenommen werden müssen.” Vor allem aber: “Es ist klar, dass wir ein Initiativrecht für das Europäische Parlament brauchen.”

So sieht das auch die SPD. “Wir sehen Reformbedarf, was die Rolle des Europäischen Parlaments angeht, das endlich ein Initiativrecht braucht”, sagt Generalsekretär Kevin Kühnert. “Die Menschen wählen jetzt ihr Parlament und erwarten ehrlich gesagt, dass dieses Parlament das kann, was jeder Bundestag und jeder Landtag auch kann: eigene Gesetzentwürfe einbringen.” Die EU sei über ihre alte Größe hinausgewachsen, deswegen müssten auch die Spielregeln angepasst werden. “Einstimmigkeit bei so etwas wie steuerpolitischen Fragen ist aus der Zeit gefallen bei 27 Mitgliedstaaten”, meint Kühnert. “Und ja, mehr föderale Struktur wäre gut.”

Transnationale Listen

Die SPD finde zum Beispiel wichtig, dass Bürgerinnen und Bürger bei der nächsten Europawahl neben der nationalen Stimme, die sie für eine Liste abgeben können, auch für eine transnationale Liste stimmen können – wie auch Volt das fordert. “Denn wir treten längst gemeinsam mit unseren europäischen sozialdemokratischen Schwesterparteien auf und auch unter gleichen programmatischen Voraussetzungen”, sagt Kühnert. “Wir würden das gerne auch in einer gemeinsamen Liste den Wählerinnen und Wählern darlegen wollen.”

Auch Hartung von Pulse of Europe hält es für wichtig, das Initiativrecht für das Parlament endlich einzuführen. “Denn da würde in meinen Augen deutlich mehr Bewegung in die Bude kommen.”

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Warum Chinas Forschende Russland kritisch sehen und trotzdem auf Kooperation setzen

Wladimir Putin reist nach China – wieder einmal. Nur wenige Tage nach seiner Europa-Reise trifft sich Staatschef Xi Jinping also mit jenem Mann, von dem ihn die Europäer – zuletzt Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron – gern loseisen würden. Bislang ohne Erfolg.

Chinas offizielle Äußerungen zu Russland verändern sich nicht. Trotzdem läuft zumindest in akademischen Kreisen weiter eine Debatte über Russlands Angriff auf die Ukraine und die chinesische Haltung dazu. Kürzlich überraschte einer der schärfsten Russland-Kritiker mit einem Gastbeitrag für das britische Magazin Economist: Der Pekinger Politikprofessor Feng Yujun prognostizierte darin eine Niederlage Russlands. Die anhaltende westliche Unterstützung und der gesellschaftliche Zusammenhalt in der Ukraine würden dazu führen, dass Russland “zu gegebener Zeit” alle besetzten Gebiete werde räumen müssen.

Von Beginn der Invasion an hatte Feng immer wieder argumentiert, dass Russlands Einmarsch in die Ukraine ungerechtfertigt und von imperialer Gier motiviert sei – und dass eine zu enge Zusammenarbeit mit Moskau in dieser Frage ein strategischer Fehler für China sei. “Die Beziehungen Chinas zu Russland sind nicht festgelegt”, so Feng. China habe sich bereits von der ‘No Limits’-Freundschaft zu Russland verabschiedet und sei zu traditionellen Grundsätzen der Blockfreiheit und Nicht-Konfrontation zurückgekehrt.

Chinas Akademiker: Misstrauen und Kritik an Moskau

Der Forscher ist mit seiner Kritik an Russland kein Einzelfall. “Fengs Misstrauen und seine Kritik an Moskau sind in den meisten meiner Gespräche mit chinesischen Wissenschaftlern deutlich geworden, wenn auch in milderer Form”, meint Thomas des Garets Geddes, der ausgewählte Aufsätze chinesischer Wissenschaftler übersetzen lässt und in seinem Newsletter Sinification publiziert.

Auch Mark Leonard vom European Council of Foreign Relations (ECFR) war Ende 2022 auf einer Konferenz in Peking mit mehreren Wissenschaftlern ins vertrauliche Gespräch gekommen. “Die ambivalenten Gefühle der Chinesen gegenüber den Russen waren sehr auffällig“, erzählte er im vergangenen Juli auf einem Webinar zur Vorstellung einer damals erschienenen ECFR- Studie zum Thema. Teilweise sei gar eine gewisse Verachtung deutlich geworden.

Nur sollte das dem Westen nicht allzu viel Hoffnung machen. Feng Yujun gibt mit seiner Warnung vor einem engen Verhältnis zu Russland nicht die Mehrheitsmeinung unter chinesischen Politologen wieder. “Es ist durchaus üblich, dass chinesische Analysten Kritik und Misstrauen gegenüber Moskau äußern und gleichzeitig für die Aufrechterhaltung enger Beziehungen zum Kreml plädieren“, sagte Geddes zu Table.Briefings. “Dies mag auf den ersten Blick etwas widersprüchlich erscheinen, spiegelt aber lediglich wider, dass Chinas nationale Interessen Vorrang vor allem anderen haben.”

Chinas Falken fordern engere Allianz mit Russland

Dazu gehört, dass Peking weiter glaubt, Russland als Verbündeten gegen die ungeliebte westlich dominierte Weltordnung zu brauchen. Manche Akademiker stehen daher zu Russland ohne Wenn und Aber. Wang Xiushui etwa von der Luftfahrt-Universität in Peking und ehemaliger Oberst der Luftwaffe fordert in einem aktuellen von Geddes übersetzten Text: “Die Beziehungen Pekings zu Moskau müssen im Zentrum von Chinas diplomatischer Strategie bleiben.” In einer Welt, in der das Gesetz des Dschungels gelte, müssten China und Russland zu “unschlagbaren Gegnern” der USA werden. Nur dann würden sie den Respekt des Westens gewinnen.

Wang sieht den Ukraine-Krieg als “Kampf der Kulturen” (文明的冲突), der in einem längerfristigen Rahmen betrachtet werden müsse: “Aus der Perspektive der entstehenden globalen Landschaft betrachte glaube ich, dass der russisch-ukrainische Konflikt die Eröffnungsschlacht für eine multipolare Welt ist” (多极世界的揭幕之战). Das Wort “Krieg” verwendet er in seinem Beitrag nicht. Die vorherrschende Meinung unter Chinas etablierten Intellektuellen liege irgendwo zwischen Feng Yujun und Wang Xiushui, sagt Geddes.

Komersant vermutet chinesische Distanz

Interessant ist ein kurzer Blick auf Russland. Denn Maxim Jusin, Kolumnist der russischen Wirtschaftszeitung Komersant, hält Fengs Economist-Gasteitrag nämlich durchaus für ein Signal. “Wenn man weiß, wie die chinesische Gesellschaft organisiert ist, kann man sich nur schwer vorstellen, dass der Professor, der diesen Artikel verfasst hat, auf eigenes Risiko und ohne die Unterstützung der verantwortlichen Genossen in Peking gehandelt hat”, schreibt er. Eine Antwort darauf gibt es nicht.

Chinas Friedensinitiativen zur Lösung des Ukraine-Konflikts aber stimmen laut Jusin “überhaupt nicht” mit den Maximalforderungen der russischen Seite überein. Peking fordere eine Einstellung der Feindseligkeiten, ja sogar ein Einfrieren des Konflikts, so Jusin, “erwähnt aber mit keinem Wort die Entmilitarisierung der Ukraine, die Entnazifizierung oder einen Regimewechsel in Kiew.” Das alles aber sind zentrale Forderungen des Kreml, und deshalb sieht Jusin eine größere Distanz Chinas zu Russland, als sie im Westen wahrgenommen wird.

Chinas Akademiker: Vielschichtiger als die Regierung

Über lautstarke Forderungen chinesischer Akademiker etwa nach Waffenlieferungen oder gar eine militärische Unterstützung Russlands ist derweil nichts bekannt. Der China-Experte Thomas Eder vom Austrian Institute for International Affairs hat sich mehrere chinesische Plattformen für Expertendiskussionen zur Außenpolitik angesehen (aisixiang.com, cfisnet.com und cn.chinausfocus.com) und festgestellt, dass die Akademiker dort generell zu Vorsicht, Ausgewogenheit und Kontinuität raten. Diese Zurückhaltung der außenpolitischen Eliten mäßige auch die Regierung, meint er.

Chinesische Wissenschaftler bezeichneten auf den Plattformen “die Zusammenarbeit mit Moskau in internationalen Organisationen als wichtig und Russland als Schlüssel für ein ‘globales strategisches Gleichgewicht'”. Viele argumentierten aber auch, dass Russlands Vorgehen den Interessen Chinas schade, so Eder. “Sie beschreiben Russland als ein potenziell größeres Problem für die Beziehungen zwischen China und der EU als die USA.”

Auch werde auf den Plattformen die strategische Bedeutung der EU für China im Kontext des Wettbewerbs mit den USA als “nicht geringer als die von Russland” bezeichnet. Wenn das stimmt, sollte die Regierung auf Feng Yujun hören: “Peking muss verhindern, dass der Westen und andere Teile der Welt ihre Unzufriedenheit mit Russland auf China abwälzen”, schreibt er im Economist. Denn das droht derzeit vor allem in Europa.

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Maria Noichl: “Der europäische Mindestlohn ist für uns Frauen gigantisch”

Frau Noichl, wie lautet Ihre Bilanz – waren die vergangenen fünf Jahre in Sachen Gleichstellung ein Erfolg?
Gleichstellungspolitisch betrachtet war die Legislaturperiode wahnsinnig erfolgreich. Denn man muss ja beachten, dass die Welt da draußen sich momentan teilweise eher anti-feministisch verhält. Wir haben daher gesagt: Jetzt muss erstmal alles gut zementiert sein, was wir bereits erreicht haben. Und gleichzeitig ist es uns gelungen, weitere Schritte nach vorn zu gehen.

Wo stehen wir heute bei der Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft?
Das Versprechen der Feministinnen aus den 1950er- bis 1970er-Jahren – “Wenn ihr einen Job da draußen annehmt, werdet ihr wirtschaftlich von den Männern unabhängig, könnt euer Leben selbst gestalten” – wurde leider nicht eingelöst. Frauen arbeiten zunehmend in den Niedriglohnbereichen und sind deshalb immer noch nicht unabhängig.

