für einige Gesetze geht es in die Crunch-Time und damit in eine für die Co-Gesetzgeber schwierige Phase. Auf der einen Seite wollen sie den Trilog schnellstmöglich beenden, um das Vorhaben noch vor Ende der Legislatur abzuschließen. Auf der anderen Seite will man nicht nur des Zeitdrucks wegen abschließen.
In diesem Dilemma befindet sich auch das Rahmenwerk zur Zertifizierung von CO₂-Entnahmen (Carbon Removal Certification Framework – CRCF): Am heutigen Montag soll der finale Trilog die Einigung bringen. Unterhändler von Parlament, Rat und Kommission werden voraussichtlich die Nacht durchverhandeln, denn für eine schnelle Einigung sind zu viele Punkte noch offen.
Dem Parlament sind Kommissionsvorschlag und Ratsposition deutlich zu lasch. Die Abgeordneten wollen klare Nachhaltigkeitskriterien für die Zertifizierung von CO₂-Entnahmen. Hat ein Entnahmeprojekt keinen nachweislichen Effekt für das Klima, soll es keine Zertifizierung erhalten. Rat und Kommission reicht es hingegen, wenn es keine negativen Auswirkungen hat.
Zudem ist noch offen, was mit den Zertifikaten gemacht werden darf. Auch hier ist das Parlament ambitionierter und fordert klare Vorgaben, unter welchen Umständen ein Unternehmen sich oder sein Produkt durch Zukauf von Entnahmezertifikaten als klimaneutral bezeichnen darf. Die Kommission will dazu noch keine Vorgaben machen und offene Fragen erst anschließend über delegierte Rechtsakte klären. Das wiederum will das Parlament verhindern, da es bei delegierten Rechtsakten kaum Mitspracherecht hat.
Es läuft also auf eine lange Nacht mit offenem Ausgang hinaus.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche!
Die belgische Ratspräsidentschaft und die Verhandlerinnen des Parlaments einigten sich am vergangenen Wochenende auf eine hart umkämpfte Reform der EU-Schuldenregeln. Im finalen Einigungstext, der Table.Media vorliegt, steht eine neue Ausnahmeregelung, die in dieser Form weder in der Rats- noch in der Parlamentsposition zu finden war.
Die neuen Schuldenregeln definieren die staatlichen Nettoausgaben als zentrale Steuergröße. Die EU-Kommission definiert gemeinsam mit den Mitgliedstaaten einen Nettoausgabenpfad, der für stark verschuldete Länder zur Schuldenreduktion führen soll. Wenn die Einhaltung dieses Nettoausgabepfads überprüft wird, besagt die neue Ausnahme nun, dass nationale Staatsausgaben zur Kofinanzierung europäischer Programme nicht in die Berechnung der Nettoausgaben einfließen.
“Das bedeutet, dass die nationalen Ausgaben für die Kofinanzierung beibehalten oder erhöht werden können, ohne die Einhaltung des Nettoausgabenpfads zu beeinträchtigen”, erklärt eine EU-Beamtin. Eine Verringerung dieser Ausgaben schaffe wiederum keinen finanzpolitischen Spielraum und schütze somit die Durchführung der EU-Programme. Dies soll öffentliche Investitionen weiter ermöglichen, die durch europäisches Geld ausgelöst werden.
Aktuell sind die Zahlen zur nationalen Kofinanzierung noch bescheiden. Laut Kommission gibt es diese vor allem in der Kohäsionspolitik und in Teilen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). In der Kohäsionspolitik sind laut Kommission 163 Milliarden Euro an nationaler Kofinanzierung eingeplant für den Zeitraum von 2021 bis 2027, das heißt etwa 23 Milliarden Euro pro Jahr. Das sind nur 0,16 Prozent des BIP der EU.
Die Zahlen unterscheiden sich stark zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Die nationale Kofinanzierung Deutschlands beträgt im Durchschnitt rund 2,9 Milliarden Euro jährlich, das sind nur 0,07 Prozent des deutschen BIP. Der Beitrag der EU für deutsche Kohäsionsprojekte ist fast gleich hoch. In Italien liegt der Betrag der nationalen Kofinanzierung bei 4,6 Milliarden Euro, oder 0,22 Prozent des BIP.
In Griechenland liegt die nationale Kofinanzierung bei jährlich durchschnittlich 742 Millionen Euro, oder 0,37 Prozent des griechischen BIP. Der Beitrag der EU ist jedoch viel höher und kommt auf 1,47 Prozent des BIP.
Diese Zahlen sind zu Beginn noch irrelevant. Wenn nach der Annahme der Schuldenregel gegen Ende dieses Jahrs die vier- oder siebenjährigen Fiskalpläne der stark verschuldeten Mitgliedstaaten definiert werden, müssen diese den Sicherheitslinien entsprechen. Das heißt, sie sollen zu einer Schuldenreduktion führen und das strukturelle Defizit unter 1,5 Prozent des BIP drücken, und dies ungeachtet der nationalen Kofinanzierung von EU-Programmen.
Aber wenn der Fiskalplan steht, werden nicht mehr die Einhaltung des Schuldenstands oder das strukturelle Defizit überprüft, sondern die Nettoausgaben. Das öffnet die Tür für zusätzlichen fiskalischen Spielraum. Es stünde den Mitgliedstaaten offen, ihre nationale Kofinanzierungsrate von EU-Programmen zu erhöhen, ohne ihre Nettoausgaben nach Definition der Schuldenregeln zu erhöhen.
Laut einer EU-Beamtin können Mitgliedstaaten ihre Programmdokumente überarbeiten und die nationale Kofinanzierungsrate erhöhen. “Dieser Schritt würde die Hebelwirkung der Kohäsionspolitik automatisch verbessern, indem er das Investitionsvolumen erhöht”, sagte sie und fügte hinzu: “Die Kommission ermutigt Mitgliedstaaten, dies zu tun.”
Wie groß diese Hebelwirkung jedoch ist, bleibt abzuwarten. Die nationale Kofinanzierungsrate ist gesetzlich nach oben hin unbegrenzt. Da die Defizitobergrenze von drei Prozent des BIP in den neuen Schuldenregeln nach wie vor gilt, kann die nationale Kofinanzierung aber nicht unbegrenzt erhöht werden. Die EU-Schuldenregeln bleiben trotz Ausnahmeregelung restriktiv.
Mit einem Defizit von über drei Prozent fällt ein Mitgliedstaat in eine “Excessive Deficit Procedure” (EDP). Die betroffene Regierung muss dann jährlich das strukturelle Defizit verringern, nicht nur die Nettoausgaben. Italien, dessen Staatsdefizit aktuell über drei Prozent liegt, kann sich durch die Erhöhung der nationalen Kofinanzierungsrate also vorerst keinen zusätzlichen Investitionsspielraum schaffen.
Anders sieht es bei Griechenland aus. Das Land wird dieses Jahr laut Kommissionsprognose ein Defizit von nur einem Prozent des BIP haben. Es könnte die nationale Kofinanzierungsrate also steigern, ohne durch die Schuldenregeln eingeschränkt zu werden. Wie Griechenland können auch Portugal und Zypern sich durch diese Ausnahme neue Investitionsspielräume schaffen. Österreich und Deutschland könnten dies nach den EU-Schuldenregeln auch, werden aber durch ihre nationalen Schuldenbremsen eingeschränkt.
