Table.Briefing: ESG

SBTi: Streit um Kompensation für Scope 3-Emissionen + Finanzierung von Wasserstoff-Kernnetz

Liebe Leserin, lieber Leser,

es gibt Streit in der Science Based Targets Initiative: Das Kuratorium der Organisation hat am Dienstag angekündigt, für Ziele zur CO₂-Reduktion in einigen Fällen künftig Kompensation zu erlauben. Mitarbeitende und Berater sind empört und fordern nun in einem Brief den Rücktritt der Verantwortlichen. Die Details lesen Sie in der News von Nicolas Heronymus.

Wie soll der Bau des Wasserstoff-Kernnetzes finanziert werden? Die Fraktionen der Ampel-Koalition feierten die Regelungen zu einer privatwirtschaftlichen Finanzierung bereits als großen Wurf. Warum die Gas-Fernleitungsbetreiber, die das Netz bauen sollen, sich weniger begeistert zeigen, erklärt Alex Veit in seiner Analyse.

In seinem Urteil zur Klimaklage gegen die Schweiz hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Klimaschutzpflicht der Staaten betont. In Deutschland könnte das laut Experten die Abschaffung der Sektorziele aus dem Klimaschutzgesetz erschweren – und Klimaklagen könnten weit über Europa hinaus gestärkt werden. Alexandra Endres hat sich die möglichen Folgen genauer angesehen.

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Leonie Düngefeld
Bild von Leonie  Düngefeld

Analyse

Zweifel an privater Finanzierung des Wasserstoff-Kernnetzes 

Wasserstoff-Tank: Neben Leitungen für Wasserstoff fehlt es an Herstellungskapazitäten und an Nachfrage.

Eine Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes an diesem Freitag im Bundestag soll eigentlich den Weg frei machen für den Bau des Wasserstoff-Kernnetzes. Allerdings zieren sich die vorgesehenen Bauherren: Die Gas-Fernleitungsnetzbetreiber (FNB) sind unschlüssig, ob das von der Ampel-Koalition vorgesehene Finanzierungsmodell ihre Investitionsrisiken ausreichend minimiert.

Bis zum 21. Mai sollen die FNB ihren Antrag zum Bau des Kernnetzes bei der Bundesnetzagentur einreichen. Erst dann wird sich zeigen, ob die in dem Gesetz vorgesehenen Finanzierungsmodalitäten genügend Anreize für einen privatwirtschaftlichen Bau des Wasserstoff-Kernnetzes bieten. 

Am vergangenen Freitag noch hatten sich Vertreter der Regierungskoalitionen euphorisch über ihre interne Einigung über die Gesetzesänderung geäußert. Sie versprechen sich von dem Ansatz einen auch im internationalen Vergleich schnellen Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur.

Das Gesetz sieht ein Amortisationskonto vor, durch das die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) für mehr als drei Viertel der Investitionsrisiken der Netzbetreiber bürgt. Damit sollen die erheblichen Unsicherheiten des neu zu schaffenden Markts für grünen Wasserstoff abgefedert werden.

Denn bislang fehlt nicht nur die Leitungsinfrastruktur, sondern auch die erwartete Nachfrage durch die Industrie und Stromkraftwerke. Nicht zuletzt fehlt es auch an Herstellungskapazitäten für das Produkt selbst.

Fernleitungsnetzbetreiter rechnen noch 

Durch das Amortisationskonto sollen die Netzbetreiber daher anfängliche Verluste ausgeglichen bekommen, die dann nach erfolgter Marktbildung aus den Gebühren der Verbraucher zurückgezahlt werden. Die FNB haben diesem Modell im Grundsatz zugestimmt. Auch an der vorgesehenen Eigenkapitalrendite von 6,7 Prozent, die etwas unter der für Stromnetzbetreiber liegt, äußerten sie keine öffentliche Kritik.

Zentrales Bedenken auf Seiten der FNB stellt der Selbstbehalt von maximal 24 Prozent dar, mit dem sie selbst haften würden, sollte der Wasserstoffmarkt scheitern. Es werde von allen gerechnet und heftig nachgedacht, heißt es dazu bei einem der großen Netzbetreiber, der bis zu einem Fünftel der insgesamt 20 Milliarden Euro Aufbaukosten des Kernnetzes investieren könnte.

Auch der Verband FNB Gas hinterfragt die Kapitalmarktfähigkeit des Finanzierungsmodells. “Die Fernleitungsnetzbetreiber wollen das Wasserstoff-Kernnetz bauen”, bekräftigte FNB Gas- Vorstandsvorsitzender Thomas Gößmann. Gemeinsam mit Eigentümern und Fremdkapitalgebern werde man aber prüfen müssen, ob der Zusammenschluss der FNB unter diesen Bedingungen einen finalen Kernnetz-Antrag bei der Bundesnetzagentur einreichen würde.

Grüne Sprecherin: Staat kann Wasserstoffnetz auch selbst organisieren 

Ingrid Nestle, die für die grüne Fraktion die Verhandlungen führte, zeigte sich vor der Abstimmung im Bundestag jedoch irritiert über das Vorgehen der Unternehmen. “Die FNB hatten gegenüber der Bundesregierung bereits eingeschlagen”, sagte die grüne Sprecherin für Klimaschutz und Energie gegenüber Journalisten. “Dann wurden von ihnen weitere Wünsche an uns im Bundestag herangetragen. Wir sind ihnen noch etwas entgegengekommen, haben aber auch die Interessen von Steuerzahlern und Wasserstoffkunden im Blick.” Immerhin habe der Bund, anders als im ersten Gesetzentwurf, nun die Risiken bei der Pleite einzelner Netzbetreiber selbst übernommen und das Gesetz so verbessert.

Für den Fall, dass die FNB sich gegen den Kernnetz-Bau entscheiden, hat Nestle von den Grünen bereits einen Plan B parat: “Sonst plant die Bundesnetzagentur das Netz und sucht Interessenten dafür. Dann bauen nicht die Fernnetzbetreiber, sondern andere.” Auch der staatlich organisierte Bau von Teilstücken sei möglich

Offensichtliche Kandidaten für den Bau eines Netzes in staatlicher Hand wären die Fernnetzbetreiber Gascade und NEL, die zusammen gegenwärtig etwa ein Zehntel des deutschen Gasfernnetzes betreiben. Beide Firmen sollen bald vollständig der SEFE gehören, die 2022 aus der Verstaatlichung von Gazprom Germania entstanden ist. Der Übernahme aller Anteile von Gascade und NEL muss die EU-Kommission fusionskontrollrechtlich noch zustimmen. 

Auch andere FNB befinden sich in öffentlicher Eigentümerschaft. Unter den zwölf Mitgliedern von FNB Gas finden sich nur zwei in der Hand rein privaten Kapitals. Alle anderen gehören ganz oder teilweise öffentlichen Eigentümern, insbesondere Ländern und Kommunen. Drei der Gesellschaften gehören mindestens zum Teil öffentlichen Eigentümern in Belgien, den Niederlanden und Frankreich. Zwar arbeiten diese Gesellschaften alle gewinnorientiert. Politische Anstöße für den schnellen Bau des für energieintensive Industrien wichtigen Wasserstoff-Kernnetzes könnten aber auch bei ihnen eingehen. 

Opposition ebenfalls skeptisch 

Für Ralph Lenkert, Vertreter der Gruppe der Linken im Energie- und Klimaausschuss, wäre es besser, “wenn diese wichtige Infrastruktur vom Staat selbst gebaut und betrieben werden würde.” Wesentlich sei nun aber, dass das Netz überhaupt gebaut werde. “Das Wasserstoff-Kernnetz ist lebensnotwendig für unsere Wirtschaft. Die Sorge ist, dass die Anreize für die Finanzierung nun nicht reichen werden.” 

Die Unionsfraktionen fordern bereits eine Überprüfung der Finanzierungsregelungen. In einem Entschließungsantrag, den sie in den Bundestag eingebracht haben, fordern sie die Bundesregierung auf, “zu evaluieren, ob das Zusammenspiel von Höhe des Selbstbehalts und Höhe der Eigenkapitalverzinsung” genügend Investitionssicherheit für einen zügigen privaten Netzaufbau biete.

Ihr energie- und klimapolitischer Sprecher Andreas Jung sieht das Modell des Amortisationskontos als gangbar an. “Aber das Gesetz muss sich konkret an der Frage beweisen, ob es Fernnetzbetreiber und ihre Kapitalgeber tatsächlich überzeugt. Statt Euphorie macht sich dort Skepsis breit”, sagte er zu Table.Briefings.

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EGMR-Urteil dürfte Klimaklagen auch in Deutschland stärken

Die Schweizer Klima-Seniorinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Das Klimaschutz-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) dürfte Klimaklagen weltweit einen “enormen Auftrieb” verschaffen – “in Europa und weit darüber hinaus, von Südkorea bis Australien, Kanada und Brasilien”. Damit rechnen zumindest die im Climate Litigation Network (CLN) zusammengeschlossenen Anwältinnen und Anwälte, die selbst in verschiedenen Ländern der Welt auf dem Klageweg mehr Klimaschutz durchsetzen wollen.

Der EGMR hatte am Dienstag geurteilt, dass es ein Menschenrecht auf Klimaschutz gibt, und dass Staaten verpflichtet sind, dieses Recht zu schützen. Daraus lässt sich eine staatliche Verpflichtung auf ausreichend Klimaschutz ableiten. Zudem räumt der EGMR durch sein Urteil Verbänden die Möglichkeit ein, das Menschenrecht auf Klimaschutz vor Gericht geltend zu machen. Das könnte in der deutschen Rechtsprechung, in der Grundrechte bisher nur von Einzelpersonen eingeklagt werden können, noch eine besondere Rolle spielen.

Klagende in EU-Ländern, Kanada und Südkorea sehen sich gestärkt

In einer schriftlichen Reaktion von CLN auf das Urteil kündigen Vertreterinnen und Vertreter von Klagen aus Schweden, Tschechien, Italien, Kanada und Südkorea an, die Argumente des EGMR in ihre aktuellen Fälle einfließen zu lassen. “Wir erwarten, dass die tschechischen Gerichte im Einklang mit den Schlussfolgerungen des Europäischen Gerichts handeln”, sagte beispielsweise David Chytil von der Organisation Czech Climate Litigation. Das südkoreanische Verfassungsgericht ist zwar formell nicht an die Rechtsprechung des EGMR gebunden, aber auch dort kann die Argumentation aufgegriffen werden. Das Urteil werde “von großer Bedeutung” sein, kündigte Sejong Youn an, der die Klage dort als Anwalt vertritt. Die erste Anhörung in dem Fall soll am 23. April stattfinden.

