es geht ums Geld! Während sich die deutsche Regierung um den Haushaltsentwurf 2025 streitet, lohnt sich ein Blick nach Brüssel. Mein Kollege János Allenbach-Ammann erklärt in seiner Analyse, welche Kriterien der deutsche Haushalt aus Perspektive der EU-Schuldenregeln einhalten muss.
Auch über die europäischen Grenzen hinaus wird ums Geld gestritten. Bei der COP29 in Baku soll ein neues globales Klima-Finanzierungsziel beschlossen werden. In den News lesen Sie, welche Forderungen an die Industrieländer kursieren und welche Position Europa vertritt. Eins vorweg: Im Streit um die Einbeziehung neuer Geberstaaten für die Klimafinanzierung sind die Fronten noch immer verhärtet.
Gestern hat Eurostat das Wirtschaftswachstum der Eurozone bekanntgegeben. Die gute Nachricht: Das BIP wächst, wenn auch nur schwach. Die schlechte: Deutschland wirkt weiter als Bremsklotz.
Ich wünsche Ihnen viele neue Erkenntnisse.
Der große Knackpunkt im Haushaltsentwurf 2025, um den sich die Ampelkoalition derzeit streitet, ist die Schuldenbremse. Aber in dieser Haushaltsperiode gelten auch zum ersten Mal die neuen EU-Schuldenregeln, denen Deutschland folgen müsste – Schuldenbremse hin oder her.
Im ZDF-Sommerinterview in der vergangenen Woche erinnerte Bundesfinanzminister Christian Lindner an die europäischen Stabilitätsregeln. “Deutschland kann nicht einfach so viele Schulden machen, wie manche das wollen. Die ganzen Milliardenprogramme und Sondervermögen, die gefordert werden, widersprechen nach meiner festen Überzeugung europäischem Recht”, sagte Lindner.
Doch die EU-Schuldenregeln unterscheiden sich unter anderem in zwei relevanten Aspekten von der Schuldenbremse im deutschen Grundgesetz:
Der in den EU-Verträgen festgelegte Maximalwert für das Haushaltsdefizit (3 Prozent des BIP) gilt nach wie vor. Ebenso soll die Verschuldung laut Artikel 126 des AEU-Vertrags 60 Prozent des BIPs nicht übersteigen oder – wenn der Wert darüber liegt – “hinreichend rückläufig” sein.
Neu ist an den EU-Schuldenregeln vor allem, wie dieses zweite Kriterium operationalisiert wird. Mitgliedstaaten, die wie Deutschland über dem 60-Prozent-Referenzwert liegen, müssen einen mehrjährigen Netto-Ausgabenpfad vorstellen, der mittelfristig zu einer Reduktion des Schuldenstandes im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung führen soll.
Der Netto-Ausgabenpfad muss eine Reihe von Kriterien erfüllen, die sicherstellen sollen, dass der Schuldenstand tatsächlich sinkt. Laut dem wirtschaftspolitischen Thinktank Bruegel, der die Konsequenzen der EU-Schuldenregeln für alle Mitgliedstaaten untersucht hat, wäre für Deutschland das Resultat der Schuldentragfähigkeitsanalyse relevant. Diese gibt Deutschland eine leichte Reduktion des strukturellen Primärdefizits vor. Dabei handelt es sich um das konjunkturell bereinigte Defizit unter Ausschluss des Zinsaufwandes.
Wie stark das strukturelle Primärdefizit reduziert werden muss, hängt davon ab, ob Deutschland der EU im Herbst einen vier- oder siebenjährigen Finanzplan vorlegen will. Im Falle eines vierjährigen Finanzplans müsste Deutschland sein strukturelles Primärdefizit laut Bruegel-Berechnungen um insgesamt 0,4 Prozent des BIPs reduzieren beziehungsweise um 0,11 Prozent des BIPs pro Jahr. Im Falle eines siebenjährigen Finanzplans wären es nur noch circa 0,1 Prozent des BIPs insgesamt – beziehungsweise 0,02 Prozent des BIPs pro Jahr.
In absoluten Zahlen heißt das, dass Deutschland 2025 im Vergleich zu 2024 zwischen einer und vier Milliarden Euro einsparen oder entsprechende Mehreinnahmen generieren muss – alle Regierungsebenen zusammengerechnet. “Die EU-Schuldenregeln erfordern von Deutschland nur eine sehr überschaubare Haushaltskonsolidierung”, sagt Zsolt Darvas, der als Senior Research Fellow bei Bruegel die Berechnungen mitverantwortet.