In der Praxis werden administrative Hürden einer schnellen Erhöhung der nationalen Kofinanzierungsrate Grenzen setzen. Wenn Griechenland zum Beispiel die nationale Kofinanzierung um einen Prozentpunkt des BIP steigern wollte, müsste es sinnvolle zusätzliche Kohäsionsprojekte im Wert von jährlich zwei Milliarden Euro finden. Das ist keine einfache Aufgabe.
In den vergangenen Jahren zeigten sich bei der Arbeit mit Kohäsionsgeldern Komplikationen und Verzögerungen. Einerseits, weil oft regionale und lokale Behörden mit im Spiel sind, andererseits weil Kohäsionsprojekte mit einem hohen Bürokratieaufwand einhergehen.
Zsolt Darvas, Senior Fellow beim wirtschaftspolitischen Thinktank Bruegel, meint denn auch, dass die Ausnahme in der Schuldenregel vorerst keinen großen Einfluss auf die Fiskalpolitik der EU-Staaten haben werde. Er denkt auch nicht, dass sie die Kohäsionspolitik der EU wesentlich stärken wird. Seiner Meinung nach ist es aber möglich, dass die Ausnahmeregelung zu einem späteren Zeitpunkt relevant werden könnte.
Zum Beispiel könnte in Zukunft ein neues EU-Programm zur Finanzierung von Klima-, Digital- oder Verteidigungsinvestitionen unabhängig von der Kohäsionspolitik auf nationale Kofinanzierung setzen, um das EU-Budget zu schonen. Mitgliedstaaten könnten sich finanziell an solchen Programmen beteiligen, ohne von ihrem Nettoausgabenweg abweichen zu müssen.
Das Fazit, das Wolodymyr Selenskyj nach 724 Tagen Krieg gegen sein Land zog, war drastisch: “Unser Widerstand hat die Zerstörung der regelbasierten Welt verhindert”, sagte er am Vormittag auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Unmittelbar vor dem ukrainischen Präsidenten hatte Bundeskanzler Olaf Scholz verhalten optimistisch von “einem Silberstreifen am Horizont” gesprochen – und der Ukraine die Versicherung gegeben, dass Deutschlands Unterstützung “breit und umfangreich” sei, “vor allem aber ist sie langfristig angelegt”.
Nach der Unterzeichnung des Sicherheitsabkommens mit der Ukraine in Berlin war der Versuch Scholz’ unübersehbar, sich am Morgen danach in München zum Führer Europas bei der militärischen Unterstützung Kiews aufzuschwingen. 2024 habe Deutschland seine Militärhilfe auf mehr als sieben Milliarden Euro nahezu verdoppelt, Zusagen für die kommenden Jahre in Höhe von sechs Milliarden kämen hinzu, sagte der Kanzler. Er wünsche sich sehr, “dass ähnliche Entscheidungen in allen EU-Hauptstädten getroffen werden”.
Zwar bedankte sich Selenskyj nach dem Schulterschluss mit Scholz bei den westlichen Verbündeten für die Unterstützung seines Landes. Doch machte er kein Hehl daraus, dass sowohl die deutsche Zusage wie die des französischen Präsidenten Emmanuel Macron nur eine Folge des vergangenen Juli in Vilnius beschlossenen Ziels der G7-Staaten gewesen sei, Kiew langfristig militärisch und finanziell im Rahmen einer “Sicherheitspartnerschaft” zur Seite zu stehen.
“Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es Putin gelingen, die nächsten Jahre zur Katastrophe zu machen”, so Selenskyj, der eindringlich vor Gefahren für andere europäische Länder warnte: “Wenn die Ukraine alleine dasteht, dann werden Sie sehen, was passiert: Russland wird uns zerstören, das Baltikum zerstören, Polen zerstören – es ist dazu in der Lage.”
Dass Selenskyj in einer Aufnahme in die Nato den besten Schutz für sein Land sieht, ist kein Geheimnis. Doch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ließ sich am Vormittag auf der Hauptbühne des Bayerischen Hofs nicht dazu hinreißen, diese Debatte zu befeuern. Stattdessen erneuerte er seine Sorge, dass “die Situation auf dem Schlachtfeld” angesichts der Blockade eines 60-Milliarden-Dollar-Hilfspakets im US-Kongress zuungunsten der Ukraine beeinflusst werden könne.
Scholz hatte schon zuvor versucht, dem durch die umstrittenen Äußerungen von Expräsident Donald Trump entstandenen Eindruck entgegenzusteuern, der Zusammenhalt der Nato sei gefährdet: “Lassen Sie mich auch klar sagen: Jegliche Relativierung der Beistandsgarantie der Nato nützt nur denen, die uns – so wie Putin – schwächen wollen”, sagte er unter dem Beifall des Publikums
Dass Deutschland und die europäischen Nato-Staaten wirklich auf einen Regierungswechsel in Washington vorbereitet sind, bezweifelt Constanze Stelzenmüller, Direktorin des Center on the United States and Europe der Brookings Institution in Washington. “Europa braucht einen Plan B oder sogar einen Plan C. Trump sagt jeden Tag, was er vorhat”, so Stelzenmüller gegenüber Table.Media. “Da ist eine internationale Agenda zu erkennen, die eiskalt transaktional ist und im Zweifelsfall Verbündeten sagt: Wir geben den Ton an.”
Nur wenn es Deutschland gelinge, seine seit der Invasion 2022 begonnene Abkoppelung von Russland konsequent fortzusetzen, könne es seiner Rolle als europäische Führungsmacht gerecht werden, so Stelzenmüller. “Niemand hätte sich vorstellen können, dass wir so schnell uns vom russischen Gas befreien. Niemand hätte sich vorstellen können, dass wir so viel für Waffen ausgeben.” Diesen Weg müsse man weiter gehen, vor allem in der Sicherheitspolitik.
Ob die politischen Bekenntnisse von Scholz wirklich durch harte Zahlen hinterlegt sind, könnte schon am frühen Abend wieder in Zweifel gezogen werden. Verteidigungsminister Boris Pistorius stellt sich dann in der Dachgarten-Lounge des Bayerischen Hofs der Frage, wie “Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten der Zeitenwende” gemeinsam Resilienz erzeugen können.
“Wir müssen uns mehr denn je darum kümmern, dass unsere Abschreckung modernen Anforderungen gerecht bleibt”, hatte Scholz am Vormittag klargestellt, gleichzeitig aber angegeben, dass bereits achtzig Prozent des 100-Milliarden-Euro-Sondervermögens für die Bundeswehr vertraglich gebunden seien. Diesen Zielkonflikt zu lösen, wird die deutsche Sicherheitspolitik auch nach München noch lange beschäftigen.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg strebt an, der Ukraine “möglichst bald” eine Einladung in die transatlantische Verteidigungsallianz auszusprechen. Der genaue Zeitpunkt hänge von der Situation auf dem Schlachtfeld und den Diskussionen innerhalb der Nato ab, sagte er Table.Media. “Mein Ziel ist es, die Ukraine in dieselbe Lage zu versetzen wie Finnland und Schweden”, die 2022 nur zwei Monate nach Antragstellung als neue Mitglieder akzeptiert wurden. “Wenn die politischen Bedingungen erfüllt sind, sollten wir sie einladen – sehr kurzfristig”, so Stoltenberg.
