Das Zuwanderungsrecht soll künftig stark vereinfacht werden: „Bürokratie schreddern“ sei das Gebot der Stunde, verkündete Bundesarbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD). Zwei Millionen offene Stellen seien Rekord, sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Unter anderem auf der reformierten EU-Blue Card ruhen die Hoffnungen der Bundesregierung. Sie wolle „Spielräume der Richtlinie konsequent nutzen“, etwa für Zuwanderer, die „keinen Master, sondern einen Meister“ hätten, so Faeser.
Denn Deutschland braucht dringend Zuwanderung in den Arbeitsmarkt – sowohl aus der EU, aus Europa und aus Drittstaaten. Etwa 400.000 neue Arbeitskräfte jährlich benötige die Bundesrepublik in den kommenden Jahren, hatte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ausgerechnet. Und zwar über die Zahl hinaus, die in Deutschland jedes Jahr aus eigener Kraft dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe.
Vor der Coronapandemie, rechnet Hubertus Heil am Mittwoch vor, habe man etwa 315.000 Zuwanderer gezählt. Neben besserer Nachqualifizierung von Bundesbürgern, die bislang nicht Teil des Arbeitsmarkts waren, soll vor allem die Arbeitsmigration das Erreichen der notwendigen Zahlen möglich machen. Wenn die Babyboomer-Generation in den kommenden Jahren massenhaft in den Ruhestand geht, muss das neue System laufen.
Koalition will weniger Hürden für Zuwanderer
Eine große Verbesserung für Akademiker und jene mit nachweisbarem, formalem Berufsabschluss sei die deutsche Neuregelung, sagt Panu Poutvaraa vom Münchener ifo-Institut. Wer einen Hochschulabschluss vorweisen kann, soll künftig nicht mehr an dieses Tätigkeitsfeld gebunden sein, sondern grundsätzlich jeder qualifizierten Beschäftigung nachgehen dürfen.
Wer einen formalen Berufsabschluss hat, soll künftig erst einreisen und die Anerkennung dann nachholen dürfen. Der ifo-Arbeitsmarktökonom wünscht sich aber mehr: „Es wäre sinnvoll, zusätzlich auch Menschen mit Berufserfahrung, aber ohne formalen Nachweis darüber, die Einreise zum Zwecke der längerfristigen Arbeitsaufnahme zu ermöglichen“, findet Pana Poutvaraa. „Hierbei sollte man sich auf die Einschätzung der potenziellen Arbeitgeber verlassen.“
Arbeitskräftemangel paneuropäisches Problem
Allerdings herrscht auch in Ost- und Mitteleuropa teils Fachkräftemangel. Der rumänische EVP-Abgeordnete Siegfried Mureșan begrüßt das deutsche Gesetz zwar: „Wenn es richtig umgesetzt wird, könnte das Gesetz dazu beitragen, die immer noch hohe Arbeitslosigkeit unter jüngeren Fachkräften in Südeuropa abzubauen“. Er mahnt aber auch: „Fachkräfte dürfen nur da abgeworben werden, wo sie gerade am Arbeitsmarkt nicht gebraucht werden“. Doch darauf nimmt der deutsche Vorschlag wenig Rücksicht, angesichts der eigenen Mangelerscheinungen.
„An vielen Stellen haben wir mittlerweile nicht nur Fachkräftemangel, sondern Arbeitskräftemangel“, sagt der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke. „Diese Entwicklung gilt nicht nur für Deutschland, sondern an vielen Stellen in Europa.“ Denn große Teile Europas stecken inmitten eines demografischen Wandels. Insbesondere der Süden und Osten altern rapide. Ungarn, Italien, Finnland und Estland verlieren laut Vorausberechnungen von Eurostat vor 2100 bis zu 20 Prozent ihrer heutigen Einwohnerzahl. Kroatien, Bulgarien, Rumänien und Litauen könnten demnach mehr als 30 Prozent ihrer Einwohner einbüßen. Einsam an der Spitze steht Lettland: Dort dürften bis 2100 43,7 Prozent weniger Einwohner leben, berechnet Eurostat.
