eine Landtagswahl ist internationalen Medien unter normalen Umständen keine Schlagzeile wert. Gestern Abend aber verschickten Financial Times oder Le Monde sogar Eilmeldungen. Der Sieg der AfD bei der Landtagswahl in Thüringen, der erste einer radikal rechten Partei nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wird im Ausland mit großer Besorgnis registriert.
Die Sorge um die deutsche Demokratie ist berechtigt. In Sachsen und Thüringen haben (bei hoher Wahlbeteiligung) rund ein Drittel der Wählerinnen und Wähler für AfD-Frontmänner gestimmt, die ihre rechtsextreme und umstürzlerische Gesinnung nicht einmal verbergen. Björn Höcke und Jörg Urban werden kaum Ministerpräsidenten werden, aber ohne sie zu regieren wird immer schwieriger.
Die CDU fühlt sich als Siegerin, und tatsächlich sahen viele Wähler in ihr den letzten Garanten für Stabilität. Um regieren zu können, muss sie aber mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht kooperieren – ein Sprung ins Ungewisse. In den Verhandlungen wird sich zeigen, ob Sahra Wagenknecht tatsächlich auf Bedingungen wie einem Nein zur Stationierung von US-Mittelstreckenraketen beharrt, die weit außerhalb der Macht einer Landesregierung liegen.
Für die SPD gingen die Wahlen glimpflicher aus als befürchtet. Bundeskanzler Olaf Scholz dürfte sich daher (wieder einmal) bestätigt sehen. Allerdings dürfte das Abschneiden des BSW die Stimmen unter den Sozialdemokraten stärken, die die Waffenlieferungen an die Ukraine zurückfahren wollen.
Ob die Ampel auch die Landtagswahl in Brandenburg in drei Wochen übersteht, bleibt abzuwarten. In der FDP nährt das Desaster in Sachsen und Thüringen die Sorgen, dass ein Verbleib das Überleben der Liberalen im Bund gefährdet. Selbst wenn die FDP die Koalition nicht sprengt, viel hält SPD, Grüne und Freidemokraten nicht mehr zusammen. Für die Handlungsfähigkeit des wichtigsten EU-Mitgliedsstaates verheißt das nichts Gutes.

Es ist ein Paukenschlag: Im September muss Óscar Pierre, der Chef des spanischen Pioniers für Essenslieferdienste Glovo, wegen mutmaßlicher Verstöße gegen das Arbeitsrecht vor Gericht erscheinen. Der Vorwurf: Glovo beschäftige trotz wiederholter Ermahnung der Behörden Scheinselbstständige. Bei einem Schuldspruch drohen Pierre sechs Monate bis zu sechs Jahren Haft.
Es ist wohl das erste Mal, dass sich der Verantwortliche eines Plattformunternehmens wegen arbeitsrechtlicher Belange strafrechtlich in der EU verantworten muss. Möglich macht das Strafverfahren Artikel 311, Paragraf 2 im spanischen Strafgesetzbuch. Jener Paragraf 2 stellt die wiederholte Beschäftigung von Scheinselbstständigen unter Strafe. Beobachtern gilt er als “Lex Glovo” – denn eingeführt wurde jener Absatz erst 2022. Da zeichnete sich ab, dass Glovo sich weiter weigern wird, seine Essenskuriere einzustellen, obwohl es nach Ansicht der spanischen Regierung inzwischen eine einschlägige Rechtslage gibt.
Zu den laufenden Verfahren will sich das Unternehmen nicht äußern, “da der Beginn einer Untersuchung nichts über den Ausgang der Untersuchung selbst aussagt“, sagte ein Glovo-Sprecher Table.Briefings. An sich glaube man aber, mit dem geänderten Geschäftsmodell im Recht zu sein.
Der spanische Fall ist kein Einzelfall: Überall in der EU gibt es derzeit Rechtsstreitigkeiten mit den großen Digitalplattformen über die Einstufung ihrer Arbeiter. Sind die Lieferanten, Putzkräfte oder Chauffeure tatsächlich Selbstständige? Immerhin können sie teils über ihre Arbeitszeit bestimmen oder auch mal Aufträge ablehnen. Oder sind sie doch Angestellte, weil die Unternehmen weiter Zwang und Kontrolle ausüben, denen sich die Arbeitnehmer im Endeffekt unterordnen müssen?
EU-weit könnten nach einer früheren Schätzung der Kommission mehr als fünfeinhalb der rund 25 Millionen Plattformarbeitenden in Wahrheit Angestellte sein – mit Recht auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bezahlten Urlaub und Mindestlohn.
Für die allermeisten Digitalplattformen ist klar: Sie arbeiten rechtmäßig mit Selbstständigen zusammen – nur die Gesetzgeber würden dies nicht immer verstehen. Im Geschäftsbericht 2023 vom Glovo-Mutterkonzern Delivery Hero heißt es etwa: Der rechtliche Status von Plattformarbeitskräften sei auf regulatorischer Ebene in bestimmten Märkten umstritten, “da die Merkmale dieser neuen Art von Arbeitskräften oft nicht mit den traditionellen Definitionen von Arbeitskräften oder Selbstständigen übereinstimmen.”
Das führte zu heftigen Auseinandersetzungen, gut zu beobachten auf EU-Ebene, wo das Plattformarbeitsgesetz Scheinselbstständigkeit auf den neuen Plattformen bekämpfen will. Es war eines der arbeitsintensivsten Dossiers der vergangenen Legislaturperiode. Hinter den Kulissen tobte eine Lobbyschlacht von bis dahin kaum gekanntem Ausmaß, wie Parlamentarier immer wieder berichteten. Bis kurz vor knapp wusste niemand so genau, ob der Rat das Gesetz nicht am Ende doch noch durchfallen lässt. Am Ende kam die Einigung. Doch das Ringen ist damit nicht vorbei.
Die linksgerichtete spanische Regierung ist wild entschlossen, die Plattformarbeit zu regulieren. Genauer: Essenskuriere zu Angestellten zu erklären. 2021 erließ Spanien als erstes Land der EU eine “Ley Rider“. Das Gesetz zielt darauf ab, die Rechte von Plattformarbeitern zu schützen.
Das Rider-Gesetz enthält wie auch das EU-Plattformarbeitsgesetz eine Beschäftigungsvermutung und ein Kapitel zum algorithmischen Management. Anders als das EU-Gesetz gilt es allerdings nur für Essenskuriere (Rider) und nicht alle Plattformarbeitenden. Rückenwind für das spanische Gesetz kam von höchster Stelle. 2020 hatte der Oberste Gerichtshof geurteilt, dass ein Glovo-Kurier in Wahrheit ein Angestellter sei.
Nach Angaben der größten spanischen Gewerkschaft CCOO wurden seither in den Jahren 2022 und 2023 von der Arbeitsinspektion mehr als 70.000 Scheinselbstständige auf digitalen Plattformen umklassifiziert. Die Gewerkschaft lobt das Gesetz im Gespräch mit Table.Briefings als einen “wichtigen Schritt zum Schutz der Rechte von Arbeitnehmern in der Plattformökonomie.” Zurzeit überlegt die spanische Regierung, die Regeln auch auf Haushaltshilfen auszuweiten.
Politisch sei viel Ambition vorhanden, sich den milliardenschweren Plattformen zu stellen, sagt Alessio Bertolini von der Fairwork Foundation. “Spanien hat sich selbst zum Pionier erklärt, was die faire Gestaltung der Digitalwirtschaft angeht.” Das Fairwork Project untersucht und bewertet die Arbeitsbedingungen in der Plattformbranche. Mit den neuen Gesetzen habe sich die Lage von Plattformarbeitenden in Spanien verbessert, sagt er – zumindest bei den Unternehmen, die begonnen hätten, ihre Essenskuriere anzustellen.
Seit dem Ley Rider hagelt es Strafen und Nachzahlungen wegen Scheinselbstständigkeit, insbesondere für Glovo. Inzwischen sind es laut Gewerkschaft CCOO rund 200 Millionen Euro an Sozialabgaben, die Glovo nachzahlen muss. Dazu kämen noch einmal rund 50 Millionen Euro an Strafgebühren, berichtet El País.
