Table.Briefing: ESG

Landwirtschaft: Digitalisierung für Transformation + Interview zu Lieferketten-Gesetzen + Weibliche Crash-Test-Dummies

Liebe Leserin, lieber Leser,

­ohne neue, digitale Technologien gelingt die ökologische Transformation der Landwirtschaft nicht – davon ist der Verband Grüner Wirtschaftsdialog überzeugt. Doch die Umstellung sei aufwendig, teuer und brauche neue politische Rahmenbedingungen. Über den Entwurf eines Positionspapiers, der Table.Media exklusiv vorliegt, berichtet Timo Landenberger.

Die europäischen Autohersteller dagegen sind noch nicht in der Moderne angekommen, zumindest wenn es um ihre Crashtests geht, analysiert Carsten Hübner. Vorgeschrieben ist weiterhin nur eine standardisierte Puppe, die dem US-Durchschnittsmann aus den 70er-Jahren entspricht. Der Transport-Ausschuss des Europaparlaments setzt sich nun für weibliche Crash-Test-Dummies ein.

In unserer Serie “10 Jahre Rana Plaza” geht es diese Woche um die Wirksamkeit von Lieferkettengesetzen. Im Interview mit Charlotte Wirth kritisiert der französische Abgeordnete Dominique Potier, dass das deutsche Gesetz und der Entwurf für eine europäische Richtlinie den Unternehmen zu detaillierte Vorgaben machen – und damit Unternehmen dazu verleiten, nur auf Compliance zu schauen. Der Politiker hatte das Lieferkettengesetz in Frankreich mit auf den Weg gebracht.

Im Standpunkt argumentiert die Expertin für strategisches Beschaffungsmanagement, Elisabeth Fröhlich, dass die nachhaltige Transformation des Wirtschaftssystems nur klappt, wenn in der BWL ein Umdenken stattfindet: hin zu einem Fokus auf Beschaffung, Technologie, Personalwesen und die Firmeninfrastruktur.

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Ihr
Nicolas Heronymus
Bild von Nicolas  Heronymus

Analyse

Landwirtschaft: Mit Digitalisierung die ökologische Transformation voranbringen

Mit der Farm to Fork Strategie soll Europas Landwirtschaft endlich auf den Transformationspfad kommen. Die Ziele: 50 Prozent weniger Pestizide, 50 Prozent weniger Nähstoffverluste, 30 Prozent weniger Düngemittel bis spätestens 2030. Das ist ambitioniert und sorgt für heftigen Streit in Brüssel. Schließlich bleibt die Ernährungssicherung zugleich die Hauptaufgabe der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik.

Einige Experten und Verbände, darunter der Grüne Wirtschaftsdialog, sind überzeugt: Die Ziele sind nur erreichbar, indem die ökologische Transformation der Landwirtschaft mit der digitalen Hand in Hand geht. Stichwort: Smart Digital Precision Farming. Was steckt dahinter?

Bislang werden die Betriebsflächen überwiegend einheitlich bewirtschaftet, Düngemittel und Pestizide also gleichmäßig über das Feld ausgebracht. Ackerflächen weisen aber im Regelfall sehr heterogene Gegebenheiten auf. Bodeneigenschaften, Wasserspeicherung oder Schädlingsbefall können von Quadratmeter zu Quadratmeter variieren. Die Folge: Pflanzen werden an der einen Stelle über- und an der anderen unterversorgt.

Digitaler Präzisionsackerbau

Durch digitalen Präzisionsackerbau soll sich das ändern, Wasserverschwendung sowie Düngemittel- und Pestizideinsatz sollen verringert und gleichzeitig der Ertrag gesteigert werden. Denn mittels Satelliten- oder Drohnenbildern können die unterschiedlichen Bedingungen auf einer Fläche exakt bestimmt und ausgewertet werden. Die Daten werden dann auf eine Maschine übertragen, die mithilfe von GPS-Technik vollautomatisiert über das Feld fährt und punktgenau Wasser, Pestizide und Düngemittel ausbringt.

Was wie Zukunftsmusik klingt, ist technisch längst möglich und wird zumindest in Teilen auch bereits angewendet. Doch die Hürden sind hoch. Die Umstellung ist mit enormem Aufwand, Unsicherheiten und vor allem Kosten verbunden. Um kleinere Betriebe bei der Transformation nicht abzuhängen, für ein Level-Playing-Field und für Planungssicherheit zu sorgen, müsse die Politik in Berlin und Brüssel die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. Es herrsche dringend Handlungsbedarf, sagt Thomas Gambke, Vorsitzender des Grünen Wirtschaftsdialogs (GWD). Laut dem Entwurf eines Positionspapiers des GWD, das Table Media exklusiv vorliegt, gehört dazu:

  • Digitale Infrastruktur sicherstellen, darunter insbesondere der Breitbandausbau und die Abdeckung mit 5G-Technologie.
  • Standardisierung der Technologien und Daten, um für faire Wettbewerbsbedingungen zu sorgen und neue Abhängigkeiten sowie Monopolbildungen bei einzelnen Großkonzernen zu verhindern.
  • Datenschutz sicherstellen. Andererseits aber auch den Zugang zu beispielsweise Wetter- und Geodaten vereinfachen sowie für Transparenz und Monitoring sorgen.
  • Ausbildung und Beratung fördern, vor allem hinsichtlich der notwendigen IT-Kenntnisse, aber auch hinsichtlich Investitionsbedarf und Wirtschaftlichkeit.

Kostenteilung in Genossenschaften?

“Die Kosten der Transformation sind sehr hoch und die Frage, wie sich das gerade für kleinere Betriebe organisieren lässt, ist sehr wichtig”, sagt Gambke. “Eine mögliche Lösung wäre, die Anlagen durch Genossenschaften zu teilen.” Das sei in der Landwirtschaft gut geübte Praxis.

Dabei dürfe die sozio-ökonomische Komponente nicht unterschätzt werden. “Das sind überwiegend Familienbetriebe. Kenntnisse über den eigenen Grund und Boden und die Praktiken wurden teils über mehrere Generationen weitergegeben. Eine digitale Transformation ist sinnvoll für die ökologische und ökonomische Fortentwicklung von landwirtschaftlichen Betrieben. Zugleich stellt diese einen tieferen Eingriff in die Autorität und Selbstbestimmung der Landwirte dar”, gibt Gambke zu bedenken und rät, die Branche bei der Schaffung politischer Rahmenbedingungen eng mit einzubinden.

In Brüssel ist man sich des Potenzials bewusst. Digitale Technologien halten zunehmend Einzug in die agrarpolitischen Rechtsakte der EU. So sieht etwa der Kommissionsvorschlag für eine neue Verordnung zur Verringerung des Pestizideinsatzes auch eine strategische Beratung und Förderung mit Blick auf Präzisionslandwirtschaft vor. Über weitere delegierte Rechtsakte sollen außerdem Kriterien für den Einsatz von Drohnen inklusive einer möglichen Ausbringung von Pestiziden aus der Luft festgelegt werden.

Teil-Ziel der GAP: Modernisierung

Auch im Rahmen der neuen Förderperiode der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) verfolgt die EU das Ziel einer Modernisierung der Landwirtschaft. So sind die Mitgliedsstaaten dazu angehalten, in ihren nationalen Strategieplänen Investitionen in digitale Technologien zu unterstützen.

Diese könnten neben der Optimierung der Verfahren auch zu einer Verringerung des Verwaltungsaufwands und zu einer besseren Überwachung der Indikatoren führen, heißt es aus Kreisen der EU-Kommission. Digitale Technologien seien das Kernstück des Kontrollsystems (InVeKoS), das von den Mitgliedstaaten für die korrekte Auszahlung der Beihilfen an die GAP-Empfänger genutzt werde.

Parallel sollen “horizontale” Rechtsakte aus dem Bereich der Digitalpolitik, darunter der Data Act, für den entsprechenden Rahmen hinsichtlich Datenschutzes und Standardisierung sorgen und Landwirten einen besseren Zugang zu Geo- oder Wetterdaten ermöglichen.

Bei der nationalen Umsetzung verweist das Landwirtschaftsministerium auf die “digitalen Experimentierfelder”. Auf bundesweit 14 landwirtschaftlichen Betrieben wird seit 2019 der Einsatz digitaler Technologien erprobt. Daneben soll das neue Förderprojekt “Zukunftsbetriebe und Zukunftsregionen” die nachhaltige digitale Transformation der Landwirtschaft vorantreiben. Beide Projekte sollen den Wissenstransfer in die Praxis beschleunigen und Landwirten die Möglichkeit geben, Vor- und Nachteile der Technologien in der Anwendung kennenzulernen.

  • Digitalisierung
  • Landwirtschaft
  • Pestizide

EU: Autohersteller sollen weibliche Crash-Test-Dummies einsetzen

Wenn Autohersteller Unfälle simulieren, stellen sie viele Szenarien nach. Aufprall von vorne oder von der Seite, mit anderen Autos oder mit einem Motorrad und das in verschiedenen Geschwindigkeiten – alles wird getestet. Bloß innen, da sitzt vor allem einer: der Crash-Test-Dummy “Hybrid III 50th Male”, 1,75 Meter groß, 78 Kilogramm schwer. Eine standardisierte Puppe, die dem durchschnittlichen Mann entspricht. Oder entsprechen soll. Denn entwickelt wurde sie bereits in den 70er-Jahren in den USA.

Dass Autofahrer heute womöglich andere Maße haben, wird nicht berücksichtigt. Und dass Frauen am Steuer sitzen könnten, auch nicht. Dabei kommen sie ähnlich häufig zu Schaden wie Männer, obwohl sie seltener Unfälle verursachen. Für sie wird lediglich eine kleinere Version des männlichen Modells genutzt: “HIII5F” ist 1,52 Meter groß und 54 Kilogramm schwer – was eher einem 12- bis 14-jährigen Mädchen als einer Frau entspricht.

Der Transport-Ausschuss des Europaparlamentes setzt sich deshalb jetzt für weibliche Crash-Test-Dummies ein. In einer Stellungnahme zu einem Bericht über die Verkehrssicherheit von Frauen fordert er, dass Crash-Tester künftig auch “weibliche Dummies” nutzen müssen. “Zu lange wurden Autos, Autositze und Sicherheitsgurte für den männlichen Körper konzipiert, was für Frauen, die in Autounfälle verwickelt sind, katastrophale Folgen hat”, sagt die grüne Europaabgeordnete Tilly Metz, die den Änderungsantrag eingereicht hat. “Mit unserer Stellungnahme fordern wir die Kommission auf, neue Normen für Crash-Test-Dummies zu entwickeln.”

Das Bundesverkehrsministerium sieht keinen Handlungsbedarf

Auch die grüne Bundestagsabgeordnete Swantje Michaelsen kritisiert die derzeitigen Standards. “Die aktuelle Prüfpraxis ist wirklich problematisch, denn sie ignoriert die Mehrheit aller Verkehrsteilnehmenden”, sagt sie. Als Berichterstatterin im Verkehrsausschuss hat sie sich bereits an das Bundesverkehrsministerium gewandt, ohne Erfolg. “Leider lautete die Rückmeldung: Das Ministerium sieht keinen Handlungsbedarf.”

Michaelsens männliche Koalitionskollegen springen ihr nicht bei. Jürgen Lenders (FDP) verweist auf den aktuellen Unfallverhütungsbericht und den wissenschaftlichen Kenntnisstand und kann “aktuell keine Handlungsnotwendigkeit” erkennen. Der SPD-Angeordnete Mathias Stein warnt davor, “die Debatte um den Innenraumschutz bei Kfz-Unfällen auf die Geschlechterfrage zu reduzieren”. Frauen seien “inzwischen nurmehr geringfügig schlechter geschützt”. Die gravierendsten Unterschiede gebe es noch im Bereich der Schleudertraumata – “ein Problem, das technisch gelöst werden muss”.

Frauen verletzen sich anders und schwerer

Laut Statistischem Bundesamt wurden 2021 insgesamt 161.201 Autoinsassen verletzt, darunter 80.732 Frauen. Studien zeigen, dass bei ihnen im Vergleich zu Männern überdurchschnittlich häufig am Becken, an den Beinen und der Wirbelsäule verletzen. Frauen werden außerdem öfter im Unfallfahrzeug eingeklemmt und sind einem etwa doppelt so hohen Risiko ausgesetzt, ein Schleudertrauma zu erleiden.

Die Unfallchirurgin Rebecca Sänger führt das auf anatomische Unterschiede zurück. “Die Muskulatur und die Bänder von Frauen haben einen kleineren Gesamtdurchmesser, so auch in der Halswirbelsäule, was eine geringere Absorptionsfähigkeit von freigesetzter Energie während Auffahrunfällen erklärt.” Ein anderes Problem: Weil Frauen mit ihren im Schnitt kürzeren Beinen näher an das Armaturenbrett heranrücken, prallen sie leichter mit ihren Knien und Unterschenkeln auf, was sogenannte “Dashboard-Verletzungen” nach sich ziehen kann – Brüche des Oberschenkels, der Kniescheibe, ein Ausrenken des Hüftkopfes und Schäden an der Wirbelsäule. 

Siegfried Brockmann ist Leiter der Unfallforschung beim Gesamtverband der Versicherungswirtschaft (GDV). Für Table Media hat er in der EUSKA-Datenbank nachgeschaut: Demnach zeigen die polizeilichen Unfalldaten aus elf Bundesländern ein um elf Prozent höheres Risiko für Frauen, im Pkw schwer verletzt zu werden. Bei leichten Verletzungen liegt ihr Anteil um 44 Prozent höher als bei Männern. Zudem bestätigen die GDV-Unfalldatenbank und die internationale Forschung laut Brockmann, “dass weibliche Personen tatsächlich überdurchschnittlich oft eine HWS-Distorsion erleiden”.

Team von Forscherinnen stellt weiblichen Dummy vor

Die schwedische Ingenieurin Astrid Linder, die als Forschungsdirektorin am Swedish National Road and Transport Research Institute tätig ist, hat mit ihrem Team deshalb kürzlich “EVA” vorgestellt. Der Dummy ist weiblich geformt, 1,62 Meter groß und 62 Kilogramm schwer und hat einen veränderten Schwerpunkt, weil das Becken und die Hüfte bei Frauen anderes ausgeprägt sind als bei Männern. Nun fehlt es nur noch an der Nachfrage. “Wenn die Gesellschaft das Modell einer durchschnittlichen Frau haben möchte, dann wird sie das bekommen”, sagt Linder. Noch scheint es allerdings nicht so weit zu sein.