Die EU hat in diesem Mandat einen europaweiten Mindestlohnrahmen festgelegt: 60 Prozent des Durchschnittslohns eines Landes. Damit sollten vor allem die großen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten verringert werden. Ändert er auch etwas an der Situation der Frauen?
Der europäische Mindestlohn ist für uns Frauen gigantisch. Mindestlöhne helfen überproportional den Frauen. Wir haben in Deutschland gemerkt, dass die Einführung des Mindestlohns hauptsächlich Frauen im Osten geholfen hat: Friseurinnen, die vorher mit 2,50 Euro und Trinkgeld abgespeist wurden, zum Beispiel. Und auch jetzt, bei der Mindestlohnerhöhung in Deutschland auf 12,41 Euro, haben wieder die Frauen den wirklichen Mehrwert.

Im Jahr 2022 verdienten Frauen in der EU für die gleiche Arbeit durchschnittlich knapp 13 Prozent weniger als Männer, in Deutschland sogar knapp 18 Prozent weniger. Was hat die EU gegen das Gender Pay Gap unternommen?
Wir haben die sogenannte Lohntransparenzrichtlinie auf den Weg gebracht. Damit schauen wir uns die aktuellen Löhne an. Wir haben das leider nicht für alle Unternehmen geschafft, sondern nur für die ganz großen. Für die gelten aber nun ein europaweites Auskunftsrecht und Berichtspflichten. Sie müssen sich, wenn sie 20 Disponentinnen und 50 Disponenten haben, überlegen: Zahl ich die überhaupt gleich? Oder verdienen komischerweise die Frauen 200 Euro weniger? Frauen dürfen zum Beispiel nicht mehr gefragt werden, was sie vorher verdient haben. Zudem machen wir mit dem Mindestlohn und der Lohntransparenzrichtlinie auch schon etwas für die Zukunft: Denn der Pension Gap, der Unterschied in den Renten, beträgt ja sogar bis zu 30 Prozent.

Schauen wir in die Unternehmen: Die EU hat unter anderem die schon seit zehn Jahren geplante “Women on Boards”-Richtlinie verabschiedet. Die Mitgliedstaaten haben bis 2026 Zeit, sie umzusetzen. Was ändert sich damit?
Wir haben jetzt eine europaweite Quote für Frauen in Aufsichtsräten: 40 Prozent bei den börsennotierten Gesellschaften. Ohne eine europaweite Regelung hätten wir einen Flickenteppich. Es geht um eine Klimaänderung. Ich möchte das Wort hier ganz bewusst verwenden: Unternehmen haben auch ein internes Klima, eine eigene Art und Weise, wie das Unternehmen tickt. Wie man dort mit Frauen umgeht, die Kinder haben, aber trotzdem aufsteigen und Karriere machen wollen. Wie man mit Männern umgeht, die Erziehungsurlaub nehmen wollen. Wir erhoffen uns nicht nur, dass mehr Frauen in den Aufsichtsräten sitzen, sondern dass sich damit die Unternehmensführung ändert, partnerschaftlicher wird.

Die EU-Kommission hat sich in ihrer Gleichstellungsstrategie unter anderem verpflichtet, die Geschlechterperspektive systematisch in alle Politikbereiche einzubeziehen. Wie gut funktioniert das sogenannte Gender Mainstreaming?
Da sind wir noch Entwicklungsland. Mir kommt es oft so vor, als müssten Gesetzestexte abgeschlossen werden und am Ende schreibt man noch drei Sätze für Frauen rein. Auch in den einzelnen Ausschüssen passiert zu wenig. Wir haben zwar in der S&D-Fraktion schon ein Gender Mainstreaming-Netzwerk, das Beobachterinnen in jedem Ausschuss hat und sich über das Thema austauscht. Aber man hat oft das Gefühl, dass Gleichstellung noch als das Weiche gesehen wird. Erst werden die harten Themen verhandelt und dann kommen sie vielleicht noch ein bisschen auf das Weiche zu sprechen. Aber Gleichstellung muss von Anfang an mitgedacht und in die Papiere einbezogen werden.

Der Europäische Rechnungshof bemängelte in einem Sonderbericht von 2021, die Gleichstellung der Geschlechter werde auch im EU-Haushaltszyklus nicht angemessen berücksichtigt.
Jeder zweite Euro muss in die Hand einer Frau fließen. Wir haben das Recht auf die Hälfte des Geldes. Das wird ja schon allein im Bereich der Landwirtschaft ad absurdum geführt. In Deutschland ist das anders, aber in vielen anderen Teilen Europas gehören die landwirtschaftlichen Betriebe den Männern. Damit fließen die hohen Subventionen der EU – immerhin ein Drittel des EU-Haushalts – überproportional in ihre Hände. Genauso ist es mit Hilfsgeldern und europäischen Fördergeldern. Auch Corona-Hilfen sind europaweit überwiegend in die Hände von Männern geflossen.

Wie lässt sich das ändern?
Das Wichtigste ist, dass man nicht nur wartet, was passiert, sondern dass man steuert. In Berlin gibt es zum Beispiel bereits die Position eines Gender Mainstreaming-Beauftragten. Der kontrolliert bei Förderprojekten, wohin das Geld gelangt und versucht, nachzusteuern. In der EU-Gesetzgebung bräuchte es zum Beispiel auch den ganz klaren Auftrag, die Folgenabschätzung nicht nur im technischen oder finanziellen Bereich, sondern auch für die Gleichstellung durchzuführen. Man sollte fragen: Was passiert europäisch, wenn wir an bestimmten Schrauben drehen?

Nach der Europawahl im Juni könnte der Gegenwind, von dem Sie sprachen, in Brüssel kräftiger wehen. Wie blicken Sie auf die kommende Legislaturperiode?
Es ist wichtig, dass wir Frauenrechte auf europäischer Ebene absichern, damit Veränderungen in den Mitgliedstaaten diese Rechte nicht schleifen können. Wir Sozialdemokraten haben im vergangenen Jahr eine Europäische Frauenrechts-Charta vorgestellt. Damit wollen wir europaweit Mindeststandards sichern. Denn Europa ist ja ein Versprechen. Es kann nicht sein, dass es vom Wohnort abhängig ist, ob ich bei häuslicher Gewalt geschützt bin. Wir erwarten, dass alle Kandidatinnen und Kandidaten der S&D-Fraktion die Charta unterschreiben und deutlich machen: Ich werde meine Kraft dafür einsetzen, für Gleichstellung zu stehen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der EU-Gleichstellungspolitik?
Wenn ich richtig zaubern könnte, dann würde ich dafür sorgen, dass Gleichstellung eine Bedingung für den EU-Beitritt wird. Falls es in den nächsten Jahren zu Aufnahmen von weiteren Ländern kommt, müssen wir aufpassen, dass dabei Gleichstellung immer klar auf dem Verhandlungstisch liegt. Und ich wünsche mir, dass bei Verstößen Gelder eingefroren werden. Staaten, die gegen Gleichstellung vorgehen, müssen das am Kontoauszug merken.

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News

Gerichtsverhandlung soll Zuständigkeit für “Pfizergate”-Prozess klären

Diesen Termin hätte sich Ursula von der Leyen vermutlich gern erspart: Am Freitag, 17. Mai, wird ein belgisches Gericht in Lüttich über die Frage verhandeln, wer für den sogenannten Pfizergate-Prozess zuständig ist, in den die EU-Kommissionspräsidentin verwickelt ist.

Dies haben sowohl das Gericht – das Tribunal de première instance de Liège – als auch die Europäische Staatsanwaltschaft EPPO bestätigt. Ob von der Leyen persönlich teilnimmt, sei noch offen, teilt die Staatsanwaltschaft in Lüttich auf Nachfrage von Table.Briefings mit.

Beim Pfizergate geht es um die Frage, welche Rolle von der Leyen bei der Bestellung von 1,8 Milliarden COVID-19-Impfdosen im Wert von 35 Milliarden Euro beim US-Pharmakonzern Pfizer gespielt hat und ob dabei womöglich europäisches oder belgisches Recht gebrochen wurde.

Europäische Staatsanwaltschaft ermittelt

EPPO hatte im Oktober 2022 bestätigt, dass Ermittlungen eingeleitet wurden. Trotz des hohen öffentlichen Interesses wollte sich jedoch weder die Europäische Staatsanwaltschaft noch die EU-Kommission zu dem Fall äußern. Nachfragen und Rügen der EU-Bürgerbeauftragten und des Europäischen Gerichtshofs blieben ergebnislos.

Bewegung kam erst in die Sache, als der bei der EU akkreditierte belgische Lobbyist Frédéric Baldan eine Klage vor dem Gericht in Lüttich einreichte, worauf sich auch die ungarische Regierung und die damalige polnische PiS-Regierung der Klage anschlossen. Baldan beschuldigt von der Leyen der “Anmaßung von Ämtern und Titeln”, der “Vernichtung öffentlicher Dokumente” und der “unrechtmäßigen Bereicherung und Korruption”.

Bei der nicht öffentlichen Verhandlung am Freitag geht es nun um die Frage, wer zuständig ist: die belgische Justiz oder die europäische Staatsanwaltschaft. EPPO will eine Anklageschrift vorlegen und begründen, warum sie mit den Ermittlungen betraut werden sollte. Die belgische Justiz will dagegenhalten und versuchen, den Fall an sich zu ziehen.

Brisantes Timing vor Europawahlen

Der zuständige Untersuchungsrichter Frédéric Frenay ist für seine Hartnäckigkeit bekannt. Er hat in Belgien schon einige brisante Finanzdossiers bearbeitet. Ihm wird zugetraut, die Ermittlungen gegen von der Leyen energisch voranzutreiben – was vor dem Hintergrund der Europawahlen am 9. Juni politischen Sprengstoff birgt.

Bei einer Übernahme durch die europäische Staatsanwaltschaft könnte der Fall hingegen weiter in die Länge gezogen und am Ende sogar eingestellt werden. EPPO ist für Fälle zuständig, die das EU-Budget schädigen oder das Ansehen der EU-Institutionen und das Vertrauen der Bürger beeinträchtigen können.

Baldan hatte seine Klage unter anderem damit begründet, dass das “öffentliche Vertrauen” durch das Pfizergate erschüttert worden sei. Nach einem Bericht der “New York Times” soll von der Leyen den umstrittenen Vertrag in Eigenregie eingefädelt und zumindest teilweise mit SMS-Nachrichten auf ihrem Handy ausgehandelt haben.