Dass Spanien auf dem Gebiet europäischer Vorreiter ist, liegt auch daran, dass diverse Akteure das Thema hoch hängen. “In Spanien sehen wir die Besonderheit, dass verschiedene Akteure in dem Bereich sehr effizient zusammenarbeiten“, sagt Christina Hiessl, die an der KU Leuven Arbeitsrecht lehrt. Ein einzelner Rider habe wenig Macht, seine Rechte vor Gericht einzuklagen. In Spanien gebe es dagegen eine enge Zusammenarbeit von Gewerkschaften, der Arbeitsinspektion und den Sozialversicherungen. “Dadurch konnten massenhaft Fälle vor Gericht gebracht werden.”
Und auch die Gerichte nähmen das Thema sehr wichtig, sagt Hiessl: “Es gibt so viele Urteile in dem Bereich Plattformarbeit wie in fast keinem anderen EU-Land. Das Feld ist über die Rechtsprechung extrem gut normiert. Da gibt es an den Gerichten gar keine Debatte mehr, wie man die Kuriere einstufen muss: Die Kuriere sind Angestellte.”
Die Gerichte hätten den Arbeitnehmerbegriff auf die digitale Welt übertragen, erläutert die Expertin für Arbeitsbeziehungen in der Plattformökonomie. “Zwar suggeriert die Arbeit über die Plattformen ein gewisses Maß an Freiheit, wie es für echte Selbstständige prägend ist. Etwa, wenn Aufträge mal abgelehnt oder Schichten selbst gewählt werden können.” Doch im Endeffekt befanden die Gerichte, dass die Macht weiter bei den Unternehmen liege. Immerhin seien sie es, die letztlich die Vereinbarungen mit den Kunden träfen und über die Apps die Arbeit der Fahrer kontrollierten. Ähnlich hatte auch das deutsche Bundesarbeitsgericht in einem Präzedenzfall im Jahr 2020 geurteilt.
In Spanien habe sich der Tenor bereits einige Monate vor dem Urteil des Obersten Gerichtshofs abgezeichnet, sagt Hiessl. Vorausgegangen seien rund 50 Urteile aus niedrigeren Instanzen, meist zu Glovo. “Davon sind weniger als zehn zum Schluss gekommen, dass die Plattformarbeitenden echte Selbstständige sind.” Und dennoch: Die Durchschlagskraft des Gesetzes ist begrenzt. Glovo arbeitet in Spanien weiter mit Selbstständigen zusammen. Auch Uber Eats hat inzwischen wieder begonnen, Selbstständige anzuwerben.
Das Unternehmen Glovo verweist auf Änderungen im Geschäftsmodell nach Inkrafttreten des Rider-Gesetzs. “Wir sind zuversichtlich, dass unser Betriebsmodell in Spanien, das seit August 2021 in Kraft ist, alle rechtlichen Anforderungen der spanischen Gesetzgebung erfüllt“, sagte ein Glovo-Sprecher Table.Briefings. Dazu gibt es noch keine neueren höchstrichterlichen Urteile. Uber Eats antwortete auf Anfrage nicht.
Konkurrenten, die ihre Rider in Spanien inzwischen anstellen, beklagen Wettbewerbsnachteile. So etwa das Unternehmen Just Eat Takeaway: “Die geringe Durchsetzung der Vorschriften in Spanien bedeutet, dass sich die Arbeit mit illegalen selbstständigen Modellen immer noch auszahlt“, sagte ein Unternehmenssprecher Table.Briefings.
Auch Bertolini von Fairwork sagt: “Unternehmen, die mit Selbstständigen arbeiten, sparen viel Geld.” Das räumen die Konzerne mitunter auch selbst ein. Im Geschäftsbericht 2023 von Glovo-Konzernmutter Delivery Hero wird die Anstellung der Fahrer als strategisches Risiko für die “gesamte Lieferbranche” benannt. Weiter heißt es dort zum Thema Anstellungsbemühungen: “Derartige Entwicklungen könnten höhere Betriebskosten verursachen.”
In Spanien geht es für den Konzern inzwischen um alles oder nichts: Denn ganz explizit wird im Geschäftsbericht 2023 gewarnt, dass, wenn die exorbitanten Nachzahlungen kommen würden, diese von Glovo selbst nicht aufzubringen seien. Das ginge so weit, dass die spanische Tochter in dem Fall den Betrieb einstellen könnte. Zwar wird das Risiko als wenig wahrscheinlich eingeordnet – doch bei keinem anderen Land geht das Unternehmen in seiner Prognose derart weit.
Juristin Hiessl hält die Taktik Glovos auf lange Sicht für wenig aussichtsreich: “Ich gehe stark davon aus, dass Glovo am Ende verlieren wird.” Zwar habe das Unternehmen einige Änderungen vorgenommen, etwa indem Preise nun verhandelbar seien, oder dass das Tracking der Kuriere ausgestellt werden könne. Das dürfte nach ihrer Ansicht aber nicht reichen. “Es gibt schon Urteile aus ersten Instanzen, die besagten, dass auch diese Änderungen nichts gebracht haben.”
Vielleicht geht es der Plattformbranche in Spanien aber am Ende auch gar nicht um den juristischen Sieg, meinen Beobachter. Sie vermuten, dass die Branche versuche, auf Zeit zu spielen und wie in anderen Ländern, Tatsachen zu schaffen, die Gesetzgeber dann irgendwann akzeptieren. Oder dass eine anders gefärbte Regierung weniger Interesse an dem Kampf mit den Digitalplattformen hat.
Es ist nur der Anhang eines Jahresberichts, doch der hat es in sich. Ab Seite 101 in Appendix VII des jüngsten China-Reports macht der Internationale Währungsfonds (IWF) deutlich, dass etwas faul ist an dem Leistungsbilanzüberschuss, den Peking offiziell berichtet. Der IWF wundert sich über die wachsende Differenz zwischen der chinesischen Zahlungsbilanz und den Zolldaten. Genauer gesagt, erscheint Chinas Handelsüberschuss im Lichte der Zahlungsbilanz deutlich geringer zu sein, als es die Zolldaten vermuten lassen.
Was nach schnöder Statistik klingt, ist von großer Relevanz. Der Handelsüberschuss, der das Ungleichgewicht zwischen Ein- und Ausfuhren einer Volkswirtschaft dokumentiert, gibt unter anderem Aufschluss darüber, in welchem Maße die Volksrepublik ihre zu viel hergestellten Industrieprodukte im Ausland ablädt. Je größer der Überschuss, desto größer könnte die Warenmenge sein, die ins Ausland verfrachtet wird. Gerade angesichts des internationalen Konkurrenzdrucks auf die europäische Industrie sind die Zahlen wichtig bei der Beurteilung möglicher Gegenmaßnahmen.
Der US-Ökonom Brad Setser vom Council on Foreign Relations (CFR) stellt sich nach Ansicht des IWF-Berichts die Frage, ob China das Volumen seiner exportierten Waren manipuliert. Setser sagt, China weise “im Grunde ein Handelsdefizit mit sich selbst” aus. Um zu verstehen, was er damit meint, hilft ein Blick auf die kreative Methode der chinesischen Berechnung.
Der Trick funktioniert wie folgt: Wenn ein ausländisches Unternehmen in China seine Ware von einem chinesischen Unternehmen produzieren lässt und dem Produzenten den Auftrag bezahlt, registriert die Zahlungsbilanz diesen Transfer als Export. Dabei hat die Ware die Volksrepublik nie verlassen. Fabriklose Produktion wird dieses Manöver genannt.
Das alles wäre auch noch nachvollziehbar, wenn ausländische Unternehmen diese Waren außerhalb Chinas verkaufen und dadurch faktisch Exporte generieren würden. Tatsächlich aber werden diese Waren innerhalb des Landes verkauft und von den chinesischen Behörden dann als Importe registriert, obwohl sie im eigenen Land hergestellt worden sind.
Weil die Produkte deutlich teurer an die Endkunden in China verkauft werden (Importe), als der chinesische Produzent vom ausländischen Unternehmen für deren Herstellung kassiert (Exporte), generieren diese vermeintlichen Importe ein Defizit in der Zahlungsbilanz. Das Volumen von Chinas Handelsüberschuss wird dadurch künstlich verkleinert.