Ein Grund dürften die EU-weit geltenden Vorschriften der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UNECE) sein. Die UNECE arbeitet seit Ende der 1950er-Jahre an der grenzüberschreitenden Harmonisierung technischer Standards. In ihren Regelungen 94, 95 und 137, die sich mit der Sicherheit von Fahrzeuginsassen befassen, ist der “Hybrid III 50th Male” und davon abgeleitete Varianten als Test-Norm für die Autohersteller festgeschrieben. “Es ist, als würde die Gesellschaft sagen: Nein, wir schauen uns das nicht an, wir interessieren uns nur für den Durchschnittsmann”, so Linder.

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“Das deutsche Lieferkettengesetz verleitet Unternehmen dazu, lediglich Kästchen anzukreuzen.”

Dominique Potier bei der Begrüßung der Abgeordneten in der Französischen Nationalversammlung nach den Parlamentswahlen 2022.

2017 wurde in Frankreich erstmals ein Gesetz zur Sorgfaltspflicht für Unternehmen verabschiedet, das sogenannte “Rana-Plaza-Gesetz”. Gab der Gebäudeeinsturz in Bangladesch vier Jahre zuvor den Anstoß?

Nein. Das Gesetz trägt zwar den Beinamen “Rana Plaza”, aber der Impuls kam von der französischen Zivilgesellschaft. Im Rahmen der Präsidentschaftswahlen 2012 machten NGO zwölf Vorschläge für einen solidarischen Planeten. Die Sorgfaltspflicht war eine dieser Forderungen. Rana Plaza hat das Thema in den Vordergrund gebracht, in Europa zeigte man sich sehr solidarisch mit den Opfern in Bangladesch. Sie begannen, sich mit dem Thema Lieferketten und den Folgen ihres Konsums zu beschäftigen. Rana Plaza wurde so zum Synonym für die negativen Auswirkungen der Globalisierung auf Umwelt und Menschenrechte.

Die französischen Unternehmen sahen den Vorstoß wahrscheinlich anders.

Für die Unternehmerschaft ist es schwierig, ein solches Gesetz explizit zu verurteilen: Niemand will Kinderarbeit und Umweltverbrechen verteidigen. Aber natürlich haben sich die französischen Unternehmen gegen so ein Gesetz gewehrt und tun es auch weiterhin. Sie haben einen enormen Druck auf die Regierung ausgeübt, prophezeiten Standortverlagerungen, eine Schwächung der französischen Wirtschaft und von Frankreichs Wettbewerbsfähigkeit. Sie sagten auch, ein solches Gesetz sei juristisch unmöglich umzusetzen. Fünf Jahre lagen zwischen dem ersten Gesetzesvorschlag und der Verabschiedung des Gesetzes. Die ursprüngliche Fassung war deutlich strenger als der Text, auf den wir uns 2017 schlussendlich einigen konnten.

Inwiefern?

Das Gesetz hat einige Schwachstellen und die waren von Anfang an absehbar: Es fallen zu wenig Unternehmen unter das Gesetz, wir konnten die Beweislast nicht umkehren und auch die strafrechtliche Verfolgung mussten wir fallen lassen. Für diese Punkte gab es keine politische Mehrheit. Das war der Preis, den wir zahlen mussten, um einen Kompromiss zu erreichen.

Aber sie haben jetzt ein Gesetz. Wie bewerten Sie den Erfolg?

Wir haben Außerordentliches geschafft. In vielen Punkten ist das Gesetz genial, zum Beispiel umfasst es die gesamte Wertschöpfungskette, ganz gleich, auf welcher Ebene Probleme auftreten. Das Gesetz gilt für alle etablierten Geschäftsbeziehungen, sprich alle formalisierten Verhältnisse zwischen Unternehmen, Subunternehmen und Zulieferern. Es kann auch noch die Zulieferer der hundertsten Ebene der Kette betreffen.

Setzt sich der Kampf für saubere Lieferketten nun auf europäischer Bühne fort?

Wir haben direkt nach der Verabschiedung des französischen Gesetzes mit dem Plädoyer für ein europäisches Gesetz begonnen. Es ist ein langer Kampf. Wenn alles gut geht, dann wird die europäische Richtlinie noch dieses Jahr zwischen Kommission, Rat und Parlament verhandelt. Bis die Verhandlungen abgeschlossen sind und auch noch der letzte Mitgliedstaat die Richtlinie umgesetzt hat, dauert es wieder mehrere Jahre. Am Ende liegen mindestens zehn Jahre zwischen der Verabschiedung des französischen Gesetzes und dem EU-Gesetz. Das geht eigentlich viel zu langsam. Aber man kann das Ganze auch positiv sehen: Mit Blick auf die Verantwortung, die Unternehmen zukünftig für ihre Wertschöpfungsketten übernehmen müssen, sehen wir einer kleinen Revolution entgegen.

Das Gesetz hat nur drei Artikel, es ist sehr kurz. Der Kommissionsvorschlag und auch das deutsche Lieferkettengesetz füllen hingegen dutzende Seiten. Wie kommt das?

Es gibt in der Rechtswissenschaft zwei Schulen. Das französische Recht baut auf großen Prinzipien auf. Es vertraut auf die Arbeit der Richter, um die rechtliche Tragweite zu ermitteln. Die Jurisprudenz bestimmt die Auslegung des Gesetzes. Durch seinen globalen und ganzheitlichen Charakter setzt das französische Sorgfaltspflichtengesetz auf die Eigeninitiative und das Engagement der Unternehmen.

Das deutsche Gesetz sowie die EU-Richtlinie gehören einer anderen Schule an. Sie sind sehr präzise und lesen sich wie ein Katalog an Verboten und Erlaubtem. Das mag auf den ersten Blick Sinn ergeben, kann aber auch Anlass zur Sorge sein. Denn diese Art der Ausgestaltung verleitet die Unternehmen dazu, lediglich Kästchen anzukreuzen, sich aber nicht tiefgreifender mit der Frage der Auswirkungen der eigenen Aktivitäten auf die Wertschöpfungskette zu befassen. Angesichts der Komplexität von Lieferketten, Auftragsvergabe, Produktionsstufen und Filialisierung von Unternehmen sehe ich bei einem “Box-Ticking” die Gefahr, dass wichtige Herausforderungen übersehen werden.

Der größte Fehler bei der Umsetzung der Richtlinie wäre es, dass Unternehmen ihre Energie darauf fokussieren, sich rechtlich gegen wirtschaftliche Risiken und eine mögliche Rufschädigung zu schützen, sie sich aber nicht darum bemühen, nach guten Lösungen zu suchen, die sich positiv auf die gesamte Wertschöpfungskette auswirken.

Hat sich der französische Lobbydruck auch nach Brüssel verlagert?

Auf jeden Fall. Der Kampf gegen das Gesetz spielt sich jetzt in der EU-Blase ab, insbesondere über Business Europe. Die französischen Unternehmensvertreter hoffen auf eine Richtlinie, die das französische Gesetz abzuschwächen vermag.

An dem Argument, dass Lieferkettengesetze juristisch schwer durchzusetzen sind, scheint etwas dran zu sein: Kürzlich ist die Klage französischer NGO gegen TotalEnergies gescheitert. Das Pariser Gericht hat sie wegen Verfahrensfehlern abgewiesen.

Ich glaube nicht, dass die Klage gescheitert ist. In den letzten fünf Jahren gab es einige juristische Entwicklungen rund um das Gesetz, vor allem dank dieser Klage. Das Pariser Gericht hat sich auf Klagen zur Sorgfaltspflicht spezialisiert, es hat jetzt die alleinige Zuständigkeit. Und nicht das Handelsgericht oder irgendwelche Ortsgerichte. Ich bin überzeugt, dass sich die Jurisprudenz langsam etablieren wird. Natürlich träumen wir alle von einem Präzedenzfall, der die Auslegung des Gesetzes definiert. Aber wir haben es hier mit einer ganz neuen Rechtslage zu tun, das braucht Zeit.

Wie wirkt sich das französische Gesetz auf die Zielländer aus?

Wir haben die Textil- und Kakaobranche analysiert. Und tatsächlich gibt es ein Paradox: Manchmal wollen französische Unternehmen positive Anreize setzen, jedoch werden sie von einem Zulieferer ausgebremst, der in einer Region oder bei einem Rohstoff eine Monopolstellung hat. Wenn dieser sich nicht für Menschenrechte und Umweltfragen interessiert, dann haben wir ein Problem. Denn aufgrund seiner Monopolstellung kann er es sich leisten, sich auf andere Märkte zu fokussieren und weiter auf Low-Cost-Standards auf Kosten der Umwelt und Menschenrechte setzen. Was also tun? Unsere Unternehmen können ihre Produktion kaum aussetzen. Sie sind also in einer Sackgasse.

Und dann?

Die betroffenen Unternehmen verweisen in diesen Fällen auf die Verantwortung des Staates. Ein Gesetz zur Sorgfaltspflicht kann die Welt nicht im Alleingang verändern. Die Staaten müssen gleichzeitig an internationalen und zwischenstaatlichen Lösungen arbeiten: etwa im Rahmen von Handelsabkommen oder auf der Ebene der Vereinten Nationen – wie beim kürzlich verabschiedeten Pakt über die biologische Vielfalt der Ozeane.

  • Klima & Umwelt
  • Lieferkettengesetz
  • Menschenrechte
  • Sorgfaltspflichten

Termine

14.4.2023, 11:00-20:00, München
Präsenzveranstaltung Umweltpolitisches Josef-Göppel Symposium (DVL)
Die Veranstaltung befasst sich ganztägig mit den Themen Energiewende, Naturschutz, Landwirtschaft und globale Gerechtigkeit. Die Keynote hält die DIW-Energieökonomin Prof. Dr. Claudia Kemfert. Info & Anmeldung

17.4.2023, 14:00-17:00 Uhr
Bundestag Öffentliche Anhörung zum 15. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik
Die Anhörung organisiert der Bundestagsausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Info & Anmeldung

18.-19.4.2023
Tagung Bundesverband Managed Care-Kongress 2023 (BMC)
Zentrales Thema der Veranstaltung ist die Transformation des Gesundheitswesens. Dabei setzen die Veranstalter auch auf den intensiven Austausch zwischen Entscheidungsträgern, Experten aus Wissenschaft und Versorgung sowie weiteren Partnern aus der Gesundheitsbranche. Info & Anmeldung

19.4.2023, 9:00-10:30 Uhr
Bundestag Öffentliche Anhörung zum Mercosur-Abkommen
Der Wirtschaftsausschuss des Bundestages hat Sachverständige geladen, die Stellung zum Inhalt und Stand des Mercosur-Abkommens beziehen. Info & Anmeldung

19.4.2023, 10:00-11:00 Uhr
Online-Seminar Anforderungen an einen ZIM-Projektantrag – Formale Erfordernisse richtig umgesetzt (BMWK)
Mit dem Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand (ZIM) sollen die Innovationskraft und damit die Wettbewerbsfähigkeit mittelständischer Unternehmen, einschließlich des Handwerks und der unternehmerisch tätigen freien Berufe, nachhaltig gestärkt werden. Info & Anmeldung

19.4.2023, 15:00-16:00 Uhr
Bundestag Öffentliche Anhörung zum Wintersport und Tourismus im Zeichen des Klimawandels
Themen der Anhörung sind die Zukunft des Wintersports, die Reaktion anderer Länder auf den Schneemangel, Ganzjahreskonzepte für den Tourismus in den Wintersportregionen und die Diversifizierung des Angebots sowie Nachhaltigkeit beim Wintersportangebot. Info & Anmeldung

19.4.2023, 16:30-18:00 Uhr
Online-Seminar Auf zu neuen Wegen – anders wirtschaften in Theorie und Praxis (RENN-Netzwerk)
Ein “immer schneller, immer höher, immer weiter” um jeden Preis stößt an die Grenzen des ökologisch Tragfähigen. Wie gelingt es, unsere natürliche Lebensgrundlage zu erhalten und die Bedürfnisse aller Menschen gleichermaßen zu befriedigen? Info & Anmeldung

20.4.2023, 10:00-13:15 Uhr
Online-Seminar The end of the internal combustion engine – Is Europe ready for future mobility? (Germanwatch)
Die Online-Debatte bringt politische Entscheidungsträger, Unternehmen, Think-Tanks und Vertreter der Zivilgesellschaft aus Frankreich, Polen und Deutschland zusammen, um sich auszutauschen, über Herausforderungen zu diskutieren und ihre Erwartungen an neue Mobilitätskonzepte in der EU und ihren Ländern zu teilen. Info & Anmeldung

21.4.2023, 9:30-16:00 Uhr, Oldenburg
Tagung Forum Berufsbildung 2023 – Nachhaltigkeit in der beruflichen Bildung
Auf dem Forum Berufsbildung werden Umsetzungsprobleme und Lösungsansätze zur Integration von Nachhaltigkeitszielen in der beruflichen Bildung in den Blick genommen. Ziel ist es, eine konzeptionelle Bilanz der Integration von Nachhaltigkeitsthemen zu ziehen und lernortspezifische Lösungsansätze in der Praxis zu diskutieren. Info & Anmeldung

China Strategie 2023. 3 Stunden, 3 Sessions, 30 Köpfe aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Table.Media beleuchtet am 25. April China als Wettbewerber, Rivale und Partner. Die Digital-Konferenz schafft mitten in der aktuellen Debatte Orientierung für Entscheiderinnen und Entscheider.

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News

Erste Anleihe für Pressefreiheit in Europa 

Emittent, der nach eigenen Angaben “ersten Anleihe für Pressefreiheit in Europa“, ist die niederländische Impact Investmentgesellschaft Pluralis BV. Sie “beteiligt sich an Medienunternehmen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie von Regierungen und ihren Verbündeten aus der Wirtschaft übernommen werden”, heißt es. Beteiligt an Pluralis sind verschiedene europäische Medienunternehmen, Stiftungen und Impact-Investoren, darunter die King Baudouin Foundation, Mediahuis, Oak Foundation, Soros Economic Development Fund und Tinius Trust. Die 5-Millionen-Anleihe ist Teil eines Kapitaltopfs, der am Ende 100 Millionen Euro stark sein soll. Er ist bereits gut zur Hälfte gefüllt. Pluralis selbst mische sich in keine redaktionellen Entscheidungen ein, heißt es. 