Durch die Grundsatzentscheidung der Nato auf ihrem Gipfel im Juli vergangenen Jahres in Vilnius, die Ukraine eines Tages aufzunehmen, sei das Land schon heute “näher an der Nato-Mitgliedschaft als je zuvor”. Auf Aussichten für ein Ende des Krieges angesprochen, sagte Stoltenberg: “Waffen an die Ukraine sind der einzige Weg zum Frieden.”
Der scheidende niederländische Ministerpräsident Mark Rutte sagte am Samstag in München, dass er nicht davon wisse, als Favorit für die Nachfolge Stoltenbergs gehandelt zu werden. Die Amtszeit des Norwegers, der seit 2014 an der Spitze der Nato steht, läuft im Oktober aus. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat mehrfach betont, dass sie nicht für das Amt zur Verfügung stehe. Die Welt am Sonntag berichtete, Bundeskanzler Olaf Scholz habe die CDU-Politikerin verhindert, weil er mit ihrem Russland-Kurs nicht einverstanden sei.
Rutte wandte sich in München dagegen, dass Europa über den früheren US-Präsidenten Donald Trump klage, statt selbst mehr für die Ukraine zu tun. “Wir sollten aufhören, über Trump zu jammern, zu winseln und zu nörgeln”, sagte Rutte. Nach Gesprächen mit US-Politikern in München sei er optimistisch, dass das Repräsentantenhaus in Washington einem seit Wochen blockierten Milliardenpaket doch noch die Zustimmung erteile. mrb
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unterstützt die Idee für die Benennung eines europäischen Verteidigungskommissars. Wenn sie Kommissionspräsidentin bleiben sollte, würde sie einen Kommissar für Verteidigung einsetzen, sagte die deutsche Politikerin am Samstag auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Sie denke, dies sei vernünftig.
Von der Leyen strebt eine zweite Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission an, der Vorstand der CDU wird sie am heutigen Montag aller Voraussicht nach als Spitzenkandidatin der europäischen Parteienfamilie EVP vorschlagen. Am Mittwoch läuft die Frist ab, bis zu der EVP-Kandidaten für den Posten des Präsidenten der EU-Kommission nominiert werden können.
Neben CDU-Politikern haben sich auch schon Vertreter anderer Parteien wie der CSU, SPD und FDP für einen Kommissar für Verteidigung ausgesprochen. Hintergrund ist insbesondere die neue sicherheitspolitische Lage in Europa nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. dpa
Ein künftiger Digital Networks Act (DNA) wird den Telekommunikationsmarkt erheblich verändern. “Wenn die Kommission ihre Pläne so umsetzt, schafft sie die ex-ante Regulierung, wie wir sie kennen, weitgehend ab und betreibt Industriepolitik”, sagte Cara Schwarz-Schilling, Direktorin des Wissenschaftlichen Instituts für Infrastruktur und Kommunikationsdienste (WIK), zu Table.Media. Kommende Woche will die Kommission ein Weißbuch zum geplanten DNA vorstellen, dessen Entwurf Table.Media bereits vorliegt.
Schwarz-Schilling weist in einer ersten Reaktion auf den Entwurf darauf hin, dass der Telekommunikationsmarkt vor erheblichen technologischen Veränderungen steht. “Die softwarebasierten virtuellen Netze werden sicherlich zu einem Umbau der Wertschöpfungskette führen. Aber das sollte die Kommission lieber dem Markt überlassen.”
Bemerkenswert sei, dass die Kommission zwar Regulierung abbauen, “sie an anderer Stelle aber neu einführen will, wo gar kein Marktversagen vorliegt”, sagte Schwarz-Schilling. “Seit es das Internet gibt, hat die Zusammenschaltung der IP-Netze ohne Regulierung funktioniert.” Die Einführung einer Netzwerkabgabe (Fair Share), so wie sie sich Telekommunikationsunternehmen wünschen, hält Schwarz-Schilling daher für nicht angebracht. Denn damit würde ein System aus der Balance geworfen, das eigentlich ganz gut funktioniert. Zudem: “Die Telcos und die großen Inhalteanbieter leben voneinander.”
Um einen fairen Beitrag großer Digitalunternehmen zum Gemeinwesen in der EU zu erreichen, sei die effektive Durchsetzung einer Digitalsteuer ein besseres Mittel. “Google und Meta sollten dort besteuert werden, wo sie ihre Gewinne erwirtschaften”, meint Schwarz-Schilling.
Regulierungsbedarf sieht Schwarz-Schilling jedoch weiterhin bei Glasfasernetzen, wo die Kommission Regulierung abbauen will. “Da werden wir weiterhin Probleme mit der Marktmacht einzelner Unternehmen sehen.” Dagegen begrüßt sie die Festlegung eines festen Datums für die Abschaltung der Kupferkabel. “Es ist gut, dass hier ein bisschen Druck auf den Kessel kommt – auch aus Gründen der Nachhaltigkeit.” Der Stromverbrauch ist bei Glasfaser- deutlich geringer als bei Kupferkabeln. vis
Die Richtlinie zur Plattformarbeit könnte in dieser Legislaturperiode an fehlender Unterstützung unter den Mitgliedstaaten scheitern. Am Freitag fand der zuvor mit dem Europaparlament ausgehandelte Kompromiss erneut nicht die nötige Mehrheit im Ausschuss der Ständigen Vertreter. Die belgische Ratspräsidentschaft muss nun entscheiden, wie sie weiter vorgeht.
Laut EU-Diplomaten forderte Frankreich mehr Zeit und Änderungen an dem verhandelten Rechtstext. Die französische Regierung will durchsetzen, dass Plattformen, die unter einen Tarifvertrag fallen, nicht von der Richtlinie erfasst werden. Diese Forderung wird aber vom Parlament sowie auch von vielen Mitgliedstaaten und der Kommission abgelehnt.
Deutschland enthielt sich bei der Abstimmung erneut, da die FDP die Regulierung zur Bekämpfung von Scheinselbständigkeit auf den großen Digitalplattformen nicht mitträgt. Auch Griechenland und Estland enthielten sich. Bulgarien, Österreich und Spanien hätten zwar zugestimmt, in Protokollerklärungen aber Änderungswünsche hinterlegt, hieß es. Die qualifizierte Mehrheit war daher nicht gegeben, die belgische Ratspräsidentschaft will nun über das weitere Vorgehen beraten.
Aus dem Europaparlament kam scharfe Kritik: Kanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron machten sich “zu nützlichen Trotteln von Uber”, schimpfte EVP-Schattenberichterstatter Dennis Radtke auf der Plattform X. Der Sprecher der deutschen Grünen, Rasmus Andresen, erklärte: “Der Lobbyismus von Plattformen wie Uber und Amazon hat gegen die Rechte von Millionen von Beschäftigten gewonnen.”
Es ist bereits das zweite Mal, dass ein im Trilog mit dem Parlament gefundener Kompromiss im Rat zu scheitern droht. Besonders umstritten sind die Kriterien für eine Anstellungsvermutung sowie die Erfüllungsschwelle. Die EU-Kommission hatte ursprünglich EU-weit geltende Kriterien vorgesehen. Der jüngste Kompromiss sah vor, dass die Statusfeststellung bei Beschäftigten von Plattformen durch die Behörden der Mitgliedstaaten vorgenommen wird.