Laut Setser belegt “eine detaillierte Untersuchung der Daten”, dass die chinesische Zahlungsbilanz auf beiden Seiten von den Zolldaten abweiche. Das heißt: Das Volumen der Ausfuhren laut Zahlungsbilanz liegt einerseits weit unter dem Volumen der Zollausfuhren. Andererseits sind die Einfuhren laut Zahlungsbilanz höher als die Einfuhren gemäß Zoll, obwohl sie wegen der Anpassung der Versicherungs- und Frachtkosten niedriger sein sollten.
“Der Warenüberschuss in der Zahlungsbilanz ist jetzt um etwa 300 Milliarden Dollar geringer als er in den Zahlungsbilanzdaten sein sollte. An keiner Stelle kommt es zu einer entsprechenden Korrektur der Handelsbilanz”, sagt Setser. Laut offiziellen Daten betrug der chinesische Handelsüberschuss in den ersten sechs Monaten 434,9 Milliarden US-Dollar. Das hätte einen Anstieg von rund 8,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr bedeutet.
Doch die fragwürdige Zuverlässigkeit der Daten lässt den Rückschluss zu, dass chinesische Überkapazitäten die Weltmärkte stattdessen in einem wesentlich höheren Ausmaß fluten, als es die offiziellen Daten vermuten lassen. “Und ich bin der festen Überzeugung, dass die Zolldaten – die den tatsächlichen Handel erfassen – die Geschichte richtig wiedergeben, und nicht die mit einem Modell (und einer internen Umfrage) versehenen Leistungsbilanzdaten”, sagt Setser.
Der Ökonom wundert sich zudem, wie der Rückgang der Immobilieninvestitionen um sechs Prozentpunkte der Wirtschaftsleistung mit einem Rückgang des chinesischen Leistungsbilanzüberschusses vereinbar ist. Denn, so argumentiert er, “der Leistungsbilanzüberschuss ist die Ersparnis abzüglich der Investitionen, und die Ersparnis ist nicht um sieben Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts gesunken.”
Weshalb das bislang noch niemand bemerkt hat, liegt wohl an der Umstellung auf eine undurchsichtige Methodik, mit deren Hilfe China Finanzdaten nun direkt von Großunternehmen erfasst. Demnach melden mehr als 13.000 Großunternehmen Daten zum Warenhandel, die etwa 70 Prozent des gesamten Warenhandels ausmachen, direkt an die Behörden. Für den Rest der Unternehmen verwenden die Ersteller grenzüberschreitende Ein- und Auszahlungen im Warenhandel, die aus dem International Transactions Reporting System stammen.
Die Zahlen suggerieren also, dass die Kluft deutlich geringer ist und damit auch die Sorge um wachsende chinesische Überkapazitäten unberechtigt wäre. Denn Überkapazitäten sind Gift für andere Volkswirtschaften, die unter einer chinesischen Warenflut zu Spottpreisen leiden. “Chinas Überkapazitäten werden vor allem dann zum globalen Problem, wenn sie in einen weiter steigenden Handelsbilanzüberschuss im Industriewarenhandel münden. Das war laut den Zolldaten offensichtlich der Fall”, sagt Jürgen Matthes vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW).
Matthes hält es für “höchst problematisch, wenn China auf fragwürdige Weise seinen in der Zahlungsbilanz ausgewiesenen Handelsbilanzüberschuss kleinrechnet, weil dieser Indikator von Analysten oft noch häufiger betrachtet wird als die Zolldaten.” Es sei daher sehr wichtig, dass man nun besser wisse, was genau zu den eklatanten und weiter zunehmenden Unterschieden führe.
Mit einer geschönten chinesischen Bilanz sinkt andernorts möglicherweise auch die Bereitschaft, politische Gegenmaßnahmen zu ergreifen, die nicht in chinesischem Interesse sind. Beispiel EU: Brüssel hat Ausgleichszölle erhoben, um die eigenen Hersteller vor der billigen Konkurrenz aus China zu schützen. Damit wird der Export – und damit der Abbau von Überkapazitäten für die chinesischen Hersteller deutlich erschwert, weil die Nachfrage sinkt.
“Wenn die Entwicklung des Handelsbilanzüberschusses im Warenhandel auf Basis der Zolldaten so weitergeht, muss China sich nicht wundern, wenn immer mehr Staaten ihre Märkte gegen eine Schwemme chinesischer Waren absichern, die zudem häufig direkt und indirekt subventioniert sind”, warnt Matthes.
Bernard Cazeneuve, ehemaliger Premierminister unter dem sozialistischen Präsidenten François Hollande, wird am heutigen Montagmorgen vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Élysée-Palast empfangen. Dieser Besuch könnte ein Zeichen dafür sein, dass Cazeneuve dem aktuellen Premierminister Gabriel Attal nachfolgen könnte.
Der Name kursiert seit mehreren Tagen. Doch Bernard Cazeneuve strebe das Amt des Premierministers nicht an, erklärte sein Umfeld der französischen Presse. “Aber wenn er es annimmt, dann aus Pflichtgefühl und um weitere Schwierigkeiten für das Land zu vermeiden.” Emmanuel Macron wird an diesem Montagmorgen auch die ehemaligen Präsidenten François Hollande und Nicolas Sarkozy zu Gesprächen empfangen.
Diese Ankündigung spaltet die Sozialistische Partei weiter. Auf ihrem Kongress lehnte der Erste Sekretär Olivier Faure eine von François Hollandes ehemaligem Premierminister geführte Regierung ab. Innerhalb der Partei sehen jedoch Vertreter des pragmatischen Flügels darin eine mögliche Lösung der Krise und einen Weg, sich von La France Insoumise und ihrem umstrittenen Anführer Jean-Luc Mélenchon zu distanzieren.
Cazeneuve verließ die Sozialistische Partei im Jahr 2022 wegen seiner Meinungsverschiedenheiten mit dem Bündnis zwischen der PS und La France Insoumise bei den damaligen Parlamentswahlen.
Nach mehr als einer Woche Beratungen mit den in der Assemblée nationale vertretenen politischen Kräften hat Frankreichs Präsident Macron bis zum Redaktionsschluss am Sonntag noch keine Person benannt, die er als Premier ernennen möchte. Macron könnte sich in den kommenden Tagen zu diesem Thema äußern, heißt es in Paris, ohne weitere Angabe. cst
Allein Belgien fehlt. Alle andere Mitgliedstaaten haben vor Ablauf der Frist Ende August bekanntgegeben, wen sie als Kommissarin oder Kommissar nach Brüssel senden möchten. Am Freitag zuletzt Italien und Bulgarien. Damit ist klar, dass die Mitgliedstaaten den Wunsch von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach der Nominierung von jeweils einem Mann und einer Frau weitestgehend ignoriert haben. Es sind insgesamt nur sieben Frauen unter den Nominierten.
Von der Leyen hatte beabsichtigt, ebenso viele Männer wie Frauen in die Kommission zu berufen. Doch so wie es jetzt aussieht, wird dieses Vorhaben scheitern. Denn nur sieben Regierungen haben Politikerinnen nominiert – Bulgarien, Estland, Finnland, Kroatien, Portugal, Schweden und Spanien. In ihrer ersten Amtszeit war es der CDU-Politikerin noch als erster Kommissionspräsidentin gelungen, annähernd ein Gleichgewicht herzustellen: Zu Beginn waren zwölf der inzwischen 27 Kommissionsmitglieder Frauen, später stieg ihre Zahl auf 13.
Von der Leyens Problem: Sie hat keine rechtliche Handhabe. Die Regierungen entscheiden selbst, wen sie für die Kommission nominieren. Allerdings liegt es in ihrer Macht, über die Zuständigkeiten und damit den Einfluss der einzelnen Kommissionsmitglieder zu entscheiden. Sollte es so kommen, können die Mitgliedstaaten mit weiblichen Kommissaren mit den einflussreicheren Posten in Brüssel rechnen.
Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat sich kurz vor Schluss entschieden und schickt Raffaele Fitto nach Brüssel zur Kommission. Der Minister für Europäische Angelegenheiten war von 2014 bis 2022 Mitglied des Europäischen Parlaments, zunächst für die Forza Italia, zuletzt für Melonis Fratelli. Bis zu seinem Wechsel in die Regierung in Rom im Herbst 2022 war er Co-Vorsitzender der EKR-Fraktion. Fitto ist im Kabinett Meloni für die rund 200 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds zuständig und versicherte erst vor Kurzem, Italien verfolge “mit extremer Strenge” die mit Brüssel vereinbarten Ziele.