Darüber hinaus spricht CLN dem Urteil auch politische Bedeutung zu: Wenn die europäischen Regierungen im Juni ihre Klimapläne für die Zeit bis 2030 veröffentlichen müssten, dann richteten sich alle Augen auf sie, “damit sie sich engagieren, im Einklang mit der Wissenschaft handeln und unsere Menschenrechte in der Klimakrise schützen.”

Starke Schutzpflicht, aber Spielraum für die nationale Klimapolitik

Im Detail legt der Gerichtshof fest, dass Einzelpersonen einen “wirksamen Schutz durch die staatlichen Behörden vor den schwerwiegenden negativen Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Wohlbefinden und ihre Lebensqualität” beanspruchen können, soweit sie durch die Auswirkungen des Klimawandels beeinträchtigt sind.

Anders als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stärkt der EGMR in seinem Urteil das Schutzpflicht-Argument ganz direkt. Das BVerfG hatte in seinem wegweisenden Urteil 2021 zwar ebenfalls eine grundsätzliche Schutzpflicht des Staates bejaht, aber die staatliche Verpflichtung zum Klimaschutz dann mit den Freiheitsrechten künftiger Generationen begründet. Zwar lässt der EGMR den Staaten einen breiten Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung des Schutzes – aber sie müssen dabei gewisse Grenzen beachten, also beispielsweise Emissionsreduktionsziele festlegen, geeignete Vorschriften zu ihrer Erreichung erlassen und dafür sorgen, dass die Umsetzung überwacht wird. Damit könnte er auch bereits laufenden deutschen Klimaklagen Rückenwind verschaffen – und neuen Klagen den Weg bereiten.

Neue Klagen in Deutschland möglich

So erhofft sich beispielsweise Remo Klinger, der eine deutsche Menschenrechtsbeschwerde vor dem EGMR vertritt, positive Auswirkungen für seinen eigenen Fall (Table.Briefings berichtete).

Felix Ekardt, Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig, kündigt per Mail an, das EGMR-Urteil “in Kürze mit zwei weiteren Klagen” aufzugreifen. Ekardt hatte als Anwalt eine der deutschen Verfassungsbeschwerden entwickelt und vertreten, die 2021 zum Klimabeschluss des BVerfG führten. Inhaltlich gehe der EGMR eher weiter als damals das oberste deutsche Gericht, schreibt Ekardt, “insbesondere indem er als menschenrechtliche Grenze für den Klimawandel eindeutig 1,5 Grad benennt“. Das erhöht aus seiner Sicht auch den innenpolitischen Druck für mehr Klimaschutz: Weil das deutsche Treibhausgas-Budget für 1,5 Grad nach IPCC-Berechnungen bereits erschöpft sei, müssten Bundesregierung und Bundestag “jetzt massiv nachlegen”.

Einfluss auf die Novelle des KSG

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) ist noch dabei, das EGMR-Urteil zu prüfen. Zunächst einmal habe es “politische Auswirkungen auf die Debatte um die Novellierung des deutschen Klimaschutzgesetzes”, sagt Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kraenner. “Angesichts dieser sehr interessanten menschenrechtlichen Begründung für einen ehrgeizigen Klimaschutz sollte man sich genau überlegen, ob man das Klimaschutzgesetz wirklich aufweichen sollte, oder ob das nicht ein Signal in die andere Richtung ist. Das haben wir der Koalition auch so kommuniziert.”

Die DUH unterstützt neben der Beschwerde vor dem EGMR, die von Remo Klinger vertreten wird, in Deutschland weitere Klimaklagen auf verschiedenen Ebenen des Rechtssystems. Sollten die Sektorziele tatsächlich aus dem Klimaschutzgesetz gestrichen werden, wie es die Bundesregierung derzeit vorsieht, “wird das natürlich wieder vor dem Bundesverfassungsgericht landen”, sagt Müller-Kraenner. Er sieht sich dabei durch den EGMR-Beschluss gestärkt. Auch die Umweltjuristin Roda Verheyen, die an den Verfahren vor dem EGMR auf der Seite der Beschwerdeführenden beteiligt war, erwartet in Deutschland neue Klagen, “vor allem wenn das Klimaschutzgesetz geändert wird”.

Schutzpflichten stärker prüfen – Recht auf Verbandsklage

Christian Calliess, Umwelt- und Europarechtsexperte an der FU Berlin, sagt zum europäischen Urteil: “Der EGMR geht einen überzeugenden Weg. Klimakläger könnten jetzt argumentieren, dass die grundrechtlichen Schutzpflichten des deutschen Staats vor Gericht mit Blick auf das gesetzgeberische Schutzkonzept strenger geprüft werden müssen.”

Dass das BVerfG von seiner bisherigen Rechtsprechung abweicht und die Schutzpflichten ebenfalls stärker betont, erwartet Calliess aber nicht. “Das Bundesverfassungsgericht wird seinen Ansatz im Klimabeschluss, der über die sogenannte intertemporale Freiheitssicherung zum gleichen Ergebnis kommt, nicht korrigieren. Aber die Verwaltungsgerichte könnten die Schutzpflichten am überzeugenden Maßstab des EGMR prüfen und so neue Impulse setzen.”

Als “revolutionär” wertet Calliess die Forderung nach Ermöglichung einer Verbandsklage durch den EGMR. Sie könnte dazu führen, dass auch der EuGH in Zukunft Verbandsklagen zulassen müsse. “Der effektive Rechtsschutz zum EuGH könnte insoweit geöffnet werden. Die Debatte darüber wird kommen.”

In Deutschland sind bisher nur Einzelpersonen berechtigt, ihre Grundrechte vor dem Bundesverfassungsgericht einzuklagen – anders als in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, wo umweltrechtliche Verbandsklagen etabliert sind. Auch darüber könnte die EGMR-Entscheidung eine Debatte auslösen, sagt Calliess. Die DUH jedenfalls denkt bereits darüber nach, gerichtlich prüfen zu lassen, ob sie nun als Verband auch in grundrechtlichen Fragen klageberechtigt ist.

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News

Science Based Targets Initiative: Streit um Kompensation für Scope 3-Emissionen

Mitarbeitende der Science Based Targets Initiative (SBTi) reagieren empört auf eine Ankündigung des Kuratoriums der Organisation vom vergangenen Dienstag. Demnach wolle die Initiative künftig CO₂-Zertifikate für die Minderung von indirekten Emissionen (Scope 3) akzeptieren. Mittwoch schickte eine Gruppe von Angestellten einen Brief an das Kuratorium und den CEO, der Table.Briefings vorliegt. Sie fordern darin den Rücktritt des CEO und der Kuratoriumsmitglieder, die der Entscheidung zugestimmt haben. Zudem solle die Ankündigung sofort zurückgenommen und korrigiert werden, schreiben sie.

“Wir sind zutiefst besorgt über die jüngste Ankündigung des Kuratoriums, die gegen unsere Governance verstößt sowie die Werte und Grundsätze der SBTi grundlegend missachtet“, heißt es im Brief. Es gehe nun darum, “den schwerwiegenden Reputationsschaden” zu mindern, der durch die Entscheidung entstanden sei. Die Mitarbeiter werfen dem Kuratorium vor, den Technischen Rat – der für Änderungen an den Standards zuständig ist – weder informiert noch konsultiert zu haben. Ebenso wenig habe der Rat der Entscheidung zugestimmt, die “faktisch eine Änderung der SBTi-Normen” darstelle.

Wirkung von Zertifikaten für Klimaschutz fraglich

Kritik komme auch von Mitgliedern des ständigen technischen Beratungsgremiums, das vor der Ankündigung ebenfalls nicht konsultiert worden sei, heißt es. Deren Kritik richtet sich aber nicht nur auf die Missachtung von Verfahrensweisen innerhalb der Organisation. Sie bezieht sich auch auf die Entscheidung an sich: Zertifikate für die Dekarbonisierung von Unternehmen zu nutzen, ist Gegenstand intensiver Debatten. Denn es ist unklar, wie effektiv die Klimaschutzprojekte tatsächlich sind, die Unternehmen mit Zertifikaten zur Kompensation ihrer Emissionen finanzieren. Recherchen, unter anderem von der Zeit, bekräftigten vergangenes Jahr die Zweifel.

Gleichzeitig gibt es Kritik an den Bewertungsmaßstäben der Science Based Targets Initiative. Der kürzlich veröffentlichte “Corporate Climate Responsibility Monitor” vom New Climate Institute kommt zu dem Ergebnis, dass sich bei SBTi im Vergleich mit anderen Initiativen “ein erhebliches Maß an Nachsicht bei den derzeitigen Validierungspraktiken” zeige. Würde die SBTi die Kompensation von Scope 3-Emissionen erlauben, heißt es dort weiter, würde dies “die SBTi-Scope-3-Ziele der Unternehmen weiter schwächen, die in vielen Fällen bereits unzureichend sind, um mit den Pfaden für 1,5 Grad übereinzustimmen”.

Die Science Based Targets Initiative validiert die Ziele von Unternehmen für die Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen. Sie gelten als wissenschaftlich fundiert, wenn sie mit den Zielen des Pariser Klimaabkommens vereinbar sind. Laut SBTi haben über 5.000 Unternehmen weltweit “wissenschaftlich fundierte Ziele”. Ins Leben gerufen wurde sie 2015 vom Carbon Disclosure Project, dem UN Global Compact, dem World Resources Institute und dem World Wide Fund For Nature. nh

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Zara, H&M: NGO prangert Verstöße bei Zertifizierung von Baumwolle an

Die internationalen Modeunternehmen H&M und Zara verwenden für ihre Textilien Baumwolle, die mit Verstößen gegen Umwelt- und Menschenrechtsstandards in Brasilien in Verbindung gebracht wird. Das hat eine investigative Recherche der britischen NGO Earthsight ergeben. Sie verfolgte dafür nach eigenen Angaben rund 800.000 Tonnen Baumwolle zweier brasilianischer Produzenten.

Betroffen sind die Exporte von zwei der größten brasilianischen Agrarunternehmen, SLC Agrícola und der Horita-Gruppe. Sie bauen Baumwolle und weitere Produkte im westlichen Bundesstaat Bahia im Cerrado an, einem für die Artenvielfalt und den Klimaschutz bedeutenden Ökosystem. Die Abholzung dort hat laut Angaben der brasilianischen Raumfahrtbehörde im vergangenen Jahr um 43 Prozent zugenommen.

Den Agrarunternehmen werden bereits seit Langem illegale Entwaldung, Umweltverstöße, Verwicklungen in Korruption, Gewalt gegen indigene Gemeinschaften und Landraub vorgeworfen.

Verstöße bei Zertifizierung nicht aufgedeckt

Laut der Recherche exportierten die Horita Group und SLC Agrícola zwischen 2014 und 2023 mehr als 1,5 Millionen Tonnen Baumwolle aus Bahia direkt ins Ausland. Acht asiatische Bekleidungshersteller seien ermittelt worden, die diese Baumwolle verwenden und H&M und Zara belieferten.