Vertrieben wird die Anleihe von der GLS-Bank, der ältesten Nachhaltigkeitsbank Europas, sowie GLS Crowd. “Die GLS Bank betritt Neuland”, sagte der Leiter institutionelle Kunden bei der Bank, Lukas Adams, am Rande einer Veranstaltung für potenzielle Stifter und Anleger in Berlin. Regierungen in Osteuropa erlebten gerade eine Welle der “Medieneroberung”, so die Bank. Regierungen kauften sich in Medienhäuser ein und beeinflussten die redaktionelle Arbeit. Dies gefährde die kritische Berichterstattung und “damit letztlich die schwachen demokratischen Strukturen in der Region”. Mit dem Vertrieb der Anleihe will die Bank die Arbeit von Pluralis unterstützen. Pluralis hat bereits 30 Millionen Euro in zwei Medienunternehmen investiert, den polnischen Wirtschaftsverlag Gremi und das slowakische Medienhaus Petit Press. “Weitere Investitionen in der Region sind in Vorbereitung”, erklärte der Initiator des Projekts, der Media Development Investment Funds, ein gemeinnütziger Investmentfonds mit Sitz in New York, der seit 1996 296 Millionen Dollar in 146 unabhängige Medienunternehmen in 47 Ländern investiert hat. 

Anleger können ab 1000 Euro zeichnen, die Laufzeit beträgt zehn Jahre. Die Anleihe bietet ESG-Investoren eine seltene Möglichkeit, Mittel in Ziel 16 der UN-Nachhaltigkeitsziele (SDG) zu investieren, also in “Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen”. Damit hat sich die Staatengemeinschaft unter anderem dazu verpflichtet, den öffentlichen Zugang zu Informationen zu gewährleisten und die Grundfreiheiten zu schützen. Denn dies gilt als eine Voraussetzung dafür, um die mit den SDG verankerten Ziele der sozialen Entwicklung insgesamt erreichen zu können. Um die Pressefreiheit ist es in Mittel- und Osteuropa zunehmend schlechter bestellt, wie der jährliche Index von Reporter ohne Grenzen zeigt. Die meisten Länder wie Ungarn, Polen, Bulgarien, die Ukraine oder Rumänien und weitere Länder Mittel- und Osteuropas weisen laut der Organisation “erkennbare Probleme” auf. cd/ab

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  • Pressefreiheit

“Schuldenreport 2023”: Die Not spitzt sich zu

Die Länder des Globalen Südens leiden größtenteils stark unter ihren Schulden. Das hat dramatische Folgen für die Menschen, denn es verhindert, dass die betroffenen Staaten die 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 erreichen. Zu diesem Fazit kommt der “Schuldenreport 2023”, den das Hilfswerk Misereor und erlassjahr.de, ein Bündnis von mehr als 500 Organisationen aus Kirche, Politik und Zivilgesellschaft, veröffentlicht haben.

Der Analyse zufolge gilt die Verschuldung in 136 von 152 untersuchten Staaten als “kritisch”, in 40 davon als “sehr kritisch”; es sind die höchsten Stufen der Skala. Wurden vor der Corona-Pandemie 37 Prozent aller Länder des Globalen Südens als “kritisch” oder “sehr kritisch” bewertet, ist der Wert nach aktuellem Stand auf 64 Prozent angestiegen. Die Studie erscheint jährlich und berücksichtigt dieses Mal Daten bis zum 31. Dezember 2021.

Besonders betroffen sind etwa Venezuela, Ägypten, Ghana, Gambia, Senegal, Pakistan und Sri Lanka. Diese Länder haben sich zuletzt noch weiter verschuldet. Daher erwarten die Autoren der Studie, dass die erhöhten Energiekosten und die Verknappung von Nahrungsmitteln durch den Krieg in der Ukraine den Menschen weiter zusetzen. Schon jetzt ist der Zugang zu hochwertiger Bildung, Gesundheitsversorgung und sauberem Wasser häufig “kaum mehr möglich“, sagt Pirmin Spiegel, Vorstandsvorsitzender von Misereor.

Um die Not zu lindern, brauche es mehr öffentliche Ausgaben für Sozialleistungen. Gemessen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt gingen diese tatsächlich aber vielfach zurück, um die Forderungen der Gläubiger zu bedienen. Somit fehle zugleich Geld für die notwendige Energiewende. Die Autoren fordern deshalb vor allem die G7 und die EU dazu auf, endlich mehr und schnellere Schuldenerlasse zu ermöglichen – innerhalb der wichtigen multilateralen Kreditgeber wie IWF und Weltbank verfügen sie über die meisten Stimmrechte. Auch die deutsche Bundesregierung bewege sich nur zögerlich. Außer “Reform-Trippelschritten” und “punktuellen Verbesserungen” sei wenig passiert seit dem Amtsantritt. Marc Winkelmann

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NGO kritisieren Gütesiegel für Schuhe und Lederwaren

Gängige Zertifizierungssysteme für Schuh- und Lederwaren vernachlässigen Arbeitsrechte und Sozialstandards. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie der Nichtregierungsorganisationen Inkota und Südwind Österreich. Demnach basieren nur zwei der sechs untersuchten Siegel auf gesetzlichen Regelungen. Die anderen vier beruhten auf Freiwilligkeit und orientierten sich bei der Auswahl ihrer technischen, ökologischen oder sozialen Kriterien vor allem an den Interessen der beteiligten Unternehmen.

Für ihren “Label-Check” haben die Organisationen öffentlich zugängliche Informationen zu den in der Branche am weitesten verbreiteten Siegeln ausgewertet. Diese sind: Umweltzeichen Blauer Engel für Schuhe, Öko-Tex Leather Standard, Naturleder IVN zertifiziert, Österreichisches Umweltzeichen sowie die beiden Business-to-Business-Zertifizierungssysteme Leather Working Group (LWG) und Higg Brand and Retail Module (Higg BRM). Nur der Blaue Engel und das Österreichische Umweltzeichen haben laut Studie eine gesetzliche Grundlage.

“Wer ein Gütesiegel sucht, das umfassende nachhaltige Produktionsbedingungen kennzeichnet, wird bei den auf dem Markt bestehenden Zertifizierungen für Leder, Lederwaren und Schuhe nicht fündig”, kritisiert Berndt Hinzmann, Referent für Wirtschaft und Menschenrechte bei Inkota. Keines der Siegel enthalte Angaben zu existenzsichernden Löhnen oder zum risikobasierten Ansatz der Sorgfaltspflicht. Auch bei den sozialen Kriterien wiesen die Zertifizierungen große Mängel auf. Verbraucher würden beim Kauf von Lederwaren und Schuhen nicht über die Arbeitsbedingungen und Sozialstandards informiert.

Die Lederproduktion wird von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als Risikobranche für Arbeitnehmer eingestuft. Niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und Gesundheitsrisiken durch den intensiven Einsatz schädlicher Chemikalien sind vielerorts an der Tagesordnung. Hinzu kommen erhebliche Umweltbelastungen. ch

  • NGO

Künstliche Intelligenz: Gut und schlecht fürs Klima

Künstliche Intelligenz durchdringt immer mehr Bereiche des Alltags. Was das für die Umwelt und das Klima bedeutet, ist hingegen unklar. Einerseits kann sie bei der Energiewende helfen, zugleich wird durch die Zunahme von KI-Anwendungen aber auch immer mehr Energie verbraucht, was zu einem steigenden Ausstoß von Treibhausgasen führt. Auf diese Ambivalenz haben KI-Forschende der Stanford University in ihrem “AI Index Report” erneut hingewiesen. Der jährliche Bericht gilt als eine der wichtigsten Analysen aktueller KI-Trends.

In den vergangenen Monaten haben Entwickler neben “Chat GPT” zahlreiche weitere leistungsfähige Systeme veröffentlicht, die mit sehr großen Datenmengen trainiert wurden. Wie ein Vergleich zeigt, hatte das sehr unterschiedliche Folgen, abhängig von den genutzten Energiequellen sowie der Effizienz der Technologie und der Rechenzentren: Demnach produzierte “Chat GPT-3” bei 175 Milliarden Parametern 502 Tonnen CO2e, während es bei “OPT”, einem KI-Modell des Meta-Konzerns, 70 Tonnen und bei dem Open-Source-Programm “Bloom” lediglich 25 Tonnen waren – bei gleich vielen Parametern. Die Autoren erwarten, dass die Zahl der Anwendungen und auch die Menge der jeweils eingesetzten Trainingsdaten weiter zunimmt.

Als positives Gegenbeispiel nennt der Bericht einen Versuch bei Google. Dort konnte eine Künstliche Intelligenz den Energieverbrauch für die Kühlung der Server selbstständig innerhalb von drei Monaten um knapp 13 Prozent senken. Eine Aussage darüber, ob KI grundsätzlich unterm Strich zu einer Reduzierung der Klimabelastung beiträgt, könne aber noch nicht getroffen werden. Die Forschenden weisen stattdessen darauf hin, dass die Erhebung von Daten dazu komplex ist und Standards fehlen. Marc Winkelmann

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Verpackungen: Mehrweg beliebt – wenn die Rückgabe problemlos läuft

Mehrweg statt Einweg: Diese Regel gilt seit diesem Jahr für Restaurants und Lieferdienste, wenn sie ihre Gerichte verpacken und den Kunden mitgeben wollen. Das Ziel der Bundesregierung ist klar, sie will den jährlichen Müllberg reduzieren. Aber welche Lösung wünschen sich die Verbraucher? Danach hat das Deutsche Verpackungsinstitut gefragt und festgestellt, dass 76 Prozent Recyclingverpackungen bevorzugen. Knapp 50 Prozent votierten für die Optionen Mehrweg und Wiederbefüllung. 

Etwas mehr Befragte, nämlich knapp 61 Prozent, erklärten, dass sie die Bestrebungen der Politik befürworten, Mehrwegverpackungen zu fördern. Damit das in der Praxis aber auch tatsächlich klappt, forderten mehr als 70 Prozent eine Rückgabe, die unabhängig vom Ort des Kaufs funktioniert. Knapp 50 Prozent betonten, dass eine “problemlose und schnelle Rückgabe” wichtig sei. Mehr als ein Drittel gab an, die gebrauchten Verpackungen vor der Rückgabe nicht reinigen zu wollen. 

Verpackungen tragen stark zu den globalen Müllbergen bei, 2020 verbrauchte jeder Bundesbürger im Schnitt 226 Kilogramm; die Zahl stagniert seit Jahren. In der EU ist der Verpackungsmüll zwischen 2009 und 2020 um 20 Prozent gestiegen, die EU-Kommission will deshalb, dass sämtliche Verpackungen bis 2030 recycelbar sind. Marc Winkelmann

  • Verpackungen

Presseschau

200.000 Gehalt: So attraktiv ist der Quereinstieg als Nachhaltigkeitsmanager – Handelsblatt
Chief Sustainability Officers werden aktuell stark gesucht. Was Sie mitbringen müssen, um Unternehmen auf Nachhaltigkeit auszurichten und wie der Einstieg gelingt, hat sich Claudia Obmann angesehen. Zum Artikel

Komplexe Taxonomie: Wenn Unternehmen im Ausland schneller grün werden FAZ
Die Klimaregeln in Deutschland und der EU sind zu kompliziert. Unternehmen denken daher über Verlagerungen nach. Aber was sagen Firmenlenker eigentlich zu den Details der ESG-Regeln? Ein FAZ-Gastbeitrag von Anja Kern und Peter Jung. Zum Artikel

Vermeintliches Wundermittel Emissionshandel: So teuer wird Heizen und Autofahren bei höheren CO₂-Preisen Der Spiegel
Statt Gasheizungen und Verbrennermotoren zu verbieten, fordern viele Politiker höhere Preise für den CO₂-Ausstoß. Was sie dabei vergessen: Auch das wird für Immobilien- und Kfz-Besitzer enorm kostspielig, berichtet Claus Hecking. Zum Artikel

Jet planes and sugar cane: Qantas and Airbus get on board biofuel factory in Queensland The Guardian
Luftfahrtkonzerne setzen auf landwirtschaftliche Abfälle, um Emissionen zu reduzieren. Elias Visontay geht der Frage nach, ob das funktionieren kann. Ein Allheilmittel ist es aus Expertensicht jedenfalls nicht. Zum Artikel

Critics of corporate diversity efforts emerge, even as initiatives falter The Washington Post
Die Bemühungen von US-Unternehmen um Vielfalt sind in letzter Zeit in einen Kulturkampf über “wokeness” hineingezogen worden. Doch wie Taylor Telford herausgefunden hat, war das Engagement für diese Initiativen bereits vorher rückläufig. Zum Artikel

The Mission: ‘Create the Most Circular Watch’ The New York Times
Die Uhrenfirma ID Genève wurde 2020 nach den Grundsätzen der Kreislaufwirtschaft gegründet. Ein Bericht von Robin Swithinbank zeigt, wie der Einsatz von recycelten und wiederverwendeten Materialien auch bei hochpreisigen Produkten gelingen kann. Zum Artikel

Grüne Energie für Europa: Helmholtz-Atlas zeigt mögliche Wasserstoff-Hotspots in Afrika NTV
Energie aus erneuerbaren Quellen gehört die Zukunft – und grüner Wasserstoff soll sie speichern. Doch Deutschland allein wird mit seinen begrenzten Flächen kaum genug produzieren können. Der afrikanische Kontinent hingegen schon. Forscher errechnen nun, welche Standorte sich besonders lohnen. Zum Artikel

Rohstoffgewinnung: Keine Regeln für Tiefseebergbau TAZ
Obwohl die Zeit drängt, konnte sich die Internationale Meeresbodenbehörde nicht auf Vorschriften einigen. Das heißt, dass Unternehmen ab Juli ohne spezielle Vorgaben Lizenzen für den Abbau beantragen können, berichtet Heike Holdinghausen. Zum Artikel

Dürre in Brandenburg: Wo soll das Wasser für den Wasserstoff herkommen? Der Freitag
Das Land hat große Pläne für neue, grüne Industrien. Die brauchen aber viel Wasser. Und das ist in der Mark leider knapp. Ina Matthes und Dorian Baganz berichten über eine Landesregierung, die sich zu wenig Gedanken über eine wertvolle Ressource macht. Zum Artikel

Energiewende stockt: Ohne China wird es beim Windkraft-Ausbau schwierig Focus
Die Bundesregierung steht vor einem Dilemma: Der Bau von Windrädern auf hoher See ist ins Stocken geraten. Um hier wieder Fahrt aufzunehmen, sind neue Projekte ausgeschrieben, die wie gemacht sind für chinesische Unternehmen vom Schlage Huaweis. Doch die sollen nicht zum Zug kommen, weiß Oliver Stock. Zum Artikel

Aktenberge – nur für die Windenergie SWR
Frieder Kümmerer geht in seinem Beitrag der Frage nach, ob die Energiewende durch die Bürokratie ausgebremst wird. So musste ein Antrag für einen Windenergiepark im Rems-Murr-Kreis in 15-facher Ausführung von EnBW eingereicht werden. 36.000 Blatt Papier. Das sei kein Einzelfall. Auch andernorts werde kopiert, was das Zeug hält. Zum Artikel

Standpunkt

Für erfolgreiche Transformation ist ein Umdenken in der BWL nötig

Von Elisabeth Fröhlich
Lisa Fröhlich
Elisabeth Fröhlich ist Professorin für Strategisches Beschaffungsmanagement an der CBS International Business School.