Bulgarien teilte seine Nominierungsentscheidung am Freitag auf X mit. Demnach sind die Kandidaten Ex-Außenministerin Ekaterina Sachariewa und Ex-Umweltminister Julian Popow. Damit ist Bulgarien das einzige Mitgliedsland, das dem Wunsch der Kommissionspräsidentin nachgekommen ist und sowohl einen Mann als auch eine Frau nominiert hat.
Alle nominierten Kandidatinnen und Kandidaten der EU-Mitgliedsländer finden Sie in dieser Übersicht. vis
Auf der Sicherheitskonferenz Globsec Forum 2024 in Prag hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine stärkere Eigenständigkeit und Verantwortung Europas in Sicherheitsfragen gefordert. In ihrer Grundsatzrede betonte sie, dass die EU angesichts der geopolitischen Spannungen eine umfassende Neuausrichtung ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik brauche. “Europa zu schützen, ist in erster Linie die Aufgabe Europas”, erklärte von der Leyen. Dafür werde sie einen neuen EU-Kommissar für Verteidigungsfragen einsetzen und sich für eine stärkere europäische Säule innerhalb der Nato aussprechen.
Von der Leyen forderte zudem eine intensive Unterstützung für die Ukraine im Krieg gegen Russland und betonte die Notwendigkeit, die Ukraine in die EU zu integrieren, um “einen Frieden zu erreichen, der Krieg sowohl unmöglich als auch unnötig macht”. Sie machte deutlich, dass Europa seine Abhängigkeit von externen Energiequellen und Technologien verringern müsse, indem es verstärkt auf erneuerbare Energien und Innovation setzt.
In ihrer Dankesrede für den tschechischen und slowakischen Transatlantic Award hob von der Leyen die Bedeutung der transatlantischen Partnerschaft hervor. Sie betonte: “Einmal mehr standen Europa und Amerika Seite an Seite und auf der richtigen Seite der Geschichte – und das darf sich nicht ändern, egal, wer ab nächstem Januar im Oval Office sitzen wird.” Sie forderte ein stärkeres europäisches Engagement in der gemeinsamen Sicherheit und eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit, um krisenfeste transatlantische Wertschöpfungsketten aufzubauen. “Es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, Rohstoffe, kritische Technologien und globale Handelswege zu sichern.”
Der tschechische und slowakische Transatlantic Award wird zweimal im Jahr vergeben. Zu den früheren Preisträgern zählten die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright und der ehemalige tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg. vis
Als Reaktion auf die Alleingänge von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán zu Beginn der EU-Ratspräsidentschaft seines Landes will auch Estland vorübergehend keine Ministerinnen und Minister zu Treffen nach Ungarn schicken. “Ungarn hat durch sein Handeln seine Rolle als EU-Ratspräsidentschaft missbraucht und damit seine Glaubwürdigkeit ernsthaft untergraben”, sagte ein Sprecher der Regierung in Tallinn dem estnischen Rundfunk.
Zuvor hatten bereits Schweden und Litauen beschlossen, keine Minister nach Ungarn zu schicken, während Lettland einzelfallbezogen über eine Teilnahme entscheiden will. An offiziellen EU-Treffen in Brüssel werde Estland weiterhin wie bisher teilnehmen, sagte der Sprecher.
Viktor Orbán war im Juli ohne Absprache mit anderen EU-Staaten überraschend zu Kremlchef Wladimir Putin nach Moskau gereist und hatte dafür deutliche Kritik geerntet. Kritik kam auch aus Estland, das zu den entschiedensten Unterstützern der von Russland angegriffenen Ukraine zählt. Ungarn hat die EU-Ratspräsidentschaft noch bis Ende des Jahres inne. Dann folgt Polen. dpa

Einzelhandel, Pflege, Logistik – von allen Beschäftigten auf dem europäischen Arbeitsmarkt sind 60 Prozent im privaten Dienstleistungsgewerbe tätig. Sie erwirtschaften 60 Prozent des BIP auf dem gesamten Kontinent. Wie es um die Branche bestellt ist, weiß kaum jemand so gut wie Oliver Roethig. Der Deutsche ist seit Mai 2011 Regionalsekretär bei UNI Europa, dem europäischen Verband von Dienstleistungsgewerkschaften auf dem ganzen Kontinent.
Roethig hat in Bonn, Schottland und England Politikwissenschaft studiert. Vor seinem Posten als Regionalsekretär bei UNI Europa war er unter anderem acht Jahre lang auf globaler Ebene für den Verband tätig, speziell für die Finanzbranche. Dass sein Weg ihn in die Gewerkschaftsarbeit führen wird, wusste Roethig wegen seiner familiären Prägung bereits früh. Auch seine Studienhalte richtete er auf das Wirken von Gewerkschaften aus.
Heutzutage sind die Gewerkschaften nicht mehr so einflussreich wie noch in der Vergangenheit. Besonders in der Dienstleistungsbranche müsse europaweit die Sichtbarkeit steigen, um gesellschaftlich und politisch die Relevanz der Beschäftigten zu verdeutlichen, sagt Roethig. Zwar habe die Corona-Pandemie die Stellung einiger Berufszweige gestärkt, etwa die von Supermarktangestellten. Dennoch stünden sie gerade im Vergleich zu Beschäftigten in der Industrie “noch weitestgehend im Schatten”. Das zeige sich derzeit an schlechteren Arbeitsbedingungen wie niedrigeren Löhnen oder unfreundlichen Überstundenregelungen.
In der Gewerkschaftsarbeit bleibe es zudem schwierig, die Anliegen der Dienstleistungsbranche “organisatorisch und politisch zu dramatisieren”. Grund dafür sei unter anderem die regionale Ausbreitung der einzelnen Geschäfte. “Wenn eine Fabrik mit 2000 Mitarbeitern schließt, ist der Aufschrei oft groß. Wenn das Gleiche in Supermärkten passiert, bleibt er oft aus.”
Eine der großen Stellschrauben, mit denen die EU die Situation der Beschäftigten im Dienstleistungsgewerbe verbessern könne, sei die Tarifbindung. In der vergangenen Legislaturperiode hatten sich die Mitgliedstaaten innerhalb der Mindestlohnrichtlinie auf eine Tarifbindung von 80 Prozent geeinigt. Länder, die wie Deutschland dieses Ziel noch nicht erreichen, müssen dazu im Jahr 2025 nationale Aktionspläne erarbeiten. Roethig fordert, dass diese Pläne “nicht nur ein Papiertiger” sein dürften.
Als eine Initiative zur konkreten Umsetzung nennt Roethig die Ausweitung der öffentlichen Auftragsvergabe. “Diese soll in Zukunft dazu führen, dass nur Arbeitgeber für öffentliche Aufträge infrage kommen, die Tarifverhandlungen respektieren”, sagt Roethig. Bislang würden 14 Prozent des europäischen BIP durch öffentliche Aufträge vergeben. Wie erhofft, stellte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für die ersten 100 Tage ihrer zweiten Amtszeit in Aussicht, das europäische Vergaberecht zu überarbeiten. Auf Kommissionsebene scheint die Unterstützung für Roethigs Vorhaben also durchaus gegeben.
Von den Nationalstaaten erwartet Roethig, Arbeitskämpfe als eine Errungenschaft wahrzunehmen, deren Wert über die Unternehmen hinaus gehe. “Tarifverhandlungen sind die Schule der Demokratie im Kleinen”, sagt er. Kompromisse könnten den beteiligten Menschen die Demokratie praktisch nahebringen.
Die europäischen Staaten sollten schon allein deshalb die Gewerkschaften als Partner verstehen. Sollte sich allerdings der Eindruck vieler Beschäftigter verfestigen, dass ihre Anliegen bei nationalen und europäischen Institutionen keine Rolle spielen, bestehe die Gefahr, vermehrt Menschen an die AfD und andere populistische Parteien zu verlieren. Und das, obwohl eine Partei wie die AfD “auf europäischer Ebene konsequent gegen die Rechte von Arbeitnehmern eintritt”. Jasper Bennink
eine Landtagswahl ist internationalen Medien unter normalen Umständen keine Schlagzeile wert. Gestern Abend aber verschickten Financial Times oder Le Monde sogar Eilmeldungen. Der Sieg der AfD bei der Landtagswahl in Thüringen, der erste einer radikal rechten Partei nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wird im Ausland mit großer Besorgnis registriert.