Die untersuchte Baumwolle in den Lieferketten von H&M und Zara wurde laut dem Bericht von dem weltweit größten Baumwollzertifizierungssystem Better Cotton als ethisch einwandfrei zertifiziert. Die von SLC und Horita begangenen Verstöße seien nicht aufgedeckt worden.

Cavazzini: “Gesetz für entwaldungsfreie Lieferketten ausweiten”

“Da der Modesektor die Nachhaltigkeit und Legalität seiner Baumwolllieferketten nicht überwacht und sicherstellt, müssen die Regierungen der wohlhabenden Verbrauchermärkte sie regulieren”, kommentierte Sam Lawson, Direktor von Earthsight. “Sind die Regeln erst einmal in Kraft, müssen sie strikt durchgesetzt werden.”

Anna Cavazzini, Europaabgeordnete von Bündnis 90/ Die Grünen, sagte: “Die Enthüllungen von Earthsight sind alarmierend. Sie demonstrieren erneut, dass Produktion für den EU-Markt zur Zerstörung des wichtigen brasilianischen Ökosystems Cerrado beiträgt.” Sie forderte, das Gesetz für entwaldungsfreie Lieferketten auf Ökosysteme wie den Cerrado sowie auf Baumwolle auszuweiten. Bei der Revision der EU-Verordnung, die Ende des Jahres in Kraft tritt, werde sie sich dafür einsetzen, erklärte sie. leo

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Heil will sich für internationale Lieferketten-Regeln einsetzen

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil will nach der Einigung zum EU-Lieferkettengesetz (CSDDD) die Verhandlungen über ein UN-Abkommen zu Wirtschaft und Menschenrechten (“UN-Treaty”) weiter vorantreiben, das unternehmerische Sorgfaltspflichten auch auf globaler Ebene etablieren soll. Das sagte er bei einer Veranstaltung zum Thema Rohstofflieferketten in Berlin.

“Als Europäische Union müssen wir uns mit Nachdruck an den Verhandlungen im UN Treaty-Prozess beteiligen”, betonte er. “Mit dem europäischen Recht haben wir nun die Möglichkeit, unsere Expertise einzubringen, um auch international für ein Level Playing Field zu kämpfen.”

Im UN-Menschenrechtsrat wurde 2014 eine zwischenstaatliche Arbeitsgruppe eingerichtet, die ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen für den Schutz der Menschenrechte bei Unternehmenstätigkeiten ausarbeiten soll. Seitdem haben neun Treffen der Arbeitsgruppe stattgefunden; die zehnte Sitzung ist für den 21. bis 25. Oktober geplant.

Schulze: “Deutsche Unternehmen haben Vorteil”

Bei einem gemeinsamen Statement mit Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze betonte Heil, die EU-Lieferkettenrichtlinie sei “ein Meilenstein” im Kampf für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen vieler Millionen Menschen in den Lieferketten. Nach der formalen Zustimmung des EU-Parlaments, die für Ende April geplant ist, muss die Richtlinie innerhalb von zwei Jahren in nationales Recht umgesetzt werden.

Auch Schulze erklärte, sie setze sich dafür ein, dass die Richtlinie vom EU-Parlament angenommen und zügig umgesetzt werde. Sie reagierte auch auf die Forderung von FDP und BDI, das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) zu entschärfen: “Gerade für deutsche Unternehmen ist es gut, wenn sie schon jetzt hohe Standards an Sorgfaltspflichten einhalten”, erklärte sie. “Damit haben sie einen echten Vorteil gegenüber europäischen Mitbewerbern, sobald die EU-Richtlinie in Kraft tritt. Und sie investieren schon heute in das Geschäftsmodell von morgen.” leo

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UN-Klimachef Stiell: “Zwei Jahre, um die Welt zu retten”

Eine Woche vor der Frühjahrstagung von Weltbank und Währungsfonds IWF hat Simon Stiell, Exekutivdirektor des UN-Klimaprogramms UN Climate Change, mit drastischen Worten zu ernsthaften Schritten im Klimaschutz gemahnt. Es blieben noch “zwei Jahre, um die Welt zu retten”, sagte Stiell bei einer Veranstaltung in London. Denn die nächsten Monate seien “zentral, um den Planeten zu bewahren.”

Für Stiell geht es vor allem darum, mit einem “Quantensprung” die drängenden Finanzfragen beim Klimaschutz zu lösen, die Gefahren der aktuellen Klimakrise durch Extremwetter abzuwehren und die anstehenden nationalen Klimapläne (Nationally determined contributions, NDCs) zu grünen Investmentplänen zu machen. Denn die bisherigen NDCs “werden bis 2030 kaum Emissionen senken”, so der UN-Klimachef – doch diese müssten im gleichen Zeitraum für das 1,5-Grad-Ziel um fast die Hälfte sinken.

Neue Jobs, bessere Luft, Wirtschaftswachstum und Geschlechtergerechtigkeit winken laut Stiell als Belohnung für ein Umschwenken. Dafür aber müssten die Länder das “Kryptonit” der Ungleichheit bekämpfen und deutlich mehr Geld in die Hand nehmen. Bei der Weltbanktagung sollten sie daher mehr günstige Kredite für die ärmsten Länder versprechen, neue Quellen der Finanzierung auftun, die Entwicklungsbanken reformieren und Schulden der armen Länder erlassen. Die Verantwortung dafür sieht Stiell vor allem bei den G20-Staaten, die den größten finanziellen Hebel hätten und 80 Prozent der Emissionen ausmachten. bpo

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Klimaschonendes Wohnen: Wolfsburg bekommt zwei “Woodscraper”

In Wolfsburg werden ab Mai zwei zwölfstöckige Hochhäuser aus Holz gebaut. Die sogenannten Woodscraper bestehen aus zirkulären Materialen und sollen ein bezahlbares, gesundes und zugleich nachhaltiges Wohnen ermöglichen. 102 der 106 Wohnungen sind barrierefrei. Nach derzeitiger Planung können die ersten Bewohner im Jahr 2026 einziehen.

Die Baugenehmigung für die Woodscraper wurde diese Woche von Oberbürgermeister Dennis Weilmann überreicht. Bauherrin ist die in Bochum ansässige GLS-Bank. Christoph Weber, Geschäftsführer der Projektgesellschaft, sprach von einem “Leuchtturmprojekt für klimaschonendes und soziales Wohnen”. Mit von der Partie sind die Projektentwickler der Unternehmensgruppe Krebs (UGK) und das Architekturbüro Partner und Partner aus Berlin.

Über ihren gesamten Lebenszyklus sollen die Woodscraper mehr CO₂ binden als emittieren. Ziel sei es, die Baumaterialien langfristig in einem Verwendungskreislauf zu halten, statt Müll zu produzieren. “Wir wollen ein Gebäude, das bei Bedarf einfach umgebaut werden kann und das sich am Ende seiner Lebensdauer in seine einzelnen Elemente zerlegen lässt”, erklärt Klaus Günter, Geschäftsführer von Partner und Partner.

“Bestandteil unserer Strategie ist, dass die Wohnungen nachhaltig und bezahlbar sind”

Mit vorelementierten Massivholzteilen und einer regenerativen Energieversorgung werden die beiden Woodscraper laut Projektgesellschaft die ersten Häuser dieser Art in Deutschland sein.

Das Bauprojekt wird von einer Forschungsgruppe begleitet, die Erfahrungen und Erkenntnisse zur zirkulären Holzbauweise sammelt, um die Nachahmung solcher Projekte zu vereinfachen. Zur Klimaschutzstrategie der beiden Wohnhäuser zählen außerdem begrünte Dächer, Photovoltaik, Geothermie und die Wärmerückgewinnung aus Sanitär-Abluft.

“Klimaschutz muss sozial gerecht sein. Das bedeutet für den Wohnsektor: Neue Gebäude müssen soziale Vielfalt unterstützen und einen sicheren Lebensraum bieten. Fester Bestandteil unserer Strategie ist daher, dass die Wohnungen in den Woodscrapern nachhaltig und bezahlbar sind”, sagt André Meyer, Leiter des Bereichs Nachhaltige Immobilien bei der GLS-Bank. ch

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Autowerkstätten: Nachhaltigkeit in Deutschland weniger wichtig als in Nachbarländern

Nur jeder zweite Autofahrer in Deutschland achtet bei der Wahl seiner Werkstatt auf Nachhaltigkeit. Das ist das Ergebnis einer Studie, die der Automobilzulieferer Continental am Mittwoch vorgestellt hat. Für die Studie wurden Autofahrer in Deutschland, Frankreich, Italien, Polen und Spanien befragt.

Im Durchschnitt war es 72 Prozent der Befragten ziemlich oder sehr wichtig, dass ihre Werkstatt nachhaltig arbeitet. Am stärksten ausgeprägt war das Umweltbewusstsein in Italien (84 Prozent), gefolgt von Spanien (81 Prozent), Polen (73 Prozent) und Frankreich (70 Prozent). Mit 51 Prozent lagen die deutschen Autofahrer mit deutlichem Abstand auf dem letzten Platz.

Ein Teil der Autofahrer legt nicht nur Wert auf Nachhaltigkeit, sondern handelt bereits danach. Mehr als ein Drittel der Befragten (38 Prozent) wählen ihre Werkstatt immer oder meistens nach diesem Kriterium aus. Betrachtet man nur die Ergebnisse aus Frankreich, Italien, Polen und Spanien, sind es sogar 42 Prozent. In Deutschland sind es nur 25 Prozent.

Auf die Frage, wie sich die Werkstätten in Deutschland mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinandersetzen, nennen Inhaber oder Werkstattleiter am häufigsten das Recycling von Teilen, Verpackungen und Flüssigkeiten (25 Prozent), die Abfallvermeidung und -entsorgung (13 Prozent) sowie das Energiesparen (11 Prozent). Der Einsatz umweltfreundlicher Produkte hat in Deutschland mit acht Prozent eine vergleichsweise geringe Bedeutung. Die Werkstätten in Frankreich (23 Prozent) und Italien (24 Prozent) sind hier schon weiter.