Die EU-Kommission weigert sich jedoch, die strittigen SMS herauszugeben, worauf die New York Times vor Gericht zog. Auch zu dem brisanten Prozesstermin ihrer Chefin am Ende dieser Woche schweigt die Brüsseler Behörde. ebo

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Agrar-ETS: Liese hält Debatte über CO₂-Preis für Landwirte für zu früh

Der Parlamentsberichterstatter für das europäische Emissionshandelssystem, Peter Liese (EVP), hält die Aufnahme des Agrarsektors in den ETS noch nicht für zielführend. Man müsse den Nutzen der Landwirte und Waldbesitzer in den Fokus rücken, statt den Sektor zu problematisieren. “Es ist der einzige Sektor, der große Mengen an CO₂-Senken liefert”, sagt Liese auf Nachfrage von Table.Briefings. Daher sei es nicht der richtige Zeitpunkt, um über die Aufnahme des Sektors in den ETS zu sprechen.

Fakt ist allerdings, dass der Agrarsektor derzeit noch als Netto-Emittent in der EU gilt. Ökonomen und Umweltschutz-Organisationen fordern deshalb, dass auch die Landwirtschaft mit einem CO₂-Preis belegt wird, um die Branche zu mehr Emissionsreduktionen zu bewegen. Jedoch plädieren Experten – und auch Peter Liese – dafür, die Vergütung von entnommenen CO₂-Mengen aus der Atmosphäre in den ETS zu integrieren, um Anreize für CO₂-Entnahmen zu vergrößern. So könnte die natürliche Senkleistung des Agrarsektors profitabel für Landwirte werden. Allerdings scheitert ein Agrar-ETS derzeit noch daran, dass es noch kein System gibt, das entnommenes CO₂ im Agrar- und Landnutzungsbereich (LULUCF) vollständig erfasst.

Liese: “Zu hoher CO₂-Preis gefährdet Industrieproduktion”

Eingriffe in den bereits bestehenden Emissionshandel der EU erteilt Liese ebenfalls eine Absage. Forderungen nach Maßnahmen, um den gesunkenen CO₂-Preis im ETS wieder nach oben zu korrigieren, will der klimapolitische Sprecher der EVP nicht nachgeben. “Ein zu hoher ETS-Preis kann den Rückgang der Industrieproduktion in der Europäischen Union beschleunigen, weil Dekarbonisierung in der Industrie gar nicht so schnell funktioniert.”

Nach den Preiseinbrüchen im vergangenen Jahr waren Stimmen lauter geworden, die deutlichere Marktsignale durch höhere CO₂-Preise gefordert hatten und die Kommission aufriefen, Auktionen für weitere Emissionsrechte auszusetzen. Langfristig, da ist sich Liese sicher, werde der CO₂-Preis ohnehin wieder auf 100 Euro und darüber hinaussteigen. “Deshalb sollte sich niemand Illusionen machen: Wer jetzt in saubere Technologien investiert, wird auf Dauer davon profitieren”, stellt er klar. luk

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Katalonien-Wahl: Prognosen deuten auf Mehrheit für Separatisten hin

Die separatistischen Parteien haben bei der vorgezogenen Parlamentswahl in der spanischen Region Katalonien nach Medienprognosen möglicherweise ihre absolute Mehrheit verteidigt.  Nach den vom staatlichen TV-Sender RTVE am Sonntagabend veröffentlichten Zahlen werden die Unabhängigkeitsbefürworter aber diesmal von der liberal-konservativen Partei Junts des in Belgien im Exil lebenden Ex-Regionalpräsidenten Carles Puigdemont angeführt. Auf Platz eins landete demnach zwar die Sozialistische Partei (PSC) von Spitzenkandidat Salvador Illa, die aber mit 37 bis 40 Sitzen die absolute Mehrheit von 68 Abgeordneten deutlich verpasst haben dürfte.

Schwierige Koalitionsverhandlungen

Laut RTVE kommt Junts auf 33 bis 36 Sitze vor der ebenfalls separatistischen Republikanischen Linken (ERC) des bisherigen Regionalpräsidenten Pere Aragonès mit 24 bis 27 Sitzen. Zusammen mit der linken Partei CUP (6-8 Sitze) und der als rechtspopulistisch geltenden Alianca Catalana (1-3 Sitze) können die Unabhängigkeitsbefürworter auf die absolute Mehrheit hoffen. Andere Medien hatten bei ihren Prognosen ähnliche Ergebnisse. Alles deutet unterdessen auf langwierige Verhandlungen über eine Regierungsbildung hin.

Sollten sich diese Resultate bestätigen, könnte Puigdemont auch als Zweitplatzierter eine Regierungsbildung versuchen. Der 61-Jährige sitzt allerdings noch im Exil fest, weil er von der spanischen Justiz per Haftbefehl gesucht wird – im Zusammenhang mit dem unter seiner Führung gescheiterten, illegalen ersten Abspaltungsversuch von 2017. Der könnte erst aufgehoben werden, wenn eine mit der Regierung in Madrid vereinbarte Amnestie voraussichtlich im Juni in Kraft getreten sein wird.

Separatisten drängen auf legales Unabhängigkeitsreferendum

Im Wahlkampf standen zwar Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik im Vordergrund. Die Wahl galt aber auch als Plebiszit über die umstrittene Amnestie für Separatisten. Sie soll nach Worten von Spaniens sozialistischem Regierungschef Pedro Sánchez den Katalonien-Konflikt entspannen und den Separatisten den Wind aus den Segeln nehmen. Sollte ihr Stimmenanteil am Ende der offiziellen Auszählung etwas sinken, wäre das ein Erfolg für Sánchez, der im Rest des Landes für seinen nachgiebigen Katalonienkurs kritisiert wird.

Die Separatisten lassen indes nicht locker und fordern von der Zentralregierung grünes Licht für ein legales Referendum über die Unabhängigkeit.  Die Entwicklung nach der Wahl könnte nach Ansicht von Beobachtern auch die Stabilität der spanischen Minderheitsregierung von Sánchez gefährden, die im Parlament in Madrid auf die Stimmen der Separatisten angewiesen ist. dpa

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Litauen: Amtsinhaber Nausėda bei Präsidentschaftswahl klar vorne

Am gestrigen Sonntag hat Litauen in einer Direktwahl ein neues Staatsoberhaupt gewählt. Als klarer Favorit ging der 59 Jahre alte Amtsinhaber Gitanas Nausėda, der sich als großer Unterstützer der Ukraine positioniert hatte, in das Rennen um das höchste Staatsamt. Gegen den parteilosen Politiker traten sieben Kandidaten an.

Nach der Auszählung von 1439 von 1895 Wahlkreisen lag Nausėda mit 46,8 Prozent der Stimmen klar vorne. Der ehemalige Banker, der das Präsidentenamt seit 2019 innehat, lag damit weit vor seinen Konkurrenten, von denen keiner mehr als zwanzig Prozent der Stimmen erhielt. Erreicht kein Kandidat die absolute Mehrheit, gehen die beiden Bestplatzierten am 26. Mai in eine Stichwahl.

Bis zur Schließung der Wahllokale hatten nach Angaben der Wahlkommission in Vilnius über 59 Prozent der fast 2,4 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Dies sei die höchste Beteiligung in der ersten Runde der Präsidentenwahl seit 1997. dpa/jaa

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Neue Präsidentin Nordmazedoniens verwendet bei Amtseid alten Landesnamen

Die neue Präsidentin Nordmazedoniens, Gordana Siljanovska-Davkova, hat am Sonntag im Parlament in Skopje ihren Amtseid abgelegt. In der Eidesformel setzte sie an die Stelle des offiziellen Landesnamens “Republik Nordmazedonien” die alte Bezeichnung “Republik Mazedonien”. Die griechische Botschafterin verließ daraufhin aus Protest den Parlamentssaal, wie Medien berichteten. Siljanovska-Davkova hatte am vergangenen Mittwoch als Kandidatin der nationalistischen VMRO-DPMNE klar die Stichwahl gegen den sozialdemokratischen Amtsinhaber Stevo Pendarovski gewonnen.

Bei den Parlamentswahlen am selben Tag war die VMRO zur stärksten Kraft geworden. Ihr Vorsitzender Hristijan Mickoski wird voraussichtlich die nächste Regierung bilden. Sowohl Siljanovska-Davkova als auch Mickoski und andere VMRO-Politiker hatten im Wahlkampf angekündigt, nicht mehr den offiziellen Landesnamen, sondern die historische Bezeichnung Mazedonien verwenden zu wollen.

Namensänderung wichtig für Griechenland

Die seit 2017 regierenden und nunmehr abgewählten Sozialdemokraten hatten sich mit Griechenland auf die Namensänderung geeinigt, die im Februar 2019 vollzogen wurde. Athen hatte darauf bestanden, weil eine Region im Norden Griechenlands ebenso heißt. Die Namensänderung war Voraussetzung dafür, dass das kleine Balkanland 2020 Mitglied der Nato werden konnte. Auch der Weg zu Beitrittsgesprächen mit der EU war damit geebnet worden.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kritisierte Siljanovska-Davkova via X (früher Twitter) indirekt. “Damit Nordmazedonien seinen erfolgreichen Weg in Richtung EU-Beitritt fortsetzen kann, ist es von entscheidender Bedeutung, dass das Land den Weg der Reformen und der vollständigen Einhaltung seiner verbindlichen Vereinbarungen, einschließlich des Prespa-Abkommens, weitergeht”, schrieb von der Leyen mit Verweis auf das Abkommen, in dem die Namensänderung vereinbart wurde. dpa

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Presseschau

Steinmeier und zwei Kollegen mahnen zur Teilnahme an EU-Wahl DEUTSCHE WELLE
Vor Europawahl wird mit massiver Desinformation gerechnet FAZ
Kanzler Scholz trifft sich mit Regierungschefs der nordischen Länder DEUTSCHLANDFUNK
EU-Ratspräsident Charles Michel nennt Israels Aufforderung zur Räumung von Rafah “inakzeptabel” SPIEGEL
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Reform der EU-Asylpolitik: EVP-Chef Weber rechnet mit Ende der Grenzkontrollen TAGESSPIEGEL
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Großbritannien erwägt Verbot “extremer Protestgruppen” WELT
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Standpunkt

Kampf gegen Desinformation: Warum die EU ihn nicht allein gewinnen kann

Von Johanna Koch
Johanna Koch ist Kommunikationsexpertin und Kreative aus Berllin. Sie engagiert sich ehrenamtlich in der Bezirksverordnetenversammlung in Berlin-Mitte.