Zudem sind es Werte, die Deutschland laut Prognosen der EU-Kommission auch ohne Änderung seiner Haushaltspolitik erreichen würde. In ihrer Mai-Prognose geht die Kommission davon aus, dass der strukturelle Primärsaldo Deutschlands sich im kommenden Jahr um 0,22 Prozent des BIPs verbessern wird.
Die EU-Kommission erhofft sich von Deutschland eigentlich, dass private und öffentliche Akteure im Land mehr investieren und konsumieren. Aktuell befinde sich Deutschland nämlich in einem “makroökonomischen Ungleichgewicht”. Das geht aus einem Bericht hervor, den die Kommission im Rahmen des Europäischen Semesters im Juni veröffentlichte. Ein ausgabenfreudigeres Deutschland würde auch die Konjunktur anderer EU-Staaten ankurbeln, ohne deren Schuldenbilanzen zu belasten.
Ob dieses makroökonomische Ungleichgewicht Deutschlands jedoch unter Berücksichtigung der EU-Schuldenregeln behoben werden kann, ist fraglich. Finanzminister Lindner fürchtet das Signal, das Deutschland aussenden würde, wenn es die EU-Schuldenregeln bricht, um die es zuvor geworben hat. “Das wäre eine Einladung an andere in Europa, wieder mehr Schulden zu machen, als tragfähig ist”, sagte er im ZDF-Interview.
16.08.2024 – 18:00-20:00 Uhr, Hannover
FES, Vortrag Die distanzierte Mitte – Wie rechtspopulistische Bewegungen junge Menschen und Arbeiter_innen für sich gewinnen
Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) diskutiert die Ergebnisse der Mitte-Studie 2023. INFOS & ANMELDUNG
17.08.2024 – 11:00-12:45 Uhr, online
Polis 180, Workshop Approaching Zeitenwende: How do we initiate change in people’s minds?
Polis 180 identifies different understandings of why the Zeitenwende is staggering and develops preliminary recommendations to approach the problem. INFOS & REGISTRATION
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Eurozone legte im zweiten Quartal um 0,3 Prozent im Vergleich zum ersten Quartal zu, wie das EU-Statistikamt Eurostat am Mittwoch mitteilte. Damit wurde eine Schnellschätzung bestätigt. Schon zu Jahresbeginn hatte der Zuwachs bei 0,3 Prozent gelegen.
Deutschland wirkte mit seinem Minus beim BIP von 0,1 Prozent als Bremsklotz, während die Wirtschaft in Frankreich um 0,3 Prozent wuchs und Italien immerhin ein Plus von 0,2 Prozent schaffte. Spaniens Bruttoinlandsprodukt legte im zweiten Quartal sogar um 0,8 Prozent zu und konnte damit das relativ hohe Wachstumstempo vom Jahresbeginn halten.
Negative Nachrichten kamen unterdessen aus der Industrie im Euroraum. Der Wirtschaftsbereich hat seine Produktion zum Ende des zweiten Quartals überraschend heruntergefahren. Die Industrie verringerte ihre Fertigung im Juni um 0,1 Prozent im Vergleich zum Vormonat, wie das EU-Statistikamt weiter mitteilte. Von Reuters befragte Experten hatten mit einem Anstieg von 0,5 Prozent gerechnet.
Im Mai war die Produktion nach revidierten Zahlen sogar um 0,9 Prozent gedrosselt worden. Zunächst war ein Minus von 0,6 Prozent gemeldet worden. Verglichen mit dem Vorjahresmonat sank die Industrieproduktion im Juni um 3,9 Prozent. Hier hatten Experten nur ein Minus von 3,0 Prozent erwartet. rtr
Die Gruppe der arabischen Staaten fordert die Industrieländer – darunter auch die EU-Länder – auf, zukünftig mindestens 441 Milliarden US-Dollar pro Jahr für die internationale Klimafinanzierung aus öffentlichen Mitteln bereitzustellen. Insgesamt sollen die entwickelten Staaten demnach im Zeitraum 2025 bis 2029 jährlich 1,1 Billionen US-Dollar inklusive privater Investitionen mobilisieren.
Das geht aus einer Einreichung der arabischen Staatengruppe an die UNFCCC im Rahmen der Verhandlungen um ein neues globales Klimafinanzziel hervor. Viele andere Staaten und Staatengruppen halten sich bei ihren Vorstellungen über die Höhe des sogenannten New Collective Quantified Goal on Climate Finance (NCQG) weiterhin bedeckt.