Angenommen von den EU-Botschaftern wurde hingegen die politische Einigung zum Net Zero Industry Act. Dieser soll die Ansiedlung von Fabriken erleichtern, in denen grüne Technologien wie Wärmepumpen und Windräder hergestellt werden. tho/lei
Die EU-Kommission leitet eine Untersuchung gegen den chinesischen Eisenbahnhersteller CRRC Qingdao Sifang Locomotive ein. Ziel ist es herauszufinden, ob dieser mithilfe staatlicher Subventionen europäische Hersteller unterbietet. Binnenmarktkommissar Thierry Breton kündigte am Freitag eine Untersuchung gegen die Tochterfirma des chinesischen Staatskonzerns China Railway Rolling Stock Corporation (CRRC) an. Konkret geht es um einen Auftrag für 20 Elektrozüge in Bulgarien. Die Untersuchung könnte zur Folge haben, dass CRRC Qingdao Sifang Locomotive diesen Auftrag nicht bekommen wird.
Die Untersuchung ist die erste im Rahmen der neuen EU-Verordnung gegen binnenmarktverzerrende Subventionen aus dem Ausland. Das Angebot von CRRC Qingdao Sifang Locomotive für die 20 Züge ist laut EU-Kommission nur etwa halb so hoch wie das des spanischen Anbieters Talgo. Brüssel behauptet, dies sei nur durch die Gewährung von Subventionen in Höhe von 1,75 Milliarden Euro durch Peking möglich. Der Auftrag des bulgarischen Transportministeriums liegt bei einem geschätzten Wert von 610 Millionen Euro. Er umfasst laut Kommission auch die Wartung über 15 Jahre sowie die Schulung des Personals.
Bulgarien habe den Vertrag wegen Verdachts auf staatliche Subventionen gemäß der im vergangenen Jahr in Kraft getretenen Verordnung an Brüssel weitergeleitet. Die EU-Kommission hat bis zum 2. Juli Zeit, eine Entscheidung zu treffen. “Es ist für unsere Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliche Sicherheit von entscheidender Bedeutung, sicherzustellen, dass unser EU-Binnenmarkt nicht durch ausländische Subventionen zum Nachteil wettbewerbsfähiger Unternehmen verzerrt wird, die fair handeln”, sagte Breton am Freitag. ari
Es ist ein politischer Sieg für den Rassemblement National (RN): Der frühere Exekutivdirektor der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, hat angekündigt, für die weit rechts stehende Partei in Frankreich bei den Europawahlen zu kandidieren. “Ich bin überzeugt, dass dies die politische Option ist, die den Franzosen die Möglichkeit gibt, die Kontrolle über ihre Zukunft zurückzugewinnen”, sagte Leggeri in einem Interview mit dem Journal du Dimanche (JDD). Er belegt den dritten Platz auf der Liste, die von RN-Parteichef Jordan Bardella angeführt wird.
Der 55-jährige Beamte war von 2015 bis 2022 Direktor von Frontex, als er nach einer Disziplinaruntersuchung zurücktrat. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, OLAF, warf ihm unter anderem schlechtes Management vor. Darüber hinaus beschuldigten ihn NGOs, illegale Pushbacks von Migranten zu tolerieren.
Der RN führt derzeit die Umfragen für diese Europawahl mit rund 30 Prozent an und liegt damit etwa zehn Prozentpunkte vor Renaissance, der Partei, die Emmanuel Macron vertritt und die ihren Spitzenkandidaten noch immer nicht benannt hat. Die Hinzuziehung des hohen Beamten ist ein Zeichen für den Willen der rechtsextremen Partei, ihr Reservoir an Experten und Technokraten zu erweitern, um an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. cst
In Brüssel sprechen die Waffen. In der Nacht von Samstag auf Sonntag wurden in der Brüsseler Gemeinde Schaerbeek Schüsse abgefeuert. Sie folgten auf Schießereien am vergangenen Mittwoch, Dienstag und Sonntag.
Innerhalb eines Jahres, zwischen dem 1. Februar 2023 und dem 14. Februar 2024, gab es 19 Schießereien, wie die belgische Tageszeitung Le Soir errechnet hat. Und wie die Grafik der Zeitung zeigt, beschränken sich die Schießereien nicht auf die Randgebiete der Stadt. Auch beliebte Viertel der europäischen Blase wie Saint-Gilles und Ixelles bleiben nicht verschont. Eine parlamentarische Assistentin berichtet zum Beispiel, dass sie ihren Weg zum Parlament geändert hat, nachdem sie Zeuge von Straßenschlachten im Zusammenhang mit Drogenhandel geworden war. Sie meidet nun die Porte de Hal, auch wenn sich dadurch ihre Fahrzeit verlängert.
“Gestern war es Einschüchterung, heute ist es eine Hinrichtung. Wir befinden uns in einem Konflikt zwischen Gruppen, die ein Viertel kontrollieren wollen“, kommentierte der Bürgermeister von Saint-Gilles, Jean Spinette. Diese Gegend der Hauptstadt wird in der Tat als “Drogen-Drive-in” beschrieben, wo sich Dealer auf den Türschwellen niedergelassen haben. Nach Angaben der örtlichen Behörden ist der Drogenhandel mittlerweile in die Hände des organisierten Verbrechens übergegangen und das Ergebnis eines “nationalen Phänomens”, das mit dem massiven Drogenhandel über den Hafen von Antwerpen und dem zunehmenden Crack-Konsum zusammenhängt.
Denn es gibt nicht nur Schießereien. Die Brüsseler stellen fest, dass sich insbesondere Crack in ihrer Stadt ausbreitet. Hunderte Drogenabhängige und Dealer versammeln sich in mehreren U-Bahn-Stationen, die Polizei zählt mittlerweile jeden Tag Dutzende Vorfälle. Die Sicherheitsbeamten der Brüsseler Verkehrsgesellschaft werden zur Vorsicht gemahnt, seit einer von ihnen vor einigen Wochen mit Ammoniak besprüht wurde, das zur Herstellung von Crack benötigt wird. Ihre Gewerkschaften drohen mit Streiks, wenn die Situation anhält. Die Unternehmensleitung verspricht ihnen Verstärkung und die Einrichtung einer Sondereinheit, die Drogenkonsumenten an spezialisierte Einrichtungen verweisen soll.
Die politische Antwort sei leider nicht auf der Höhe der Gefahr, stellen politische Beobachter in Belgien fest. Schuld daran sei die Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Ebenen der politischen Verantwortung. Anstatt das Problem als eine nationale Herausforderung zu betrachten, die so schnell wie möglich angegangen werden muss, seien “unverantwortliche politische Reflexe” am Werk, so die Tageszeitung Le Soir weiter. “Die Gemeinden beschweren sich über die fehlenden Mittel des Bundes, der sich wiederum über die schlechte Organisation der Gemeinden beschwert, usw.”
Es ist diese Desorganisation, von der kriminelle Organisationen leben. Vielleicht sind es sogar diese Schwachstellen, die sie in Belgien gedeihen lassen, so wie sich auch der Terrorismus oder der Waffenhandel vermehren konnten.
Im Sommer hatte der Direktor der Bundeskriminalpolizei in Brüssel in der Presse gewarnt: “In einigen Teilen der Welt sieht man, dass diese Organisationen die Kontrolle über den Staat übernommen haben, weil dieser sich nicht alle Kräfte mobilisiert haben, um das Phänomen zu bekämpfen. In Belgien sind wir noch nicht in einer solchen Situation, aber wir müssen uns mobilisieren, um sie zu verhindern.” Man mag sich die Frage zu stellen, ob ihn inmitten der Schießereien noch jemand hört.
für einige Gesetze geht es in die Crunch-Time und damit in eine für die Co-Gesetzgeber schwierige Phase. Auf der einen Seite wollen sie den Trilog schnellstmöglich beenden, um das Vorhaben noch vor Ende der Legislatur abzuschließen. Auf der anderen Seite will man nicht nur des Zeitdrucks wegen abschließen.