Die EU-Bürger werden zudem älter: Für Polen etwa erwartet Eurostat, dass am Ende des laufenden Jahrhunderts schon jeder sechste Einwohner über 80 Jahre alt ist, und damit heute bereits geboren. Das Reservoir für die Binnenmigration in der EU ist also in Kürze fast so leer wie die norditalienischen Wasserspeicher.
Luxemburg stellt eigenes Vorhaben vor
Kein Wunder, dass auch andere Mitgliedstaaten verstärkt Arbeitskräfte suchen und ebenfalls die neuen EU-Regeln dafür anwenden wollen. Luxemburgs Regierung etwa will an diesem Freitag ein Gesetz vorstellen, bei dem in definierten Mangelberufen binnen fünf Tagen eine Arbeitserlaubnis für Drittstaatsangehörige erteilt werden soll – ein Tempo, das mit der deutschen Neuregelung nicht erzielt werden wird. Luxemburg will mitgehenden Partnern zudem ebenfalls eine Arbeitserlaubnis erteilen, kündigte Arbeitsminister Georges Engel auf TableMedia-Anfrage an.
Für den CDU-Politiker Dennis Radtke müsste das Problem daher europäisch adressiert werden. „Natürlich stehen wir auch untereinander im Wettbewerb um Arbeitskräfte, was gemeinsames Handeln deutlich beeinträchtigt“, beschreibt Radtke das Problem. Folgerichtig sei, dass die EU-Kommission das Jahr 2023 zum European Year of Skills deklariert habe.
Unmut in Nachbarstaaten
Nach dem Willen der Bundesregierung soll die Bundesagentur für Arbeit jährlich allein 50.000 Arbeitsgenehmigungen für die Westbalkan-Staaten ausstellen. Ob Deutschland überhaupt seine Zielzahlen erreichen kann, ist aber fraglich.
Unmut löst das Vorgehen in anderen Mitgliedstaaten dennoch aus. „Indem Berlin Fachkräfte von außerhalb der EU anlockt, löst die Bundesregierung vielleicht ein Problem für sich selbst. Sie schafft aber eines für die anderen“, sagt ein Diplomat aus einem Nachbarstaat, der sich eine bessere Koordinierung gewünscht hätte. Schließlich handele es sich bei den deutschen Visa um Schengen-Visa, die den Zugang zu Volkswirtschaften und Gesellschaften ermöglichen, in denen die Diskussion grundlegend anders verlaufe.
Deutschland verquickt Einwanderung und Asyl
Denn Deutschland agiert ganz gezielt auf eigene Rechnung: Die Anwerbung von Arbeitskräften soll nur in solchen Staaten möglich sein, mit denen ein Rückführungsabkommen besteht. Damit soll der Druck vor allem auf Länder erhöht werden, die hoffen, dass Arbeitsmigranten aus ihren Ländern Geld in die Heimatländer übersenden, bislang aber kein Interesse an der Rücknahme abgelehnter Asylsuchender hatten.
Solche Abkommen bestehen etwa mit Vietnam, Nordmazedonien, Serbien, Kasachstan, Guinea, Georgien, Algerien und Armenien. Die Bundesregierung will hier aber weitere Abkommen zeitnah erreichen. Die Bundesinnenministerin steht unter Erfolgsdruck vor den Landtagswahlen im Oktober in Bayern und Hessen, wo Nancy Faeser als Spitzenkandidatin für die SPD selbst antritt.
Auch hier wäre anderen Mitgliedstaaten an gemeinsamen Lösungen gelegen – doch an einem wirklich gemeinsamen Vorgehen zeigten die zuständigen Fachkräfte der Bundesregierung laut Diplomatenkreisen wenig Interesse. Derzeit hakt es im Rat noch an einer gemeinsamen Positionierung zum künftigen Migrationsrecht. (mit Markus Grabitz, Till Hoppe und Charlotte Wirth)