Die EU hält sich mit konkreten Zahlen noch zurück, fordert aber eine Ausweitung der Geberstaaten auf Staaten “mit hohen Treibhausgasemissionen und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit”. Laut den USA sollte das NCQG:
Auch die Gruppe der Least Developed Countries und die Gruppe der kleinen Inselstaaten nennen keine Zahlen zur Höhe des NCQG. Die afrikanischen Staaten schlagen 1,3 Billionen US-Dollar pro Jahr für den Zeitraum von 2025 bis 2030 vor.
Die sogenannten Like-Minded Developing Countries, zu denen auch China und Indien gehören, schlagen vor:
Die nächste Verhandlungsrunde über das NCQG findet zwischen dem 9. und 12. September in Baku statt. Ein finaler Beschluss wird auf der UN-Klimakonferenz im November (COP29) erwartet. nib
Shein hat den ehemaligen EU-Kommissar Günther Oettinger angeworben, um seine Lobbyarbeit in Europa zu stärken. Das berichtete “Bloomberg” unter Berufung auf einen Vertreter des chinesischen Fast-Fashion-Riesen. Shein bereitet derzeit seinen Börsengang in London vor und benötigt demnach regulatorische Hilfe in der EU. Dabei soll Oettinger als Berater helfen. Der 70 Jahre alte CDU-Politiker war EU-Kommissar für Energie, digitale Wirtschaft und Gesellschaft sowie Budget-Kommissar.
Oettinger ist auch Mitglied im Beirat des Beratungsunternehmens Kekst CNC, an das Shein laut Transparenzregister der Europäischen Union im vergangenen Jahr bis zu 199.999 Euro gezahlt hat. Shein und andere Online-Händler aus China bereiten dem europäischen E-Commerce derzeit Kopfzerbrechen. Die EU-Kommission debattiert bereits seit Längerem die Abschaffung der 150-Euro-Steuerfreigrenze für die Einfuhr von Paketen. Ob das den gewünschten Effekt haben wird, ist jedoch unklar – denn viele Produkte auf den chinesischen Plattformen kosten deutlich weniger als 150 Euro. ari
Hans Henri Kluges erste Amtszeit als Regionaldirektor für Europa bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hätte ereignisreicher kaum verlaufen können. Am 1. Februar 2020 trat der belgische Arzt seinen Posten an, nur kurze Zeit später breitete sich die Corona-Pandemie rasant aus. Kaum war das Gröbste überstanden, startete Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine – und sorgte für eine neue gesundheitliche Herausforderung. Auch der Krieg in Gaza fordert Kluges Aufmerksamkeit, der in seiner Rolle auch für Israel verantwortlich ist. “Vor vier Jahren habe ich eine ruhige Region übernommen, nun steht sie in Flammen”, sagt er.
Bei der Arbeit in den Krisenregionen helfen dem 55-Jährigen seine vorherigen beruflichen Stationen bei der Organisation Ärzte ohne Grenzen, für die er in einigen der “herausforderndsten Regionen der Welt” unterwegs war. In Somalia und Libyen diente er zur Zeit des Bürgerkriegs, in ehemaligen Gulags in Sibirien war er zuständig für Tuberkulose-Kontrollen. Die Erfahrungen vor Ort beschreibt er als die schrecklichsten, die er jemals gemacht habe.
Die Tätigkeit ebnete Kluges Weg in die WHO, für die er in den folgenden Jahren in Moskau und Myanmar tätig war. Nach einer zehnjährigen Amtszeit als Abteilungsleiter Gesundheitssysteme und öffentliche Gesundheit wurde er schließlich Regionaldirektor. Er ist dabei nicht nur für die 27 EU-Staaten verantwortlich, sondern für insgesamt 53 Länder “von Grönland bis Wladiwostok”. Auf seinen Reisen in die Länder der Region unterhält er Gespräche mit Gesundheitsministern, Regierungen und Menschen im Feld, mit dem Ziel, “dass das Thema Gesundheit ganz oben auf der Agenda der politischen Bemühungen bleibt”.
Trotz der schwierigen letzten Jahre sieht Kluge im gesundheitlichen Bereich Schritte nach vorn: Die Digitalisierung seit dem Ausbruch der Pandemie bezeichnet er als “Revolution”, die sich besonders in der Telemedizin zeige. Zudem hätten gerade viele EU-Staaten die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit externen Partnern erkannt. “Die Mehrheit hat inzwischen verstanden, dass sie ohne ihre Nachbarn niemals sicher sein wird”, sagt Kluge. So habe man die Abhängigkeit von China und Indien verringert und verstärkt eine regionale Resilienz aufgebaut. Die WHO unterstütze diese Bemühungen durch den Aufbau des Pan-European Network of Disease Control.