Die EU gibt sich alle Mühen, den Kampf gegen Desinformation zu institutionalisieren – mit Erfolg. Erst im Februar ist der Digital Services Act (DSA) vollständig in Kraft getreten. Die Umsetzung in den nationalen Parlamenten ist im Gange und wurde kürzlich in Deutschland beschlossen. Der DSA verpflichtet Plattformen, aktiv gegen Desinformation vorzugehen. Dieser Ansatz der Plattform-Regulierung ist angemessen, schließlich ist durch soziale Medien eine Art zweite Realität entstanden, die angesichts der Einflussnahme extremistischer Gruppen und autoritärer Regime kein rechtsfreier Raum bleiben darf.

In Bezug auf letzteres ist auch nachvollziehbar, dass die EU ihre Institutionen wie die Strategic Communication Abteilung des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EEAS) im hybriden Krieg gegen Russland kontinuierlich stärkt. Angesichts täglicher Versuche autoritärer Regime, demokratische Werte zu unterminieren, ist dies ein wichtiger Schritt für eine stärkere Resilienz der EU. Nachhaltig im Kampf gegen Desinformation sind beide Maßnahmen dennoch nicht. Denn sie packen das Problem nicht bei der Wurzel.

Krasse Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungsträgern

Dass Menschen in demokratischen Systemen für Fake News und skurrile Verschwörungstheorien immer empfänglicher werden, zeigt sich an den Wahlergebnissen. Seit den 2000ern sind euroskeptische Parteien – die sich im Parteienspektrum extrem links und extrem rechts befinden – im EU-Parlament immer stärker geworden. Bei der anstehenden Wahl wird ihnen ein noch höherer Stimmenanteil vorausgesagt. Insbesondere die extreme Rechte bedient sich häufig an Verschwörungsnarrativen, etwa wenn es um Themen wie Migration oder Klimaschutz geht. Darunter auch die AfD, die in Deutschland erstarkt, nun auch unter jungen Menschen.

Doch der Glaube an Verschwörungstheorien und Fake News kann sich auch in einer geringen Wahlbeteiligung manifestieren. Beides, ein Erstarken extremer Parteien und eine sinkende Wahlbeteiligung, spiegelt eine krasse Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungsträgern wider. Und zeigt, dass Politiker, Parteien und demokratische Institutionen von vielen Teilen der Bevölkerung als unglaubwürdig erachtet werden.

Politiker erscheinen unerreichbar und unzugänglich

Letzteres betraf mich persönlich. Denn mit Anfang zwanzig Jahren war ich Teil der verschwörungsideologischen Szene Deutschlands. Damals haben mich vor allem mentale Probleme und linksextremer Einfluss in die Hände von Rattenfängern getrieben. Von der Gesellschaft habe ich mich nicht gehört, nicht beachtet gefühlt. Zu jener Zeit schienen mir Politiker unerreichbar; unzugänglich mit ihrer akademischen Sprache und ihren leeren Worthülsen. Ihnen gegenüber hegte ich Misstrauen und als ich das erste Mal wählen durfte, tat ich es nicht.

Dahingehend motiviert hat mich vor allem Ken Jebsen, ein Mann, der von Experten als einer der einflussreichsten Verschwörungsideologen Deutschlands bezeichnet wird. Mein Engagement reichte so weit, dass ich kurzzeitig die Öffentlichkeitsarbeit eines verschwörungsideologischen Mediums leitete. Auch Jebsen lernte ich in der Zeit persönlich kennen.

Politische Akteure müssen Verantwortung übernehmen

Nachdem ich es aus der Szene geschafft und mich politisiert habe, ist mir eines klar geworden: Demokratische Parteien können es sich nicht länger leisten, im Kleinen zusammenzusitzen und im Großen Streitigkeiten auszutragen. Nein, politische Entscheidungsträger und Akteure müssen da rausgehen, sich der Unzufriedenheit verschiedener Anspruchsgruppen stellen. Mit mehr Zugänglichkeit und radikaler Ehrlichkeit kann man es schaffen, diejenigen zu erreichen, die den Glauben an die demokratischen Parteien verlieren.

Es ist demnach kein Top-down, sondern ein Bottom-up Ansatz gefragt; von der lokalen über die Landes- bis zur nationalen Ebene müssen politische Akteure Verantwortung übernehmen, aus ihrer Komfortzone heraustreten und sich der Kritik der Bürgerinnen und Bürger stellen.

Eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit politischer Parteien

Es stimmt, durch den Digital Services Act schafft die EU eine Regelung, die im europäischen Binnenmarkt für alle Mitgliedstaaten gilt und die Bekämpfung von Desinformation systematisiert. Damit wird den EU-Ländern ein wichtiges Instrument an die Hand gegeben. Doch erst wenn diese erkennen, dass der Kampf gegen Desinformation von innen heraus angegangen werden muss, kann er gewonnen werden.

Das ist auch eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit der demokratischen Parteien. Diese Erkenntnis ist entscheidend, nicht nur im Hinblick auf die EU-Wahlen im Juni, sondern auch auf die bevorstehenden Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern Deutschlands.

Johanna Koch, Jahrgang 1995, ist Kommunikationsexpertin und Kreative aus Berlin. Ehrenamtlich engagiert sie sich in der Bezirksverordnetenversammlung in Berlin-Mitte. Anhand ihrer eigenen Erfahrungen in der verschwörungsideologischen Szene beschäftigt sie sich mit der Frage, was Menschen in die Fänge von Rattenfängern treibt, wie man sich aus diesem Einflussbereich wieder befreien kann und welche politischen Maßnahmen es dagegen braucht.

  • Desinformation
  • Digital Services Act
  • Digitalpolitik

Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

Licenses:
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    in Brüssel treffen sich heute und morgen die EU-Finanzminister, zuerst im Eurogruppen-Format und dann als ECOFIN-Rat. Nach einem Update zum aktuellen Konjunkturverlauf und einer Diskussion über die fehlende Innovationskraft der EU besprechen die Minister das aktuell wohl heißeste Thema der europäischen Wirtschaftspolitik: die Kapitalmarktunion.

    Der ehemalige französische Nationalbankpräsident Christian Noyer wird während des Abendessens heute Abend einen Bericht präsentieren, den er im Auftrag des französischen Wirtschaftsministeriums geschrieben hat. Der Bericht zeigt etwas detaillierter auf, wie ein europäisches Sparprodukt, ein mit Staatsgarantien gestützter Verbriefungsmarkt und eine zentralisiertere Marktaufsicht operationalisiert werden könnten.

    Morgen, Dienstag, beschäftigen sich die Minister dann mit zwei Steuerdossiers, welche die belgische Präsidentschaft gern noch zum Abschluss bringen würde: die Reform der Mehrwertsteuer sowie eine Reform der Quellenbesteuerung.

    Das erste Anliegen soll die Erhebung der Mehrwertsteuern modernisieren und digitalisieren, was die Datenerhebung erleichtern und Mehrwertsteuerbetrug eindämmen soll. Eine der Maßnahmen würde große Plattformen in die Pflicht nehmen, dafür zu sorgen, dass die auf ihr aktiven Anbieter Mehrwertsteuern zahlen. Estland, Heimatland der Mobilitätsplattform Bolt, stellt sich noch gegen diese Bestimmung. Laut Informationen, die Table.Briefings vorliegen, ist der baltische Mitgliedstaat die einzige Hürde zur Annahme der Reform, die Einstimmigkeit benötigt.

    Für diesen Start in die Woche wünsche ich Ihnen das Selbstvertrauen jener Kleinstaaten, die es immer wieder schaffen, die Steuerpolitik der ganzen EU nach ihren Vorstellungen zu formen.

    Ihr
    János Allenbach-Ammann
    Bild von János  Allenbach-Ammann

    Analyse

    Europawahl: Wie die EU ihr Kommunikationsproblem lösen kann

    Eine hohe Wahlbeteiligung, das erhoffen sich viele in der Europapolitik, ist der beste Schutz vor dem Erstarken demokratiefeindlicher Parteien im Europaparlament. Doch wie lassen sich Wählerinnen und Wähler mobilisieren – insbesondere die 16- und 17-Jährigen, die in Deutschland erstmals an den Europawahlen 2024 teilnehmen können?

    “Das Wahlrecht für die 16- und 17-Jährigen wird als große Errungenschaft gefeiert”, sagt Stephanie Hartung, Mitgründerin und stellvertretende Vorsitzende von Pulse of Europe. Sie selbst sei jedoch hin- und hergerissen. “Ich fände es eine große Errungenschaft, wenn sie denn alle wenigstens davon wüssten, dass sie wählen können. Da ist für mich ein riesiges Fragezeichen dahinter.” Europa hat ein Kommunikationsproblem, meint Hartung – nicht nur rund um die Wahl.

    Pulse of Europe: “Man kann nicht endlos demonstrieren”

    Die Bürgerbewegung Pulse of Europe ist 2017 angetreten, um für die europäische Idee zu werben und sie vor undemokratischen Strömungen oder auch vor Desinteresse und sinkender Wahlbeteiligung zu schützen. Dazu nutzt sie niederschwellige Aktionen, wie etwa das gemeinsame Singen der Europahymne vergangene Woche in Köln. Doch während Pulse of Europe mit seinen Sonntagsdemonstrationen in den Jahren nach seiner Gründung für viel Aufmerksamkeit sorgte, ist es zuletzt ruhiger um die Bewegung geworden.

    “Man sieht es an Fridays for Future: Man kann natürlich nicht endlos demonstrieren, aber anlassbezogen”, erklärt Hartung. Und die Europawahl ist ein solcher Anlass. Pulse of Europe hat nicht nur seine eigene Europawahlkampagne gestartet, sondern es finden auch wieder Aktionen auf Straßen und Plätzen statt. “Wir sind in etlichen Städten unterwegs. Am Sonntag vor der Europawahl wollen noch einmal möglichst viele Pulse-of-Europe-Städte demonstrieren gehen.” Mittlerweile sei Pulse of Europe jedoch wesentlich mehr als das, sagt Hartung. “Es gibt unterschiedlichste Formate, wie etwa die europäischen Hausparlamente, wo wir über die Reform Europas diskutieren. Wir stellen kritische Fragen und lassen Bürger darüber diskutieren, wie sie sich ihr Europa vorstellen.”

    Europa hat ein Kommunikationsproblem

    Die Stimmung gegenüber Europa sei kritisch. “Und das nicht zu Unrecht, das sehen wir auch als pro-europäische Bürgerbewegung so. Es gibt Reformbedarf”, sagt Hartung. Tatsächlich sei Europa aber besser als sein Ruf. Auch das sei keine neue Symptomatik. “Würden Kommunalpolitiker bei ihrem Schaffen vor Ort den Bürgerinnen und Bürgern jeden Tag klarmachen, wie viel – und in dem Fall dann doch auch Gutes – aus Europa kommt, dann stünde Europa sicherlich besser da.”