Stapelkrisen beschreiben das Phänomen, dass nicht eine Krise nach der anderen unternehmerisches Handeln beeinflusst, mit bestenfalls zeitlichem Versatz, sondern eine Krise zu einer bereits bestehenden Krisen hinzukommt und diese in ihren negativen Auswirkungen noch verstärkt.

Es hat sich ein gehöriger Stapel gebildet: Corona-Pandemie, Klimakrise, Krieg und Stagflation – sie stellen Unternehmen vor eine ganze Reihe dramatischer Herausforderungen, die sie lösen müssen: Globale Lieferketten sind unterbrochen, notwendige Rohstoffe und Materialien fehlen in ausreichender Menge, Konsumenten sind verunsichert und zeigen deutlich größeres Interesse nachhaltig einzukaufen und der “War for Talent” verbunden mit dem Wunsch qualifizierter Arbeitskräfte nach mehr Flexibilität und Work-Life-Balance macht es für Unternehmen immer schwieriger, Arbeitskräfte langfristig an das eigene Unternehmen zu binden.

Regulierung zwingt Unternehmen umzudenken

Wir haben gelernt, dass Risiken etwas “Böses” sind, die es auf jeden Fall zu vermeiden gilt. Fakt ist aber auch, dass sich der Mensch erst dann bewegt, wenn er keinen Ausweg mehr sieht. Das gilt auch für neue Geschäftsmodelle, die die einzige Option für eine friedvolle und nachhaltige Zukunft bilden. An diesem Punkt sind wir nun angekommen, die aktuellen Auswirkungen der Stapelkrisen als Chance zu sehen, die nachhaltige und digitale Transformation unseres Wirtschaftssystems jetzt endlich “ernsthaft” zu betreiben.

Gesetzliche Bestimmungen wie das Deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, die Corporate Sustainability Due Diligence Directive oder die Corporate Sustainability Reporting Directive zwingen Unternehmen nun zu diesem Umdenken, zu einer strategischen Neuausrichtung unternehmerischen Handelns. Die neuen Gesetzgebungen, die Unternehmen letztendlich dazu befähigen sollen, die nachhaltigen Entwicklungsziele bis 2030 zu realisieren, sind als nichts anderes zu verstehen, als ein standardisierter Rahmen, um Unternehmen die gleiche Ausgangsbasis für die nachhaltige Transformation zu bieten und damit Free-Rider-Positionen zu verhindern oder zumindest zu erschweren.

Unterstützende Aktivitäten werden zu Primärfunktionen

Die Robustheit globaler Lieferketten ist schon seit Jahren ein Thema und wurde durch die zuvor genannten Stapelrisiken nur weiter verschärft. Viele Unternehmen stehen nun vor der Herausforderung, die Transparenz in ihren Lieferketten zu erhöhen, um durch die nachhaltige Gestaltung von Lieferketten, deren Robustheit zu garantieren.

Bisher folgt strategisches, unternehmerisches Handeln dem “Grundgesetz” der Value Chain von Michael Porter (Competitive Advantage: Creating and Sustaining superior Performance, 1985). Porters Grundgedanke liegt darin, einzelne Aktivitäten unternehmerischen Handelns zu identifizieren und diese so aufeinander abzustimmen, dass es Unternehmen gelingt, einen Wettbewerbsvorteil (added value) zu realisieren. Unternehmen sind somit nicht nur eine “Ansammlung” von Maschinen, Menschen und finanziellen Ressourcen, sondern ein Mehrwert entsteht erst, wenn die als wettbewerbsrelevant definierten unternehmerischen Aktivitäten im Sinne der unternehmerischen Gesamtstrategie verbunden werden.

In diesem Sinne unterscheidet Porter zwischen primären und unterstützenden Aktivitäten. Primäre Aktivitäten sind diejenigen, die sich mit der Produktion und Lieferung von Produkten auseinandersetzen. Dazu gehören die Eingangslogistik, Produktion, Ausgangslogistik, Marketing und Verkauf sowie Service. Die unterstützenden Aktivitäten erhöhen die Effektivität und Effizienz der primären Aktivitäten und umfassen die Beschaffung, Technologie, Personalwesen und die Firmeninfrastruktur. Das erfordert ein Umdenken in der Betriebswirtschaftslehre.

Die zuvor erläuterten Stapelkrisen machen deutlich, dass effizientes und effektives unternehmerisches Handeln nicht mehr durch die Primärfunktionen realisiert werden kann, sondern die vormals unterstützenden Aktivitäten die Rolle der Primärfunktionen übernehmen müssen.

Der Einkauf ist das fehlende Glied einer nachhaltigen Lieferkette

In diesem Beitrag liegt der Fokus auf der veränderten Wahrnehmung der Rolle der strategischen Beschaffungsfunktion. Auch das Verständnis der Unternehmensleitung für die zunehmende strategische Bedeutung dieser Funktion für den zukünftigen Unternehmenserfolg hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Das belegen empirische Studien, denen zufolge der Einkauf das fehlende Glied einer nachhaltigen Lieferkette ist. Und wie bereits zuvor erläutert, gibt es keine robusten Lieferketten ohne Nachhaltigkeit.

Dies lässt den Schluss zu, dass die einleitend genannten gesetzlichen Herausforderungen und Krisen nur durch die Neugestaltung der strategischen Beschaffungsaufgaben bewältigt werden können. Dies macht es aber zwingend erforderlich, dass Porters Logik auf den Kopf gestellt wird, und die bisherigen Sekundärfunktionen zu den primären Handlungsfeldern strategischen, unternehmerischen Agierens werden. Das verlangt entsprechend auch eine andere Ausbildung des Managementnachwuchses.

Aufbauend auf den soeben getätigten Aussagen sollen noch einige Worte zur Bedeutung der nachhaltigen Beschaffung verloren werden, verstanden als “[…] die Integration von Grundsätzen der sozialen Verantwortung (Corporate Social Responsibility, CSR) in die Beschaffungsprozesse und -entscheidungen Ihres Unternehmens, wobei gleichzeitig sichergestellt wird, dass diese den Anforderungen Ihrer Stakeholder entsprechen. Nachhaltige Beschaffung integriert Spezifikationen, Anforderungen und Kriterien, die mit dem Schutz der Umwelt und der Gesellschaft insgesamt vereinbar sind […]”.

Neugestaltung der Lieferketten braucht ganzheitliche Strategie

Das Forscherteam Villena & Gioia sieht die größte Herausforderung in der Neugestaltung der Lieferanten-Beschaffer-Beziehungen, die die gesamte Lieferkette umfassen. Die soziale und ökologische Verantwortung von Zulieferern ist durch die nachfolgenden Schritte zu fördern:

  • Festlegung gemeinsamer langfristiger Nachhaltigkeitsziele.
  • Darauf aufbauend formulieren Zulieferern der ersten Ebene ihre eigenen langfristigen Nachhaltigkeitsziele.
  • Zulieferer der unteren Ebenen werden von den 1st Tier-Lieferanten mit in die allgemeine Nachhaltigkeitsstrategie eingebunden.
  • Alle Mitarbeiter der Einkaufsabteilung haben die Aufgabe wahrzunehmen, das Nachhaltigkeitsprogramm des Unternehmens auf die Zulieferer der ersten und zweiten Ebene auszuweiten. Dazu wird eine sogenannte “Point Person” bestimmt.

Die nachhaltige Transformation unseres Wirtschaftssystems ist somit nur realisierbar, wenn sich Unternehmen von der strategischen Grundausrichtung Porters verabschieden und erkennen, dass sich die Bedeutung einzelner unternehmerischer Aufgaben zur Zukunftssicherung grundsätzlich verändert hat. In dieser strategischen Neuausrichtung unternehmerischen Handelns liegt die wahre Herausforderung unseres Wirtschaftssystems!

Elisabeth Fröhlich ist seit Ende 2007 als Professorin an der CBS International Business School für den Bereich Strategisches Beschaffungsmanagement verantwortlich. Von Mai 2013 bis November 2022 leitete sie die CBS in ihrer Funktion als Präsidentin. Sie ist Vorstandsmitglied mehrerer wissenschaftlicher Organisationen. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen in den Themen Sustainable Supply-Chain-Management und Nachhaltige Beschaffung, Qualifizierung im Einkauf sowie im Strategischen Lieferantenmanagement.

  • Einkauf
  • Nachhaltigkeitsstrategie
  • Transformation

Heads

Neues Team für Nachhaltigkeit bei Tchibo: Johanna von Stechow und Pablo von Waldenfels

Johanna von Stechow und Pablo von Waldenfels haben Ende 2022 das Ruder übernommen – und arbeiten daran, Kaffee, Töpfe und Jacken nachhaltiger zu machen

Für Johanna von Stechow sitzt die vielleicht härteste Jury ihrer Arbeit am Frühstückstisch. Die vierfache Mutter ist Nachhaltigkeitsmanagerin bei Tchibo. “Meine Kinder stellen mir dazu immer wieder kritische Fragen”, erzählt von Stechow. Für sie ist ihre Arbeit also auch ein persönliches Anliegen, denn sie möchte ihren Beitrag dazu leisten, dass ihre Kinder auch in Zukunft eine lebenswerte Welt haben.

Die studierte Historikerin arbeitete zunächst in der Unternehmensberatung, vor rund 16 Jahren kam sie zu Tchibo, vor inzwischen sechs Jahren wechselte sie dann in ihre heutige Abteilung. “Nachhaltigkeit ist immer im Wandel, da ist wahnsinnig viel Bewegung drin”, sagt von Stechow. “Um gute Lösungen zu finden, muss man mit vielen Menschen reden, kreativ werden, kooperieren.”

Erfahrene Doppelspitze

Seit November steht von Stechow zusammen mit ihrem Tandempartner, Pablo von Waldenfels, an der Spitze der Unternehmensverantwortung. Der 44-Jährige studierte von 2003 bis 2009 Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Leuphana Universität in Lüneburg, die schon damals Nachhaltigkeitsmanagement als Schwerpunkt anbot.

Auch von Waldenfels arbeitete nach dem Studium zunächst in der Beratung, insgesamt 13 Jahre lang half er Unternehmen bei der Transformation zur Nachhaltigkeit. Zudem betreute er internationale Infrastrukturinvestitionen in Bergbau, Öl und Gas, Wasserkraft und Windkraft. “Mir war es immer wichtig, dass die Menschen vor Ort von den Investitionen profitieren”, betont von Waldenfels. “Das war damals wie heute echtes Überzeugungstätertum.”

Kaffee aus zertifizierten Quellen

Heute soll er bei Tchibo dafür sorgen, dass zukünftig 100 Prozent des Kaffees “verantwortungsvoll eingekauft” wird, wie es das Unternehmen selbst nennt. Dabei steht er vor zwei großen Herausforderungen, erklärt von Waldenfels. “Unsere Produzenten sollen ein auskömmliches Einkommen erzielen.” Teilweise müssten die Farmer mit ihrer Arbeit die ganze Familie durchbringen. Die Situation könne von Farmer zu Farmer sehr unterschiedlich sein.

Im Jahr 2021 hatten rund 20 Prozent des Tchibo-Kaffeesortiments ein Bio-Siegel oder waren zertifiziert, von Fairtrade, Rainforest Alliance oder UTZ. Auf dem gesamten deutschen Kaffeemarkt lag die Fairtrade-Quote im selben Zeitraum bei rund fünf Prozent. Verantwortungsvoll eingekauft bedeute aber nicht, dass Tchibo komplett auf die Siegel von Fairtrade oder der Rain Forest Alliance setzt, betont von Waldenfels. “Bei unserem nicht-gesiegelten Kaffee arbeiten wir langfristig mit den Farmern zusammen und helfen ihnen, ihr Einkommen zu diversifizieren und die Anbausysteme zu optimieren.”

Anpassung wegen Klimawandel erforderlich

Die zweite große Herausforderung bringt der Klimawandel mit sich. Davon seien heute vor allem kleinere Länder wie Äthiopien und Honduras betroffen, die mit der Arabica-Bohne tendenziell höherwertigen Kaffee produzieren. “Wir müssen in die Farmen investieren, um die Produktion resilienter zu machen”, sagt von Waldenfels. “Ohne Investitionen in die Anbausysteme und neue Kaffeesorten wären wir irgendwann auf synthetischen Kaffee angewiesen.”

Johanna von Stechow konzentriert sich auf das zweite Standbein von Tchibo: den Non-Food-Bereich. Ein großer Teil der Hartwaren kommt aus China, Textilien werden vor allem in Bangladesch produziert. Länder, die nicht unbedingt für gute Arbeitsbedingungen bekannt sind. Von Stechow und ihr Team arbeiten daher eng mit Kooperationen und Partnerprogrammen vor Ort zusammen.

Die Einkommensfrage in der Lieferkette sei auch hier eine der größten Baustellen. Ein Herzensprojekt der 44-Jährigen: Mit dem “Act on Living Wages” hat sich Tchibo mit 19 global agierenden Marken zusammengetan, um den Fabrikarbeitern faire Einkommen zu zahlen. “Wir haben uns stark für das Thema ausgesprochen, wie auch für das Lieferkettengesetz, und das nicht immer zum Wohlgefallen unserer Mitbewerber”, sagt von Stechow. Aber Veränderung sei nur möglich, wenn nicht bloß ein einzelnes Unternehmen mehr Geld in seine Lieferketten investiert. “Das ist ein Zusammenspiel aus internationalen Gewerkschaften, Fabriken, Regierungen und den Marken, die in den Fabriken zusammenkommen.” Pascal Mühle

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ESG.Table Redaktion

Licenses:
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    ­ohne neue, digitale Technologien gelingt die ökologische Transformation der Landwirtschaft nicht – davon ist der Verband Grüner Wirtschaftsdialog überzeugt. Doch die Umstellung sei aufwendig, teuer und brauche neue politische Rahmenbedingungen. Über den Entwurf eines Positionspapiers, der Table.Media exklusiv vorliegt, berichtet Timo Landenberger.