In diesem Dilemma befindet sich auch das Rahmenwerk zur Zertifizierung von CO₂-Entnahmen (Carbon Removal Certification Framework – CRCF): Am heutigen Montag soll der finale Trilog die Einigung bringen. Unterhändler von Parlament, Rat und Kommission werden voraussichtlich die Nacht durchverhandeln, denn für eine schnelle Einigung sind zu viele Punkte noch offen.
Dem Parlament sind Kommissionsvorschlag und Ratsposition deutlich zu lasch. Die Abgeordneten wollen klare Nachhaltigkeitskriterien für die Zertifizierung von CO₂-Entnahmen. Hat ein Entnahmeprojekt keinen nachweislichen Effekt für das Klima, soll es keine Zertifizierung erhalten. Rat und Kommission reicht es hingegen, wenn es keine negativen Auswirkungen hat.
Zudem ist noch offen, was mit den Zertifikaten gemacht werden darf. Auch hier ist das Parlament ambitionierter und fordert klare Vorgaben, unter welchen Umständen ein Unternehmen sich oder sein Produkt durch Zukauf von Entnahmezertifikaten als klimaneutral bezeichnen darf. Die Kommission will dazu noch keine Vorgaben machen und offene Fragen erst anschließend über delegierte Rechtsakte klären. Das wiederum will das Parlament verhindern, da es bei delegierten Rechtsakten kaum Mitspracherecht hat.
Es läuft also auf eine lange Nacht mit offenem Ausgang hinaus.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche!
Die belgische Ratspräsidentschaft und die Verhandlerinnen des Parlaments einigten sich am vergangenen Wochenende auf eine hart umkämpfte Reform der EU-Schuldenregeln. Im finalen Einigungstext, der Table.Media vorliegt, steht eine neue Ausnahmeregelung, die in dieser Form weder in der Rats- noch in der Parlamentsposition zu finden war.
Die neuen Schuldenregeln definieren die staatlichen Nettoausgaben als zentrale Steuergröße. Die EU-Kommission definiert gemeinsam mit den Mitgliedstaaten einen Nettoausgabenpfad, der für stark verschuldete Länder zur Schuldenreduktion führen soll. Wenn die Einhaltung dieses Nettoausgabepfads überprüft wird, besagt die neue Ausnahme nun, dass nationale Staatsausgaben zur Kofinanzierung europäischer Programme nicht in die Berechnung der Nettoausgaben einfließen.
“Das bedeutet, dass die nationalen Ausgaben für die Kofinanzierung beibehalten oder erhöht werden können, ohne die Einhaltung des Nettoausgabenpfads zu beeinträchtigen”, erklärt eine EU-Beamtin. Eine Verringerung dieser Ausgaben schaffe wiederum keinen finanzpolitischen Spielraum und schütze somit die Durchführung der EU-Programme. Dies soll öffentliche Investitionen weiter ermöglichen, die durch europäisches Geld ausgelöst werden.
Aktuell sind die Zahlen zur nationalen Kofinanzierung noch bescheiden. Laut Kommission gibt es diese vor allem in der Kohäsionspolitik und in Teilen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). In der Kohäsionspolitik sind laut Kommission 163 Milliarden Euro an nationaler Kofinanzierung eingeplant für den Zeitraum von 2021 bis 2027, das heißt etwa 23 Milliarden Euro pro Jahr. Das sind nur 0,16 Prozent des BIP der EU.
Die Zahlen unterscheiden sich stark zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Die nationale Kofinanzierung Deutschlands beträgt im Durchschnitt rund 2,9 Milliarden Euro jährlich, das sind nur 0,07 Prozent des deutschen BIP. Der Beitrag der EU für deutsche Kohäsionsprojekte ist fast gleich hoch. In Italien liegt der Betrag der nationalen Kofinanzierung bei 4,6 Milliarden Euro, oder 0,22 Prozent des BIP.
In Griechenland liegt die nationale Kofinanzierung bei jährlich durchschnittlich 742 Millionen Euro, oder 0,37 Prozent des griechischen BIP. Der Beitrag der EU ist jedoch viel höher und kommt auf 1,47 Prozent des BIP.
Diese Zahlen sind zu Beginn noch irrelevant. Wenn nach der Annahme der Schuldenregel gegen Ende dieses Jahrs die vier- oder siebenjährigen Fiskalpläne der stark verschuldeten Mitgliedstaaten definiert werden, müssen diese den Sicherheitslinien entsprechen. Das heißt, sie sollen zu einer Schuldenreduktion führen und das strukturelle Defizit unter 1,5 Prozent des BIP drücken, und dies ungeachtet der nationalen Kofinanzierung von EU-Programmen.
Aber wenn der Fiskalplan steht, werden nicht mehr die Einhaltung des Schuldenstands oder das strukturelle Defizit überprüft, sondern die Nettoausgaben. Das öffnet die Tür für zusätzlichen fiskalischen Spielraum. Es stünde den Mitgliedstaaten offen, ihre nationale Kofinanzierungsrate von EU-Programmen zu erhöhen, ohne ihre Nettoausgaben nach Definition der Schuldenregeln zu erhöhen.
Laut einer EU-Beamtin können Mitgliedstaaten ihre Programmdokumente überarbeiten und die nationale Kofinanzierungsrate erhöhen. “Dieser Schritt würde die Hebelwirkung der Kohäsionspolitik automatisch verbessern, indem er das Investitionsvolumen erhöht”, sagte sie und fügte hinzu: “Die Kommission ermutigt Mitgliedstaaten, dies zu tun.”
Wie groß diese Hebelwirkung jedoch ist, bleibt abzuwarten. Die nationale Kofinanzierungsrate ist gesetzlich nach oben hin unbegrenzt. Da die Defizitobergrenze von drei Prozent des BIP in den neuen Schuldenregeln nach wie vor gilt, kann die nationale Kofinanzierung aber nicht unbegrenzt erhöht werden. Die EU-Schuldenregeln bleiben trotz Ausnahmeregelung restriktiv.
Mit einem Defizit von über drei Prozent fällt ein Mitgliedstaat in eine “Excessive Deficit Procedure” (EDP). Die betroffene Regierung muss dann jährlich das strukturelle Defizit verringern, nicht nur die Nettoausgaben. Italien, dessen Staatsdefizit aktuell über drei Prozent liegt, kann sich durch die Erhöhung der nationalen Kofinanzierungsrate also vorerst keinen zusätzlichen Investitionsspielraum schaffen.
Anders sieht es bei Griechenland aus. Das Land wird dieses Jahr laut Kommissionsprognose ein Defizit von nur einem Prozent des BIP haben. Es könnte die nationale Kofinanzierungsrate also steigern, ohne durch die Schuldenregeln eingeschränkt zu werden. Wie Griechenland können auch Portugal und Zypern sich durch diese Ausnahme neue Investitionsspielräume schaffen. Österreich und Deutschland könnten dies nach den EU-Schuldenregeln auch, werden aber durch ihre nationalen Schuldenbremsen eingeschränkt.