“Für freie Werkstätten in Deutschland bedeutet Nachhaltigkeit derzeit vor allem, gesetzliche Vorgaben zu erfüllen und Energie und Abfall zu sparen”, sagt Enno Straten, Leiter des Geschäftssegments Automotive Aftermarket bei Continental. Der Autoservice selbst und die dabei verwendeten Produkte stünden weniger im Fokus. Dieser Markt entwickle sich gerade erst, so Straten. ch

  • Nachhaltigkeit

Presseschau

Eine Festung gegen den rechten Kulturkampf Süddeutsche Zeitung
Der Chef der amerikanischen Großbank JP Morgan, Jamie Dimon, habe in seinem diesjährigen Aktionärsbrief die Bemühungen um Vielfalt in Unternehmen verteidigt, schreibt Meike Schreiber in ihrem Kommentar. Es sei gut, dass der Topmanager öffentlich Stellung beziehe – denn in den USA wendeten sich immer mehr (republikanische) Politiker, Aktivisten und Unternehmer wie Elon Musk gegen Diversität, Teilhabe und Inklusion. Zum Artikel

German industry unlikely to fully recover from energy crisis, warns RWE boss – Financial Times
Laut RWE-Chef Markus Krebber ist es unwahrscheinlich, dass die deutsche Industrie das Niveau von vor dem Ukraine-Krieg wieder erreiche. Aufgrund der hohen Preise für importiertes Flüssiggas habe die deutsche Industrie einen Nachteil, sagte er im Gespräch mit Sam Jones. Die Gaspreise in Kontinentaleuropa seien strukturell höher, da vor allem Deutschland nun von LNG-Importen abhängig sei. Zum Artikel

Ist die Psyche Chefsache? – FAZ
Beschäftigte melden sich immer häufiger aufgrund psychischer Belastungen arbeitsunfähig, im Jahr 2022 allein an 132 Millionen Tagen, schreibt Isa Hoffinger. Der Führungskultur komme deshalb eine besondere Rolle in der Prävention zu. Denn in einem wertschätzenden Klima und bei Rückhalt im Team könne sich Arbeit auch positiv auf die psychische Gesundheit auswirken. Zum Artikel

Marie Toussaint, tête de liste des écologistes aux européennes : « Face au chaos climatique, nous devons construire un Etat-providence européen » – Le Monde
Brüssel werde die Kosten von Umweltrisiken nicht ohne innereuropäische Solidarität bewältigen können, meint die grüne Europaabgeordnete Marie Toussaint in einem Gastbeitrag. Nur ein “sozialer Klimaschutz” werde es ermöglichen, die Risiken zu vergemeinschaften. Zum Artikel

Driven by China, Coal Plants Made a Comeback in 2023 – The New York Times
Die weltweite Kapazität zur Stromerzeugung aus Kohle, einem der umweltschädlichsten fossilen Brennstoffe, ist im Jahr 2023 gewachsen. Grund dafür ist eine Welle neuer Kraftwerke, die in China ans Netz gegangen sind, während gleichzeitig ältere Anlagen in den USA und Europa immer langsamer stillgelegt werden, berichtet Max Bearak. Zum Artikel

“Fremde Richter”? Klimarüge sorgt für Ärger in der Schweiz – Baseler Zeitung
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Klimaschutz sorgt in der Schweiz für heftige Diskussionen – auch, weil die Kritik an der Klimapolitik das Stimmvolk treffe, erklärt der Politologe Michael Hermann. Die rechtspopulistische SVP fordert derweil den Austritt des Landes aus dem Europarat. Zum Artikel

Green Deal: Automotive-CEOs treffen EU-Spitzenpolitiker – Automobil Industrie
Die Verbände Acea und Clepa fordern von EU-Klimakommissar Wopke Hoekstra eine übergreifende Industriestrategie, berichtet Claus-Peter Köth. Nur gemeinsam könne der europäische Green Deal gelingen. Zum Artikel

Jeder dritte institutionelle Anleger berechnet ESG-Performance nicht – Private Banking Magazin
Institutionelle Investoren tun sich nach wie vor schwer mit der ESG-Transformation ihrer Immobilienportfolios. Das zeigt eine Umfrage von Universal Investment, mit der sich Thorben Lippert beschäftigt hat. Eine Zusammenarbeit mit ESG-Beratern kommt für die Mehrheit der Großanleger dennoch nicht in Frage. Zum Artikel

Standpunkt

EU-Experten: Die nächste EU-Kommission muss sich für zukünftige Generationen einsetzen

Von Alberto Alemanno und Elizabeth Dirth
Alberto Alemanno (Jean Monnet Professor für Europarecht) und Elizabeth Dirth (Geschäftsführerin des ZOE Institut) plädieren für ein neues Ressort innerhalb der Kommission.

Ursprünglich wurde die Europäische Union als ein Projekt mit langfristiger Vision konzipiert. Aber gerade am Ende einer weiteren Amtszeit, scheinen ihre Strukturen sie daran zu hindern, diesem langfristigen Ziel gerecht zu werden. Jetzt ist es an der Zeit, kreativ über den nächsten Fünfjahreszyklus nachzudenken.

Der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Monti bezeichnete die EU oft als die “Gewerkschaft”, welche die Interessen zukünftiger Generationen vertritt. Doch trotz ihrer jahrzehntelangen Arbeit für Integration und ihrem zukunftsorientierten Ziel, bis 2050 klimaneutral zu sein, fehlt der EU ein institutioneller Rahmen, um langfristige Perspektiven angemessen zu berücksichtigen. Strategien und politische Planungen der EU enden häufig zur Mitte des Jahrhunderts, sodass die Bedürfnisse zukünftiger Generationen vernachlässigt werden.

Langfristige Perspektiven vernachlässigt

Ein Blick auf den schwindenden Rückhalt für Umweltpolitik genügt, um sich zu fragen, ob in der EU die richtige institutionelle Basis für echtes Zukunftsdenken vorhanden ist. Der European Green Deal wurde zum Beispiel als wegweisender “Mann-auf-dem-Mond”-Moment für die Zukunft Europas präsentiert – nun wird er zunehmend zum Sündenbock für gesellschaftliche Missstände. Politische Kurzsichtigkeit hatte bereits einige zentrale Aspekte des Green Deals untergraben, bevor er durch den vorzeitigen Abgang des Hauptverantwortlichen für seine Umsetzung, Frans Timmermans, weiter ins Stocken geriet.

Dies führte dazu, dass die EU-Kommission in einer entscheidenden Phase Wopke Hoekstra, einen Neuling mit fraglichen ökologischen Referenzen, als Verantwortlichen für den Green Deal ernennen musste. Diese kurzfristige Ernennung in einer Zeit, in der der Umwelt- und Klimaschutz auf Widerstand stößt, zeigt eine unbequeme Wahrheit: Weder politische Entscheidungsträger:innen noch Führungspersönlichkeiten werden zur Verantwortung gezogen, wenn sie nicht langfristig denken und handeln.

Lösung: Kommissar oder Kommissarin für künftige Generationen

Die Europäische Union und ihre 27 Mitgliedstaaten bilden keine Ausnahme, wenn es darum geht, langfristige Perspektiven zu vernachlässigen. Was wir jetzt brauchen, ist eine institutionelle Vertretung, die sich authentisch für die Zukunft einsetzt. Die EU braucht in ihrer nächsten Kommission eine Kommissarin oder einen Kommissar für zukünftige Generationen.

Jeden Tag werden Maßnahmen und Investitionen beschlossen, die die Zukunft kommender Generationen prägen werden. Doch in den heutigen EU-Entscheidungsprozessen haben zukünftige Generationen weder Rechte noch Repräsentation. Dies wird sich in einem alternden Europa voraussichtlich verschlimmern.

Jugendbewegungen haben eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Stimme der zukünftigen Generationen im Bereich Klima in den Mainstream zu bringen. Doch zukunftsorientiertes Denken muss in allen Politikbereichen und Aspekten der Politik institutionalisiert werden.

Sozialer Zusammenhalt als Herausforderung

Sozialer Zusammenhalt ist und bleibt eine gesamteuropäische Herausforderung. Denn generationenübergreifende sozioökonomische Benachteiligungen bestehen sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene. Studien belegen, dass Kinderarmut das Risiko von Armut im Erwachsenenalter erhöht – und gleichzeitig zeigt das IWF, dass die Kinderarmut in der EU seit Beginn der COVID-19-Pandemie um fast 20 Prozent gestiegen ist.

Dies ist nur eines von vielen Beispielen – bei Klimainvestitionen, Sozialdiensten und generationenübergreifender Armut ist eine langfristige Perspektive erforderlich, um unsere aktuellen Herausforderungen wirklich zu bewältigen.

Direkte Ansprechperson für Bürger und NGOs

Was genau würde eine Kommissarin oder ein Kommissar für zukünftige Generationen (oder noch besser, ein Vizepräsident oder eine Vizepräsidentin) eigentlich tun?

Zum einen würde diese Person dafür sorgen, dass zukunftsgerichtete Strategien fest in der Politik verankert werden. Seit 2019 hat die Kommission viel entwickelt, mit einem internen Netzwerk und jährlichen Berichten zur strategischen Vorausschau. Ein:e Kommissar:in für zukünftige Generationen würde solche Strategien fest in den Entscheidungsprozessen der EU etablieren. Sie könnte beispielsweise Teil des Gremiums werden, das neue Initiativen auf Zukunftsfähigkeit überprüft.

Zum anderen würde sie die Interessen zukünftiger Generationen in der gesamten Union vermitteln und sicherstellen. Als direkte Ansprechperson für Bürger:innen und Organisationen, die sich um langfristige Folgen europäischer Handlungen sorgen, würde sie Bürgerbeteiligungsverfahren, Bürgerversammlungen oder andere Methoden der Zukunftsplanung einsetzen, um einen gezielten Übergang in diese Zukunft sicherzustellen.

Lernen von Finnland, Wales oder Uruguay

Es gibt zahlreiche Beispiele, von denen die EU lernen kann: Finnland, Wales, Kanada und Uruguay haben eigene Einrichtungen für zukünftige Generationen. Auch auf UN-Ebene wird über ein solches Mandat diskutiert. Sogar auf EU-Ebene hat Kommissar Šefčovič bereits ein erstes Treffen der “Minister:innen der Zukunft” einberufen. Die Grundlagen für ein neues Kommissionsressort werden bereits gelegt.

Es ist an der Zeit, die institutionelle Struktur zu schaffen, um die “Gewerkschaft” für zukünftige Generationen zu verwirklichen. Es ist Zeit für eine Kommissarin oder einen Kommissar für zukünftige Generationen.

Alberto Alemanno ist Jean Monnet Professor für Europarecht an der HEC Paris und Gründer von The Good Lobby, eine gemeinnützige Organisation, die für gleichberechtigten Zugang zu Entscheidungsmacht eintritt.

Elizabeth Dirth ist Geschäftsführerin am ZOE Institut für zukunftsfähige Ökonomien, einem gemeinnützigen Think & Do Tank, der langfristiges Denken für gegenwärtige und zukünftige Generationen fördert.