    Die europäischen Autohersteller dagegen sind noch nicht in der Moderne angekommen, zumindest wenn es um ihre Crashtests geht, analysiert Carsten Hübner. Vorgeschrieben ist weiterhin nur eine standardisierte Puppe, die dem US-Durchschnittsmann aus den 70er-Jahren entspricht. Der Transport-Ausschuss des Europaparlaments setzt sich nun für weibliche Crash-Test-Dummies ein.

    In unserer Serie “10 Jahre Rana Plaza” geht es diese Woche um die Wirksamkeit von Lieferkettengesetzen. Im Interview mit Charlotte Wirth kritisiert der französische Abgeordnete Dominique Potier, dass das deutsche Gesetz und der Entwurf für eine europäische Richtlinie den Unternehmen zu detaillierte Vorgaben machen – und damit Unternehmen dazu verleiten, nur auf Compliance zu schauen. Der Politiker hatte das Lieferkettengesetz in Frankreich mit auf den Weg gebracht.

    Im Standpunkt argumentiert die Expertin für strategisches Beschaffungsmanagement, Elisabeth Fröhlich, dass die nachhaltige Transformation des Wirtschaftssystems nur klappt, wenn in der BWL ein Umdenken stattfindet: hin zu einem Fokus auf Beschaffung, Technologie, Personalwesen und die Firmeninfrastruktur.

    Zu guter Letzt: Wenn Ihnen der ESG.Table gefällt, leiten Sie uns bitte weiter. Wenn Ihnen diese Mail zugeleitet wurde: Hier können Sie das Briefing kostenlos testen.

    Ihr
    Nicolas Heronymus
    Bild von Nicolas  Heronymus

    Analyse

    Landwirtschaft: Mit Digitalisierung die ökologische Transformation voranbringen

    Mit der Farm to Fork Strategie soll Europas Landwirtschaft endlich auf den Transformationspfad kommen. Die Ziele: 50 Prozent weniger Pestizide, 50 Prozent weniger Nähstoffverluste, 30 Prozent weniger Düngemittel bis spätestens 2030. Das ist ambitioniert und sorgt für heftigen Streit in Brüssel. Schließlich bleibt die Ernährungssicherung zugleich die Hauptaufgabe der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik.

    Einige Experten und Verbände, darunter der Grüne Wirtschaftsdialog, sind überzeugt: Die Ziele sind nur erreichbar, indem die ökologische Transformation der Landwirtschaft mit der digitalen Hand in Hand geht. Stichwort: Smart Digital Precision Farming. Was steckt dahinter?

    Bislang werden die Betriebsflächen überwiegend einheitlich bewirtschaftet, Düngemittel und Pestizide also gleichmäßig über das Feld ausgebracht. Ackerflächen weisen aber im Regelfall sehr heterogene Gegebenheiten auf. Bodeneigenschaften, Wasserspeicherung oder Schädlingsbefall können von Quadratmeter zu Quadratmeter variieren. Die Folge: Pflanzen werden an der einen Stelle über- und an der anderen unterversorgt.

    Digitaler Präzisionsackerbau

    Durch digitalen Präzisionsackerbau soll sich das ändern, Wasserverschwendung sowie Düngemittel- und Pestizideinsatz sollen verringert und gleichzeitig der Ertrag gesteigert werden. Denn mittels Satelliten- oder Drohnenbildern können die unterschiedlichen Bedingungen auf einer Fläche exakt bestimmt und ausgewertet werden. Die Daten werden dann auf eine Maschine übertragen, die mithilfe von GPS-Technik vollautomatisiert über das Feld fährt und punktgenau Wasser, Pestizide und Düngemittel ausbringt.

    Was wie Zukunftsmusik klingt, ist technisch längst möglich und wird zumindest in Teilen auch bereits angewendet. Doch die Hürden sind hoch. Die Umstellung ist mit enormem Aufwand, Unsicherheiten und vor allem Kosten verbunden. Um kleinere Betriebe bei der Transformation nicht abzuhängen, für ein Level-Playing-Field und für Planungssicherheit zu sorgen, müsse die Politik in Berlin und Brüssel die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. Es herrsche dringend Handlungsbedarf, sagt Thomas Gambke, Vorsitzender des Grünen Wirtschaftsdialogs (GWD). Laut dem Entwurf eines Positionspapiers des GWD, das Table Media exklusiv vorliegt, gehört dazu:

    • Digitale Infrastruktur sicherstellen, darunter insbesondere der Breitbandausbau und die Abdeckung mit 5G-Technologie.
    • Standardisierung der Technologien und Daten, um für faire Wettbewerbsbedingungen zu sorgen und neue Abhängigkeiten sowie Monopolbildungen bei einzelnen Großkonzernen zu verhindern.
    • Datenschutz sicherstellen. Andererseits aber auch den Zugang zu beispielsweise Wetter- und Geodaten vereinfachen sowie für Transparenz und Monitoring sorgen.
    • Ausbildung und Beratung fördern, vor allem hinsichtlich der notwendigen IT-Kenntnisse, aber auch hinsichtlich Investitionsbedarf und Wirtschaftlichkeit.

    Kostenteilung in Genossenschaften?

    “Die Kosten der Transformation sind sehr hoch und die Frage, wie sich das gerade für kleinere Betriebe organisieren lässt, ist sehr wichtig”, sagt Gambke. “Eine mögliche Lösung wäre, die Anlagen durch Genossenschaften zu teilen.” Das sei in der Landwirtschaft gut geübte Praxis.

    Dabei dürfe die sozio-ökonomische Komponente nicht unterschätzt werden. “Das sind überwiegend Familienbetriebe. Kenntnisse über den eigenen Grund und Boden und die Praktiken wurden teils über mehrere Generationen weitergegeben. Eine digitale Transformation ist sinnvoll für die ökologische und ökonomische Fortentwicklung von landwirtschaftlichen Betrieben. Zugleich stellt diese einen tieferen Eingriff in die Autorität und Selbstbestimmung der Landwirte dar”, gibt Gambke zu bedenken und rät, die Branche bei der Schaffung politischer Rahmenbedingungen eng mit einzubinden.

    In Brüssel ist man sich des Potenzials bewusst. Digitale Technologien halten zunehmend Einzug in die agrarpolitischen Rechtsakte der EU. So sieht etwa der Kommissionsvorschlag für eine neue Verordnung zur Verringerung des Pestizideinsatzes auch eine strategische Beratung und Förderung mit Blick auf Präzisionslandwirtschaft vor. Über weitere delegierte Rechtsakte sollen außerdem Kriterien für den Einsatz von Drohnen inklusive einer möglichen Ausbringung von Pestiziden aus der Luft festgelegt werden.

    Teil-Ziel der GAP: Modernisierung

    Auch im Rahmen der neuen Förderperiode der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) verfolgt die EU das Ziel einer Modernisierung der Landwirtschaft. So sind die Mitgliedsstaaten dazu angehalten, in ihren nationalen Strategieplänen Investitionen in digitale Technologien zu unterstützen.

    Diese könnten neben der Optimierung der Verfahren auch zu einer Verringerung des Verwaltungsaufwands und zu einer besseren Überwachung der Indikatoren führen, heißt es aus Kreisen der EU-Kommission. Digitale Technologien seien das Kernstück des Kontrollsystems (InVeKoS), das von den Mitgliedstaaten für die korrekte Auszahlung der Beihilfen an die GAP-Empfänger genutzt werde.

    Parallel sollen “horizontale” Rechtsakte aus dem Bereich der Digitalpolitik, darunter der Data Act, für den entsprechenden Rahmen hinsichtlich Datenschutzes und Standardisierung sorgen und Landwirten einen besseren Zugang zu Geo- oder Wetterdaten ermöglichen.

    Bei der nationalen Umsetzung verweist das Landwirtschaftsministerium auf die “digitalen Experimentierfelder”. Auf bundesweit 14 landwirtschaftlichen Betrieben wird seit 2019 der Einsatz digitaler Technologien erprobt. Daneben soll das neue Förderprojekt “Zukunftsbetriebe und Zukunftsregionen” die nachhaltige digitale Transformation der Landwirtschaft vorantreiben. Beide Projekte sollen den Wissenstransfer in die Praxis beschleunigen und Landwirten die Möglichkeit geben, Vor- und Nachteile der Technologien in der Anwendung kennenzulernen.

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    EU: Autohersteller sollen weibliche Crash-Test-Dummies einsetzen

    Wenn Autohersteller Unfälle simulieren, stellen sie viele Szenarien nach. Aufprall von vorne oder von der Seite, mit anderen Autos oder mit einem Motorrad und das in verschiedenen Geschwindigkeiten – alles wird getestet. Bloß innen, da sitzt vor allem einer: der Crash-Test-Dummy “Hybrid III 50th Male”, 1,75 Meter groß, 78 Kilogramm schwer. Eine standardisierte Puppe, die dem durchschnittlichen Mann entspricht. Oder entsprechen soll. Denn entwickelt wurde sie bereits in den 70er-Jahren in den USA.

    Dass Autofahrer heute womöglich andere Maße haben, wird nicht berücksichtigt. Und dass Frauen am Steuer sitzen könnten, auch nicht. Dabei kommen sie ähnlich häufig zu Schaden wie Männer, obwohl sie seltener Unfälle verursachen. Für sie wird lediglich eine kleinere Version des männlichen Modells genutzt: “HIII5F” ist 1,52 Meter groß und 54 Kilogramm schwer – was eher einem 12- bis 14-jährigen Mädchen als einer Frau entspricht.

    Der Transport-Ausschuss des Europaparlamentes setzt sich deshalb jetzt für weibliche Crash-Test-Dummies ein. In einer Stellungnahme zu einem Bericht über die Verkehrssicherheit von Frauen fordert er, dass Crash-Tester künftig auch “weibliche Dummies” nutzen müssen. “Zu lange wurden Autos, Autositze und Sicherheitsgurte für den männlichen Körper konzipiert, was für Frauen, die in Autounfälle verwickelt sind, katastrophale Folgen hat”, sagt die grüne Europaabgeordnete Tilly Metz, die den Änderungsantrag eingereicht hat. “Mit unserer Stellungnahme fordern wir die Kommission auf, neue Normen für Crash-Test-Dummies zu entwickeln.”

    Das Bundesverkehrsministerium sieht keinen Handlungsbedarf

    Auch die grüne Bundestagsabgeordnete Swantje Michaelsen kritisiert die derzeitigen Standards. “Die aktuelle Prüfpraxis ist wirklich problematisch, denn sie ignoriert die Mehrheit aller Verkehrsteilnehmenden”, sagt sie. Als Berichterstatterin im Verkehrsausschuss hat sie sich bereits an das Bundesverkehrsministerium gewandt, ohne Erfolg. “Leider lautete die Rückmeldung: Das Ministerium sieht keinen Handlungsbedarf.”

    Michaelsens männliche Koalitionskollegen springen ihr nicht bei. Jürgen Lenders (FDP) verweist auf den aktuellen Unfallverhütungsbericht und den wissenschaftlichen Kenntnisstand und kann “aktuell keine Handlungsnotwendigkeit” erkennen. Der SPD-Angeordnete Mathias Stein warnt davor, “die Debatte um den Innenraumschutz bei Kfz-Unfällen auf die Geschlechterfrage zu reduzieren”. Frauen seien “inzwischen nurmehr geringfügig schlechter geschützt”. Die gravierendsten Unterschiede gebe es noch im Bereich der Schleudertraumata – “ein Problem, das technisch gelöst werden muss”.

    Frauen verletzen sich anders und schwerer

    Laut Statistischem Bundesamt wurden 2021 insgesamt 161.201 Autoinsassen verletzt, darunter 80.732 Frauen. Studien zeigen, dass bei ihnen im Vergleich zu Männern überdurchschnittlich häufig am Becken, an den Beinen und der Wirbelsäule verletzen. Frauen werden außerdem öfter im Unfallfahrzeug eingeklemmt und sind einem etwa doppelt so hohen Risiko ausgesetzt, ein Schleudertrauma zu erleiden.

    Die Unfallchirurgin Rebecca Sänger führt das auf anatomische Unterschiede zurück. “Die Muskulatur und die Bänder von Frauen haben einen kleineren Gesamtdurchmesser, so auch in der Halswirbelsäule, was eine geringere Absorptionsfähigkeit von freigesetzter Energie während Auffahrunfällen erklärt.” Ein anderes Problem: Weil Frauen mit ihren im Schnitt kürzeren Beinen näher an das Armaturenbrett heranrücken, prallen sie leichter mit ihren Knien und Unterschenkeln auf, was sogenannte “Dashboard-Verletzungen” nach sich ziehen kann – Brüche des Oberschenkels, der Kniescheibe, ein Ausrenken des Hüftkopfes und Schäden an der Wirbelsäule. 

    Siegfried Brockmann ist Leiter der Unfallforschung beim Gesamtverband der Versicherungswirtschaft (GDV). Für Table Media hat er in der EUSKA-Datenbank nachgeschaut: Demnach zeigen die polizeilichen Unfalldaten aus elf Bundesländern ein um elf Prozent höheres Risiko für Frauen, im Pkw schwer verletzt zu werden. Bei leichten Verletzungen liegt ihr Anteil um 44 Prozent höher als bei Männern. Zudem bestätigen die GDV-Unfalldatenbank und die internationale Forschung laut Brockmann, “dass weibliche Personen tatsächlich überdurchschnittlich oft eine HWS-Distorsion erleiden”.

    Team von Forscherinnen stellt weiblichen Dummy vor

    Die schwedische Ingenieurin Astrid Linder, die als Forschungsdirektorin am Swedish National Road and Transport Research Institute tätig ist, hat mit ihrem Team deshalb kürzlich “EVA” vorgestellt. Der Dummy ist weiblich geformt, 1,62 Meter groß und 62 Kilogramm schwer und hat einen veränderten Schwerpunkt, weil das Becken und die Hüfte bei Frauen anderes ausgeprägt sind als bei Männern. Nun fehlt es nur noch an der Nachfrage. “Wenn die Gesellschaft das Modell einer durchschnittlichen Frau haben möchte, dann wird sie das bekommen”, sagt Linder. Noch scheint es allerdings nicht so weit zu sein.