Die Sorge um die deutsche Demokratie ist berechtigt. In Sachsen und Thüringen haben (bei hoher Wahlbeteiligung) rund ein Drittel der Wählerinnen und Wähler für AfD-Frontmänner gestimmt, die ihre rechtsextreme und umstürzlerische Gesinnung nicht einmal verbergen. Björn Höcke und Jörg Urban werden kaum Ministerpräsidenten werden, aber ohne sie zu regieren wird immer schwieriger.
Die CDU fühlt sich als Siegerin, und tatsächlich sahen viele Wähler in ihr den letzten Garanten für Stabilität. Um regieren zu können, muss sie aber mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht kooperieren – ein Sprung ins Ungewisse. In den Verhandlungen wird sich zeigen, ob Sahra Wagenknecht tatsächlich auf Bedingungen wie einem Nein zur Stationierung von US-Mittelstreckenraketen beharrt, die weit außerhalb der Macht einer Landesregierung liegen.
Für die SPD gingen die Wahlen glimpflicher aus als befürchtet. Bundeskanzler Olaf Scholz dürfte sich daher (wieder einmal) bestätigt sehen. Allerdings dürfte das Abschneiden des BSW die Stimmen unter den Sozialdemokraten stärken, die die Waffenlieferungen an die Ukraine zurückfahren wollen.
Ob die Ampel auch die Landtagswahl in Brandenburg in drei Wochen übersteht, bleibt abzuwarten. In der FDP nährt das Desaster in Sachsen und Thüringen die Sorgen, dass ein Verbleib das Überleben der Liberalen im Bund gefährdet. Selbst wenn die FDP die Koalition nicht sprengt, viel hält SPD, Grüne und Freidemokraten nicht mehr zusammen. Für die Handlungsfähigkeit des wichtigsten EU-Mitgliedsstaates verheißt das nichts Gutes.

Es ist ein Paukenschlag: Im September muss Óscar Pierre, der Chef des spanischen Pioniers für Essenslieferdienste Glovo, wegen mutmaßlicher Verstöße gegen das Arbeitsrecht vor Gericht erscheinen. Der Vorwurf: Glovo beschäftige trotz wiederholter Ermahnung der Behörden Scheinselbstständige. Bei einem Schuldspruch drohen Pierre sechs Monate bis zu sechs Jahren Haft.
Es ist wohl das erste Mal, dass sich der Verantwortliche eines Plattformunternehmens wegen arbeitsrechtlicher Belange strafrechtlich in der EU verantworten muss. Möglich macht das Strafverfahren Artikel 311, Paragraf 2 im spanischen Strafgesetzbuch. Jener Paragraf 2 stellt die wiederholte Beschäftigung von Scheinselbstständigen unter Strafe. Beobachtern gilt er als “Lex Glovo” – denn eingeführt wurde jener Absatz erst 2022. Da zeichnete sich ab, dass Glovo sich weiter weigern wird, seine Essenskuriere einzustellen, obwohl es nach Ansicht der spanischen Regierung inzwischen eine einschlägige Rechtslage gibt.
Zu den laufenden Verfahren will sich das Unternehmen nicht äußern, “da der Beginn einer Untersuchung nichts über den Ausgang der Untersuchung selbst aussagt“, sagte ein Glovo-Sprecher Table.Briefings. An sich glaube man aber, mit dem geänderten Geschäftsmodell im Recht zu sein.
Der spanische Fall ist kein Einzelfall: Überall in der EU gibt es derzeit Rechtsstreitigkeiten mit den großen Digitalplattformen über die Einstufung ihrer Arbeiter. Sind die Lieferanten, Putzkräfte oder Chauffeure tatsächlich Selbstständige? Immerhin können sie teils über ihre Arbeitszeit bestimmen oder auch mal Aufträge ablehnen. Oder sind sie doch Angestellte, weil die Unternehmen weiter Zwang und Kontrolle ausüben, denen sich die Arbeitnehmer im Endeffekt unterordnen müssen?
EU-weit könnten nach einer früheren Schätzung der Kommission mehr als fünfeinhalb der rund 25 Millionen Plattformarbeitenden in Wahrheit Angestellte sein – mit Recht auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bezahlten Urlaub und Mindestlohn.
Für die allermeisten Digitalplattformen ist klar: Sie arbeiten rechtmäßig mit Selbstständigen zusammen – nur die Gesetzgeber würden dies nicht immer verstehen. Im Geschäftsbericht 2023 vom Glovo-Mutterkonzern Delivery Hero heißt es etwa: Der rechtliche Status von Plattformarbeitskräften sei auf regulatorischer Ebene in bestimmten Märkten umstritten, “da die Merkmale dieser neuen Art von Arbeitskräften oft nicht mit den traditionellen Definitionen von Arbeitskräften oder Selbstständigen übereinstimmen.”
Das führte zu heftigen Auseinandersetzungen, gut zu beobachten auf EU-Ebene, wo das Plattformarbeitsgesetz Scheinselbstständigkeit auf den neuen Plattformen bekämpfen will. Es war eines der arbeitsintensivsten Dossiers der vergangenen Legislaturperiode. Hinter den Kulissen tobte eine Lobbyschlacht von bis dahin kaum gekanntem Ausmaß, wie Parlamentarier immer wieder berichteten. Bis kurz vor knapp wusste niemand so genau, ob der Rat das Gesetz nicht am Ende doch noch durchfallen lässt. Am Ende kam die Einigung. Doch das Ringen ist damit nicht vorbei.
Die linksgerichtete spanische Regierung ist wild entschlossen, die Plattformarbeit zu regulieren. Genauer: Essenskuriere zu Angestellten zu erklären. 2021 erließ Spanien als erstes Land der EU eine “Ley Rider“. Das Gesetz zielt darauf ab, die Rechte von Plattformarbeitern zu schützen.
Das Rider-Gesetz enthält wie auch das EU-Plattformarbeitsgesetz eine Beschäftigungsvermutung und ein Kapitel zum algorithmischen Management. Anders als das EU-Gesetz gilt es allerdings nur für Essenskuriere (Rider) und nicht alle Plattformarbeitenden. Rückenwind für das spanische Gesetz kam von höchster Stelle. 2020 hatte der Oberste Gerichtshof geurteilt, dass ein Glovo-Kurier in Wahrheit ein Angestellter sei.
Nach Angaben der größten spanischen Gewerkschaft CCOO wurden seither in den Jahren 2022 und 2023 von der Arbeitsinspektion mehr als 70.000 Scheinselbstständige auf digitalen Plattformen umklassifiziert. Die Gewerkschaft lobt das Gesetz im Gespräch mit Table.Briefings als einen “wichtigen Schritt zum Schutz der Rechte von Arbeitnehmern in der Plattformökonomie.” Zurzeit überlegt die spanische Regierung, die Regeln auch auf Haushaltshilfen auszuweiten.
Politisch sei viel Ambition vorhanden, sich den milliardenschweren Plattformen zu stellen, sagt Alessio Bertolini von der Fairwork Foundation. “Spanien hat sich selbst zum Pionier erklärt, was die faire Gestaltung der Digitalwirtschaft angeht.” Das Fairwork Project untersucht und bewertet die Arbeitsbedingungen in der Plattformbranche. Mit den neuen Gesetzen habe sich die Lage von Plattformarbeitenden in Spanien verbessert, sagt er – zumindest bei den Unternehmen, die begonnen hätten, ihre Essenskuriere anzustellen.
Seit dem Ley Rider hagelt es Strafen und Nachzahlungen wegen Scheinselbstständigkeit, insbesondere für Glovo. Inzwischen sind es laut Gewerkschaft CCOO rund 200 Millionen Euro an Sozialabgaben, die Glovo nachzahlen muss. Dazu kämen noch einmal rund 50 Millionen Euro an Strafgebühren, berichtet El País.