    Europa sei komplex und schlecht darin, seine Politik zu vermitteln, meint Hartung. “Europa müsste eine riesige Kommunikationsmaschine täglich vorhalten, um zu sagen, was Europa alles Gutes tut.” Denn auf nationaler Ebene würde die Verbindung zu Europa nicht immer in dem Maße hergestellt, wie sie hergestellt werden müsste. “Auch jetzt zur Europawahl sehen wir wieder, dass Europa ganz speziell funktionalisiert, instrumentalisiert, um nicht zu sagen missbraucht wird.”

    Dennoch sei die Stimmung nicht so schlecht, wie oft behauptet. “Wir müssen trennen zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten und ihren Bürgerinnen und Bürgern“, mahnt Hartung. Polen sei ein gutes Beispiel. “Eine Mehrheit der Polen war auch unter der PiS-Regierung ganz eindeutig pro Europa. Seit Donald Tusk übernommen hat, haben sie endlich wieder das Gefühl, dass es in Brüssel ankommt, wie sie das Empfinden.”

    Großer Reformbedarf

    Ein Problem Europas sei der anspruchsvolle Versuch, “ein maximales Miteinander bei maximaler Souveränität zu erreichen”, meint Hartung. Ein Beispiel dafür: Das Einstimmigkeitsprinzip, das die Gemeinschaft zunächst groß gemacht habe, sie nun aber zu langsam und erpressbar mache. Die Lösung: Die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips hin zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen.

    Reformbedarf sieht Hartung auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. “Da müssen wir uns angesichts der globalen Herausforderungen dringend anders aufstellen”, sagt Hartung. Allerdings sei das ein dickes Brett. Unterm Strich wisse aber die Mehrheit, dass es sich nicht gut anfühle, im Zusammenspiel mit den USA, China und Russland, aber auch Indien und Brasilien als Land allein dazustehen.

    Auch müsse die Union das europäische Gemeinschaftsgefühl stärken. Dazu schlägt sie einen europäischen Sender mit einem gemeinsamen Programm vor – übersetzt in alle 24 offizielle Sprachen der EU. “Ein großer gemeinsamer Medienkanal wäre gut, damit eben in Rumänien auch ankommt, was in Finnland passiert – und zwar auch mal auf dem platten Land”, findet Hartung. Auch eine gemeinsame Amtssprache wäre hilfreich, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken.

    Initiativrecht des Parlaments

    Deutlich weitergehend sind die Reformforderungen von Volt. “Wir wollen der EU eine Verfassung zu geben“, sagt Nela Riehl, die für Volt für das Europaparlament kandidiert. Dafür gelte es nun, Mehrheiten zu finden. “Uns schwebt eine richtige europäische Regierung mit einer europäischen Premierministerin vor.” Auch europäische Ministerien soll es geben. Europa wäre dann föderal aufgebaut wie die Bundesrepublik. Dafür gebe es durchaus Unterstützung, sagt Riehl. “Viele nehmen das als Gegenentwurf wahr zu diesem ,Wir müssen zurück zum Nationalstaat’, was ja das rechtskonservative Narrativ gerade ist.”

    Nicht gerade eine europäische Regierung, aber die Direktwahl der Kommissionspräsidenten fordert auch die Linke. Es gehe darum, “dass es da eine direkte Legitimität gibt”, dass die Personalie nicht einfach hinter verschlossenen Türen ausgehandelt werde, sagt Martin Schirdewan, Co-Vorsitzender der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament. “Wir wollen eine stärkere BürgerInnenbeteiligung, dass Europäische Bürgerinitiativen, wenn sie erfolgreich sind, auch direkt in den Gesetzgebungsprozess aufgenommen werden müssen.” Vor allem aber: “Es ist klar, dass wir ein Initiativrecht für das Europäische Parlament brauchen.”

    So sieht das auch die SPD. “Wir sehen Reformbedarf, was die Rolle des Europäischen Parlaments angeht, das endlich ein Initiativrecht braucht”, sagt Generalsekretär Kevin Kühnert. “Die Menschen wählen jetzt ihr Parlament und erwarten ehrlich gesagt, dass dieses Parlament das kann, was jeder Bundestag und jeder Landtag auch kann: eigene Gesetzentwürfe einbringen.” Die EU sei über ihre alte Größe hinausgewachsen, deswegen müssten auch die Spielregeln angepasst werden. “Einstimmigkeit bei so etwas wie steuerpolitischen Fragen ist aus der Zeit gefallen bei 27 Mitgliedstaaten”, meint Kühnert. “Und ja, mehr föderale Struktur wäre gut.”

    Transnationale Listen

    Die SPD finde zum Beispiel wichtig, dass Bürgerinnen und Bürger bei der nächsten Europawahl neben der nationalen Stimme, die sie für eine Liste abgeben können, auch für eine transnationale Liste stimmen können – wie auch Volt das fordert. “Denn wir treten längst gemeinsam mit unseren europäischen sozialdemokratischen Schwesterparteien auf und auch unter gleichen programmatischen Voraussetzungen”, sagt Kühnert. “Wir würden das gerne auch in einer gemeinsamen Liste den Wählerinnen und Wählern darlegen wollen.”

    Auch Hartung von Pulse of Europe hält es für wichtig, das Initiativrecht für das Parlament endlich einzuführen. “Denn da würde in meinen Augen deutlich mehr Bewegung in die Bude kommen.”

    Weitere Artikel zu den Europawahlen 2024 finden Sie hier.

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    • Europawahlen 2024
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    Warum Chinas Forschende Russland kritisch sehen und trotzdem auf Kooperation setzen

    Wladimir Putin reist nach China – wieder einmal. Nur wenige Tage nach seiner Europa-Reise trifft sich Staatschef Xi Jinping also mit jenem Mann, von dem ihn die Europäer – zuletzt Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron – gern loseisen würden. Bislang ohne Erfolg.

    Chinas offizielle Äußerungen zu Russland verändern sich nicht. Trotzdem läuft zumindest in akademischen Kreisen weiter eine Debatte über Russlands Angriff auf die Ukraine und die chinesische Haltung dazu. Kürzlich überraschte einer der schärfsten Russland-Kritiker mit einem Gastbeitrag für das britische Magazin Economist: Der Pekinger Politikprofessor Feng Yujun prognostizierte darin eine Niederlage Russlands. Die anhaltende westliche Unterstützung und der gesellschaftliche Zusammenhalt in der Ukraine würden dazu führen, dass Russland “zu gegebener Zeit” alle besetzten Gebiete werde räumen müssen.

    Von Beginn der Invasion an hatte Feng immer wieder argumentiert, dass Russlands Einmarsch in die Ukraine ungerechtfertigt und von imperialer Gier motiviert sei – und dass eine zu enge Zusammenarbeit mit Moskau in dieser Frage ein strategischer Fehler für China sei. “Die Beziehungen Chinas zu Russland sind nicht festgelegt”, so Feng. China habe sich bereits von der ‘No Limits’-Freundschaft zu Russland verabschiedet und sei zu traditionellen Grundsätzen der Blockfreiheit und Nicht-Konfrontation zurückgekehrt.

    Chinas Akademiker: Misstrauen und Kritik an Moskau

    Der Forscher ist mit seiner Kritik an Russland kein Einzelfall. “Fengs Misstrauen und seine Kritik an Moskau sind in den meisten meiner Gespräche mit chinesischen Wissenschaftlern deutlich geworden, wenn auch in milderer Form”, meint Thomas des Garets Geddes, der ausgewählte Aufsätze chinesischer Wissenschaftler übersetzen lässt und in seinem Newsletter Sinification publiziert.

    Auch Mark Leonard vom European Council of Foreign Relations (ECFR) war Ende 2022 auf einer Konferenz in Peking mit mehreren Wissenschaftlern ins vertrauliche Gespräch gekommen. “Die ambivalenten Gefühle der Chinesen gegenüber den Russen waren sehr auffällig“, erzählte er im vergangenen Juli auf einem Webinar zur Vorstellung einer damals erschienenen ECFR- Studie zum Thema. Teilweise sei gar eine gewisse Verachtung deutlich geworden.

    Nur sollte das dem Westen nicht allzu viel Hoffnung machen. Feng Yujun gibt mit seiner Warnung vor einem engen Verhältnis zu Russland nicht die Mehrheitsmeinung unter chinesischen Politologen wieder. “Es ist durchaus üblich, dass chinesische Analysten Kritik und Misstrauen gegenüber Moskau äußern und gleichzeitig für die Aufrechterhaltung enger Beziehungen zum Kreml plädieren“, sagte Geddes zu Table.Briefings. “Dies mag auf den ersten Blick etwas widersprüchlich erscheinen, spiegelt aber lediglich wider, dass Chinas nationale Interessen Vorrang vor allem anderen haben.”

    Chinas Falken fordern engere Allianz mit Russland

    Dazu gehört, dass Peking weiter glaubt, Russland als Verbündeten gegen die ungeliebte westlich dominierte Weltordnung zu brauchen. Manche Akademiker stehen daher zu Russland ohne Wenn und Aber. Wang Xiushui etwa von der Luftfahrt-Universität in Peking und ehemaliger Oberst der Luftwaffe fordert in einem aktuellen von Geddes übersetzten Text: “Die Beziehungen Pekings zu Moskau müssen im Zentrum von Chinas diplomatischer Strategie bleiben.” In einer Welt, in der das Gesetz des Dschungels gelte, müssten China und Russland zu “unschlagbaren Gegnern” der USA werden. Nur dann würden sie den Respekt des Westens gewinnen.

    Wang sieht den Ukraine-Krieg als “Kampf der Kulturen” (文明的冲突), der in einem längerfristigen Rahmen betrachtet werden müsse: “Aus der Perspektive der entstehenden globalen Landschaft betrachte glaube ich, dass der russisch-ukrainische Konflikt die Eröffnungsschlacht für eine multipolare Welt ist” (多极世界的揭幕之战). Das Wort “Krieg” verwendet er in seinem Beitrag nicht. Die vorherrschende Meinung unter Chinas etablierten Intellektuellen liege irgendwo zwischen Feng Yujun und Wang Xiushui, sagt Geddes.

    Komersant vermutet chinesische Distanz

    Interessant ist ein kurzer Blick auf Russland. Denn Maxim Jusin, Kolumnist der russischen Wirtschaftszeitung Komersant, hält Fengs Economist-Gasteitrag nämlich durchaus für ein Signal. “Wenn man weiß, wie die chinesische Gesellschaft organisiert ist, kann man sich nur schwer vorstellen, dass der Professor, der diesen Artikel verfasst hat, auf eigenes Risiko und ohne die Unterstützung der verantwortlichen Genossen in Peking gehandelt hat”, schreibt er. Eine Antwort darauf gibt es nicht.