    Ein Grund dürften die EU-weit geltenden Vorschriften der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UNECE) sein. Die UNECE arbeitet seit Ende der 1950er-Jahre an der grenzüberschreitenden Harmonisierung technischer Standards. In ihren Regelungen 94, 95 und 137, die sich mit der Sicherheit von Fahrzeuginsassen befassen, ist der “Hybrid III 50th Male” und davon abgeleitete Varianten als Test-Norm für die Autohersteller festgeschrieben. “Es ist, als würde die Gesellschaft sagen: Nein, wir schauen uns das nicht an, wir interessieren uns nur für den Durchschnittsmann”, so Linder.

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    “Das deutsche Lieferkettengesetz verleitet Unternehmen dazu, lediglich Kästchen anzukreuzen.”

    Dominique Potier bei der Begrüßung der Abgeordneten in der Französischen Nationalversammlung nach den Parlamentswahlen 2022.

    2017 wurde in Frankreich erstmals ein Gesetz zur Sorgfaltspflicht für Unternehmen verabschiedet, das sogenannte “Rana-Plaza-Gesetz”. Gab der Gebäudeeinsturz in Bangladesch vier Jahre zuvor den Anstoß?

    Nein. Das Gesetz trägt zwar den Beinamen “Rana Plaza”, aber der Impuls kam von der französischen Zivilgesellschaft. Im Rahmen der Präsidentschaftswahlen 2012 machten NGO zwölf Vorschläge für einen solidarischen Planeten. Die Sorgfaltspflicht war eine dieser Forderungen. Rana Plaza hat das Thema in den Vordergrund gebracht, in Europa zeigte man sich sehr solidarisch mit den Opfern in Bangladesch. Sie begannen, sich mit dem Thema Lieferketten und den Folgen ihres Konsums zu beschäftigen. Rana Plaza wurde so zum Synonym für die negativen Auswirkungen der Globalisierung auf Umwelt und Menschenrechte.

    Die französischen Unternehmen sahen den Vorstoß wahrscheinlich anders.

    Für die Unternehmerschaft ist es schwierig, ein solches Gesetz explizit zu verurteilen: Niemand will Kinderarbeit und Umweltverbrechen verteidigen. Aber natürlich haben sich die französischen Unternehmen gegen so ein Gesetz gewehrt und tun es auch weiterhin. Sie haben einen enormen Druck auf die Regierung ausgeübt, prophezeiten Standortverlagerungen, eine Schwächung der französischen Wirtschaft und von Frankreichs Wettbewerbsfähigkeit. Sie sagten auch, ein solches Gesetz sei juristisch unmöglich umzusetzen. Fünf Jahre lagen zwischen dem ersten Gesetzesvorschlag und der Verabschiedung des Gesetzes. Die ursprüngliche Fassung war deutlich strenger als der Text, auf den wir uns 2017 schlussendlich einigen konnten.

    Inwiefern?

    Das Gesetz hat einige Schwachstellen und die waren von Anfang an absehbar: Es fallen zu wenig Unternehmen unter das Gesetz, wir konnten die Beweislast nicht umkehren und auch die strafrechtliche Verfolgung mussten wir fallen lassen. Für diese Punkte gab es keine politische Mehrheit. Das war der Preis, den wir zahlen mussten, um einen Kompromiss zu erreichen.

    Aber sie haben jetzt ein Gesetz. Wie bewerten Sie den Erfolg?

    Wir haben Außerordentliches geschafft. In vielen Punkten ist das Gesetz genial, zum Beispiel umfasst es die gesamte Wertschöpfungskette, ganz gleich, auf welcher Ebene Probleme auftreten. Das Gesetz gilt für alle etablierten Geschäftsbeziehungen, sprich alle formalisierten Verhältnisse zwischen Unternehmen, Subunternehmen und Zulieferern. Es kann auch noch die Zulieferer der hundertsten Ebene der Kette betreffen.

    Setzt sich der Kampf für saubere Lieferketten nun auf europäischer Bühne fort?

    Wir haben direkt nach der Verabschiedung des französischen Gesetzes mit dem Plädoyer für ein europäisches Gesetz begonnen. Es ist ein langer Kampf. Wenn alles gut geht, dann wird die europäische Richtlinie noch dieses Jahr zwischen Kommission, Rat und Parlament verhandelt. Bis die Verhandlungen abgeschlossen sind und auch noch der letzte Mitgliedstaat die Richtlinie umgesetzt hat, dauert es wieder mehrere Jahre. Am Ende liegen mindestens zehn Jahre zwischen der Verabschiedung des französischen Gesetzes und dem EU-Gesetz. Das geht eigentlich viel zu langsam. Aber man kann das Ganze auch positiv sehen: Mit Blick auf die Verantwortung, die Unternehmen zukünftig für ihre Wertschöpfungsketten übernehmen müssen, sehen wir einer kleinen Revolution entgegen.

    Das Gesetz hat nur drei Artikel, es ist sehr kurz. Der Kommissionsvorschlag und auch das deutsche Lieferkettengesetz füllen hingegen dutzende Seiten. Wie kommt das?

    Es gibt in der Rechtswissenschaft zwei Schulen. Das französische Recht baut auf großen Prinzipien auf. Es vertraut auf die Arbeit der Richter, um die rechtliche Tragweite zu ermitteln. Die Jurisprudenz bestimmt die Auslegung des Gesetzes. Durch seinen globalen und ganzheitlichen Charakter setzt das französische Sorgfaltspflichtengesetz auf die Eigeninitiative und das Engagement der Unternehmen.

    Das deutsche Gesetz sowie die EU-Richtlinie gehören einer anderen Schule an. Sie sind sehr präzise und lesen sich wie ein Katalog an Verboten und Erlaubtem. Das mag auf den ersten Blick Sinn ergeben, kann aber auch Anlass zur Sorge sein. Denn diese Art der Ausgestaltung verleitet die Unternehmen dazu, lediglich Kästchen anzukreuzen, sich aber nicht tiefgreifender mit der Frage der Auswirkungen der eigenen Aktivitäten auf die Wertschöpfungskette zu befassen. Angesichts der Komplexität von Lieferketten, Auftragsvergabe, Produktionsstufen und Filialisierung von Unternehmen sehe ich bei einem “Box-Ticking” die Gefahr, dass wichtige Herausforderungen übersehen werden.

    Der größte Fehler bei der Umsetzung der Richtlinie wäre es, dass Unternehmen ihre Energie darauf fokussieren, sich rechtlich gegen wirtschaftliche Risiken und eine mögliche Rufschädigung zu schützen, sie sich aber nicht darum bemühen, nach guten Lösungen zu suchen, die sich positiv auf die gesamte Wertschöpfungskette auswirken.

    Hat sich der französische Lobbydruck auch nach Brüssel verlagert?

    Auf jeden Fall. Der Kampf gegen das Gesetz spielt sich jetzt in der EU-Blase ab, insbesondere über Business Europe. Die französischen Unternehmensvertreter hoffen auf eine Richtlinie, die das französische Gesetz abzuschwächen vermag.

    An dem Argument, dass Lieferkettengesetze juristisch schwer durchzusetzen sind, scheint etwas dran zu sein: Kürzlich ist die Klage französischer NGO gegen TotalEnergies gescheitert. Das Pariser Gericht hat sie wegen Verfahrensfehlern abgewiesen.

    Ich glaube nicht, dass die Klage gescheitert ist. In den letzten fünf Jahren gab es einige juristische Entwicklungen rund um das Gesetz, vor allem dank dieser Klage. Das Pariser Gericht hat sich auf Klagen zur Sorgfaltspflicht spezialisiert, es hat jetzt die alleinige Zuständigkeit. Und nicht das Handelsgericht oder irgendwelche Ortsgerichte. Ich bin überzeugt, dass sich die Jurisprudenz langsam etablieren wird. Natürlich träumen wir alle von einem Präzedenzfall, der die Auslegung des Gesetzes definiert. Aber wir haben es hier mit einer ganz neuen Rechtslage zu tun, das braucht Zeit.

    Wie wirkt sich das französische Gesetz auf die Zielländer aus?

    Wir haben die Textil- und Kakaobranche analysiert. Und tatsächlich gibt es ein Paradox: Manchmal wollen französische Unternehmen positive Anreize setzen, jedoch werden sie von einem Zulieferer ausgebremst, der in einer Region oder bei einem Rohstoff eine Monopolstellung hat. Wenn dieser sich nicht für Menschenrechte und Umweltfragen interessiert, dann haben wir ein Problem. Denn aufgrund seiner Monopolstellung kann er es sich leisten, sich auf andere Märkte zu fokussieren und weiter auf Low-Cost-Standards auf Kosten der Umwelt und Menschenrechte setzen. Was also tun? Unsere Unternehmen können ihre Produktion kaum aussetzen. Sie sind also in einer Sackgasse.

    Und dann?

    Die betroffenen Unternehmen verweisen in diesen Fällen auf die Verantwortung des Staates. Ein Gesetz zur Sorgfaltspflicht kann die Welt nicht im Alleingang verändern. Die Staaten müssen gleichzeitig an internationalen und zwischenstaatlichen Lösungen arbeiten: etwa im Rahmen von Handelsabkommen oder auf der Ebene der Vereinten Nationen – wie beim kürzlich verabschiedeten Pakt über die biologische Vielfalt der Ozeane.

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    • Lieferkettengesetz
    • Menschenrechte
    • Sorgfaltspflichten

    Termine

    14.4.2023, 11:00-20:00, München
    Präsenzveranstaltung Umweltpolitisches Josef-Göppel Symposium (DVL)
    Die Veranstaltung befasst sich ganztägig mit den Themen Energiewende, Naturschutz, Landwirtschaft und globale Gerechtigkeit. Die Keynote hält die DIW-Energieökonomin Prof. Dr. Claudia Kemfert. Info & Anmeldung

    17.4.2023, 14:00-17:00 Uhr
    Bundestag Öffentliche Anhörung zum 15. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik
    Die Anhörung organisiert der Bundestagsausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Info & Anmeldung

    18.-19.4.2023
    Tagung Bundesverband Managed Care-Kongress 2023 (BMC)
    Zentrales Thema der Veranstaltung ist die Transformation des Gesundheitswesens. Dabei setzen die Veranstalter auch auf den intensiven Austausch zwischen Entscheidungsträgern, Experten aus Wissenschaft und Versorgung sowie weiteren Partnern aus der Gesundheitsbranche. Info & Anmeldung

    19.4.2023, 9:00-10:30 Uhr
    Bundestag Öffentliche Anhörung zum Mercosur-Abkommen
    Der Wirtschaftsausschuss des Bundestages hat Sachverständige geladen, die Stellung zum Inhalt und Stand des Mercosur-Abkommens beziehen. Info & Anmeldung

    19.4.2023, 10:00-11:00 Uhr
    Online-Seminar Anforderungen an einen ZIM-Projektantrag – Formale Erfordernisse richtig umgesetzt (BMWK)
    Mit dem Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand (ZIM) sollen die Innovationskraft und damit die Wettbewerbsfähigkeit mittelständischer Unternehmen, einschließlich des Handwerks und der unternehmerisch tätigen freien Berufe, nachhaltig gestärkt werden. Info & Anmeldung

    19.4.2023, 15:00-16:00 Uhr
    Bundestag Öffentliche Anhörung zum Wintersport und Tourismus im Zeichen des Klimawandels
    Themen der Anhörung sind die Zukunft des Wintersports, die Reaktion anderer Länder auf den Schneemangel, Ganzjahreskonzepte für den Tourismus in den Wintersportregionen und die Diversifizierung des Angebots sowie Nachhaltigkeit beim Wintersportangebot. Info & Anmeldung

    19.4.2023, 16:30-18:00 Uhr
    Online-Seminar Auf zu neuen Wegen – anders wirtschaften in Theorie und Praxis (RENN-Netzwerk)
    Ein “immer schneller, immer höher, immer weiter” um jeden Preis stößt an die Grenzen des ökologisch Tragfähigen. Wie gelingt es, unsere natürliche Lebensgrundlage zu erhalten und die Bedürfnisse aller Menschen gleichermaßen zu befriedigen? Info & Anmeldung

    20.4.2023, 10:00-13:15 Uhr
    Online-Seminar The end of the internal combustion engine – Is Europe ready for future mobility? (Germanwatch)
    Die Online-Debatte bringt politische Entscheidungsträger, Unternehmen, Think-Tanks und Vertreter der Zivilgesellschaft aus Frankreich, Polen und Deutschland zusammen, um sich auszutauschen, über Herausforderungen zu diskutieren und ihre Erwartungen an neue Mobilitätskonzepte in der EU und ihren Ländern zu teilen. Info & Anmeldung

    21.4.2023, 9:30-16:00 Uhr, Oldenburg
    Tagung Forum Berufsbildung 2023 – Nachhaltigkeit in der beruflichen Bildung
    Auf dem Forum Berufsbildung werden Umsetzungsprobleme und Lösungsansätze zur Integration von Nachhaltigkeitszielen in der beruflichen Bildung in den Blick genommen. Ziel ist es, eine konzeptionelle Bilanz der Integration von Nachhaltigkeitsthemen zu ziehen und lernortspezifische Lösungsansätze in der Praxis zu diskutieren. Info & Anmeldung

    China Strategie 2023. 3 Stunden, 3 Sessions, 30 Köpfe aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Table.Media beleuchtet am 25. April China als Wettbewerber, Rivale und Partner. Die Digital-Konferenz schafft mitten in der aktuellen Debatte Orientierung für Entscheiderinnen und Entscheider.

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    News

    Erste Anleihe für Pressefreiheit in Europa 

    Emittent, der nach eigenen Angaben “ersten Anleihe für Pressefreiheit in Europa“, ist die niederländische Impact Investmentgesellschaft Pluralis BV. Sie “beteiligt sich an Medienunternehmen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie von Regierungen und ihren Verbündeten aus der Wirtschaft übernommen werden”, heißt es. Beteiligt an Pluralis sind verschiedene europäische Medienunternehmen, Stiftungen und Impact-Investoren, darunter die King Baudouin Foundation, Mediahuis, Oak Foundation, Soros Economic Development Fund und Tinius Trust. Die 5-Millionen-Anleihe ist Teil eines Kapitaltopfs, der am Ende 100 Millionen Euro stark sein soll. Er ist bereits gut zur Hälfte gefüllt. Pluralis selbst mische sich in keine redaktionellen Entscheidungen ein, heißt es. 