Dass Spanien auf dem Gebiet europäischer Vorreiter ist, liegt auch daran, dass diverse Akteure das Thema hoch hängen. “In Spanien sehen wir die Besonderheit, dass verschiedene Akteure in dem Bereich sehr effizient zusammenarbeiten“, sagt Christina Hiessl, die an der KU Leuven Arbeitsrecht lehrt. Ein einzelner Rider habe wenig Macht, seine Rechte vor Gericht einzuklagen. In Spanien gebe es dagegen eine enge Zusammenarbeit von Gewerkschaften, der Arbeitsinspektion und den Sozialversicherungen. “Dadurch konnten massenhaft Fälle vor Gericht gebracht werden.”
Und auch die Gerichte nähmen das Thema sehr wichtig, sagt Hiessl: “Es gibt so viele Urteile in dem Bereich Plattformarbeit wie in fast keinem anderen EU-Land. Das Feld ist über die Rechtsprechung extrem gut normiert. Da gibt es an den Gerichten gar keine Debatte mehr, wie man die Kuriere einstufen muss: Die Kuriere sind Angestellte.”
Die Gerichte hätten den Arbeitnehmerbegriff auf die digitale Welt übertragen, erläutert die Expertin für Arbeitsbeziehungen in der Plattformökonomie. “Zwar suggeriert die Arbeit über die Plattformen ein gewisses Maß an Freiheit, wie es für echte Selbstständige prägend ist. Etwa, wenn Aufträge mal abgelehnt oder Schichten selbst gewählt werden können.” Doch im Endeffekt befanden die Gerichte, dass die Macht weiter bei den Unternehmen liege. Immerhin seien sie es, die letztlich die Vereinbarungen mit den Kunden träfen und über die Apps die Arbeit der Fahrer kontrollierten. Ähnlich hatte auch das deutsche Bundesarbeitsgericht in einem Präzedenzfall im Jahr 2020 geurteilt.
In Spanien habe sich der Tenor bereits einige Monate vor dem Urteil des Obersten Gerichtshofs abgezeichnet, sagt Hiessl. Vorausgegangen seien rund 50 Urteile aus niedrigeren Instanzen, meist zu Glovo. “Davon sind weniger als zehn zum Schluss gekommen, dass die Plattformarbeitenden echte Selbstständige sind.” Und dennoch: Die Durchschlagskraft des Gesetzes ist begrenzt. Glovo arbeitet in Spanien weiter mit Selbstständigen zusammen. Auch Uber Eats hat inzwischen wieder begonnen, Selbstständige anzuwerben.
Das Unternehmen Glovo verweist auf Änderungen im Geschäftsmodell nach Inkrafttreten des Rider-Gesetzs. “Wir sind zuversichtlich, dass unser Betriebsmodell in Spanien, das seit August 2021 in Kraft ist, alle rechtlichen Anforderungen der spanischen Gesetzgebung erfüllt“, sagte ein Glovo-Sprecher Table.Briefings. Dazu gibt es noch keine neueren höchstrichterlichen Urteile. Uber Eats antwortete auf Anfrage nicht.
Konkurrenten, die ihre Rider in Spanien inzwischen anstellen, beklagen Wettbewerbsnachteile. So etwa das Unternehmen Just Eat Takeaway: “Die geringe Durchsetzung der Vorschriften in Spanien bedeutet, dass sich die Arbeit mit illegalen selbstständigen Modellen immer noch auszahlt“, sagte ein Unternehmenssprecher Table.Briefings.
Auch Bertolini von Fairwork sagt: “Unternehmen, die mit Selbstständigen arbeiten, sparen viel Geld.” Das räumen die Konzerne mitunter auch selbst ein. Im Geschäftsbericht 2023 von Glovo-Konzernmutter Delivery Hero wird die Anstellung der Fahrer als strategisches Risiko für die “gesamte Lieferbranche” benannt. Weiter heißt es dort zum Thema Anstellungsbemühungen: “Derartige Entwicklungen könnten höhere Betriebskosten verursachen.”
In Spanien geht es für den Konzern inzwischen um alles oder nichts: Denn ganz explizit wird im Geschäftsbericht 2023 gewarnt, dass, wenn die exorbitanten Nachzahlungen kommen würden, diese von Glovo selbst nicht aufzubringen seien. Das ginge so weit, dass die spanische Tochter in dem Fall den Betrieb einstellen könnte. Zwar wird das Risiko als wenig wahrscheinlich eingeordnet – doch bei keinem anderen Land geht das Unternehmen in seiner Prognose derart weit.
Juristin Hiessl hält die Taktik Glovos auf lange Sicht für wenig aussichtsreich: “Ich gehe stark davon aus, dass Glovo am Ende verlieren wird.” Zwar habe das Unternehmen einige Änderungen vorgenommen, etwa indem Preise nun verhandelbar seien, oder dass das Tracking der Kuriere ausgestellt werden könne. Das dürfte nach ihrer Ansicht aber nicht reichen. “Es gibt schon Urteile aus ersten Instanzen, die besagten, dass auch diese Änderungen nichts gebracht haben.”
Vielleicht geht es der Plattformbranche in Spanien aber am Ende auch gar nicht um den juristischen Sieg, meinen Beobachter. Sie vermuten, dass die Branche versuche, auf Zeit zu spielen und wie in anderen Ländern, Tatsachen zu schaffen, die Gesetzgeber dann irgendwann akzeptieren. Oder dass eine anders gefärbte Regierung weniger Interesse an dem Kampf mit den Digitalplattformen hat.
Es ist nur der Anhang eines Jahresberichts, doch der hat es in sich. Ab Seite 101 in Appendix VII des jüngsten China-Reports macht der Internationale Währungsfonds (IWF) deutlich, dass etwas faul ist an dem Leistungsbilanzüberschuss, den Peking offiziell berichtet. Der IWF wundert sich über die wachsende Differenz zwischen der chinesischen Zahlungsbilanz und den Zolldaten. Genauer gesagt, erscheint Chinas Handelsüberschuss im Lichte der Zahlungsbilanz deutlich geringer zu sein, als es die Zolldaten vermuten lassen.
Was nach schnöder Statistik klingt, ist von großer Relevanz. Der Handelsüberschuss, der das Ungleichgewicht zwischen Ein- und Ausfuhren einer Volkswirtschaft dokumentiert, gibt unter anderem Aufschluss darüber, in welchem Maße die Volksrepublik ihre zu viel hergestellten Industrieprodukte im Ausland ablädt. Je größer der Überschuss, desto größer könnte die Warenmenge sein, die ins Ausland verfrachtet wird. Gerade angesichts des internationalen Konkurrenzdrucks auf die europäische Industrie sind die Zahlen wichtig bei der Beurteilung möglicher Gegenmaßnahmen.
Der US-Ökonom Brad Setser vom Council on Foreign Relations (CFR) stellt sich nach Ansicht des IWF-Berichts die Frage, ob China das Volumen seiner exportierten Waren manipuliert. Setser sagt, China weise “im Grunde ein Handelsdefizit mit sich selbst” aus. Um zu verstehen, was er damit meint, hilft ein Blick auf die kreative Methode der chinesischen Berechnung.
Der Trick funktioniert wie folgt: Wenn ein ausländisches Unternehmen in China seine Ware von einem chinesischen Unternehmen produzieren lässt und dem Produzenten den Auftrag bezahlt, registriert die Zahlungsbilanz diesen Transfer als Export. Dabei hat die Ware die Volksrepublik nie verlassen. Fabriklose Produktion wird dieses Manöver genannt.
Das alles wäre auch noch nachvollziehbar, wenn ausländische Unternehmen diese Waren außerhalb Chinas verkaufen und dadurch faktisch Exporte generieren würden. Tatsächlich aber werden diese Waren innerhalb des Landes verkauft und von den chinesischen Behörden dann als Importe registriert, obwohl sie im eigenen Land hergestellt worden sind.
Weil die Produkte deutlich teurer an die Endkunden in China verkauft werden (Importe), als der chinesische Produzent vom ausländischen Unternehmen für deren Herstellung kassiert (Exporte), generieren diese vermeintlichen Importe ein Defizit in der Zahlungsbilanz. Das Volumen von Chinas Handelsüberschuss wird dadurch künstlich verkleinert.