Dennoch sieht Kluge Europa und die restliche Region in keiner guten Lage. Er sagt: “Ehrlich gesagt, sehe ich Europa nicht ausreichend für zukünftige Krisen gewappnet.” Die Gründe dafür seien vielfältig: In den meisten Staaten nehme die Gesundheitsvorsorge noch immer einen niedrigen Stellenwert ein, der trotz der verheerenden Folgen der Pandemie eher weiter gesunken ist. Ein Beispiel dafür sie die Kürzung beim Programm EU for Health, bei dem eine Milliarde Euro für die Unterstützung der Ukraine verwendet wird.
Weniger Investitionen in die Gesundheitssysteme könnte dazu führen, dass sozioökonomische Aspekte über eine Behandlung entscheiden – und künftig für ein “weiteres Misstrauen in die Gesundheitsinstitutionen” sorgen. Eine kurzfristige Verbesserung erwartet Kluge in der EU nicht. “Dem Thema Gesundheit wird in der neuen Kommission eine noch geringere Aufmerksamkeit zukommen”, sagt er.
Dabei seien die Herausforderungen so groß wie nie. Neben einer wachsenden Zahl an Patienten mit chronischen Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Beschwerden kämpften immer mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen. “Seit ich im Amt bin, haben wir uns beim Thema der mentalen Gesundheit leider stark verschlechtert“, so Kluge. Einer von sieben Europäern lebe laut Kluge derzeit mit mentalen Problemen. Mit Initiativen wie der Pan-European Mental Health Coalition wolle die WHO Europe erreichen, “dass jedes Krankenhaus Anlaufstellen für das Thema mentale Gesundheit anbietet”, um das Thema in der medizinischen Grundversorgung zu etablieren.
Aufgrund der kritischen Situation der Gesundheitssysteme in der Region fordert Kluge einen “Paradigmenwechsel”. Er sagt: “Wir reden oft über die Widerstandsfähigkeit des Gesundheitssystems, dabei müssten wir viel mehr über die Widerstandsfähigkeit der Menschen sprechen.” Er fordert einen “Weg zu einem gesünderen Lebensstil”, um die Anforderungen für die Gesundheitssysteme zu verringern. Ansonsten würden diese in Zukunft zusammenbrechen. Jasper Bennink
Von Estlands Hauptstadt Tallinn nach Helsinki in Finnland sind es nur etwa zwei Stunden mit der Fähre. Auch sprachlich sind sich die beiden Länder nahe, und sie teilen eine große Leidenschaft: das Saunieren.
So war es folgerichtig, dass die Regierungschefs der beiden Länder bei ihrem ersten Treffen zuerst mal gemeinsam schwitzten. “Wir haben gestern mit dem Ministerpräsidenten auf sehr finnische und estnische Art und Weise begonnen – in der Sauna“, sagte Finnlands Regierungschef Petteri Orpo am Mittwoch. Seit wenigen Wochen ist Kristen Michal Estlands neuer Premierminister. Er folgt auf Kaja Kallas, die das Amt der EU-Außenbeauftragten übernimmt.
In Deutschland ist ein gemeinsamer Saunabesuch hochrangiger Politiker nahezu unvorstellbar, weiter nördlich hingegen ist das nicht allzu ungewöhnlich. Auch von der ehemaligen finnischen Ministerpräsidentin Sanna Marin weiß man, dass sie mit Vertreterinnen ihrer Regierung in die Sauna im Garten ihrer Dienstvilla ging.
Der langjährige finnische Präsident Urho Kekkonen soll Politiker mit Temperaturen von über 100 Grad gar gezielt ins Schwitzen gebracht haben, um in heiklen Gesprächen im Vorteil zu sein. Legendär ist sein Saunabesuch mit Nikita Chruschtschow im Jahr 1960, bei dem er dem Sowjetführer die Zustimmung zum Beitritt Finnlands in die Europäische Freihandelsassoziation abgerungen haben soll.