    Chinas Friedensinitiativen zur Lösung des Ukraine-Konflikts aber stimmen laut Jusin “überhaupt nicht” mit den Maximalforderungen der russischen Seite überein. Peking fordere eine Einstellung der Feindseligkeiten, ja sogar ein Einfrieren des Konflikts, so Jusin, “erwähnt aber mit keinem Wort die Entmilitarisierung der Ukraine, die Entnazifizierung oder einen Regimewechsel in Kiew.” Das alles aber sind zentrale Forderungen des Kreml, und deshalb sieht Jusin eine größere Distanz Chinas zu Russland, als sie im Westen wahrgenommen wird.

    Chinas Akademiker: Vielschichtiger als die Regierung

    Über lautstarke Forderungen chinesischer Akademiker etwa nach Waffenlieferungen oder gar eine militärische Unterstützung Russlands ist derweil nichts bekannt. Der China-Experte Thomas Eder vom Austrian Institute for International Affairs hat sich mehrere chinesische Plattformen für Expertendiskussionen zur Außenpolitik angesehen (aisixiang.com, cfisnet.com und cn.chinausfocus.com) und festgestellt, dass die Akademiker dort generell zu Vorsicht, Ausgewogenheit und Kontinuität raten. Diese Zurückhaltung der außenpolitischen Eliten mäßige auch die Regierung, meint er.

    Chinesische Wissenschaftler bezeichneten auf den Plattformen “die Zusammenarbeit mit Moskau in internationalen Organisationen als wichtig und Russland als Schlüssel für ein ‘globales strategisches Gleichgewicht'”. Viele argumentierten aber auch, dass Russlands Vorgehen den Interessen Chinas schade, so Eder. “Sie beschreiben Russland als ein potenziell größeres Problem für die Beziehungen zwischen China und der EU als die USA.”

    Auch werde auf den Plattformen die strategische Bedeutung der EU für China im Kontext des Wettbewerbs mit den USA als “nicht geringer als die von Russland” bezeichnet. Wenn das stimmt, sollte die Regierung auf Feng Yujun hören: “Peking muss verhindern, dass der Westen und andere Teile der Welt ihre Unzufriedenheit mit Russland auf China abwälzen”, schreibt er im Economist. Denn das droht derzeit vor allem in Europa.

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    Maria Noichl: “Der europäische Mindestlohn ist für uns Frauen gigantisch”

    Frau Noichl, wie lautet Ihre Bilanz – waren die vergangenen fünf Jahre in Sachen Gleichstellung ein Erfolg?
    Gleichstellungspolitisch betrachtet war die Legislaturperiode wahnsinnig erfolgreich. Denn man muss ja beachten, dass die Welt da draußen sich momentan teilweise eher anti-feministisch verhält. Wir haben daher gesagt: Jetzt muss erstmal alles gut zementiert sein, was wir bereits erreicht haben. Und gleichzeitig ist es uns gelungen, weitere Schritte nach vorn zu gehen.

    Wo stehen wir heute bei der Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft?
    Das Versprechen der Feministinnen aus den 1950er- bis 1970er-Jahren – “Wenn ihr einen Job da draußen annehmt, werdet ihr wirtschaftlich von den Männern unabhängig, könnt euer Leben selbst gestalten” – wurde leider nicht eingelöst. Frauen arbeiten zunehmend in den Niedriglohnbereichen und sind deshalb immer noch nicht unabhängig.

    Die EU hat in diesem Mandat einen europaweiten Mindestlohnrahmen festgelegt: 60 Prozent des Durchschnittslohns eines Landes. Damit sollten vor allem die großen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten verringert werden. Ändert er auch etwas an der Situation der Frauen?
    Der europäische Mindestlohn ist für uns Frauen gigantisch. Mindestlöhne helfen überproportional den Frauen. Wir haben in Deutschland gemerkt, dass die Einführung des Mindestlohns hauptsächlich Frauen im Osten geholfen hat: Friseurinnen, die vorher mit 2,50 Euro und Trinkgeld abgespeist wurden, zum Beispiel. Und auch jetzt, bei der Mindestlohnerhöhung in Deutschland auf 12,41 Euro, haben wieder die Frauen den wirklichen Mehrwert.

    Im Jahr 2022 verdienten Frauen in der EU für die gleiche Arbeit durchschnittlich knapp 13 Prozent weniger als Männer, in Deutschland sogar knapp 18 Prozent weniger. Was hat die EU gegen das Gender Pay Gap unternommen?
    Wir haben die sogenannte Lohntransparenzrichtlinie auf den Weg gebracht. Damit schauen wir uns die aktuellen Löhne an. Wir haben das leider nicht für alle Unternehmen geschafft, sondern nur für die ganz großen. Für die gelten aber nun ein europaweites Auskunftsrecht und Berichtspflichten. Sie müssen sich, wenn sie 20 Disponentinnen und 50 Disponenten haben, überlegen: Zahl ich die überhaupt gleich? Oder verdienen komischerweise die Frauen 200 Euro weniger? Frauen dürfen zum Beispiel nicht mehr gefragt werden, was sie vorher verdient haben. Zudem machen wir mit dem Mindestlohn und der Lohntransparenzrichtlinie auch schon etwas für die Zukunft: Denn der Pension Gap, der Unterschied in den Renten, beträgt ja sogar bis zu 30 Prozent.

    Schauen wir in die Unternehmen: Die EU hat unter anderem die schon seit zehn Jahren geplante “Women on Boards”-Richtlinie verabschiedet. Die Mitgliedstaaten haben bis 2026 Zeit, sie umzusetzen. Was ändert sich damit?
    Wir haben jetzt eine europaweite Quote für Frauen in Aufsichtsräten: 40 Prozent bei den börsennotierten Gesellschaften. Ohne eine europaweite Regelung hätten wir einen Flickenteppich. Es geht um eine Klimaänderung. Ich möchte das Wort hier ganz bewusst verwenden: Unternehmen haben auch ein internes Klima, eine eigene Art und Weise, wie das Unternehmen tickt. Wie man dort mit Frauen umgeht, die Kinder haben, aber trotzdem aufsteigen und Karriere machen wollen. Wie man mit Männern umgeht, die Erziehungsurlaub nehmen wollen. Wir erhoffen uns nicht nur, dass mehr Frauen in den Aufsichtsräten sitzen, sondern dass sich damit die Unternehmensführung ändert, partnerschaftlicher wird.

    Die EU-Kommission hat sich in ihrer Gleichstellungsstrategie unter anderem verpflichtet, die Geschlechterperspektive systematisch in alle Politikbereiche einzubeziehen. Wie gut funktioniert das sogenannte Gender Mainstreaming?
    Da sind wir noch Entwicklungsland. Mir kommt es oft so vor, als müssten Gesetzestexte abgeschlossen werden und am Ende schreibt man noch drei Sätze für Frauen rein. Auch in den einzelnen Ausschüssen passiert zu wenig. Wir haben zwar in der S&D-Fraktion schon ein Gender Mainstreaming-Netzwerk, das Beobachterinnen in jedem Ausschuss hat und sich über das Thema austauscht. Aber man hat oft das Gefühl, dass Gleichstellung noch als das Weiche gesehen wird. Erst werden die harten Themen verhandelt und dann kommen sie vielleicht noch ein bisschen auf das Weiche zu sprechen. Aber Gleichstellung muss von Anfang an mitgedacht und in die Papiere einbezogen werden.

    Der Europäische Rechnungshof bemängelte in einem Sonderbericht von 2021, die Gleichstellung der Geschlechter werde auch im EU-Haushaltszyklus nicht angemessen berücksichtigt.
    Jeder zweite Euro muss in die Hand einer Frau fließen. Wir haben das Recht auf die Hälfte des Geldes. Das wird ja schon allein im Bereich der Landwirtschaft ad absurdum geführt. In Deutschland ist das anders, aber in vielen anderen Teilen Europas gehören die landwirtschaftlichen Betriebe den Männern. Damit fließen die hohen Subventionen der EU – immerhin ein Drittel des EU-Haushalts – überproportional in ihre Hände. Genauso ist es mit Hilfsgeldern und europäischen Fördergeldern. Auch Corona-Hilfen sind europaweit überwiegend in die Hände von Männern geflossen.

    Wie lässt sich das ändern?
    Das Wichtigste ist, dass man nicht nur wartet, was passiert, sondern dass man steuert. In Berlin gibt es zum Beispiel bereits die Position eines Gender Mainstreaming-Beauftragten. Der kontrolliert bei Förderprojekten, wohin das Geld gelangt und versucht, nachzusteuern. In der EU-Gesetzgebung bräuchte es zum Beispiel auch den ganz klaren Auftrag, die Folgenabschätzung nicht nur im technischen oder finanziellen Bereich, sondern auch für die Gleichstellung durchzuführen. Man sollte fragen: Was passiert europäisch, wenn wir an bestimmten Schrauben drehen?

    Nach der Europawahl im Juni könnte der Gegenwind, von dem Sie sprachen, in Brüssel kräftiger wehen. Wie blicken Sie auf die kommende Legislaturperiode?
    Es ist wichtig, dass wir Frauenrechte auf europäischer Ebene absichern, damit Veränderungen in den Mitgliedstaaten diese Rechte nicht schleifen können. Wir Sozialdemokraten haben im vergangenen Jahr eine Europäische Frauenrechts-Charta vorgestellt. Damit wollen wir europaweit Mindeststandards sichern. Denn Europa ist ja ein Versprechen. Es kann nicht sein, dass es vom Wohnort abhängig ist, ob ich bei häuslicher Gewalt geschützt bin. Wir erwarten, dass alle Kandidatinnen und Kandidaten der S&D-Fraktion die Charta unterschreiben und deutlich machen: Ich werde meine Kraft dafür einsetzen, für Gleichstellung zu stehen.

    Was wünschen Sie sich für die Zukunft der EU-Gleichstellungspolitik?
    Wenn ich richtig zaubern könnte, dann würde ich dafür sorgen, dass Gleichstellung eine Bedingung für den EU-Beitritt wird. Falls es in den nächsten Jahren zu Aufnahmen von weiteren Ländern kommt, müssen wir aufpassen, dass dabei Gleichstellung immer klar auf dem Verhandlungstisch liegt. Und ich wünsche mir, dass bei Verstößen Gelder eingefroren werden. Staaten, die gegen Gleichstellung vorgehen, müssen das am Kontoauszug merken.