Laut Setser belegt “eine detaillierte Untersuchung der Daten”, dass die chinesische Zahlungsbilanz auf beiden Seiten von den Zolldaten abweiche. Das heißt: Das Volumen der Ausfuhren laut Zahlungsbilanz liegt einerseits weit unter dem Volumen der Zollausfuhren. Andererseits sind die Einfuhren laut Zahlungsbilanz höher als die Einfuhren gemäß Zoll, obwohl sie wegen der Anpassung der Versicherungs- und Frachtkosten niedriger sein sollten.
“Der Warenüberschuss in der Zahlungsbilanz ist jetzt um etwa 300 Milliarden Dollar geringer als er in den Zahlungsbilanzdaten sein sollte. An keiner Stelle kommt es zu einer entsprechenden Korrektur der Handelsbilanz”, sagt Setser. Laut offiziellen Daten betrug der chinesische Handelsüberschuss in den ersten sechs Monaten 434,9 Milliarden US-Dollar. Das hätte einen Anstieg von rund 8,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr bedeutet.
Doch die fragwürdige Zuverlässigkeit der Daten lässt den Rückschluss zu, dass chinesische Überkapazitäten die Weltmärkte stattdessen in einem wesentlich höheren Ausmaß fluten, als es die offiziellen Daten vermuten lassen. “Und ich bin der festen Überzeugung, dass die Zolldaten – die den tatsächlichen Handel erfassen – die Geschichte richtig wiedergeben, und nicht die mit einem Modell (und einer internen Umfrage) versehenen Leistungsbilanzdaten”, sagt Setser.
Der Ökonom wundert sich zudem, wie der Rückgang der Immobilieninvestitionen um sechs Prozentpunkte der Wirtschaftsleistung mit einem Rückgang des chinesischen Leistungsbilanzüberschusses vereinbar ist. Denn, so argumentiert er, “der Leistungsbilanzüberschuss ist die Ersparnis abzüglich der Investitionen, und die Ersparnis ist nicht um sieben Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts gesunken.”
Weshalb das bislang noch niemand bemerkt hat, liegt wohl an der Umstellung auf eine undurchsichtige Methodik, mit deren Hilfe China Finanzdaten nun direkt von Großunternehmen erfasst. Demnach melden mehr als 13.000 Großunternehmen Daten zum Warenhandel, die etwa 70 Prozent des gesamten Warenhandels ausmachen, direkt an die Behörden. Für den Rest der Unternehmen verwenden die Ersteller grenzüberschreitende Ein- und Auszahlungen im Warenhandel, die aus dem International Transactions Reporting System stammen.
Die Zahlen suggerieren also, dass die Kluft deutlich geringer ist und damit auch die Sorge um wachsende chinesische Überkapazitäten unberechtigt wäre. Denn Überkapazitäten sind Gift für andere Volkswirtschaften, die unter einer chinesischen Warenflut zu Spottpreisen leiden. “Chinas Überkapazitäten werden vor allem dann zum globalen Problem, wenn sie in einen weiter steigenden Handelsbilanzüberschuss im Industriewarenhandel münden. Das war laut den Zolldaten offensichtlich der Fall”, sagt Jürgen Matthes vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW).
Matthes hält es für “höchst problematisch, wenn China auf fragwürdige Weise seinen in der Zahlungsbilanz ausgewiesenen Handelsbilanzüberschuss kleinrechnet, weil dieser Indikator von Analysten oft noch häufiger betrachtet wird als die Zolldaten.” Es sei daher sehr wichtig, dass man nun besser wisse, was genau zu den eklatanten und weiter zunehmenden Unterschieden führe.
Mit einer geschönten chinesischen Bilanz sinkt andernorts möglicherweise auch die Bereitschaft, politische Gegenmaßnahmen zu ergreifen, die nicht in chinesischem Interesse sind. Beispiel EU: Brüssel hat Ausgleichszölle erhoben, um die eigenen Hersteller vor der billigen Konkurrenz aus China zu schützen. Damit wird der Export – und damit der Abbau von Überkapazitäten für die chinesischen Hersteller deutlich erschwert, weil die Nachfrage sinkt.
“Wenn die Entwicklung des Handelsbilanzüberschusses im Warenhandel auf Basis der Zolldaten so weitergeht, muss China sich nicht wundern, wenn immer mehr Staaten ihre Märkte gegen eine Schwemme chinesischer Waren absichern, die zudem häufig direkt und indirekt subventioniert sind”, warnt Matthes.
Bernard Cazeneuve, ehemaliger Premierminister unter dem sozialistischen Präsidenten François Hollande, wird am heutigen Montagmorgen vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Élysée-Palast empfangen. Dieser Besuch könnte ein Zeichen dafür sein, dass Cazeneuve dem aktuellen Premierminister Gabriel Attal nachfolgen könnte.
Der Name kursiert seit mehreren Tagen. Doch Bernard Cazeneuve strebe das Amt des Premierministers nicht an, erklärte sein Umfeld der französischen Presse. “Aber wenn er es annimmt, dann aus Pflichtgefühl und um weitere Schwierigkeiten für das Land zu vermeiden.” Emmanuel Macron wird an diesem Montagmorgen auch die ehemaligen Präsidenten François Hollande und Nicolas Sarkozy zu Gesprächen empfangen.
Diese Ankündigung spaltet die Sozialistische Partei weiter. Auf ihrem Kongress lehnte der Erste Sekretär Olivier Faure eine von François Hollandes ehemaligem Premierminister geführte Regierung ab. Innerhalb der Partei sehen jedoch Vertreter des pragmatischen Flügels darin eine mögliche Lösung der Krise und einen Weg, sich von La France Insoumise und ihrem umstrittenen Anführer Jean-Luc Mélenchon zu distanzieren.
Cazeneuve verließ die Sozialistische Partei im Jahr 2022 wegen seiner Meinungsverschiedenheiten mit dem Bündnis zwischen der PS und La France Insoumise bei den damaligen Parlamentswahlen.
Nach mehr als einer Woche Beratungen mit den in der Assemblée nationale vertretenen politischen Kräften hat Frankreichs Präsident Macron bis zum Redaktionsschluss am Sonntag noch keine Person benannt, die er als Premier ernennen möchte. Macron könnte sich in den kommenden Tagen zu diesem Thema äußern, heißt es in Paris, ohne weitere Angabe. cst
Allein Belgien fehlt. Alle andere Mitgliedstaaten haben vor Ablauf der Frist Ende August bekanntgegeben, wen sie als Kommissarin oder Kommissar nach Brüssel senden möchten. Am Freitag zuletzt Italien und Bulgarien. Damit ist klar, dass die Mitgliedstaaten den Wunsch von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach der Nominierung von jeweils einem Mann und einer Frau weitestgehend ignoriert haben. Es sind insgesamt nur sieben Frauen unter den Nominierten.
Von der Leyen hatte beabsichtigt, ebenso viele Männer wie Frauen in die Kommission zu berufen. Doch so wie es jetzt aussieht, wird dieses Vorhaben scheitern. Denn nur sieben Regierungen haben Politikerinnen nominiert – Bulgarien, Estland, Finnland, Kroatien, Portugal, Schweden und Spanien. In ihrer ersten Amtszeit war es der CDU-Politikerin noch als erster Kommissionspräsidentin gelungen, annähernd ein Gleichgewicht herzustellen: Zu Beginn waren zwölf der inzwischen 27 Kommissionsmitglieder Frauen, später stieg ihre Zahl auf 13.
Von der Leyens Problem: Sie hat keine rechtliche Handhabe. Die Regierungen entscheiden selbst, wen sie für die Kommission nominieren. Allerdings liegt es in ihrer Macht, über die Zuständigkeiten und damit den Einfluss der einzelnen Kommissionsmitglieder zu entscheiden. Sollte es so kommen, können die Mitgliedstaaten mit weiblichen Kommissaren mit den einflussreicheren Posten in Brüssel rechnen.
Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat sich kurz vor Schluss entschieden und schickt Raffaele Fitto nach Brüssel zur Kommission. Der Minister für Europäische Angelegenheiten war von 2014 bis 2022 Mitglied des Europäischen Parlaments, zunächst für die Forza Italia, zuletzt für Melonis Fratelli. Bis zu seinem Wechsel in die Regierung in Rom im Herbst 2022 war er Co-Vorsitzender der EKR-Fraktion. Fitto ist im Kabinett Meloni für die rund 200 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds zuständig und versicherte erst vor Kurzem, Italien verfolge “mit extremer Strenge” die mit Brüssel vereinbarten Ziele.