Weitaus harmonischer ist es offenbar bei den Saunafreunden Orpo und Michal zugegangen. Der Gast aus Estland bedankte sich jedenfalls für das “very warm welcome“. Sarah Schaefer
es geht ums Geld! Während sich die deutsche Regierung um den Haushaltsentwurf 2025 streitet, lohnt sich ein Blick nach Brüssel. Mein Kollege János Allenbach-Ammann erklärt in seiner Analyse, welche Kriterien der deutsche Haushalt aus Perspektive der EU-Schuldenregeln einhalten muss.
Auch über die europäischen Grenzen hinaus wird ums Geld gestritten. Bei der COP29 in Baku soll ein neues globales Klima-Finanzierungsziel beschlossen werden. In den News lesen Sie, welche Forderungen an die Industrieländer kursieren und welche Position Europa vertritt. Eins vorweg: Im Streit um die Einbeziehung neuer Geberstaaten für die Klimafinanzierung sind die Fronten noch immer verhärtet.
Gestern hat Eurostat das Wirtschaftswachstum der Eurozone bekanntgegeben. Die gute Nachricht: Das BIP wächst, wenn auch nur schwach. Die schlechte: Deutschland wirkt weiter als Bremsklotz.
Ich wünsche Ihnen viele neue Erkenntnisse.
Der große Knackpunkt im Haushaltsentwurf 2025, um den sich die Ampelkoalition derzeit streitet, ist die Schuldenbremse. Aber in dieser Haushaltsperiode gelten auch zum ersten Mal die neuen EU-Schuldenregeln, denen Deutschland folgen müsste – Schuldenbremse hin oder her.
Im ZDF-Sommerinterview in der vergangenen Woche erinnerte Bundesfinanzminister Christian Lindner an die europäischen Stabilitätsregeln. “Deutschland kann nicht einfach so viele Schulden machen, wie manche das wollen. Die ganzen Milliardenprogramme und Sondervermögen, die gefordert werden, widersprechen nach meiner festen Überzeugung europäischem Recht”, sagte Lindner.
Doch die EU-Schuldenregeln unterscheiden sich unter anderem in zwei relevanten Aspekten von der Schuldenbremse im deutschen Grundgesetz:
Der in den EU-Verträgen festgelegte Maximalwert für das Haushaltsdefizit (3 Prozent des BIP) gilt nach wie vor. Ebenso soll die Verschuldung laut Artikel 126 des AEU-Vertrags 60 Prozent des BIPs nicht übersteigen oder – wenn der Wert darüber liegt – “hinreichend rückläufig” sein.
Neu ist an den EU-Schuldenregeln vor allem, wie dieses zweite Kriterium operationalisiert wird. Mitgliedstaaten, die wie Deutschland über dem 60-Prozent-Referenzwert liegen, müssen einen mehrjährigen Netto-Ausgabenpfad vorstellen, der mittelfristig zu einer Reduktion des Schuldenstandes im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung führen soll.
Der Netto-Ausgabenpfad muss eine Reihe von Kriterien erfüllen, die sicherstellen sollen, dass der Schuldenstand tatsächlich sinkt. Laut dem wirtschaftspolitischen Thinktank Bruegel, der die Konsequenzen der EU-Schuldenregeln für alle Mitgliedstaaten untersucht hat, wäre für Deutschland das Resultat der Schuldentragfähigkeitsanalyse relevant. Diese gibt Deutschland eine leichte Reduktion des strukturellen Primärdefizits vor. Dabei handelt es sich um das konjunkturell bereinigte Defizit unter Ausschluss des Zinsaufwandes.
Wie stark das strukturelle Primärdefizit reduziert werden muss, hängt davon ab, ob Deutschland der EU im Herbst einen vier- oder siebenjährigen Finanzplan vorlegen will. Im Falle eines vierjährigen Finanzplans müsste Deutschland sein strukturelles Primärdefizit laut Bruegel-Berechnungen um insgesamt 0,4 Prozent des BIPs reduzieren beziehungsweise um 0,11 Prozent des BIPs pro Jahr. Im Falle eines siebenjährigen Finanzplans wären es nur noch circa 0,1 Prozent des BIPs insgesamt – beziehungsweise 0,02 Prozent des BIPs pro Jahr.
In absoluten Zahlen heißt das, dass Deutschland 2025 im Vergleich zu 2024 zwischen einer und vier Milliarden Euro einsparen oder entsprechende Mehreinnahmen generieren muss – alle Regierungsebenen zusammengerechnet. “Die EU-Schuldenregeln erfordern von Deutschland nur eine sehr überschaubare Haushaltskonsolidierung”, sagt Zsolt Darvas, der als Senior Research Fellow bei Bruegel die Berechnungen mitverantwortet.