    Vertrieben wird die Anleihe von der GLS-Bank, der ältesten Nachhaltigkeitsbank Europas, sowie GLS Crowd. “Die GLS Bank betritt Neuland”, sagte der Leiter institutionelle Kunden bei der Bank, Lukas Adams, am Rande einer Veranstaltung für potenzielle Stifter und Anleger in Berlin. Regierungen in Osteuropa erlebten gerade eine Welle der “Medieneroberung”, so die Bank. Regierungen kauften sich in Medienhäuser ein und beeinflussten die redaktionelle Arbeit. Dies gefährde die kritische Berichterstattung und “damit letztlich die schwachen demokratischen Strukturen in der Region”. Mit dem Vertrieb der Anleihe will die Bank die Arbeit von Pluralis unterstützen. Pluralis hat bereits 30 Millionen Euro in zwei Medienunternehmen investiert, den polnischen Wirtschaftsverlag Gremi und das slowakische Medienhaus Petit Press. “Weitere Investitionen in der Region sind in Vorbereitung”, erklärte der Initiator des Projekts, der Media Development Investment Funds, ein gemeinnütziger Investmentfonds mit Sitz in New York, der seit 1996 296 Millionen Dollar in 146 unabhängige Medienunternehmen in 47 Ländern investiert hat. 

    Anleger können ab 1000 Euro zeichnen, die Laufzeit beträgt zehn Jahre. Die Anleihe bietet ESG-Investoren eine seltene Möglichkeit, Mittel in Ziel 16 der UN-Nachhaltigkeitsziele (SDG) zu investieren, also in “Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen”. Damit hat sich die Staatengemeinschaft unter anderem dazu verpflichtet, den öffentlichen Zugang zu Informationen zu gewährleisten und die Grundfreiheiten zu schützen. Denn dies gilt als eine Voraussetzung dafür, um die mit den SDG verankerten Ziele der sozialen Entwicklung insgesamt erreichen zu können. Um die Pressefreiheit ist es in Mittel- und Osteuropa zunehmend schlechter bestellt, wie der jährliche Index von Reporter ohne Grenzen zeigt. Die meisten Länder wie Ungarn, Polen, Bulgarien, die Ukraine oder Rumänien und weitere Länder Mittel- und Osteuropas weisen laut der Organisation “erkennbare Probleme” auf. cd/ab

    • Anleihen
    • Pressefreiheit

    “Schuldenreport 2023”: Die Not spitzt sich zu

    Die Länder des Globalen Südens leiden größtenteils stark unter ihren Schulden. Das hat dramatische Folgen für die Menschen, denn es verhindert, dass die betroffenen Staaten die 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 erreichen. Zu diesem Fazit kommt der “Schuldenreport 2023”, den das Hilfswerk Misereor und erlassjahr.de, ein Bündnis von mehr als 500 Organisationen aus Kirche, Politik und Zivilgesellschaft, veröffentlicht haben.

    Der Analyse zufolge gilt die Verschuldung in 136 von 152 untersuchten Staaten als “kritisch”, in 40 davon als “sehr kritisch”; es sind die höchsten Stufen der Skala. Wurden vor der Corona-Pandemie 37 Prozent aller Länder des Globalen Südens als “kritisch” oder “sehr kritisch” bewertet, ist der Wert nach aktuellem Stand auf 64 Prozent angestiegen. Die Studie erscheint jährlich und berücksichtigt dieses Mal Daten bis zum 31. Dezember 2021.

    Besonders betroffen sind etwa Venezuela, Ägypten, Ghana, Gambia, Senegal, Pakistan und Sri Lanka. Diese Länder haben sich zuletzt noch weiter verschuldet. Daher erwarten die Autoren der Studie, dass die erhöhten Energiekosten und die Verknappung von Nahrungsmitteln durch den Krieg in der Ukraine den Menschen weiter zusetzen. Schon jetzt ist der Zugang zu hochwertiger Bildung, Gesundheitsversorgung und sauberem Wasser häufig “kaum mehr möglich“, sagt Pirmin Spiegel, Vorstandsvorsitzender von Misereor.

    Um die Not zu lindern, brauche es mehr öffentliche Ausgaben für Sozialleistungen. Gemessen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt gingen diese tatsächlich aber vielfach zurück, um die Forderungen der Gläubiger zu bedienen. Somit fehle zugleich Geld für die notwendige Energiewende. Die Autoren fordern deshalb vor allem die G7 und die EU dazu auf, endlich mehr und schnellere Schuldenerlasse zu ermöglichen – innerhalb der wichtigen multilateralen Kreditgeber wie IWF und Weltbank verfügen sie über die meisten Stimmrechte. Auch die deutsche Bundesregierung bewege sich nur zögerlich. Außer “Reform-Trippelschritten” und “punktuellen Verbesserungen” sei wenig passiert seit dem Amtsantritt. Marc Winkelmann

    • Energiewende
    • Schulden
    • SDG

    NGO kritisieren Gütesiegel für Schuhe und Lederwaren

    Gängige Zertifizierungssysteme für Schuh- und Lederwaren vernachlässigen Arbeitsrechte und Sozialstandards. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie der Nichtregierungsorganisationen Inkota und Südwind Österreich. Demnach basieren nur zwei der sechs untersuchten Siegel auf gesetzlichen Regelungen. Die anderen vier beruhten auf Freiwilligkeit und orientierten sich bei der Auswahl ihrer technischen, ökologischen oder sozialen Kriterien vor allem an den Interessen der beteiligten Unternehmen.

    Für ihren “Label-Check” haben die Organisationen öffentlich zugängliche Informationen zu den in der Branche am weitesten verbreiteten Siegeln ausgewertet. Diese sind: Umweltzeichen Blauer Engel für Schuhe, Öko-Tex Leather Standard, Naturleder IVN zertifiziert, Österreichisches Umweltzeichen sowie die beiden Business-to-Business-Zertifizierungssysteme Leather Working Group (LWG) und Higg Brand and Retail Module (Higg BRM). Nur der Blaue Engel und das Österreichische Umweltzeichen haben laut Studie eine gesetzliche Grundlage.

    “Wer ein Gütesiegel sucht, das umfassende nachhaltige Produktionsbedingungen kennzeichnet, wird bei den auf dem Markt bestehenden Zertifizierungen für Leder, Lederwaren und Schuhe nicht fündig”, kritisiert Berndt Hinzmann, Referent für Wirtschaft und Menschenrechte bei Inkota. Keines der Siegel enthalte Angaben zu existenzsichernden Löhnen oder zum risikobasierten Ansatz der Sorgfaltspflicht. Auch bei den sozialen Kriterien wiesen die Zertifizierungen große Mängel auf. Verbraucher würden beim Kauf von Lederwaren und Schuhen nicht über die Arbeitsbedingungen und Sozialstandards informiert.

    Die Lederproduktion wird von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als Risikobranche für Arbeitnehmer eingestuft. Niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und Gesundheitsrisiken durch den intensiven Einsatz schädlicher Chemikalien sind vielerorts an der Tagesordnung. Hinzu kommen erhebliche Umweltbelastungen. ch

    • NGO

    Künstliche Intelligenz: Gut und schlecht fürs Klima

    Künstliche Intelligenz durchdringt immer mehr Bereiche des Alltags. Was das für die Umwelt und das Klima bedeutet, ist hingegen unklar. Einerseits kann sie bei der Energiewende helfen, zugleich wird durch die Zunahme von KI-Anwendungen aber auch immer mehr Energie verbraucht, was zu einem steigenden Ausstoß von Treibhausgasen führt. Auf diese Ambivalenz haben KI-Forschende der Stanford University in ihrem “AI Index Report” erneut hingewiesen. Der jährliche Bericht gilt als eine der wichtigsten Analysen aktueller KI-Trends.

    In den vergangenen Monaten haben Entwickler neben “Chat GPT” zahlreiche weitere leistungsfähige Systeme veröffentlicht, die mit sehr großen Datenmengen trainiert wurden. Wie ein Vergleich zeigt, hatte das sehr unterschiedliche Folgen, abhängig von den genutzten Energiequellen sowie der Effizienz der Technologie und der Rechenzentren: Demnach produzierte “Chat GPT-3” bei 175 Milliarden Parametern 502 Tonnen CO2e, während es bei “OPT”, einem KI-Modell des Meta-Konzerns, 70 Tonnen und bei dem Open-Source-Programm “Bloom” lediglich 25 Tonnen waren – bei gleich vielen Parametern. Die Autoren erwarten, dass die Zahl der Anwendungen und auch die Menge der jeweils eingesetzten Trainingsdaten weiter zunimmt.

    Als positives Gegenbeispiel nennt der Bericht einen Versuch bei Google. Dort konnte eine Künstliche Intelligenz den Energieverbrauch für die Kühlung der Server selbstständig innerhalb von drei Monaten um knapp 13 Prozent senken. Eine Aussage darüber, ob KI grundsätzlich unterm Strich zu einer Reduzierung der Klimabelastung beiträgt, könne aber noch nicht getroffen werden. Die Forschenden weisen stattdessen darauf hin, dass die Erhebung von Daten dazu komplex ist und Standards fehlen. Marc Winkelmann

    • Energie
    • Klima & Umwelt
    • Künstliche Intelligenz

    Verpackungen: Mehrweg beliebt – wenn die Rückgabe problemlos läuft

    Mehrweg statt Einweg: Diese Regel gilt seit diesem Jahr für Restaurants und Lieferdienste, wenn sie ihre Gerichte verpacken und den Kunden mitgeben wollen. Das Ziel der Bundesregierung ist klar, sie will den jährlichen Müllberg reduzieren. Aber welche Lösung wünschen sich die Verbraucher? Danach hat das Deutsche Verpackungsinstitut gefragt und festgestellt, dass 76 Prozent Recyclingverpackungen bevorzugen. Knapp 50 Prozent votierten für die Optionen Mehrweg und Wiederbefüllung. 

    Etwas mehr Befragte, nämlich knapp 61 Prozent, erklärten, dass sie die Bestrebungen der Politik befürworten, Mehrwegverpackungen zu fördern. Damit das in der Praxis aber auch tatsächlich klappt, forderten mehr als 70 Prozent eine Rückgabe, die unabhängig vom Ort des Kaufs funktioniert. Knapp 50 Prozent betonten, dass eine “problemlose und schnelle Rückgabe” wichtig sei. Mehr als ein Drittel gab an, die gebrauchten Verpackungen vor der Rückgabe nicht reinigen zu wollen. 

    Verpackungen tragen stark zu den globalen Müllbergen bei, 2020 verbrauchte jeder Bundesbürger im Schnitt 226 Kilogramm; die Zahl stagniert seit Jahren. In der EU ist der Verpackungsmüll zwischen 2009 und 2020 um 20 Prozent gestiegen, die EU-Kommission will deshalb, dass sämtliche Verpackungen bis 2030 recycelbar sind. Marc Winkelmann

    • Verpackungen

    Presseschau

    200.000 Gehalt: So attraktiv ist der Quereinstieg als Nachhaltigkeitsmanager – Handelsblatt
    Chief Sustainability Officers werden aktuell stark gesucht. Was Sie mitbringen müssen, um Unternehmen auf Nachhaltigkeit auszurichten und wie der Einstieg gelingt, hat sich Claudia Obmann angesehen. Zum Artikel

    Komplexe Taxonomie: Wenn Unternehmen im Ausland schneller grün werden FAZ
    Die Klimaregeln in Deutschland und der EU sind zu kompliziert. Unternehmen denken daher über Verlagerungen nach. Aber was sagen Firmenlenker eigentlich zu den Details der ESG-Regeln? Ein FAZ-Gastbeitrag von Anja Kern und Peter Jung. Zum Artikel

    Vermeintliches Wundermittel Emissionshandel: So teuer wird Heizen und Autofahren bei höheren CO₂-Preisen Der Spiegel
    Statt Gasheizungen und Verbrennermotoren zu verbieten, fordern viele Politiker höhere Preise für den CO₂-Ausstoß. Was sie dabei vergessen: Auch das wird für Immobilien- und Kfz-Besitzer enorm kostspielig, berichtet Claus Hecking. Zum Artikel

    Jet planes and sugar cane: Qantas and Airbus get on board biofuel factory in Queensland The Guardian
    Luftfahrtkonzerne setzen auf landwirtschaftliche Abfälle, um Emissionen zu reduzieren. Elias Visontay geht der Frage nach, ob das funktionieren kann. Ein Allheilmittel ist es aus Expertensicht jedenfalls nicht. Zum Artikel

    Critics of corporate diversity efforts emerge, even as initiatives falter The Washington Post
    Die Bemühungen von US-Unternehmen um Vielfalt sind in letzter Zeit in einen Kulturkampf über “wokeness” hineingezogen worden. Doch wie Taylor Telford herausgefunden hat, war das Engagement für diese Initiativen bereits vorher rückläufig. Zum Artikel

    The Mission: ‘Create the Most Circular Watch’ The New York Times
    Die Uhrenfirma ID Genève wurde 2020 nach den Grundsätzen der Kreislaufwirtschaft gegründet. Ein Bericht von Robin Swithinbank zeigt, wie der Einsatz von recycelten und wiederverwendeten Materialien auch bei hochpreisigen Produkten gelingen kann. Zum Artikel

    Grüne Energie für Europa: Helmholtz-Atlas zeigt mögliche Wasserstoff-Hotspots in Afrika NTV
    Energie aus erneuerbaren Quellen gehört die Zukunft – und grüner Wasserstoff soll sie speichern. Doch Deutschland allein wird mit seinen begrenzten Flächen kaum genug produzieren können. Der afrikanische Kontinent hingegen schon. Forscher errechnen nun, welche Standorte sich besonders lohnen. Zum Artikel

    Rohstoffgewinnung: Keine Regeln für Tiefseebergbau TAZ
    Obwohl die Zeit drängt, konnte sich die Internationale Meeresbodenbehörde nicht auf Vorschriften einigen. Das heißt, dass Unternehmen ab Juli ohne spezielle Vorgaben Lizenzen für den Abbau beantragen können, berichtet Heike Holdinghausen. Zum Artikel

    Dürre in Brandenburg: Wo soll das Wasser für den Wasserstoff herkommen? Der Freitag
    Das Land hat große Pläne für neue, grüne Industrien. Die brauchen aber viel Wasser. Und das ist in der Mark leider knapp. Ina Matthes und Dorian Baganz berichten über eine Landesregierung, die sich zu wenig Gedanken über eine wertvolle Ressource macht. Zum Artikel

    Energiewende stockt: Ohne China wird es beim Windkraft-Ausbau schwierig Focus
    Die Bundesregierung steht vor einem Dilemma: Der Bau von Windrädern auf hoher See ist ins Stocken geraten. Um hier wieder Fahrt aufzunehmen, sind neue Projekte ausgeschrieben, die wie gemacht sind für chinesische Unternehmen vom Schlage Huaweis. Doch die sollen nicht zum Zug kommen, weiß Oliver Stock. Zum Artikel

    Aktenberge – nur für die Windenergie SWR
    Frieder Kümmerer geht in seinem Beitrag der Frage nach, ob die Energiewende durch die Bürokratie ausgebremst wird. So musste ein Antrag für einen Windenergiepark im Rems-Murr-Kreis in 15-facher Ausführung von EnBW eingereicht werden. 36.000 Blatt Papier. Das sei kein Einzelfall. Auch andernorts werde kopiert, was das Zeug hält. Zum Artikel

    Standpunkt

    Für erfolgreiche Transformation ist ein Umdenken in der BWL nötig

    Von Elisabeth Fröhlich
    Lisa Fröhlich
    Elisabeth Fröhlich ist Professorin für Strategisches Beschaffungsmanagement an der CBS International Business School.