In der Praxis werden administrative Hürden einer schnellen Erhöhung der nationalen Kofinanzierungsrate Grenzen setzen. Wenn Griechenland zum Beispiel die nationale Kofinanzierung um einen Prozentpunkt des BIP steigern wollte, müsste es sinnvolle zusätzliche Kohäsionsprojekte im Wert von jährlich zwei Milliarden Euro finden. Das ist keine einfache Aufgabe.
In den vergangenen Jahren zeigten sich bei der Arbeit mit Kohäsionsgeldern Komplikationen und Verzögerungen. Einerseits, weil oft regionale und lokale Behörden mit im Spiel sind, andererseits weil Kohäsionsprojekte mit einem hohen Bürokratieaufwand einhergehen.
Zsolt Darvas, Senior Fellow beim wirtschaftspolitischen Thinktank Bruegel, meint denn auch, dass die Ausnahme in der Schuldenregel vorerst keinen großen Einfluss auf die Fiskalpolitik der EU-Staaten haben werde. Er denkt auch nicht, dass sie die Kohäsionspolitik der EU wesentlich stärken wird. Seiner Meinung nach ist es aber möglich, dass die Ausnahmeregelung zu einem späteren Zeitpunkt relevant werden könnte.
Zum Beispiel könnte in Zukunft ein neues EU-Programm zur Finanzierung von Klima-, Digital- oder Verteidigungsinvestitionen unabhängig von der Kohäsionspolitik auf nationale Kofinanzierung setzen, um das EU-Budget zu schonen. Mitgliedstaaten könnten sich finanziell an solchen Programmen beteiligen, ohne von ihrem Nettoausgabenweg abweichen zu müssen.
Das Fazit, das Wolodymyr Selenskyj nach 724 Tagen Krieg gegen sein Land zog, war drastisch: “Unser Widerstand hat die Zerstörung der regelbasierten Welt verhindert”, sagte er am Vormittag auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Unmittelbar vor dem ukrainischen Präsidenten hatte Bundeskanzler Olaf Scholz verhalten optimistisch von “einem Silberstreifen am Horizont” gesprochen – und der Ukraine die Versicherung gegeben, dass Deutschlands Unterstützung “breit und umfangreich” sei, “vor allem aber ist sie langfristig angelegt”.
Nach der Unterzeichnung des Sicherheitsabkommens mit der Ukraine in Berlin war der Versuch Scholz’ unübersehbar, sich am Morgen danach in München zum Führer Europas bei der militärischen Unterstützung Kiews aufzuschwingen. 2024 habe Deutschland seine Militärhilfe auf mehr als sieben Milliarden Euro nahezu verdoppelt, Zusagen für die kommenden Jahre in Höhe von sechs Milliarden kämen hinzu, sagte der Kanzler. Er wünsche sich sehr, “dass ähnliche Entscheidungen in allen EU-Hauptstädten getroffen werden”.
Zwar bedankte sich Selenskyj nach dem Schulterschluss mit Scholz bei den westlichen Verbündeten für die Unterstützung seines Landes. Doch machte er kein Hehl daraus, dass sowohl die deutsche Zusage wie die des französischen Präsidenten Emmanuel Macron nur eine Folge des vergangenen Juli in Vilnius beschlossenen Ziels der G7-Staaten gewesen sei, Kiew langfristig militärisch und finanziell im Rahmen einer “Sicherheitspartnerschaft” zur Seite zu stehen.
“Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es Putin gelingen, die nächsten Jahre zur Katastrophe zu machen”, so Selenskyj, der eindringlich vor Gefahren für andere europäische Länder warnte: “Wenn die Ukraine alleine dasteht, dann werden Sie sehen, was passiert: Russland wird uns zerstören, das Baltikum zerstören, Polen zerstören – es ist dazu in der Lage.”
Dass Selenskyj in einer Aufnahme in die Nato den besten Schutz für sein Land sieht, ist kein Geheimnis. Doch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ließ sich am Vormittag auf der Hauptbühne des Bayerischen Hofs nicht dazu hinreißen, diese Debatte zu befeuern. Stattdessen erneuerte er seine Sorge, dass “die Situation auf dem Schlachtfeld” angesichts der Blockade eines 60-Milliarden-Dollar-Hilfspakets im US-Kongress zuungunsten der Ukraine beeinflusst werden könne.
Scholz hatte schon zuvor versucht, dem durch die umstrittenen Äußerungen von Expräsident Donald Trump entstandenen Eindruck entgegenzusteuern, der Zusammenhalt der Nato sei gefährdet: “Lassen Sie mich auch klar sagen: Jegliche Relativierung der Beistandsgarantie der Nato nützt nur denen, die uns – so wie Putin – schwächen wollen”, sagte er unter dem Beifall des Publikums
Dass Deutschland und die europäischen Nato-Staaten wirklich auf einen Regierungswechsel in Washington vorbereitet sind, bezweifelt Constanze Stelzenmüller, Direktorin des Center on the United States and Europe der Brookings Institution in Washington. “Europa braucht einen Plan B oder sogar einen Plan C. Trump sagt jeden Tag, was er vorhat”, so Stelzenmüller gegenüber Table.Media. “Da ist eine internationale Agenda zu erkennen, die eiskalt transaktional ist und im Zweifelsfall Verbündeten sagt: Wir geben den Ton an.”
Nur wenn es Deutschland gelinge, seine seit der Invasion 2022 begonnene Abkoppelung von Russland konsequent fortzusetzen, könne es seiner Rolle als europäische Führungsmacht gerecht werden, so Stelzenmüller. “Niemand hätte sich vorstellen können, dass wir so schnell uns vom russischen Gas befreien. Niemand hätte sich vorstellen können, dass wir so viel für Waffen ausgeben.” Diesen Weg müsse man weiter gehen, vor allem in der Sicherheitspolitik.
Ob die politischen Bekenntnisse von Scholz wirklich durch harte Zahlen hinterlegt sind, könnte schon am frühen Abend wieder in Zweifel gezogen werden. Verteidigungsminister Boris Pistorius stellt sich dann in der Dachgarten-Lounge des Bayerischen Hofs der Frage, wie “Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten der Zeitenwende” gemeinsam Resilienz erzeugen können.
“Wir müssen uns mehr denn je darum kümmern, dass unsere Abschreckung modernen Anforderungen gerecht bleibt”, hatte Scholz am Vormittag klargestellt, gleichzeitig aber angegeben, dass bereits achtzig Prozent des 100-Milliarden-Euro-Sondervermögens für die Bundeswehr vertraglich gebunden seien. Diesen Zielkonflikt zu lösen, wird die deutsche Sicherheitspolitik auch nach München noch lange beschäftigen.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg strebt an, der Ukraine “möglichst bald” eine Einladung in die transatlantische Verteidigungsallianz auszusprechen. Der genaue Zeitpunkt hänge von der Situation auf dem Schlachtfeld und den Diskussionen innerhalb der Nato ab, sagte er Table.Media. “Mein Ziel ist es, die Ukraine in dieselbe Lage zu versetzen wie Finnland und Schweden”, die 2022 nur zwei Monate nach Antragstellung als neue Mitglieder akzeptiert wurden. “Wenn die politischen Bedingungen erfüllt sind, sollten wir sie einladen – sehr kurzfristig”, so Stoltenberg.