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    Gerichtsverhandlung soll Zuständigkeit für “Pfizergate”-Prozess klären

    Diesen Termin hätte sich Ursula von der Leyen vermutlich gern erspart: Am Freitag, 17. Mai, wird ein belgisches Gericht in Lüttich über die Frage verhandeln, wer für den sogenannten Pfizergate-Prozess zuständig ist, in den die EU-Kommissionspräsidentin verwickelt ist.

    Dies haben sowohl das Gericht – das Tribunal de première instance de Liège – als auch die Europäische Staatsanwaltschaft EPPO bestätigt. Ob von der Leyen persönlich teilnimmt, sei noch offen, teilt die Staatsanwaltschaft in Lüttich auf Nachfrage von Table.Briefings mit.

    Beim Pfizergate geht es um die Frage, welche Rolle von der Leyen bei der Bestellung von 1,8 Milliarden COVID-19-Impfdosen im Wert von 35 Milliarden Euro beim US-Pharmakonzern Pfizer gespielt hat und ob dabei womöglich europäisches oder belgisches Recht gebrochen wurde.

    Europäische Staatsanwaltschaft ermittelt

    EPPO hatte im Oktober 2022 bestätigt, dass Ermittlungen eingeleitet wurden. Trotz des hohen öffentlichen Interesses wollte sich jedoch weder die Europäische Staatsanwaltschaft noch die EU-Kommission zu dem Fall äußern. Nachfragen und Rügen der EU-Bürgerbeauftragten und des Europäischen Gerichtshofs blieben ergebnislos.

    Bewegung kam erst in die Sache, als der bei der EU akkreditierte belgische Lobbyist Frédéric Baldan eine Klage vor dem Gericht in Lüttich einreichte, worauf sich auch die ungarische Regierung und die damalige polnische PiS-Regierung der Klage anschlossen. Baldan beschuldigt von der Leyen der “Anmaßung von Ämtern und Titeln”, der “Vernichtung öffentlicher Dokumente” und der “unrechtmäßigen Bereicherung und Korruption”.

    Bei der nicht öffentlichen Verhandlung am Freitag geht es nun um die Frage, wer zuständig ist: die belgische Justiz oder die europäische Staatsanwaltschaft. EPPO will eine Anklageschrift vorlegen und begründen, warum sie mit den Ermittlungen betraut werden sollte. Die belgische Justiz will dagegenhalten und versuchen, den Fall an sich zu ziehen.

    Brisantes Timing vor Europawahlen

    Der zuständige Untersuchungsrichter Frédéric Frenay ist für seine Hartnäckigkeit bekannt. Er hat in Belgien schon einige brisante Finanzdossiers bearbeitet. Ihm wird zugetraut, die Ermittlungen gegen von der Leyen energisch voranzutreiben – was vor dem Hintergrund der Europawahlen am 9. Juni politischen Sprengstoff birgt.

    Bei einer Übernahme durch die europäische Staatsanwaltschaft könnte der Fall hingegen weiter in die Länge gezogen und am Ende sogar eingestellt werden. EPPO ist für Fälle zuständig, die das EU-Budget schädigen oder das Ansehen der EU-Institutionen und das Vertrauen der Bürger beeinträchtigen können.

    Baldan hatte seine Klage unter anderem damit begründet, dass das “öffentliche Vertrauen” durch das Pfizergate erschüttert worden sei. Nach einem Bericht der “New York Times” soll von der Leyen den umstrittenen Vertrag in Eigenregie eingefädelt und zumindest teilweise mit SMS-Nachrichten auf ihrem Handy ausgehandelt haben.

    Die EU-Kommission weigert sich jedoch, die strittigen SMS herauszugeben, worauf die New York Times vor Gericht zog. Auch zu dem brisanten Prozesstermin ihrer Chefin am Ende dieser Woche schweigt die Brüsseler Behörde. ebo

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    Agrar-ETS: Liese hält Debatte über CO₂-Preis für Landwirte für zu früh

    Der Parlamentsberichterstatter für das europäische Emissionshandelssystem, Peter Liese (EVP), hält die Aufnahme des Agrarsektors in den ETS noch nicht für zielführend. Man müsse den Nutzen der Landwirte und Waldbesitzer in den Fokus rücken, statt den Sektor zu problematisieren. “Es ist der einzige Sektor, der große Mengen an CO₂-Senken liefert”, sagt Liese auf Nachfrage von Table.Briefings. Daher sei es nicht der richtige Zeitpunkt, um über die Aufnahme des Sektors in den ETS zu sprechen.

    Fakt ist allerdings, dass der Agrarsektor derzeit noch als Netto-Emittent in der EU gilt. Ökonomen und Umweltschutz-Organisationen fordern deshalb, dass auch die Landwirtschaft mit einem CO₂-Preis belegt wird, um die Branche zu mehr Emissionsreduktionen zu bewegen. Jedoch plädieren Experten – und auch Peter Liese – dafür, die Vergütung von entnommenen CO₂-Mengen aus der Atmosphäre in den ETS zu integrieren, um Anreize für CO₂-Entnahmen zu vergrößern. So könnte die natürliche Senkleistung des Agrarsektors profitabel für Landwirte werden. Allerdings scheitert ein Agrar-ETS derzeit noch daran, dass es noch kein System gibt, das entnommenes CO₂ im Agrar- und Landnutzungsbereich (LULUCF) vollständig erfasst.

    Liese: “Zu hoher CO₂-Preis gefährdet Industrieproduktion”

    Eingriffe in den bereits bestehenden Emissionshandel der EU erteilt Liese ebenfalls eine Absage. Forderungen nach Maßnahmen, um den gesunkenen CO₂-Preis im ETS wieder nach oben zu korrigieren, will der klimapolitische Sprecher der EVP nicht nachgeben. “Ein zu hoher ETS-Preis kann den Rückgang der Industrieproduktion in der Europäischen Union beschleunigen, weil Dekarbonisierung in der Industrie gar nicht so schnell funktioniert.”

    Nach den Preiseinbrüchen im vergangenen Jahr waren Stimmen lauter geworden, die deutlichere Marktsignale durch höhere CO₂-Preise gefordert hatten und die Kommission aufriefen, Auktionen für weitere Emissionsrechte auszusetzen. Langfristig, da ist sich Liese sicher, werde der CO₂-Preis ohnehin wieder auf 100 Euro und darüber hinaussteigen. “Deshalb sollte sich niemand Illusionen machen: Wer jetzt in saubere Technologien investiert, wird auf Dauer davon profitieren”, stellt er klar. luk

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    Katalonien-Wahl: Prognosen deuten auf Mehrheit für Separatisten hin

    Die separatistischen Parteien haben bei der vorgezogenen Parlamentswahl in der spanischen Region Katalonien nach Medienprognosen möglicherweise ihre absolute Mehrheit verteidigt.  Nach den vom staatlichen TV-Sender RTVE am Sonntagabend veröffentlichten Zahlen werden die Unabhängigkeitsbefürworter aber diesmal von der liberal-konservativen Partei Junts des in Belgien im Exil lebenden Ex-Regionalpräsidenten Carles Puigdemont angeführt. Auf Platz eins landete demnach zwar die Sozialistische Partei (PSC) von Spitzenkandidat Salvador Illa, die aber mit 37 bis 40 Sitzen die absolute Mehrheit von 68 Abgeordneten deutlich verpasst haben dürfte.

    Schwierige Koalitionsverhandlungen

    Laut RTVE kommt Junts auf 33 bis 36 Sitze vor der ebenfalls separatistischen Republikanischen Linken (ERC) des bisherigen Regionalpräsidenten Pere Aragonès mit 24 bis 27 Sitzen. Zusammen mit der linken Partei CUP (6-8 Sitze) und der als rechtspopulistisch geltenden Alianca Catalana (1-3 Sitze) können die Unabhängigkeitsbefürworter auf die absolute Mehrheit hoffen. Andere Medien hatten bei ihren Prognosen ähnliche Ergebnisse. Alles deutet unterdessen auf langwierige Verhandlungen über eine Regierungsbildung hin.

    Sollten sich diese Resultate bestätigen, könnte Puigdemont auch als Zweitplatzierter eine Regierungsbildung versuchen. Der 61-Jährige sitzt allerdings noch im Exil fest, weil er von der spanischen Justiz per Haftbefehl gesucht wird – im Zusammenhang mit dem unter seiner Führung gescheiterten, illegalen ersten Abspaltungsversuch von 2017. Der könnte erst aufgehoben werden, wenn eine mit der Regierung in Madrid vereinbarte Amnestie voraussichtlich im Juni in Kraft getreten sein wird.

    Separatisten drängen auf legales Unabhängigkeitsreferendum

    Im Wahlkampf standen zwar Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik im Vordergrund. Die Wahl galt aber auch als Plebiszit über die umstrittene Amnestie für Separatisten. Sie soll nach Worten von Spaniens sozialistischem Regierungschef Pedro Sánchez den Katalonien-Konflikt entspannen und den Separatisten den Wind aus den Segeln nehmen. Sollte ihr Stimmenanteil am Ende der offiziellen Auszählung etwas sinken, wäre das ein Erfolg für Sánchez, der im Rest des Landes für seinen nachgiebigen Katalonienkurs kritisiert wird.

    Die Separatisten lassen indes nicht locker und fordern von der Zentralregierung grünes Licht für ein legales Referendum über die Unabhängigkeit.  Die Entwicklung nach der Wahl könnte nach Ansicht von Beobachtern auch die Stabilität der spanischen Minderheitsregierung von Sánchez gefährden, die im Parlament in Madrid auf die Stimmen der Separatisten angewiesen ist. dpa

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    Litauen: Amtsinhaber Nausėda bei Präsidentschaftswahl klar vorne

    Am gestrigen Sonntag hat Litauen in einer Direktwahl ein neues Staatsoberhaupt gewählt. Als klarer Favorit ging der 59 Jahre alte Amtsinhaber Gitanas Nausėda, der sich als großer Unterstützer der Ukraine positioniert hatte, in das Rennen um das höchste Staatsamt. Gegen den parteilosen Politiker traten sieben Kandidaten an.

    Nach der Auszählung von 1439 von 1895 Wahlkreisen lag Nausėda mit 46,8 Prozent der Stimmen klar vorne. Der ehemalige Banker, der das Präsidentenamt seit 2019 innehat, lag damit weit vor seinen Konkurrenten, von denen keiner mehr als zwanzig Prozent der Stimmen erhielt. Erreicht kein Kandidat die absolute Mehrheit, gehen die beiden Bestplatzierten am 26. Mai in eine Stichwahl.