Zudem sind es Werte, die Deutschland laut Prognosen der EU-Kommission auch ohne Änderung seiner Haushaltspolitik erreichen würde. In ihrer Mai-Prognose geht die Kommission davon aus, dass der strukturelle Primärsaldo Deutschlands sich im kommenden Jahr um 0,22 Prozent des BIPs verbessern wird.
Die EU-Kommission erhofft sich von Deutschland eigentlich, dass private und öffentliche Akteure im Land mehr investieren und konsumieren. Aktuell befinde sich Deutschland nämlich in einem “makroökonomischen Ungleichgewicht”. Das geht aus einem Bericht hervor, den die Kommission im Rahmen des Europäischen Semesters im Juni veröffentlichte. Ein ausgabenfreudigeres Deutschland würde auch die Konjunktur anderer EU-Staaten ankurbeln, ohne deren Schuldenbilanzen zu belasten.
Ob dieses makroökonomische Ungleichgewicht Deutschlands jedoch unter Berücksichtigung der EU-Schuldenregeln behoben werden kann, ist fraglich. Finanzminister Lindner fürchtet das Signal, das Deutschland aussenden würde, wenn es die EU-Schuldenregeln bricht, um die es zuvor geworben hat. “Das wäre eine Einladung an andere in Europa, wieder mehr Schulden zu machen, als tragfähig ist”, sagte er im ZDF-Interview.
16.08.2024 – 18:00-20:00 Uhr, Hannover
FES, Vortrag Die distanzierte Mitte – Wie rechtspopulistische Bewegungen junge Menschen und Arbeiter_innen für sich gewinnen
Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) diskutiert die Ergebnisse der Mitte-Studie 2023. INFOS & ANMELDUNG
17.08.2024 – 11:00-12:45 Uhr, online
Polis 180, Workshop Approaching Zeitenwende: How do we initiate change in people’s minds?
Polis 180 identifies different understandings of why the Zeitenwende is staggering and develops preliminary recommendations to approach the problem. INFOS & REGISTRATION
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Eurozone legte im zweiten Quartal um 0,3 Prozent im Vergleich zum ersten Quartal zu, wie das EU-Statistikamt Eurostat am Mittwoch mitteilte. Damit wurde eine Schnellschätzung bestätigt. Schon zu Jahresbeginn hatte der Zuwachs bei 0,3 Prozent gelegen.
Deutschland wirkte mit seinem Minus beim BIP von 0,1 Prozent als Bremsklotz, während die Wirtschaft in Frankreich um 0,3 Prozent wuchs und Italien immerhin ein Plus von 0,2 Prozent schaffte. Spaniens Bruttoinlandsprodukt legte im zweiten Quartal sogar um 0,8 Prozent zu und konnte damit das relativ hohe Wachstumstempo vom Jahresbeginn halten.
Negative Nachrichten kamen unterdessen aus der Industrie im Euroraum. Der Wirtschaftsbereich hat seine Produktion zum Ende des zweiten Quartals überraschend heruntergefahren. Die Industrie verringerte ihre Fertigung im Juni um 0,1 Prozent im Vergleich zum Vormonat, wie das EU-Statistikamt weiter mitteilte. Von Reuters befragte Experten hatten mit einem Anstieg von 0,5 Prozent gerechnet.
Im Mai war die Produktion nach revidierten Zahlen sogar um 0,9 Prozent gedrosselt worden. Zunächst war ein Minus von 0,6 Prozent gemeldet worden. Verglichen mit dem Vorjahresmonat sank die Industrieproduktion im Juni um 3,9 Prozent. Hier hatten Experten nur ein Minus von 3,0 Prozent erwartet. rtr
Die Gruppe der arabischen Staaten fordert die Industrieländer – darunter auch die EU-Länder – auf, zukünftig mindestens 441 Milliarden US-Dollar pro Jahr für die internationale Klimafinanzierung aus öffentlichen Mitteln bereitzustellen. Insgesamt sollen die entwickelten Staaten demnach im Zeitraum 2025 bis 2029 jährlich 1,1 Billionen US-Dollar inklusive privater Investitionen mobilisieren.
Das geht aus einer Einreichung der arabischen Staatengruppe an die UNFCCC im Rahmen der Verhandlungen um ein neues globales Klimafinanzziel hervor. Viele andere Staaten und Staatengruppen halten sich bei ihren Vorstellungen über die Höhe des sogenannten New Collective Quantified Goal on Climate Finance (NCQG) weiterhin bedeckt.