Durch die Grundsatzentscheidung der Nato auf ihrem Gipfel im Juli vergangenen Jahres in Vilnius, die Ukraine eines Tages aufzunehmen, sei das Land schon heute “näher an der Nato-Mitgliedschaft als je zuvor”. Auf Aussichten für ein Ende des Krieges angesprochen, sagte Stoltenberg: “Waffen an die Ukraine sind der einzige Weg zum Frieden.”
Der scheidende niederländische Ministerpräsident Mark Rutte sagte am Samstag in München, dass er nicht davon wisse, als Favorit für die Nachfolge Stoltenbergs gehandelt zu werden. Die Amtszeit des Norwegers, der seit 2014 an der Spitze der Nato steht, läuft im Oktober aus. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat mehrfach betont, dass sie nicht für das Amt zur Verfügung stehe. Die Welt am Sonntag berichtete, Bundeskanzler Olaf Scholz habe die CDU-Politikerin verhindert, weil er mit ihrem Russland-Kurs nicht einverstanden sei.
Rutte wandte sich in München dagegen, dass Europa über den früheren US-Präsidenten Donald Trump klage, statt selbst mehr für die Ukraine zu tun. “Wir sollten aufhören, über Trump zu jammern, zu winseln und zu nörgeln”, sagte Rutte. Nach Gesprächen mit US-Politikern in München sei er optimistisch, dass das Repräsentantenhaus in Washington einem seit Wochen blockierten Milliardenpaket doch noch die Zustimmung erteile. mrb
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unterstützt die Idee für die Benennung eines europäischen Verteidigungskommissars. Wenn sie Kommissionspräsidentin bleiben sollte, würde sie einen Kommissar für Verteidigung einsetzen, sagte die deutsche Politikerin am Samstag auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Sie denke, dies sei vernünftig.
Von der Leyen strebt eine zweite Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission an, der Vorstand der CDU wird sie am heutigen Montag aller Voraussicht nach als Spitzenkandidatin der europäischen Parteienfamilie EVP vorschlagen. Am Mittwoch läuft die Frist ab, bis zu der EVP-Kandidaten für den Posten des Präsidenten der EU-Kommission nominiert werden können.
Neben CDU-Politikern haben sich auch schon Vertreter anderer Parteien wie der CSU, SPD und FDP für einen Kommissar für Verteidigung ausgesprochen. Hintergrund ist insbesondere die neue sicherheitspolitische Lage in Europa nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. dpa
Ein künftiger Digital Networks Act (DNA) wird den Telekommunikationsmarkt erheblich verändern. “Wenn die Kommission ihre Pläne so umsetzt, schafft sie die ex-ante Regulierung, wie wir sie kennen, weitgehend ab und betreibt Industriepolitik”, sagte Cara Schwarz-Schilling, Direktorin des Wissenschaftlichen Instituts für Infrastruktur und Kommunikationsdienste (WIK), zu Table.Media. Kommende Woche will die Kommission ein Weißbuch zum geplanten DNA vorstellen, dessen Entwurf Table.Media bereits vorliegt.
Schwarz-Schilling weist in einer ersten Reaktion auf den Entwurf darauf hin, dass der Telekommunikationsmarkt vor erheblichen technologischen Veränderungen steht. “Die softwarebasierten virtuellen Netze werden sicherlich zu einem Umbau der Wertschöpfungskette führen. Aber das sollte die Kommission lieber dem Markt überlassen.”
Bemerkenswert sei, dass die Kommission zwar Regulierung abbauen, “sie an anderer Stelle aber neu einführen will, wo gar kein Marktversagen vorliegt”, sagte Schwarz-Schilling. “Seit es das Internet gibt, hat die Zusammenschaltung der IP-Netze ohne Regulierung funktioniert.” Die Einführung einer Netzwerkabgabe (Fair Share), so wie sie sich Telekommunikationsunternehmen wünschen, hält Schwarz-Schilling daher für nicht angebracht. Denn damit würde ein System aus der Balance geworfen, das eigentlich ganz gut funktioniert. Zudem: “Die Telcos und die großen Inhalteanbieter leben voneinander.”
Um einen fairen Beitrag großer Digitalunternehmen zum Gemeinwesen in der EU zu erreichen, sei die effektive Durchsetzung einer Digitalsteuer ein besseres Mittel. “Google und Meta sollten dort besteuert werden, wo sie ihre Gewinne erwirtschaften”, meint Schwarz-Schilling.
Regulierungsbedarf sieht Schwarz-Schilling jedoch weiterhin bei Glasfasernetzen, wo die Kommission Regulierung abbauen will. “Da werden wir weiterhin Probleme mit der Marktmacht einzelner Unternehmen sehen.” Dagegen begrüßt sie die Festlegung eines festen Datums für die Abschaltung der Kupferkabel. “Es ist gut, dass hier ein bisschen Druck auf den Kessel kommt – auch aus Gründen der Nachhaltigkeit.” Der Stromverbrauch ist bei Glasfaser- deutlich geringer als bei Kupferkabeln. vis
Die Richtlinie zur Plattformarbeit könnte in dieser Legislaturperiode an fehlender Unterstützung unter den Mitgliedstaaten scheitern. Am Freitag fand der zuvor mit dem Europaparlament ausgehandelte Kompromiss erneut nicht die nötige Mehrheit im Ausschuss der Ständigen Vertreter. Die belgische Ratspräsidentschaft muss nun entscheiden, wie sie weiter vorgeht.
Laut EU-Diplomaten forderte Frankreich mehr Zeit und Änderungen an dem verhandelten Rechtstext. Die französische Regierung will durchsetzen, dass Plattformen, die unter einen Tarifvertrag fallen, nicht von der Richtlinie erfasst werden. Diese Forderung wird aber vom Parlament sowie auch von vielen Mitgliedstaaten und der Kommission abgelehnt.
Deutschland enthielt sich bei der Abstimmung erneut, da die FDP die Regulierung zur Bekämpfung von Scheinselbständigkeit auf den großen Digitalplattformen nicht mitträgt. Auch Griechenland und Estland enthielten sich. Bulgarien, Österreich und Spanien hätten zwar zugestimmt, in Protokollerklärungen aber Änderungswünsche hinterlegt, hieß es. Die qualifizierte Mehrheit war daher nicht gegeben, die belgische Ratspräsidentschaft will nun über das weitere Vorgehen beraten.
Aus dem Europaparlament kam scharfe Kritik: Kanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron machten sich “zu nützlichen Trotteln von Uber”, schimpfte EVP-Schattenberichterstatter Dennis Radtke auf der Plattform X. Der Sprecher der deutschen Grünen, Rasmus Andresen, erklärte: “Der Lobbyismus von Plattformen wie Uber und Amazon hat gegen die Rechte von Millionen von Beschäftigten gewonnen.”
Es ist bereits das zweite Mal, dass ein im Trilog mit dem Parlament gefundener Kompromiss im Rat zu scheitern droht. Besonders umstritten sind die Kriterien für eine Anstellungsvermutung sowie die Erfüllungsschwelle. Die EU-Kommission hatte ursprünglich EU-weit geltende Kriterien vorgesehen. Der jüngste Kompromiss sah vor, dass die Statusfeststellung bei Beschäftigten von Plattformen durch die Behörden der Mitgliedstaaten vorgenommen wird.