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ESG.Table Redaktion

ESG.TABLE REDAKTION

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    Liebe Leserin, lieber Leser,

    es gibt Streit in der Science Based Targets Initiative: Das Kuratorium der Organisation hat am Dienstag angekündigt, für Ziele zur CO₂-Reduktion in einigen Fällen künftig Kompensation zu erlauben. Mitarbeitende und Berater sind empört und fordern nun in einem Brief den Rücktritt der Verantwortlichen. Die Details lesen Sie in der News von Nicolas Heronymus.

    Wie soll der Bau des Wasserstoff-Kernnetzes finanziert werden? Die Fraktionen der Ampel-Koalition feierten die Regelungen zu einer privatwirtschaftlichen Finanzierung bereits als großen Wurf. Warum die Gas-Fernleitungsbetreiber, die das Netz bauen sollen, sich weniger begeistert zeigen, erklärt Alex Veit in seiner Analyse.

    In seinem Urteil zur Klimaklage gegen die Schweiz hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Klimaschutzpflicht der Staaten betont. In Deutschland könnte das laut Experten die Abschaffung der Sektorziele aus dem Klimaschutzgesetz erschweren – und Klimaklagen könnten weit über Europa hinaus gestärkt werden. Alexandra Endres hat sich die möglichen Folgen genauer angesehen.

    Ihre
    Leonie Düngefeld
    Bild von Leonie  Düngefeld

    Analyse

    Zweifel an privater Finanzierung des Wasserstoff-Kernnetzes 

    Wasserstoff-Tank: Neben Leitungen für Wasserstoff fehlt es an Herstellungskapazitäten und an Nachfrage.

    Eine Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes an diesem Freitag im Bundestag soll eigentlich den Weg frei machen für den Bau des Wasserstoff-Kernnetzes. Allerdings zieren sich die vorgesehenen Bauherren: Die Gas-Fernleitungsnetzbetreiber (FNB) sind unschlüssig, ob das von der Ampel-Koalition vorgesehene Finanzierungsmodell ihre Investitionsrisiken ausreichend minimiert.

    Bis zum 21. Mai sollen die FNB ihren Antrag zum Bau des Kernnetzes bei der Bundesnetzagentur einreichen. Erst dann wird sich zeigen, ob die in dem Gesetz vorgesehenen Finanzierungsmodalitäten genügend Anreize für einen privatwirtschaftlichen Bau des Wasserstoff-Kernnetzes bieten. 

    Am vergangenen Freitag noch hatten sich Vertreter der Regierungskoalitionen euphorisch über ihre interne Einigung über die Gesetzesänderung geäußert. Sie versprechen sich von dem Ansatz einen auch im internationalen Vergleich schnellen Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur.

    Das Gesetz sieht ein Amortisationskonto vor, durch das die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) für mehr als drei Viertel der Investitionsrisiken der Netzbetreiber bürgt. Damit sollen die erheblichen Unsicherheiten des neu zu schaffenden Markts für grünen Wasserstoff abgefedert werden.

    Denn bislang fehlt nicht nur die Leitungsinfrastruktur, sondern auch die erwartete Nachfrage durch die Industrie und Stromkraftwerke. Nicht zuletzt fehlt es auch an Herstellungskapazitäten für das Produkt selbst.

    Fernleitungsnetzbetreiter rechnen noch 

    Durch das Amortisationskonto sollen die Netzbetreiber daher anfängliche Verluste ausgeglichen bekommen, die dann nach erfolgter Marktbildung aus den Gebühren der Verbraucher zurückgezahlt werden. Die FNB haben diesem Modell im Grundsatz zugestimmt. Auch an der vorgesehenen Eigenkapitalrendite von 6,7 Prozent, die etwas unter der für Stromnetzbetreiber liegt, äußerten sie keine öffentliche Kritik.

    Zentrales Bedenken auf Seiten der FNB stellt der Selbstbehalt von maximal 24 Prozent dar, mit dem sie selbst haften würden, sollte der Wasserstoffmarkt scheitern. Es werde von allen gerechnet und heftig nachgedacht, heißt es dazu bei einem der großen Netzbetreiber, der bis zu einem Fünftel der insgesamt 20 Milliarden Euro Aufbaukosten des Kernnetzes investieren könnte.

    Auch der Verband FNB Gas hinterfragt die Kapitalmarktfähigkeit des Finanzierungsmodells. “Die Fernleitungsnetzbetreiber wollen das Wasserstoff-Kernnetz bauen”, bekräftigte FNB Gas- Vorstandsvorsitzender Thomas Gößmann. Gemeinsam mit Eigentümern und Fremdkapitalgebern werde man aber prüfen müssen, ob der Zusammenschluss der FNB unter diesen Bedingungen einen finalen Kernnetz-Antrag bei der Bundesnetzagentur einreichen würde.

    Grüne Sprecherin: Staat kann Wasserstoffnetz auch selbst organisieren 

    Ingrid Nestle, die für die grüne Fraktion die Verhandlungen führte, zeigte sich vor der Abstimmung im Bundestag jedoch irritiert über das Vorgehen der Unternehmen. “Die FNB hatten gegenüber der Bundesregierung bereits eingeschlagen”, sagte die grüne Sprecherin für Klimaschutz und Energie gegenüber Journalisten. “Dann wurden von ihnen weitere Wünsche an uns im Bundestag herangetragen. Wir sind ihnen noch etwas entgegengekommen, haben aber auch die Interessen von Steuerzahlern und Wasserstoffkunden im Blick.” Immerhin habe der Bund, anders als im ersten Gesetzentwurf, nun die Risiken bei der Pleite einzelner Netzbetreiber selbst übernommen und das Gesetz so verbessert.

    Für den Fall, dass die FNB sich gegen den Kernnetz-Bau entscheiden, hat Nestle von den Grünen bereits einen Plan B parat: “Sonst plant die Bundesnetzagentur das Netz und sucht Interessenten dafür. Dann bauen nicht die Fernnetzbetreiber, sondern andere.” Auch der staatlich organisierte Bau von Teilstücken sei möglich

    Offensichtliche Kandidaten für den Bau eines Netzes in staatlicher Hand wären die Fernnetzbetreiber Gascade und NEL, die zusammen gegenwärtig etwa ein Zehntel des deutschen Gasfernnetzes betreiben. Beide Firmen sollen bald vollständig der SEFE gehören, die 2022 aus der Verstaatlichung von Gazprom Germania entstanden ist. Der Übernahme aller Anteile von Gascade und NEL muss die EU-Kommission fusionskontrollrechtlich noch zustimmen. 

    Auch andere FNB befinden sich in öffentlicher Eigentümerschaft. Unter den zwölf Mitgliedern von FNB Gas finden sich nur zwei in der Hand rein privaten Kapitals. Alle anderen gehören ganz oder teilweise öffentlichen Eigentümern, insbesondere Ländern und Kommunen. Drei der Gesellschaften gehören mindestens zum Teil öffentlichen Eigentümern in Belgien, den Niederlanden und Frankreich. Zwar arbeiten diese Gesellschaften alle gewinnorientiert. Politische Anstöße für den schnellen Bau des für energieintensive Industrien wichtigen Wasserstoff-Kernnetzes könnten aber auch bei ihnen eingehen. 

    Opposition ebenfalls skeptisch 

    Für Ralph Lenkert, Vertreter der Gruppe der Linken im Energie- und Klimaausschuss, wäre es besser, “wenn diese wichtige Infrastruktur vom Staat selbst gebaut und betrieben werden würde.” Wesentlich sei nun aber, dass das Netz überhaupt gebaut werde. “Das Wasserstoff-Kernnetz ist lebensnotwendig für unsere Wirtschaft. Die Sorge ist, dass die Anreize für die Finanzierung nun nicht reichen werden.” 

    Die Unionsfraktionen fordern bereits eine Überprüfung der Finanzierungsregelungen. In einem Entschließungsantrag, den sie in den Bundestag eingebracht haben, fordern sie die Bundesregierung auf, “zu evaluieren, ob das Zusammenspiel von Höhe des Selbstbehalts und Höhe der Eigenkapitalverzinsung” genügend Investitionssicherheit für einen zügigen privaten Netzaufbau biete.

    Ihr energie- und klimapolitischer Sprecher Andreas Jung sieht das Modell des Amortisationskontos als gangbar an. “Aber das Gesetz muss sich konkret an der Frage beweisen, ob es Fernnetzbetreiber und ihre Kapitalgeber tatsächlich überzeugt. Statt Euphorie macht sich dort Skepsis breit”, sagte er zu Table.Briefings.

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    EGMR-Urteil dürfte Klimaklagen auch in Deutschland stärken

    Die Schweizer Klima-Seniorinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

    Das Klimaschutz-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) dürfte Klimaklagen weltweit einen “enormen Auftrieb” verschaffen – “in Europa und weit darüber hinaus, von Südkorea bis Australien, Kanada und Brasilien”. Damit rechnen zumindest die im Climate Litigation Network (CLN) zusammengeschlossenen Anwältinnen und Anwälte, die selbst in verschiedenen Ländern der Welt auf dem Klageweg mehr Klimaschutz durchsetzen wollen.

    Der EGMR hatte am Dienstag geurteilt, dass es ein Menschenrecht auf Klimaschutz gibt, und dass Staaten verpflichtet sind, dieses Recht zu schützen. Daraus lässt sich eine staatliche Verpflichtung auf ausreichend Klimaschutz ableiten. Zudem räumt der EGMR durch sein Urteil Verbänden die Möglichkeit ein, das Menschenrecht auf Klimaschutz vor Gericht geltend zu machen. Das könnte in der deutschen Rechtsprechung, in der Grundrechte bisher nur von Einzelpersonen eingeklagt werden können, noch eine besondere Rolle spielen.

    Klagende in EU-Ländern, Kanada und Südkorea sehen sich gestärkt

    In einer schriftlichen Reaktion von CLN auf das Urteil kündigen Vertreterinnen und Vertreter von Klagen aus Schweden, Tschechien, Italien, Kanada und Südkorea an, die Argumente des EGMR in ihre aktuellen Fälle einfließen zu lassen. “Wir erwarten, dass die tschechischen Gerichte im Einklang mit den Schlussfolgerungen des Europäischen Gerichts handeln”, sagte beispielsweise David Chytil von der Organisation Czech Climate Litigation. Das südkoreanische Verfassungsgericht ist zwar formell nicht an die Rechtsprechung des EGMR gebunden, aber auch dort kann die Argumentation aufgegriffen werden. Das Urteil werde “von großer Bedeutung” sein, kündigte Sejong Youn an, der die Klage dort als Anwalt vertritt. Die erste Anhörung in dem Fall soll am 23. April stattfinden.

    Darüber hinaus spricht CLN dem Urteil auch politische Bedeutung zu: Wenn die europäischen Regierungen im Juni ihre Klimapläne für die Zeit bis 2030 veröffentlichen müssten, dann richteten sich alle Augen auf sie, “damit sie sich engagieren, im Einklang mit der Wissenschaft handeln und unsere Menschenrechte in der Klimakrise schützen.”