Die EU hält sich mit konkreten Zahlen noch zurück, fordert aber eine Ausweitung der Geberstaaten auf Staaten “mit hohen Treibhausgasemissionen und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit”. Laut den USA sollte das NCQG:
Auch die Gruppe der Least Developed Countries und die Gruppe der kleinen Inselstaaten nennen keine Zahlen zur Höhe des NCQG. Die afrikanischen Staaten schlagen 1,3 Billionen US-Dollar pro Jahr für den Zeitraum von 2025 bis 2030 vor.
Die sogenannten Like-Minded Developing Countries, zu denen auch China und Indien gehören, schlagen vor:
Die nächste Verhandlungsrunde über das NCQG findet zwischen dem 9. und 12. September in Baku statt. Ein finaler Beschluss wird auf der UN-Klimakonferenz im November (COP29) erwartet. nib
Shein hat den ehemaligen EU-Kommissar Günther Oettinger angeworben, um seine Lobbyarbeit in Europa zu stärken. Das berichtete “Bloomberg” unter Berufung auf einen Vertreter des chinesischen Fast-Fashion-Riesen. Shein bereitet derzeit seinen Börsengang in London vor und benötigt demnach regulatorische Hilfe in der EU. Dabei soll Oettinger als Berater helfen. Der 70 Jahre alte CDU-Politiker war EU-Kommissar für Energie, digitale Wirtschaft und Gesellschaft sowie Budget-Kommissar.
Oettinger ist auch Mitglied im Beirat des Beratungsunternehmens Kekst CNC, an das Shein laut Transparenzregister der Europäischen Union im vergangenen Jahr bis zu 199.999 Euro gezahlt hat. Shein und andere Online-Händler aus China bereiten dem europäischen E-Commerce derzeit Kopfzerbrechen. Die EU-Kommission debattiert bereits seit Längerem die Abschaffung der 150-Euro-Steuerfreigrenze für die Einfuhr von Paketen. Ob das den gewünschten Effekt haben wird, ist jedoch unklar – denn viele Produkte auf den chinesischen Plattformen kosten deutlich weniger als 150 Euro. ari
Hans Henri Kluges erste Amtszeit als Regionaldirektor für Europa bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hätte ereignisreicher kaum verlaufen können. Am 1. Februar 2020 trat der belgische Arzt seinen Posten an, nur kurze Zeit später breitete sich die Corona-Pandemie rasant aus. Kaum war das Gröbste überstanden, startete Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine – und sorgte für eine neue gesundheitliche Herausforderung. Auch der Krieg in Gaza fordert Kluges Aufmerksamkeit, der in seiner Rolle auch für Israel verantwortlich ist. “Vor vier Jahren habe ich eine ruhige Region übernommen, nun steht sie in Flammen”, sagt er.
Bei der Arbeit in den Krisenregionen helfen dem 55-Jährigen seine vorherigen beruflichen Stationen bei der Organisation Ärzte ohne Grenzen, für die er in einigen der “herausforderndsten Regionen der Welt” unterwegs war. In Somalia und Libyen diente er zur Zeit des Bürgerkriegs, in ehemaligen Gulags in Sibirien war er zuständig für Tuberkulose-Kontrollen. Die Erfahrungen vor Ort beschreibt er als die schrecklichsten, die er jemals gemacht habe.
Die Tätigkeit ebnete Kluges Weg in die WHO, für die er in den folgenden Jahren in Moskau und Myanmar tätig war. Nach einer zehnjährigen Amtszeit als Abteilungsleiter Gesundheitssysteme und öffentliche Gesundheit wurde er schließlich Regionaldirektor. Er ist dabei nicht nur für die 27 EU-Staaten verantwortlich, sondern für insgesamt 53 Länder “von Grönland bis Wladiwostok”. Auf seinen Reisen in die Länder der Region unterhält er Gespräche mit Gesundheitsministern, Regierungen und Menschen im Feld, mit dem Ziel, “dass das Thema Gesundheit ganz oben auf der Agenda der politischen Bemühungen bleibt”.
Trotz der schwierigen letzten Jahre sieht Kluge im gesundheitlichen Bereich Schritte nach vorn: Die Digitalisierung seit dem Ausbruch der Pandemie bezeichnet er als “Revolution”, die sich besonders in der Telemedizin zeige. Zudem hätten gerade viele EU-Staaten die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit externen Partnern erkannt. “Die Mehrheit hat inzwischen verstanden, dass sie ohne ihre Nachbarn niemals sicher sein wird”, sagt Kluge. So habe man die Abhängigkeit von China und Indien verringert und verstärkt eine regionale Resilienz aufgebaut. Die WHO unterstütze diese Bemühungen durch den Aufbau des Pan-European Network of Disease Control.