    Bis zur Schließung der Wahllokale hatten nach Angaben der Wahlkommission in Vilnius über 59 Prozent der fast 2,4 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Dies sei die höchste Beteiligung in der ersten Runde der Präsidentenwahl seit 1997. dpa/jaa

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    Neue Präsidentin Nordmazedoniens verwendet bei Amtseid alten Landesnamen

    Die neue Präsidentin Nordmazedoniens, Gordana Siljanovska-Davkova, hat am Sonntag im Parlament in Skopje ihren Amtseid abgelegt. In der Eidesformel setzte sie an die Stelle des offiziellen Landesnamens “Republik Nordmazedonien” die alte Bezeichnung “Republik Mazedonien”. Die griechische Botschafterin verließ daraufhin aus Protest den Parlamentssaal, wie Medien berichteten. Siljanovska-Davkova hatte am vergangenen Mittwoch als Kandidatin der nationalistischen VMRO-DPMNE klar die Stichwahl gegen den sozialdemokratischen Amtsinhaber Stevo Pendarovski gewonnen.

    Bei den Parlamentswahlen am selben Tag war die VMRO zur stärksten Kraft geworden. Ihr Vorsitzender Hristijan Mickoski wird voraussichtlich die nächste Regierung bilden. Sowohl Siljanovska-Davkova als auch Mickoski und andere VMRO-Politiker hatten im Wahlkampf angekündigt, nicht mehr den offiziellen Landesnamen, sondern die historische Bezeichnung Mazedonien verwenden zu wollen.

    Namensänderung wichtig für Griechenland

    Die seit 2017 regierenden und nunmehr abgewählten Sozialdemokraten hatten sich mit Griechenland auf die Namensänderung geeinigt, die im Februar 2019 vollzogen wurde. Athen hatte darauf bestanden, weil eine Region im Norden Griechenlands ebenso heißt. Die Namensänderung war Voraussetzung dafür, dass das kleine Balkanland 2020 Mitglied der Nato werden konnte. Auch der Weg zu Beitrittsgesprächen mit der EU war damit geebnet worden.

    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kritisierte Siljanovska-Davkova via X (früher Twitter) indirekt. “Damit Nordmazedonien seinen erfolgreichen Weg in Richtung EU-Beitritt fortsetzen kann, ist es von entscheidender Bedeutung, dass das Land den Weg der Reformen und der vollständigen Einhaltung seiner verbindlichen Vereinbarungen, einschließlich des Prespa-Abkommens, weitergeht”, schrieb von der Leyen mit Verweis auf das Abkommen, in dem die Namensänderung vereinbart wurde. dpa

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    Presseschau

    Steinmeier und zwei Kollegen mahnen zur Teilnahme an EU-Wahl DEUTSCHE WELLE
    Vor Europawahl wird mit massiver Desinformation gerechnet FAZ
    Kanzler Scholz trifft sich mit Regierungschefs der nordischen Länder DEUTSCHLANDFUNK
    EU-Ratspräsident Charles Michel nennt Israels Aufforderung zur Räumung von Rafah “inakzeptabel” SPIEGEL
    Regionalwahl in Spanien: Kataloniens Separatisten verlieren Parlamentsmehrheit SPIEGEL
    Präsidentenwahl in Litauen – Nauseda klarer Favorit WELT
    Reform der EU-Asylpolitik: EVP-Chef Weber rechnet mit Ende der Grenzkontrollen TAGESSPIEGEL
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    PFAS-Verbot: EU plant Rückzieher beim Verbot ewiger Chemikalien WELT
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    Chatkontrolle: Belgien kurz vor Scheitern der Verhandlungen NETZPOLITIK
    EU soll sich beteiligen: Polen baut Befestigungen an Ostgrenze aus N-TV
    Bau italienischer Aufnahmezentren in Albanien dauert länger DEUTSCHLANDFUNK
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    EU-Beitrittskandidat: 50.000 demonstrieren in Georgien gegen “Agenten-Gesetz WELT
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    Nordmazedonien: Neue Präsidentin tritt alten Namensstreit wieder los TAGESSCHAU
    Katastrophe in Polen: Großbrand in Warschau zerstört Einkaufszentrum mit 1400 Geschäften SPIEGEL
    Polnische Regierung will Vorsitzenden der Landesmedienanstalt vor Staatsgerichtshof stellen RADIOSZENE
    Bauern und Oppositionspartei vereint: Proteste gegen EU-Politik in Warschau TAGESSCHAU

    Standpunkt

    Kampf gegen Desinformation: Warum die EU ihn nicht allein gewinnen kann

    Von Johanna Koch
    Johanna Koch ist Kommunikationsexpertin und Kreative aus Berllin. Sie engagiert sich ehrenamtlich in der Bezirksverordnetenversammlung in Berlin-Mitte.

    Die EU gibt sich alle Mühen, den Kampf gegen Desinformation zu institutionalisieren – mit Erfolg. Erst im Februar ist der Digital Services Act (DSA) vollständig in Kraft getreten. Die Umsetzung in den nationalen Parlamenten ist im Gange und wurde kürzlich in Deutschland beschlossen. Der DSA verpflichtet Plattformen, aktiv gegen Desinformation vorzugehen. Dieser Ansatz der Plattform-Regulierung ist angemessen, schließlich ist durch soziale Medien eine Art zweite Realität entstanden, die angesichts der Einflussnahme extremistischer Gruppen und autoritärer Regime kein rechtsfreier Raum bleiben darf.

    In Bezug auf letzteres ist auch nachvollziehbar, dass die EU ihre Institutionen wie die Strategic Communication Abteilung des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EEAS) im hybriden Krieg gegen Russland kontinuierlich stärkt. Angesichts täglicher Versuche autoritärer Regime, demokratische Werte zu unterminieren, ist dies ein wichtiger Schritt für eine stärkere Resilienz der EU. Nachhaltig im Kampf gegen Desinformation sind beide Maßnahmen dennoch nicht. Denn sie packen das Problem nicht bei der Wurzel.

    Krasse Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungsträgern

    Dass Menschen in demokratischen Systemen für Fake News und skurrile Verschwörungstheorien immer empfänglicher werden, zeigt sich an den Wahlergebnissen. Seit den 2000ern sind euroskeptische Parteien – die sich im Parteienspektrum extrem links und extrem rechts befinden – im EU-Parlament immer stärker geworden. Bei der anstehenden Wahl wird ihnen ein noch höherer Stimmenanteil vorausgesagt. Insbesondere die extreme Rechte bedient sich häufig an Verschwörungsnarrativen, etwa wenn es um Themen wie Migration oder Klimaschutz geht. Darunter auch die AfD, die in Deutschland erstarkt, nun auch unter jungen Menschen.

    Doch der Glaube an Verschwörungstheorien und Fake News kann sich auch in einer geringen Wahlbeteiligung manifestieren. Beides, ein Erstarken extremer Parteien und eine sinkende Wahlbeteiligung, spiegelt eine krasse Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungsträgern wider. Und zeigt, dass Politiker, Parteien und demokratische Institutionen von vielen Teilen der Bevölkerung als unglaubwürdig erachtet werden.

    Politiker erscheinen unerreichbar und unzugänglich

    Letzteres betraf mich persönlich. Denn mit Anfang zwanzig Jahren war ich Teil der verschwörungsideologischen Szene Deutschlands. Damals haben mich vor allem mentale Probleme und linksextremer Einfluss in die Hände von Rattenfängern getrieben. Von der Gesellschaft habe ich mich nicht gehört, nicht beachtet gefühlt. Zu jener Zeit schienen mir Politiker unerreichbar; unzugänglich mit ihrer akademischen Sprache und ihren leeren Worthülsen. Ihnen gegenüber hegte ich Misstrauen und als ich das erste Mal wählen durfte, tat ich es nicht.

    Dahingehend motiviert hat mich vor allem Ken Jebsen, ein Mann, der von Experten als einer der einflussreichsten Verschwörungsideologen Deutschlands bezeichnet wird. Mein Engagement reichte so weit, dass ich kurzzeitig die Öffentlichkeitsarbeit eines verschwörungsideologischen Mediums leitete. Auch Jebsen lernte ich in der Zeit persönlich kennen.

    Politische Akteure müssen Verantwortung übernehmen

    Nachdem ich es aus der Szene geschafft und mich politisiert habe, ist mir eines klar geworden: Demokratische Parteien können es sich nicht länger leisten, im Kleinen zusammenzusitzen und im Großen Streitigkeiten auszutragen. Nein, politische Entscheidungsträger und Akteure müssen da rausgehen, sich der Unzufriedenheit verschiedener Anspruchsgruppen stellen. Mit mehr Zugänglichkeit und radikaler Ehrlichkeit kann man es schaffen, diejenigen zu erreichen, die den Glauben an die demokratischen Parteien verlieren.

    Es ist demnach kein Top-down, sondern ein Bottom-up Ansatz gefragt; von der lokalen über die Landes- bis zur nationalen Ebene müssen politische Akteure Verantwortung übernehmen, aus ihrer Komfortzone heraustreten und sich der Kritik der Bürgerinnen und Bürger stellen.

    Eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit politischer Parteien

    Es stimmt, durch den Digital Services Act schafft die EU eine Regelung, die im europäischen Binnenmarkt für alle Mitgliedstaaten gilt und die Bekämpfung von Desinformation systematisiert. Damit wird den EU-Ländern ein wichtiges Instrument an die Hand gegeben. Doch erst wenn diese erkennen, dass der Kampf gegen Desinformation von innen heraus angegangen werden muss, kann er gewonnen werden.

    Das ist auch eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit der demokratischen Parteien. Diese Erkenntnis ist entscheidend, nicht nur im Hinblick auf die EU-Wahlen im Juni, sondern auch auf die bevorstehenden Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern Deutschlands.

    Johanna Koch, Jahrgang 1995, ist Kommunikationsexpertin und Kreative aus Berlin. Ehrenamtlich engagiert sie sich in der Bezirksverordnetenversammlung in Berlin-Mitte. Anhand ihrer eigenen Erfahrungen in der verschwörungsideologischen Szene beschäftigt sie sich mit der Frage, was Menschen in die Fänge von Rattenfängern treibt, wie man sich aus diesem Einflussbereich wieder befreien kann und welche politischen Maßnahmen es dagegen braucht.

    • Desinformation
    • Digital Services Act
    • Digitalpolitik

    Europe.Table Redaktion

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