    Starke Schutzpflicht, aber Spielraum für die nationale Klimapolitik

    Im Detail legt der Gerichtshof fest, dass Einzelpersonen einen “wirksamen Schutz durch die staatlichen Behörden vor den schwerwiegenden negativen Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Wohlbefinden und ihre Lebensqualität” beanspruchen können, soweit sie durch die Auswirkungen des Klimawandels beeinträchtigt sind.

    Anders als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stärkt der EGMR in seinem Urteil das Schutzpflicht-Argument ganz direkt. Das BVerfG hatte in seinem wegweisenden Urteil 2021 zwar ebenfalls eine grundsätzliche Schutzpflicht des Staates bejaht, aber die staatliche Verpflichtung zum Klimaschutz dann mit den Freiheitsrechten künftiger Generationen begründet. Zwar lässt der EGMR den Staaten einen breiten Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung des Schutzes – aber sie müssen dabei gewisse Grenzen beachten, also beispielsweise Emissionsreduktionsziele festlegen, geeignete Vorschriften zu ihrer Erreichung erlassen und dafür sorgen, dass die Umsetzung überwacht wird. Damit könnte er auch bereits laufenden deutschen Klimaklagen Rückenwind verschaffen – und neuen Klagen den Weg bereiten.

    Neue Klagen in Deutschland möglich

    So erhofft sich beispielsweise Remo Klinger, der eine deutsche Menschenrechtsbeschwerde vor dem EGMR vertritt, positive Auswirkungen für seinen eigenen Fall (Table.Briefings berichtete).

    Felix Ekardt, Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig, kündigt per Mail an, das EGMR-Urteil “in Kürze mit zwei weiteren Klagen” aufzugreifen. Ekardt hatte als Anwalt eine der deutschen Verfassungsbeschwerden entwickelt und vertreten, die 2021 zum Klimabeschluss des BVerfG führten. Inhaltlich gehe der EGMR eher weiter als damals das oberste deutsche Gericht, schreibt Ekardt, “insbesondere indem er als menschenrechtliche Grenze für den Klimawandel eindeutig 1,5 Grad benennt“. Das erhöht aus seiner Sicht auch den innenpolitischen Druck für mehr Klimaschutz: Weil das deutsche Treibhausgas-Budget für 1,5 Grad nach IPCC-Berechnungen bereits erschöpft sei, müssten Bundesregierung und Bundestag “jetzt massiv nachlegen”.

    Einfluss auf die Novelle des KSG

    Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) ist noch dabei, das EGMR-Urteil zu prüfen. Zunächst einmal habe es “politische Auswirkungen auf die Debatte um die Novellierung des deutschen Klimaschutzgesetzes”, sagt Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kraenner. “Angesichts dieser sehr interessanten menschenrechtlichen Begründung für einen ehrgeizigen Klimaschutz sollte man sich genau überlegen, ob man das Klimaschutzgesetz wirklich aufweichen sollte, oder ob das nicht ein Signal in die andere Richtung ist. Das haben wir der Koalition auch so kommuniziert.”

    Die DUH unterstützt neben der Beschwerde vor dem EGMR, die von Remo Klinger vertreten wird, in Deutschland weitere Klimaklagen auf verschiedenen Ebenen des Rechtssystems. Sollten die Sektorziele tatsächlich aus dem Klimaschutzgesetz gestrichen werden, wie es die Bundesregierung derzeit vorsieht, “wird das natürlich wieder vor dem Bundesverfassungsgericht landen”, sagt Müller-Kraenner. Er sieht sich dabei durch den EGMR-Beschluss gestärkt. Auch die Umweltjuristin Roda Verheyen, die an den Verfahren vor dem EGMR auf der Seite der Beschwerdeführenden beteiligt war, erwartet in Deutschland neue Klagen, “vor allem wenn das Klimaschutzgesetz geändert wird”.

    Schutzpflichten stärker prüfen – Recht auf Verbandsklage

    Christian Calliess, Umwelt- und Europarechtsexperte an der FU Berlin, sagt zum europäischen Urteil: “Der EGMR geht einen überzeugenden Weg. Klimakläger könnten jetzt argumentieren, dass die grundrechtlichen Schutzpflichten des deutschen Staats vor Gericht mit Blick auf das gesetzgeberische Schutzkonzept strenger geprüft werden müssen.”

    Dass das BVerfG von seiner bisherigen Rechtsprechung abweicht und die Schutzpflichten ebenfalls stärker betont, erwartet Calliess aber nicht. “Das Bundesverfassungsgericht wird seinen Ansatz im Klimabeschluss, der über die sogenannte intertemporale Freiheitssicherung zum gleichen Ergebnis kommt, nicht korrigieren. Aber die Verwaltungsgerichte könnten die Schutzpflichten am überzeugenden Maßstab des EGMR prüfen und so neue Impulse setzen.”

    Als “revolutionär” wertet Calliess die Forderung nach Ermöglichung einer Verbandsklage durch den EGMR. Sie könnte dazu führen, dass auch der EuGH in Zukunft Verbandsklagen zulassen müsse. “Der effektive Rechtsschutz zum EuGH könnte insoweit geöffnet werden. Die Debatte darüber wird kommen.”

    In Deutschland sind bisher nur Einzelpersonen berechtigt, ihre Grundrechte vor dem Bundesverfassungsgericht einzuklagen – anders als in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, wo umweltrechtliche Verbandsklagen etabliert sind. Auch darüber könnte die EGMR-Entscheidung eine Debatte auslösen, sagt Calliess. Die DUH jedenfalls denkt bereits darüber nach, gerichtlich prüfen zu lassen, ob sie nun als Verband auch in grundrechtlichen Fragen klageberechtigt ist.

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    Science Based Targets Initiative: Streit um Kompensation für Scope 3-Emissionen

    Mitarbeitende der Science Based Targets Initiative (SBTi) reagieren empört auf eine Ankündigung des Kuratoriums der Organisation vom vergangenen Dienstag. Demnach wolle die Initiative künftig CO₂-Zertifikate für die Minderung von indirekten Emissionen (Scope 3) akzeptieren. Mittwoch schickte eine Gruppe von Angestellten einen Brief an das Kuratorium und den CEO, der Table.Briefings vorliegt. Sie fordern darin den Rücktritt des CEO und der Kuratoriumsmitglieder, die der Entscheidung zugestimmt haben. Zudem solle die Ankündigung sofort zurückgenommen und korrigiert werden, schreiben sie.

    “Wir sind zutiefst besorgt über die jüngste Ankündigung des Kuratoriums, die gegen unsere Governance verstößt sowie die Werte und Grundsätze der SBTi grundlegend missachtet“, heißt es im Brief. Es gehe nun darum, “den schwerwiegenden Reputationsschaden” zu mindern, der durch die Entscheidung entstanden sei. Die Mitarbeiter werfen dem Kuratorium vor, den Technischen Rat – der für Änderungen an den Standards zuständig ist – weder informiert noch konsultiert zu haben. Ebenso wenig habe der Rat der Entscheidung zugestimmt, die “faktisch eine Änderung der SBTi-Normen” darstelle.

    Wirkung von Zertifikaten für Klimaschutz fraglich

    Kritik komme auch von Mitgliedern des ständigen technischen Beratungsgremiums, das vor der Ankündigung ebenfalls nicht konsultiert worden sei, heißt es. Deren Kritik richtet sich aber nicht nur auf die Missachtung von Verfahrensweisen innerhalb der Organisation. Sie bezieht sich auch auf die Entscheidung an sich: Zertifikate für die Dekarbonisierung von Unternehmen zu nutzen, ist Gegenstand intensiver Debatten. Denn es ist unklar, wie effektiv die Klimaschutzprojekte tatsächlich sind, die Unternehmen mit Zertifikaten zur Kompensation ihrer Emissionen finanzieren. Recherchen, unter anderem von der Zeit, bekräftigten vergangenes Jahr die Zweifel.

    Gleichzeitig gibt es Kritik an den Bewertungsmaßstäben der Science Based Targets Initiative. Der kürzlich veröffentlichte “Corporate Climate Responsibility Monitor” vom New Climate Institute kommt zu dem Ergebnis, dass sich bei SBTi im Vergleich mit anderen Initiativen “ein erhebliches Maß an Nachsicht bei den derzeitigen Validierungspraktiken” zeige. Würde die SBTi die Kompensation von Scope 3-Emissionen erlauben, heißt es dort weiter, würde dies “die SBTi-Scope-3-Ziele der Unternehmen weiter schwächen, die in vielen Fällen bereits unzureichend sind, um mit den Pfaden für 1,5 Grad übereinzustimmen”.

    Die Science Based Targets Initiative validiert die Ziele von Unternehmen für die Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen. Sie gelten als wissenschaftlich fundiert, wenn sie mit den Zielen des Pariser Klimaabkommens vereinbar sind. Laut SBTi haben über 5.000 Unternehmen weltweit “wissenschaftlich fundierte Ziele”. Ins Leben gerufen wurde sie 2015 vom Carbon Disclosure Project, dem UN Global Compact, dem World Resources Institute und dem World Wide Fund For Nature. nh

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    Zara, H&M: NGO prangert Verstöße bei Zertifizierung von Baumwolle an

    Die internationalen Modeunternehmen H&M und Zara verwenden für ihre Textilien Baumwolle, die mit Verstößen gegen Umwelt- und Menschenrechtsstandards in Brasilien in Verbindung gebracht wird. Das hat eine investigative Recherche der britischen NGO Earthsight ergeben. Sie verfolgte dafür nach eigenen Angaben rund 800.000 Tonnen Baumwolle zweier brasilianischer Produzenten.

    Betroffen sind die Exporte von zwei der größten brasilianischen Agrarunternehmen, SLC Agrícola und der Horita-Gruppe. Sie bauen Baumwolle und weitere Produkte im westlichen Bundesstaat Bahia im Cerrado an, einem für die Artenvielfalt und den Klimaschutz bedeutenden Ökosystem. Die Abholzung dort hat laut Angaben der brasilianischen Raumfahrtbehörde im vergangenen Jahr um 43 Prozent zugenommen.

    Den Agrarunternehmen werden bereits seit Langem illegale Entwaldung, Umweltverstöße, Verwicklungen in Korruption, Gewalt gegen indigene Gemeinschaften und Landraub vorgeworfen.

    Verstöße bei Zertifizierung nicht aufgedeckt

    Laut der Recherche exportierten die Horita Group und SLC Agrícola zwischen 2014 und 2023 mehr als 1,5 Millionen Tonnen Baumwolle aus Bahia direkt ins Ausland. Acht asiatische Bekleidungshersteller seien ermittelt worden, die diese Baumwolle verwenden und H&M und Zara belieferten.