Dennoch sieht Kluge Europa und die restliche Region in keiner guten Lage. Er sagt: “Ehrlich gesagt, sehe ich Europa nicht ausreichend für zukünftige Krisen gewappnet.” Die Gründe dafür seien vielfältig: In den meisten Staaten nehme die Gesundheitsvorsorge noch immer einen niedrigen Stellenwert ein, der trotz der verheerenden Folgen der Pandemie eher weiter gesunken ist. Ein Beispiel dafür sie die Kürzung beim Programm EU for Health, bei dem eine Milliarde Euro für die Unterstützung der Ukraine verwendet wird.
Weniger Investitionen in die Gesundheitssysteme könnte dazu führen, dass sozioökonomische Aspekte über eine Behandlung entscheiden – und künftig für ein “weiteres Misstrauen in die Gesundheitsinstitutionen” sorgen. Eine kurzfristige Verbesserung erwartet Kluge in der EU nicht. “Dem Thema Gesundheit wird in der neuen Kommission eine noch geringere Aufmerksamkeit zukommen”, sagt er.
Dabei seien die Herausforderungen so groß wie nie. Neben einer wachsenden Zahl an Patienten mit chronischen Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Beschwerden kämpften immer mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen. “Seit ich im Amt bin, haben wir uns beim Thema der mentalen Gesundheit leider stark verschlechtert“, so Kluge. Einer von sieben Europäern lebe laut Kluge derzeit mit mentalen Problemen. Mit Initiativen wie der Pan-European Mental Health Coalition wolle die WHO Europe erreichen, “dass jedes Krankenhaus Anlaufstellen für das Thema mentale Gesundheit anbietet”, um das Thema in der medizinischen Grundversorgung zu etablieren.
Aufgrund der kritischen Situation der Gesundheitssysteme in der Region fordert Kluge einen “Paradigmenwechsel”. Er sagt: “Wir reden oft über die Widerstandsfähigkeit des Gesundheitssystems, dabei müssten wir viel mehr über die Widerstandsfähigkeit der Menschen sprechen.” Er fordert einen “Weg zu einem gesünderen Lebensstil”, um die Anforderungen für die Gesundheitssysteme zu verringern. Ansonsten würden diese in Zukunft zusammenbrechen. Jasper Bennink
Von Estlands Hauptstadt Tallinn nach Helsinki in Finnland sind es nur etwa zwei Stunden mit der Fähre. Auch sprachlich sind sich die beiden Länder nahe, und sie teilen eine große Leidenschaft: das Saunieren.
So war es folgerichtig, dass die Regierungschefs der beiden Länder bei ihrem ersten Treffen zuerst mal gemeinsam schwitzten. “Wir haben gestern mit dem Ministerpräsidenten auf sehr finnische und estnische Art und Weise begonnen – in der Sauna“, sagte Finnlands Regierungschef Petteri Orpo am Mittwoch. Seit wenigen Wochen ist Kristen Michal Estlands neuer Premierminister. Er folgt auf Kaja Kallas, die das Amt der EU-Außenbeauftragten übernimmt.
In Deutschland ist ein gemeinsamer Saunabesuch hochrangiger Politiker nahezu unvorstellbar, weiter nördlich hingegen ist das nicht allzu ungewöhnlich. Auch von der ehemaligen finnischen Ministerpräsidentin Sanna Marin weiß man, dass sie mit Vertreterinnen ihrer Regierung in die Sauna im Garten ihrer Dienstvilla ging.
Der langjährige finnische Präsident Urho Kekkonen soll Politiker mit Temperaturen von über 100 Grad gar gezielt ins Schwitzen gebracht haben, um in heiklen Gesprächen im Vorteil zu sein. Legendär ist sein Saunabesuch mit Nikita Chruschtschow im Jahr 1960, bei dem er dem Sowjetführer die Zustimmung zum Beitritt Finnlands in die Europäische Freihandelsassoziation abgerungen haben soll.
Weitaus harmonischer ist es offenbar bei den Saunafreunden Orpo und Michal zugegangen. Der Gast aus Estland bedankte sich jedenfalls für das “very warm welcome“. Sarah Schaefer