Bulgarien teilte seine Nominierungsentscheidung am Freitag auf X mit. Demnach sind die Kandidaten Ex-Außenministerin Ekaterina Sachariewa und Ex-Umweltminister Julian Popow. Damit ist Bulgarien das einzige Mitgliedsland, das dem Wunsch der Kommissionspräsidentin nachgekommen ist und sowohl einen Mann als auch eine Frau nominiert hat.
Alle nominierten Kandidatinnen und Kandidaten der EU-Mitgliedsländer finden Sie in dieser Übersicht. vis
Auf der Sicherheitskonferenz Globsec Forum 2024 in Prag hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine stärkere Eigenständigkeit und Verantwortung Europas in Sicherheitsfragen gefordert. In ihrer Grundsatzrede betonte sie, dass die EU angesichts der geopolitischen Spannungen eine umfassende Neuausrichtung ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik brauche. “Europa zu schützen, ist in erster Linie die Aufgabe Europas”, erklärte von der Leyen. Dafür werde sie einen neuen EU-Kommissar für Verteidigungsfragen einsetzen und sich für eine stärkere europäische Säule innerhalb der Nato aussprechen.
Von der Leyen forderte zudem eine intensive Unterstützung für die Ukraine im Krieg gegen Russland und betonte die Notwendigkeit, die Ukraine in die EU zu integrieren, um “einen Frieden zu erreichen, der Krieg sowohl unmöglich als auch unnötig macht”. Sie machte deutlich, dass Europa seine Abhängigkeit von externen Energiequellen und Technologien verringern müsse, indem es verstärkt auf erneuerbare Energien und Innovation setzt.
In ihrer Dankesrede für den tschechischen und slowakischen Transatlantic Award hob von der Leyen die Bedeutung der transatlantischen Partnerschaft hervor. Sie betonte: “Einmal mehr standen Europa und Amerika Seite an Seite und auf der richtigen Seite der Geschichte – und das darf sich nicht ändern, egal, wer ab nächstem Januar im Oval Office sitzen wird.” Sie forderte ein stärkeres europäisches Engagement in der gemeinsamen Sicherheit und eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit, um krisenfeste transatlantische Wertschöpfungsketten aufzubauen. “Es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, Rohstoffe, kritische Technologien und globale Handelswege zu sichern.”
Der tschechische und slowakische Transatlantic Award wird zweimal im Jahr vergeben. Zu den früheren Preisträgern zählten die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright und der ehemalige tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg. vis
Als Reaktion auf die Alleingänge von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán zu Beginn der EU-Ratspräsidentschaft seines Landes will auch Estland vorübergehend keine Ministerinnen und Minister zu Treffen nach Ungarn schicken. “Ungarn hat durch sein Handeln seine Rolle als EU-Ratspräsidentschaft missbraucht und damit seine Glaubwürdigkeit ernsthaft untergraben”, sagte ein Sprecher der Regierung in Tallinn dem estnischen Rundfunk.
Zuvor hatten bereits Schweden und Litauen beschlossen, keine Minister nach Ungarn zu schicken, während Lettland einzelfallbezogen über eine Teilnahme entscheiden will. An offiziellen EU-Treffen in Brüssel werde Estland weiterhin wie bisher teilnehmen, sagte der Sprecher.
Viktor Orbán war im Juli ohne Absprache mit anderen EU-Staaten überraschend zu Kremlchef Wladimir Putin nach Moskau gereist und hatte dafür deutliche Kritik geerntet. Kritik kam auch aus Estland, das zu den entschiedensten Unterstützern der von Russland angegriffenen Ukraine zählt. Ungarn hat die EU-Ratspräsidentschaft noch bis Ende des Jahres inne. Dann folgt Polen. dpa

Einzelhandel, Pflege, Logistik – von allen Beschäftigten auf dem europäischen Arbeitsmarkt sind 60 Prozent im privaten Dienstleistungsgewerbe tätig. Sie erwirtschaften 60 Prozent des BIP auf dem gesamten Kontinent. Wie es um die Branche bestellt ist, weiß kaum jemand so gut wie Oliver Roethig. Der Deutsche ist seit Mai 2011 Regionalsekretär bei UNI Europa, dem europäischen Verband von Dienstleistungsgewerkschaften auf dem ganzen Kontinent.
Roethig hat in Bonn, Schottland und England Politikwissenschaft studiert. Vor seinem Posten als Regionalsekretär bei UNI Europa war er unter anderem acht Jahre lang auf globaler Ebene für den Verband tätig, speziell für die Finanzbranche. Dass sein Weg ihn in die Gewerkschaftsarbeit führen wird, wusste Roethig wegen seiner familiären Prägung bereits früh. Auch seine Studienhalte richtete er auf das Wirken von Gewerkschaften aus.
Heutzutage sind die Gewerkschaften nicht mehr so einflussreich wie noch in der Vergangenheit. Besonders in der Dienstleistungsbranche müsse europaweit die Sichtbarkeit steigen, um gesellschaftlich und politisch die Relevanz der Beschäftigten zu verdeutlichen, sagt Roethig. Zwar habe die Corona-Pandemie die Stellung einiger Berufszweige gestärkt, etwa die von Supermarktangestellten. Dennoch stünden sie gerade im Vergleich zu Beschäftigten in der Industrie “noch weitestgehend im Schatten”. Das zeige sich derzeit an schlechteren Arbeitsbedingungen wie niedrigeren Löhnen oder unfreundlichen Überstundenregelungen.
In der Gewerkschaftsarbeit bleibe es zudem schwierig, die Anliegen der Dienstleistungsbranche “organisatorisch und politisch zu dramatisieren”. Grund dafür sei unter anderem die regionale Ausbreitung der einzelnen Geschäfte. “Wenn eine Fabrik mit 2000 Mitarbeitern schließt, ist der Aufschrei oft groß. Wenn das Gleiche in Supermärkten passiert, bleibt er oft aus.”
Eine der großen Stellschrauben, mit denen die EU die Situation der Beschäftigten im Dienstleistungsgewerbe verbessern könne, sei die Tarifbindung. In der vergangenen Legislaturperiode hatten sich die Mitgliedstaaten innerhalb der Mindestlohnrichtlinie auf eine Tarifbindung von 80 Prozent geeinigt. Länder, die wie Deutschland dieses Ziel noch nicht erreichen, müssen dazu im Jahr 2025 nationale Aktionspläne erarbeiten. Roethig fordert, dass diese Pläne “nicht nur ein Papiertiger” sein dürften.
Als eine Initiative zur konkreten Umsetzung nennt Roethig die Ausweitung der öffentlichen Auftragsvergabe. “Diese soll in Zukunft dazu führen, dass nur Arbeitgeber für öffentliche Aufträge infrage kommen, die Tarifverhandlungen respektieren”, sagt Roethig. Bislang würden 14 Prozent des europäischen BIP durch öffentliche Aufträge vergeben. Wie erhofft, stellte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für die ersten 100 Tage ihrer zweiten Amtszeit in Aussicht, das europäische Vergaberecht zu überarbeiten. Auf Kommissionsebene scheint die Unterstützung für Roethigs Vorhaben also durchaus gegeben.
Von den Nationalstaaten erwartet Roethig, Arbeitskämpfe als eine Errungenschaft wahrzunehmen, deren Wert über die Unternehmen hinaus gehe. “Tarifverhandlungen sind die Schule der Demokratie im Kleinen”, sagt er. Kompromisse könnten den beteiligten Menschen die Demokratie praktisch nahebringen.
Die europäischen Staaten sollten schon allein deshalb die Gewerkschaften als Partner verstehen. Sollte sich allerdings der Eindruck vieler Beschäftigter verfestigen, dass ihre Anliegen bei nationalen und europäischen Institutionen keine Rolle spielen, bestehe die Gefahr, vermehrt Menschen an die AfD und andere populistische Parteien zu verlieren. Und das, obwohl eine Partei wie die AfD “auf europäischer Ebene konsequent gegen die Rechte von Arbeitnehmern eintritt”. Jasper Bennink