    Die untersuchte Baumwolle in den Lieferketten von H&M und Zara wurde laut dem Bericht von dem weltweit größten Baumwollzertifizierungssystem Better Cotton als ethisch einwandfrei zertifiziert. Die von SLC und Horita begangenen Verstöße seien nicht aufgedeckt worden.

    Cavazzini: “Gesetz für entwaldungsfreie Lieferketten ausweiten”

    “Da der Modesektor die Nachhaltigkeit und Legalität seiner Baumwolllieferketten nicht überwacht und sicherstellt, müssen die Regierungen der wohlhabenden Verbrauchermärkte sie regulieren”, kommentierte Sam Lawson, Direktor von Earthsight. “Sind die Regeln erst einmal in Kraft, müssen sie strikt durchgesetzt werden.”

    Anna Cavazzini, Europaabgeordnete von Bündnis 90/ Die Grünen, sagte: “Die Enthüllungen von Earthsight sind alarmierend. Sie demonstrieren erneut, dass Produktion für den EU-Markt zur Zerstörung des wichtigen brasilianischen Ökosystems Cerrado beiträgt.” Sie forderte, das Gesetz für entwaldungsfreie Lieferketten auf Ökosysteme wie den Cerrado sowie auf Baumwolle auszuweiten. Bei der Revision der EU-Verordnung, die Ende des Jahres in Kraft tritt, werde sie sich dafür einsetzen, erklärte sie. leo

    • Lieferketten

    Heil will sich für internationale Lieferketten-Regeln einsetzen

    Bundesarbeitsminister Hubertus Heil will nach der Einigung zum EU-Lieferkettengesetz (CSDDD) die Verhandlungen über ein UN-Abkommen zu Wirtschaft und Menschenrechten (“UN-Treaty”) weiter vorantreiben, das unternehmerische Sorgfaltspflichten auch auf globaler Ebene etablieren soll. Das sagte er bei einer Veranstaltung zum Thema Rohstofflieferketten in Berlin.

    “Als Europäische Union müssen wir uns mit Nachdruck an den Verhandlungen im UN Treaty-Prozess beteiligen”, betonte er. “Mit dem europäischen Recht haben wir nun die Möglichkeit, unsere Expertise einzubringen, um auch international für ein Level Playing Field zu kämpfen.”

    Im UN-Menschenrechtsrat wurde 2014 eine zwischenstaatliche Arbeitsgruppe eingerichtet, die ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen für den Schutz der Menschenrechte bei Unternehmenstätigkeiten ausarbeiten soll. Seitdem haben neun Treffen der Arbeitsgruppe stattgefunden; die zehnte Sitzung ist für den 21. bis 25. Oktober geplant.

    Schulze: “Deutsche Unternehmen haben Vorteil”

    Bei einem gemeinsamen Statement mit Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze betonte Heil, die EU-Lieferkettenrichtlinie sei “ein Meilenstein” im Kampf für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen vieler Millionen Menschen in den Lieferketten. Nach der formalen Zustimmung des EU-Parlaments, die für Ende April geplant ist, muss die Richtlinie innerhalb von zwei Jahren in nationales Recht umgesetzt werden.

    Auch Schulze erklärte, sie setze sich dafür ein, dass die Richtlinie vom EU-Parlament angenommen und zügig umgesetzt werde. Sie reagierte auch auf die Forderung von FDP und BDI, das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) zu entschärfen: “Gerade für deutsche Unternehmen ist es gut, wenn sie schon jetzt hohe Standards an Sorgfaltspflichten einhalten”, erklärte sie. “Damit haben sie einen echten Vorteil gegenüber europäischen Mitbewerbern, sobald die EU-Richtlinie in Kraft tritt. Und sie investieren schon heute in das Geschäftsmodell von morgen.” leo

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    • Vereinte Nationen

    UN-Klimachef Stiell: “Zwei Jahre, um die Welt zu retten”

    Eine Woche vor der Frühjahrstagung von Weltbank und Währungsfonds IWF hat Simon Stiell, Exekutivdirektor des UN-Klimaprogramms UN Climate Change, mit drastischen Worten zu ernsthaften Schritten im Klimaschutz gemahnt. Es blieben noch “zwei Jahre, um die Welt zu retten”, sagte Stiell bei einer Veranstaltung in London. Denn die nächsten Monate seien “zentral, um den Planeten zu bewahren.”

    Für Stiell geht es vor allem darum, mit einem “Quantensprung” die drängenden Finanzfragen beim Klimaschutz zu lösen, die Gefahren der aktuellen Klimakrise durch Extremwetter abzuwehren und die anstehenden nationalen Klimapläne (Nationally determined contributions, NDCs) zu grünen Investmentplänen zu machen. Denn die bisherigen NDCs “werden bis 2030 kaum Emissionen senken”, so der UN-Klimachef – doch diese müssten im gleichen Zeitraum für das 1,5-Grad-Ziel um fast die Hälfte sinken.

    Neue Jobs, bessere Luft, Wirtschaftswachstum und Geschlechtergerechtigkeit winken laut Stiell als Belohnung für ein Umschwenken. Dafür aber müssten die Länder das “Kryptonit” der Ungleichheit bekämpfen und deutlich mehr Geld in die Hand nehmen. Bei der Weltbanktagung sollten sie daher mehr günstige Kredite für die ärmsten Länder versprechen, neue Quellen der Finanzierung auftun, die Entwicklungsbanken reformieren und Schulden der armen Länder erlassen. Die Verantwortung dafür sieht Stiell vor allem bei den G20-Staaten, die den größten finanziellen Hebel hätten und 80 Prozent der Emissionen ausmachten. bpo

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    • UNFCCC
    • Weltbank

    Klimaschonendes Wohnen: Wolfsburg bekommt zwei “Woodscraper”

    In Wolfsburg werden ab Mai zwei zwölfstöckige Hochhäuser aus Holz gebaut. Die sogenannten Woodscraper bestehen aus zirkulären Materialen und sollen ein bezahlbares, gesundes und zugleich nachhaltiges Wohnen ermöglichen. 102 der 106 Wohnungen sind barrierefrei. Nach derzeitiger Planung können die ersten Bewohner im Jahr 2026 einziehen.

    Die Baugenehmigung für die Woodscraper wurde diese Woche von Oberbürgermeister Dennis Weilmann überreicht. Bauherrin ist die in Bochum ansässige GLS-Bank. Christoph Weber, Geschäftsführer der Projektgesellschaft, sprach von einem “Leuchtturmprojekt für klimaschonendes und soziales Wohnen”. Mit von der Partie sind die Projektentwickler der Unternehmensgruppe Krebs (UGK) und das Architekturbüro Partner und Partner aus Berlin.

    Über ihren gesamten Lebenszyklus sollen die Woodscraper mehr CO₂ binden als emittieren. Ziel sei es, die Baumaterialien langfristig in einem Verwendungskreislauf zu halten, statt Müll zu produzieren. “Wir wollen ein Gebäude, das bei Bedarf einfach umgebaut werden kann und das sich am Ende seiner Lebensdauer in seine einzelnen Elemente zerlegen lässt”, erklärt Klaus Günter, Geschäftsführer von Partner und Partner.

    “Bestandteil unserer Strategie ist, dass die Wohnungen nachhaltig und bezahlbar sind”

    Mit vorelementierten Massivholzteilen und einer regenerativen Energieversorgung werden die beiden Woodscraper laut Projektgesellschaft die ersten Häuser dieser Art in Deutschland sein.

    Das Bauprojekt wird von einer Forschungsgruppe begleitet, die Erfahrungen und Erkenntnisse zur zirkulären Holzbauweise sammelt, um die Nachahmung solcher Projekte zu vereinfachen. Zur Klimaschutzstrategie der beiden Wohnhäuser zählen außerdem begrünte Dächer, Photovoltaik, Geothermie und die Wärmerückgewinnung aus Sanitär-Abluft.

    “Klimaschutz muss sozial gerecht sein. Das bedeutet für den Wohnsektor: Neue Gebäude müssen soziale Vielfalt unterstützen und einen sicheren Lebensraum bieten. Fester Bestandteil unserer Strategie ist daher, dass die Wohnungen in den Woodscrapern nachhaltig und bezahlbar sind”, sagt André Meyer, Leiter des Bereichs Nachhaltige Immobilien bei der GLS-Bank. ch

    • Bauwesen
    • Nachhaltigkeit

    Autowerkstätten: Nachhaltigkeit in Deutschland weniger wichtig als in Nachbarländern

    Nur jeder zweite Autofahrer in Deutschland achtet bei der Wahl seiner Werkstatt auf Nachhaltigkeit. Das ist das Ergebnis einer Studie, die der Automobilzulieferer Continental am Mittwoch vorgestellt hat. Für die Studie wurden Autofahrer in Deutschland, Frankreich, Italien, Polen und Spanien befragt.

    Im Durchschnitt war es 72 Prozent der Befragten ziemlich oder sehr wichtig, dass ihre Werkstatt nachhaltig arbeitet. Am stärksten ausgeprägt war das Umweltbewusstsein in Italien (84 Prozent), gefolgt von Spanien (81 Prozent), Polen (73 Prozent) und Frankreich (70 Prozent). Mit 51 Prozent lagen die deutschen Autofahrer mit deutlichem Abstand auf dem letzten Platz.

    Ein Teil der Autofahrer legt nicht nur Wert auf Nachhaltigkeit, sondern handelt bereits danach. Mehr als ein Drittel der Befragten (38 Prozent) wählen ihre Werkstatt immer oder meistens nach diesem Kriterium aus. Betrachtet man nur die Ergebnisse aus Frankreich, Italien, Polen und Spanien, sind es sogar 42 Prozent. In Deutschland sind es nur 25 Prozent.

    Auf die Frage, wie sich die Werkstätten in Deutschland mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinandersetzen, nennen Inhaber oder Werkstattleiter am häufigsten das Recycling von Teilen, Verpackungen und Flüssigkeiten (25 Prozent), die Abfallvermeidung und -entsorgung (13 Prozent) sowie das Energiesparen (11 Prozent). Der Einsatz umweltfreundlicher Produkte hat in Deutschland mit acht Prozent eine vergleichsweise geringe Bedeutung. Die Werkstätten in Frankreich (23 Prozent) und Italien (24 Prozent) sind hier schon weiter.