Angenommen von den EU-Botschaftern wurde hingegen die politische Einigung zum Net Zero Industry Act. Dieser soll die Ansiedlung von Fabriken erleichtern, in denen grüne Technologien wie Wärmepumpen und Windräder hergestellt werden. tho/lei
Die EU-Kommission leitet eine Untersuchung gegen den chinesischen Eisenbahnhersteller CRRC Qingdao Sifang Locomotive ein. Ziel ist es herauszufinden, ob dieser mithilfe staatlicher Subventionen europäische Hersteller unterbietet. Binnenmarktkommissar Thierry Breton kündigte am Freitag eine Untersuchung gegen die Tochterfirma des chinesischen Staatskonzerns China Railway Rolling Stock Corporation (CRRC) an. Konkret geht es um einen Auftrag für 20 Elektrozüge in Bulgarien. Die Untersuchung könnte zur Folge haben, dass CRRC Qingdao Sifang Locomotive diesen Auftrag nicht bekommen wird.
Die Untersuchung ist die erste im Rahmen der neuen EU-Verordnung gegen binnenmarktverzerrende Subventionen aus dem Ausland. Das Angebot von CRRC Qingdao Sifang Locomotive für die 20 Züge ist laut EU-Kommission nur etwa halb so hoch wie das des spanischen Anbieters Talgo. Brüssel behauptet, dies sei nur durch die Gewährung von Subventionen in Höhe von 1,75 Milliarden Euro durch Peking möglich. Der Auftrag des bulgarischen Transportministeriums liegt bei einem geschätzten Wert von 610 Millionen Euro. Er umfasst laut Kommission auch die Wartung über 15 Jahre sowie die Schulung des Personals.
Bulgarien habe den Vertrag wegen Verdachts auf staatliche Subventionen gemäß der im vergangenen Jahr in Kraft getretenen Verordnung an Brüssel weitergeleitet. Die EU-Kommission hat bis zum 2. Juli Zeit, eine Entscheidung zu treffen. “Es ist für unsere Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliche Sicherheit von entscheidender Bedeutung, sicherzustellen, dass unser EU-Binnenmarkt nicht durch ausländische Subventionen zum Nachteil wettbewerbsfähiger Unternehmen verzerrt wird, die fair handeln”, sagte Breton am Freitag. ari
Es ist ein politischer Sieg für den Rassemblement National (RN): Der frühere Exekutivdirektor der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, hat angekündigt, für die weit rechts stehende Partei in Frankreich bei den Europawahlen zu kandidieren. “Ich bin überzeugt, dass dies die politische Option ist, die den Franzosen die Möglichkeit gibt, die Kontrolle über ihre Zukunft zurückzugewinnen”, sagte Leggeri in einem Interview mit dem Journal du Dimanche (JDD). Er belegt den dritten Platz auf der Liste, die von RN-Parteichef Jordan Bardella angeführt wird.
Der 55-jährige Beamte war von 2015 bis 2022 Direktor von Frontex, als er nach einer Disziplinaruntersuchung zurücktrat. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, OLAF, warf ihm unter anderem schlechtes Management vor. Darüber hinaus beschuldigten ihn NGOs, illegale Pushbacks von Migranten zu tolerieren.
Der RN führt derzeit die Umfragen für diese Europawahl mit rund 30 Prozent an und liegt damit etwa zehn Prozentpunkte vor Renaissance, der Partei, die Emmanuel Macron vertritt und die ihren Spitzenkandidaten noch immer nicht benannt hat. Die Hinzuziehung des hohen Beamten ist ein Zeichen für den Willen der rechtsextremen Partei, ihr Reservoir an Experten und Technokraten zu erweitern, um an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. cst
In Brüssel sprechen die Waffen. In der Nacht von Samstag auf Sonntag wurden in der Brüsseler Gemeinde Schaerbeek Schüsse abgefeuert. Sie folgten auf Schießereien am vergangenen Mittwoch, Dienstag und Sonntag.
Innerhalb eines Jahres, zwischen dem 1. Februar 2023 und dem 14. Februar 2024, gab es 19 Schießereien, wie die belgische Tageszeitung Le Soir errechnet hat. Und wie die Grafik der Zeitung zeigt, beschränken sich die Schießereien nicht auf die Randgebiete der Stadt. Auch beliebte Viertel der europäischen Blase wie Saint-Gilles und Ixelles bleiben nicht verschont. Eine parlamentarische Assistentin berichtet zum Beispiel, dass sie ihren Weg zum Parlament geändert hat, nachdem sie Zeuge von Straßenschlachten im Zusammenhang mit Drogenhandel geworden war. Sie meidet nun die Porte de Hal, auch wenn sich dadurch ihre Fahrzeit verlängert.
“Gestern war es Einschüchterung, heute ist es eine Hinrichtung. Wir befinden uns in einem Konflikt zwischen Gruppen, die ein Viertel kontrollieren wollen“, kommentierte der Bürgermeister von Saint-Gilles, Jean Spinette. Diese Gegend der Hauptstadt wird in der Tat als “Drogen-Drive-in” beschrieben, wo sich Dealer auf den Türschwellen niedergelassen haben. Nach Angaben der örtlichen Behörden ist der Drogenhandel mittlerweile in die Hände des organisierten Verbrechens übergegangen und das Ergebnis eines “nationalen Phänomens”, das mit dem massiven Drogenhandel über den Hafen von Antwerpen und dem zunehmenden Crack-Konsum zusammenhängt.
Denn es gibt nicht nur Schießereien. Die Brüsseler stellen fest, dass sich insbesondere Crack in ihrer Stadt ausbreitet. Hunderte Drogenabhängige und Dealer versammeln sich in mehreren U-Bahn-Stationen, die Polizei zählt mittlerweile jeden Tag Dutzende Vorfälle. Die Sicherheitsbeamten der Brüsseler Verkehrsgesellschaft werden zur Vorsicht gemahnt, seit einer von ihnen vor einigen Wochen mit Ammoniak besprüht wurde, das zur Herstellung von Crack benötigt wird. Ihre Gewerkschaften drohen mit Streiks, wenn die Situation anhält. Die Unternehmensleitung verspricht ihnen Verstärkung und die Einrichtung einer Sondereinheit, die Drogenkonsumenten an spezialisierte Einrichtungen verweisen soll.
Die politische Antwort sei leider nicht auf der Höhe der Gefahr, stellen politische Beobachter in Belgien fest. Schuld daran sei die Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Ebenen der politischen Verantwortung. Anstatt das Problem als eine nationale Herausforderung zu betrachten, die so schnell wie möglich angegangen werden muss, seien “unverantwortliche politische Reflexe” am Werk, so die Tageszeitung Le Soir weiter. “Die Gemeinden beschweren sich über die fehlenden Mittel des Bundes, der sich wiederum über die schlechte Organisation der Gemeinden beschwert, usw.”
Es ist diese Desorganisation, von der kriminelle Organisationen leben. Vielleicht sind es sogar diese Schwachstellen, die sie in Belgien gedeihen lassen, so wie sich auch der Terrorismus oder der Waffenhandel vermehren konnten.
Im Sommer hatte der Direktor der Bundeskriminalpolizei in Brüssel in der Presse gewarnt: “In einigen Teilen der Welt sieht man, dass diese Organisationen die Kontrolle über den Staat übernommen haben, weil dieser sich nicht alle Kräfte mobilisiert haben, um das Phänomen zu bekämpfen. In Belgien sind wir noch nicht in einer solchen Situation, aber wir müssen uns mobilisieren, um sie zu verhindern.” Man mag sich die Frage zu stellen, ob ihn inmitten der Schießereien noch jemand hört.