    Stapelkrisen beschreiben das Phänomen, dass nicht eine Krise nach der anderen unternehmerisches Handeln beeinflusst, mit bestenfalls zeitlichem Versatz, sondern eine Krise zu einer bereits bestehenden Krisen hinzukommt und diese in ihren negativen Auswirkungen noch verstärkt.

    Es hat sich ein gehöriger Stapel gebildet: Corona-Pandemie, Klimakrise, Krieg und Stagflation – sie stellen Unternehmen vor eine ganze Reihe dramatischer Herausforderungen, die sie lösen müssen: Globale Lieferketten sind unterbrochen, notwendige Rohstoffe und Materialien fehlen in ausreichender Menge, Konsumenten sind verunsichert und zeigen deutlich größeres Interesse nachhaltig einzukaufen und der “War for Talent” verbunden mit dem Wunsch qualifizierter Arbeitskräfte nach mehr Flexibilität und Work-Life-Balance macht es für Unternehmen immer schwieriger, Arbeitskräfte langfristig an das eigene Unternehmen zu binden.

    Regulierung zwingt Unternehmen umzudenken

    Wir haben gelernt, dass Risiken etwas “Böses” sind, die es auf jeden Fall zu vermeiden gilt. Fakt ist aber auch, dass sich der Mensch erst dann bewegt, wenn er keinen Ausweg mehr sieht. Das gilt auch für neue Geschäftsmodelle, die die einzige Option für eine friedvolle und nachhaltige Zukunft bilden. An diesem Punkt sind wir nun angekommen, die aktuellen Auswirkungen der Stapelkrisen als Chance zu sehen, die nachhaltige und digitale Transformation unseres Wirtschaftssystems jetzt endlich “ernsthaft” zu betreiben.

    Gesetzliche Bestimmungen wie das Deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, die Corporate Sustainability Due Diligence Directive oder die Corporate Sustainability Reporting Directive zwingen Unternehmen nun zu diesem Umdenken, zu einer strategischen Neuausrichtung unternehmerischen Handelns. Die neuen Gesetzgebungen, die Unternehmen letztendlich dazu befähigen sollen, die nachhaltigen Entwicklungsziele bis 2030 zu realisieren, sind als nichts anderes zu verstehen, als ein standardisierter Rahmen, um Unternehmen die gleiche Ausgangsbasis für die nachhaltige Transformation zu bieten und damit Free-Rider-Positionen zu verhindern oder zumindest zu erschweren.

    Unterstützende Aktivitäten werden zu Primärfunktionen

    Die Robustheit globaler Lieferketten ist schon seit Jahren ein Thema und wurde durch die zuvor genannten Stapelrisiken nur weiter verschärft. Viele Unternehmen stehen nun vor der Herausforderung, die Transparenz in ihren Lieferketten zu erhöhen, um durch die nachhaltige Gestaltung von Lieferketten, deren Robustheit zu garantieren.

    Bisher folgt strategisches, unternehmerisches Handeln dem “Grundgesetz” der Value Chain von Michael Porter (Competitive Advantage: Creating and Sustaining superior Performance, 1985). Porters Grundgedanke liegt darin, einzelne Aktivitäten unternehmerischen Handelns zu identifizieren und diese so aufeinander abzustimmen, dass es Unternehmen gelingt, einen Wettbewerbsvorteil (added value) zu realisieren. Unternehmen sind somit nicht nur eine “Ansammlung” von Maschinen, Menschen und finanziellen Ressourcen, sondern ein Mehrwert entsteht erst, wenn die als wettbewerbsrelevant definierten unternehmerischen Aktivitäten im Sinne der unternehmerischen Gesamtstrategie verbunden werden.

    In diesem Sinne unterscheidet Porter zwischen primären und unterstützenden Aktivitäten. Primäre Aktivitäten sind diejenigen, die sich mit der Produktion und Lieferung von Produkten auseinandersetzen. Dazu gehören die Eingangslogistik, Produktion, Ausgangslogistik, Marketing und Verkauf sowie Service. Die unterstützenden Aktivitäten erhöhen die Effektivität und Effizienz der primären Aktivitäten und umfassen die Beschaffung, Technologie, Personalwesen und die Firmeninfrastruktur. Das erfordert ein Umdenken in der Betriebswirtschaftslehre.

    Die zuvor erläuterten Stapelkrisen machen deutlich, dass effizientes und effektives unternehmerisches Handeln nicht mehr durch die Primärfunktionen realisiert werden kann, sondern die vormals unterstützenden Aktivitäten die Rolle der Primärfunktionen übernehmen müssen.

    Der Einkauf ist das fehlende Glied einer nachhaltigen Lieferkette

    In diesem Beitrag liegt der Fokus auf der veränderten Wahrnehmung der Rolle der strategischen Beschaffungsfunktion. Auch das Verständnis der Unternehmensleitung für die zunehmende strategische Bedeutung dieser Funktion für den zukünftigen Unternehmenserfolg hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Das belegen empirische Studien, denen zufolge der Einkauf das fehlende Glied einer nachhaltigen Lieferkette ist. Und wie bereits zuvor erläutert, gibt es keine robusten Lieferketten ohne Nachhaltigkeit.

    Dies lässt den Schluss zu, dass die einleitend genannten gesetzlichen Herausforderungen und Krisen nur durch die Neugestaltung der strategischen Beschaffungsaufgaben bewältigt werden können. Dies macht es aber zwingend erforderlich, dass Porters Logik auf den Kopf gestellt wird, und die bisherigen Sekundärfunktionen zu den primären Handlungsfeldern strategischen, unternehmerischen Agierens werden. Das verlangt entsprechend auch eine andere Ausbildung des Managementnachwuchses.

    Aufbauend auf den soeben getätigten Aussagen sollen noch einige Worte zur Bedeutung der nachhaltigen Beschaffung verloren werden, verstanden als “[…] die Integration von Grundsätzen der sozialen Verantwortung (Corporate Social Responsibility, CSR) in die Beschaffungsprozesse und -entscheidungen Ihres Unternehmens, wobei gleichzeitig sichergestellt wird, dass diese den Anforderungen Ihrer Stakeholder entsprechen. Nachhaltige Beschaffung integriert Spezifikationen, Anforderungen und Kriterien, die mit dem Schutz der Umwelt und der Gesellschaft insgesamt vereinbar sind […]”.

    Neugestaltung der Lieferketten braucht ganzheitliche Strategie

    Das Forscherteam Villena & Gioia sieht die größte Herausforderung in der Neugestaltung der Lieferanten-Beschaffer-Beziehungen, die die gesamte Lieferkette umfassen. Die soziale und ökologische Verantwortung von Zulieferern ist durch die nachfolgenden Schritte zu fördern:

    • Festlegung gemeinsamer langfristiger Nachhaltigkeitsziele.
    • Darauf aufbauend formulieren Zulieferern der ersten Ebene ihre eigenen langfristigen Nachhaltigkeitsziele.
    • Zulieferer der unteren Ebenen werden von den 1st Tier-Lieferanten mit in die allgemeine Nachhaltigkeitsstrategie eingebunden.
    • Alle Mitarbeiter der Einkaufsabteilung haben die Aufgabe wahrzunehmen, das Nachhaltigkeitsprogramm des Unternehmens auf die Zulieferer der ersten und zweiten Ebene auszuweiten. Dazu wird eine sogenannte “Point Person” bestimmt.

    Die nachhaltige Transformation unseres Wirtschaftssystems ist somit nur realisierbar, wenn sich Unternehmen von der strategischen Grundausrichtung Porters verabschieden und erkennen, dass sich die Bedeutung einzelner unternehmerischer Aufgaben zur Zukunftssicherung grundsätzlich verändert hat. In dieser strategischen Neuausrichtung unternehmerischen Handelns liegt die wahre Herausforderung unseres Wirtschaftssystems!

    Elisabeth Fröhlich ist seit Ende 2007 als Professorin an der CBS International Business School für den Bereich Strategisches Beschaffungsmanagement verantwortlich. Von Mai 2013 bis November 2022 leitete sie die CBS in ihrer Funktion als Präsidentin. Sie ist Vorstandsmitglied mehrerer wissenschaftlicher Organisationen. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen in den Themen Sustainable Supply-Chain-Management und Nachhaltige Beschaffung, Qualifizierung im Einkauf sowie im Strategischen Lieferantenmanagement.

    • Einkauf
    • Nachhaltigkeitsstrategie
    • Transformation

    Heads

    Neues Team für Nachhaltigkeit bei Tchibo: Johanna von Stechow und Pablo von Waldenfels

    Johanna von Stechow und Pablo von Waldenfels haben Ende 2022 das Ruder übernommen – und arbeiten daran, Kaffee, Töpfe und Jacken nachhaltiger zu machen

    Für Johanna von Stechow sitzt die vielleicht härteste Jury ihrer Arbeit am Frühstückstisch. Die vierfache Mutter ist Nachhaltigkeitsmanagerin bei Tchibo. “Meine Kinder stellen mir dazu immer wieder kritische Fragen”, erzählt von Stechow. Für sie ist ihre Arbeit also auch ein persönliches Anliegen, denn sie möchte ihren Beitrag dazu leisten, dass ihre Kinder auch in Zukunft eine lebenswerte Welt haben.

    Die studierte Historikerin arbeitete zunächst in der Unternehmensberatung, vor rund 16 Jahren kam sie zu Tchibo, vor inzwischen sechs Jahren wechselte sie dann in ihre heutige Abteilung. “Nachhaltigkeit ist immer im Wandel, da ist wahnsinnig viel Bewegung drin”, sagt von Stechow. “Um gute Lösungen zu finden, muss man mit vielen Menschen reden, kreativ werden, kooperieren.”

    Erfahrene Doppelspitze

    Seit November steht von Stechow zusammen mit ihrem Tandempartner, Pablo von Waldenfels, an der Spitze der Unternehmensverantwortung. Der 44-Jährige studierte von 2003 bis 2009 Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Leuphana Universität in Lüneburg, die schon damals Nachhaltigkeitsmanagement als Schwerpunkt anbot.

    Auch von Waldenfels arbeitete nach dem Studium zunächst in der Beratung, insgesamt 13 Jahre lang half er Unternehmen bei der Transformation zur Nachhaltigkeit. Zudem betreute er internationale Infrastrukturinvestitionen in Bergbau, Öl und Gas, Wasserkraft und Windkraft. “Mir war es immer wichtig, dass die Menschen vor Ort von den Investitionen profitieren”, betont von Waldenfels. “Das war damals wie heute echtes Überzeugungstätertum.”

    Kaffee aus zertifizierten Quellen

    Heute soll er bei Tchibo dafür sorgen, dass zukünftig 100 Prozent des Kaffees “verantwortungsvoll eingekauft” wird, wie es das Unternehmen selbst nennt. Dabei steht er vor zwei großen Herausforderungen, erklärt von Waldenfels. “Unsere Produzenten sollen ein auskömmliches Einkommen erzielen.” Teilweise müssten die Farmer mit ihrer Arbeit die ganze Familie durchbringen. Die Situation könne von Farmer zu Farmer sehr unterschiedlich sein.

    Im Jahr 2021 hatten rund 20 Prozent des Tchibo-Kaffeesortiments ein Bio-Siegel oder waren zertifiziert, von Fairtrade, Rainforest Alliance oder UTZ. Auf dem gesamten deutschen Kaffeemarkt lag die Fairtrade-Quote im selben Zeitraum bei rund fünf Prozent. Verantwortungsvoll eingekauft bedeute aber nicht, dass Tchibo komplett auf die Siegel von Fairtrade oder der Rain Forest Alliance setzt, betont von Waldenfels. “Bei unserem nicht-gesiegelten Kaffee arbeiten wir langfristig mit den Farmern zusammen und helfen ihnen, ihr Einkommen zu diversifizieren und die Anbausysteme zu optimieren.”

    Anpassung wegen Klimawandel erforderlich

    Die zweite große Herausforderung bringt der Klimawandel mit sich. Davon seien heute vor allem kleinere Länder wie Äthiopien und Honduras betroffen, die mit der Arabica-Bohne tendenziell höherwertigen Kaffee produzieren. “Wir müssen in die Farmen investieren, um die Produktion resilienter zu machen”, sagt von Waldenfels. “Ohne Investitionen in die Anbausysteme und neue Kaffeesorten wären wir irgendwann auf synthetischen Kaffee angewiesen.”

    Johanna von Stechow konzentriert sich auf das zweite Standbein von Tchibo: den Non-Food-Bereich. Ein großer Teil der Hartwaren kommt aus China, Textilien werden vor allem in Bangladesch produziert. Länder, die nicht unbedingt für gute Arbeitsbedingungen bekannt sind. Von Stechow und ihr Team arbeiten daher eng mit Kooperationen und Partnerprogrammen vor Ort zusammen.

    Die Einkommensfrage in der Lieferkette sei auch hier eine der größten Baustellen. Ein Herzensprojekt der 44-Jährigen: Mit dem “Act on Living Wages” hat sich Tchibo mit 19 global agierenden Marken zusammengetan, um den Fabrikarbeitern faire Einkommen zu zahlen. “Wir haben uns stark für das Thema ausgesprochen, wie auch für das Lieferkettengesetz, und das nicht immer zum Wohlgefallen unserer Mitbewerber”, sagt von Stechow. Aber Veränderung sei nur möglich, wenn nicht bloß ein einzelnes Unternehmen mehr Geld in seine Lieferketten investiert. “Das ist ein Zusammenspiel aus internationalen Gewerkschaften, Fabriken, Regierungen und den Marken, die in den Fabriken zusammenkommen.” Pascal Mühle

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    ESG.Table Redaktion

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