    “Für freie Werkstätten in Deutschland bedeutet Nachhaltigkeit derzeit vor allem, gesetzliche Vorgaben zu erfüllen und Energie und Abfall zu sparen”, sagt Enno Straten, Leiter des Geschäftssegments Automotive Aftermarket bei Continental. Der Autoservice selbst und die dabei verwendeten Produkte stünden weniger im Fokus. Dieser Markt entwickle sich gerade erst, so Straten. ch

    • Nachhaltigkeit

    Presseschau

    Eine Festung gegen den rechten Kulturkampf Süddeutsche Zeitung
    Der Chef der amerikanischen Großbank JP Morgan, Jamie Dimon, habe in seinem diesjährigen Aktionärsbrief die Bemühungen um Vielfalt in Unternehmen verteidigt, schreibt Meike Schreiber in ihrem Kommentar. Es sei gut, dass der Topmanager öffentlich Stellung beziehe – denn in den USA wendeten sich immer mehr (republikanische) Politiker, Aktivisten und Unternehmer wie Elon Musk gegen Diversität, Teilhabe und Inklusion. Zum Artikel

    German industry unlikely to fully recover from energy crisis, warns RWE boss – Financial Times
    Laut RWE-Chef Markus Krebber ist es unwahrscheinlich, dass die deutsche Industrie das Niveau von vor dem Ukraine-Krieg wieder erreiche. Aufgrund der hohen Preise für importiertes Flüssiggas habe die deutsche Industrie einen Nachteil, sagte er im Gespräch mit Sam Jones. Die Gaspreise in Kontinentaleuropa seien strukturell höher, da vor allem Deutschland nun von LNG-Importen abhängig sei. Zum Artikel

    Ist die Psyche Chefsache? – FAZ
    Beschäftigte melden sich immer häufiger aufgrund psychischer Belastungen arbeitsunfähig, im Jahr 2022 allein an 132 Millionen Tagen, schreibt Isa Hoffinger. Der Führungskultur komme deshalb eine besondere Rolle in der Prävention zu. Denn in einem wertschätzenden Klima und bei Rückhalt im Team könne sich Arbeit auch positiv auf die psychische Gesundheit auswirken. Zum Artikel

    Marie Toussaint, tête de liste des écologistes aux européennes : « Face au chaos climatique, nous devons construire un Etat-providence européen » – Le Monde
    Brüssel werde die Kosten von Umweltrisiken nicht ohne innereuropäische Solidarität bewältigen können, meint die grüne Europaabgeordnete Marie Toussaint in einem Gastbeitrag. Nur ein “sozialer Klimaschutz” werde es ermöglichen, die Risiken zu vergemeinschaften. Zum Artikel

    Driven by China, Coal Plants Made a Comeback in 2023 – The New York Times
    Die weltweite Kapazität zur Stromerzeugung aus Kohle, einem der umweltschädlichsten fossilen Brennstoffe, ist im Jahr 2023 gewachsen. Grund dafür ist eine Welle neuer Kraftwerke, die in China ans Netz gegangen sind, während gleichzeitig ältere Anlagen in den USA und Europa immer langsamer stillgelegt werden, berichtet Max Bearak. Zum Artikel

    “Fremde Richter”? Klimarüge sorgt für Ärger in der Schweiz – Baseler Zeitung
    Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Klimaschutz sorgt in der Schweiz für heftige Diskussionen – auch, weil die Kritik an der Klimapolitik das Stimmvolk treffe, erklärt der Politologe Michael Hermann. Die rechtspopulistische SVP fordert derweil den Austritt des Landes aus dem Europarat. Zum Artikel

    Green Deal: Automotive-CEOs treffen EU-Spitzenpolitiker – Automobil Industrie
    Die Verbände Acea und Clepa fordern von EU-Klimakommissar Wopke Hoekstra eine übergreifende Industriestrategie, berichtet Claus-Peter Köth. Nur gemeinsam könne der europäische Green Deal gelingen. Zum Artikel

    Jeder dritte institutionelle Anleger berechnet ESG-Performance nicht – Private Banking Magazin
    Institutionelle Investoren tun sich nach wie vor schwer mit der ESG-Transformation ihrer Immobilienportfolios. Das zeigt eine Umfrage von Universal Investment, mit der sich Thorben Lippert beschäftigt hat. Eine Zusammenarbeit mit ESG-Beratern kommt für die Mehrheit der Großanleger dennoch nicht in Frage. Zum Artikel

    Standpunkt

    EU-Experten: Die nächste EU-Kommission muss sich für zukünftige Generationen einsetzen

    Von Alberto Alemanno und Elizabeth Dirth
    Alberto Alemanno (Jean Monnet Professor für Europarecht) und Elizabeth Dirth (Geschäftsführerin des ZOE Institut) plädieren für ein neues Ressort innerhalb der Kommission.

    Ursprünglich wurde die Europäische Union als ein Projekt mit langfristiger Vision konzipiert. Aber gerade am Ende einer weiteren Amtszeit, scheinen ihre Strukturen sie daran zu hindern, diesem langfristigen Ziel gerecht zu werden. Jetzt ist es an der Zeit, kreativ über den nächsten Fünfjahreszyklus nachzudenken.

    Der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Monti bezeichnete die EU oft als die “Gewerkschaft”, welche die Interessen zukünftiger Generationen vertritt. Doch trotz ihrer jahrzehntelangen Arbeit für Integration und ihrem zukunftsorientierten Ziel, bis 2050 klimaneutral zu sein, fehlt der EU ein institutioneller Rahmen, um langfristige Perspektiven angemessen zu berücksichtigen. Strategien und politische Planungen der EU enden häufig zur Mitte des Jahrhunderts, sodass die Bedürfnisse zukünftiger Generationen vernachlässigt werden.

    Langfristige Perspektiven vernachlässigt

    Ein Blick auf den schwindenden Rückhalt für Umweltpolitik genügt, um sich zu fragen, ob in der EU die richtige institutionelle Basis für echtes Zukunftsdenken vorhanden ist. Der European Green Deal wurde zum Beispiel als wegweisender “Mann-auf-dem-Mond”-Moment für die Zukunft Europas präsentiert – nun wird er zunehmend zum Sündenbock für gesellschaftliche Missstände. Politische Kurzsichtigkeit hatte bereits einige zentrale Aspekte des Green Deals untergraben, bevor er durch den vorzeitigen Abgang des Hauptverantwortlichen für seine Umsetzung, Frans Timmermans, weiter ins Stocken geriet.

    Dies führte dazu, dass die EU-Kommission in einer entscheidenden Phase Wopke Hoekstra, einen Neuling mit fraglichen ökologischen Referenzen, als Verantwortlichen für den Green Deal ernennen musste. Diese kurzfristige Ernennung in einer Zeit, in der der Umwelt- und Klimaschutz auf Widerstand stößt, zeigt eine unbequeme Wahrheit: Weder politische Entscheidungsträger:innen noch Führungspersönlichkeiten werden zur Verantwortung gezogen, wenn sie nicht langfristig denken und handeln.

    Lösung: Kommissar oder Kommissarin für künftige Generationen

    Die Europäische Union und ihre 27 Mitgliedstaaten bilden keine Ausnahme, wenn es darum geht, langfristige Perspektiven zu vernachlässigen. Was wir jetzt brauchen, ist eine institutionelle Vertretung, die sich authentisch für die Zukunft einsetzt. Die EU braucht in ihrer nächsten Kommission eine Kommissarin oder einen Kommissar für zukünftige Generationen.

    Jeden Tag werden Maßnahmen und Investitionen beschlossen, die die Zukunft kommender Generationen prägen werden. Doch in den heutigen EU-Entscheidungsprozessen haben zukünftige Generationen weder Rechte noch Repräsentation. Dies wird sich in einem alternden Europa voraussichtlich verschlimmern.

    Jugendbewegungen haben eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Stimme der zukünftigen Generationen im Bereich Klima in den Mainstream zu bringen. Doch zukunftsorientiertes Denken muss in allen Politikbereichen und Aspekten der Politik institutionalisiert werden.

    Sozialer Zusammenhalt als Herausforderung

    Sozialer Zusammenhalt ist und bleibt eine gesamteuropäische Herausforderung. Denn generationenübergreifende sozioökonomische Benachteiligungen bestehen sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene. Studien belegen, dass Kinderarmut das Risiko von Armut im Erwachsenenalter erhöht – und gleichzeitig zeigt das IWF, dass die Kinderarmut in der EU seit Beginn der COVID-19-Pandemie um fast 20 Prozent gestiegen ist.

    Dies ist nur eines von vielen Beispielen – bei Klimainvestitionen, Sozialdiensten und generationenübergreifender Armut ist eine langfristige Perspektive erforderlich, um unsere aktuellen Herausforderungen wirklich zu bewältigen.

    Direkte Ansprechperson für Bürger und NGOs

    Was genau würde eine Kommissarin oder ein Kommissar für zukünftige Generationen (oder noch besser, ein Vizepräsident oder eine Vizepräsidentin) eigentlich tun?

    Zum einen würde diese Person dafür sorgen, dass zukunftsgerichtete Strategien fest in der Politik verankert werden. Seit 2019 hat die Kommission viel entwickelt, mit einem internen Netzwerk und jährlichen Berichten zur strategischen Vorausschau. Ein:e Kommissar:in für zukünftige Generationen würde solche Strategien fest in den Entscheidungsprozessen der EU etablieren. Sie könnte beispielsweise Teil des Gremiums werden, das neue Initiativen auf Zukunftsfähigkeit überprüft.

    Zum anderen würde sie die Interessen zukünftiger Generationen in der gesamten Union vermitteln und sicherstellen. Als direkte Ansprechperson für Bürger:innen und Organisationen, die sich um langfristige Folgen europäischer Handlungen sorgen, würde sie Bürgerbeteiligungsverfahren, Bürgerversammlungen oder andere Methoden der Zukunftsplanung einsetzen, um einen gezielten Übergang in diese Zukunft sicherzustellen.

    Lernen von Finnland, Wales oder Uruguay

    Es gibt zahlreiche Beispiele, von denen die EU lernen kann: Finnland, Wales, Kanada und Uruguay haben eigene Einrichtungen für zukünftige Generationen. Auch auf UN-Ebene wird über ein solches Mandat diskutiert. Sogar auf EU-Ebene hat Kommissar Šefčovič bereits ein erstes Treffen der “Minister:innen der Zukunft” einberufen. Die Grundlagen für ein neues Kommissionsressort werden bereits gelegt.

    Es ist an der Zeit, die institutionelle Struktur zu schaffen, um die “Gewerkschaft” für zukünftige Generationen zu verwirklichen. Es ist Zeit für eine Kommissarin oder einen Kommissar für zukünftige Generationen.

    Alberto Alemanno ist Jean Monnet Professor für Europarecht an der HEC Paris und Gründer von The Good Lobby, eine gemeinnützige Organisation, die für gleichberechtigten Zugang zu Entscheidungsmacht eintritt.

    Elizabeth Dirth ist Geschäftsführerin am ZOE Institut für zukunftsfähige Ökonomien, einem gemeinnützigen Think & Do Tank, der langfristiges Denken für gegenwärtige und zukünftige Generationen fördert.

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