Table.Briefing: ESG

Keine Einigung bei EU-Sorgfaltspflichtengesetz? + Firmen-Netzwerke für Klimaneutralität + Steigende Zinsen bedrohen Energiewende im globalen Süden

Liebe Leserin, lieber Leser,

morgen will das Europaparlament seine Position zum EU-Sorgfaltspflichtengesetz beschließen, das Unternehmen verpflichten soll, für die Einhaltung der Menschenrechte in ihren Lieferketten zu sorgen. Doch auf Seiten der EVP-Fraktion formiert sich breiter Widerstand, etwa die CDU/CSU-Gruppe will dagegen stimmen. Dass es trotzdem zu einer Einigung kommt, ist alles andere als sicher. Charlotte Wirth berichtet über die Gründe.

Um die Finanzierung der Transformation geht es heute zweimal: Die G7-Staaten schlagen Alarm in ihrem Abschlussbericht zum kürzlichen Gipfel – steigende Zinsen gefährdeten die Energiewende im globalen Süden. Nico Beckert erklärt, wie Lösungen aussehen könnten. Außerdem: Nachhaltiges Investieren kann die gewünschte Wirkung entfalten, wenn es gelinge, unstrittige Mindestkriterien zu entwickeln, die auf alle Produkte angewendet werden, schreibt Mauricio Vargas, Analyst bei Greenpeace, in seinem Standpunkt.

Wie Unternehmen versuchen, im Austausch mit anderen Unternehmen schneller klimaneutral zu werden, das beschreibt Annette Mühlberger am Beispiel des Feuerverzinkers Zinq und des Bio-Bierbrauers Lammsbräu.

Über einen neuen Standard, der Re-Use im Gebäudesektor fördern soll und welche Regulierung es für mehr kreislaufgerechtes Bauen in Deutschland braucht, berichtet Dominik Campanella, Mitgründer von Concular – einem Dienstleister für zirkuläres Bauen -, im Interview mit mir.

Zu guter Letzt: Wenn Ihnen der ESG.Table gefällt, leiten Sie uns bitte weiter. Wenn Ihnen diese Mail zugeschickt wurde: Hier können Sie das Briefing kostenlos testen.

Ihr
Nicolas Heronymus
Bild von Nicolas  Heronymus

Analyse

Unternehmensnetzwerke können die Transformation erleichtern

Weil der Klimaschutz verschiedene Branchen vor ähnliche Herausforderungen stellt, bildete sich vor 15 Jahren das Netzwerk “Klimaschutz-Unternehmen” – unter anderem auf Initiative des damaligen BMWi und BMU. Heute gehören dem selbstständigen Verband 61 mehrheitlich familiengeführte Unternehmen an, die sich regelmäßig über ihre Ziele und Maßnahmen zur Dekarbonisierung austauschen.

Wer in das Netzwerk aufgenommen werden will, muss ein mehrstufiges Aufnahmeverfahren durchlaufen. Aktuell wird unter anderem eine an der Science Based Target Initiative (SBT-Initiative) angelehnte Klimastrategie mit konkret abgeleiteten Zielen und Maßnahmen verlangt. Nur fünf bis zehn Prozent der Bewerber bestehen das Verfahren, 2022 waren es zehn der 200 Antragsteller. Ein Beirat aus Wissenschaftlern, Vertretern von NGO, DENA, BMWK, BMUV und DIHK ist für die Prüfung verantwortlich.

Feuerverzinkung: Der Kreislaufansatz ist entscheidend

Was bringt der Austausch für die Transformation? “Es ist wichtig, dass man weiß, wo man steht und dass man dies von Dritten gespiegelt bekommt”, beschreibt Lars Baumgürtel seine Motivation für die Bewerbung vor einigen Jahren. Baumgürtel ist Geschäftsführer von Zinq. Das Unternehmen (2.000 Mitarbeitende, 50 Standorte) ist der größte Produzent feuerverzinkter Oberflächen auf Stahl in Europa. Die Verzinkung ist ein Korrosionsschutz. Eingesetzt wird feuerverzinkter Stahl in der Bauwirtschaft, Automobilindustrie, im Schiffsbau, im Metall-, Maschinen- und Anlagenbau oder auch in der Raumfahrt (etwa die ESA ist Zinq-Kunde).

Die Verfahren verursachen noch eine Menge CO₂. Denn Zinkbäder sind mehrere Hundert Grad heiß, rund um die Uhr, das ganze Jahr. Für die energetische Transformation wird Zinq viel Grünstrom und/oder grünen Wasserstoff benötigen. “Was für uns am Ende günstiger sein wird, wissen wir noch nicht”, sagt Lars Baumgürtel. Noch mangele es bei der grünen Energie, die die Prozesswärme brauche, an Verfügbarkeit und Infrastruktur. 

Das Unternehmen hat sich auf dem Weg zur Klimaneutralität auch seine Kernprozesse angeschaut und unter anderem ein Verfahren entwickelt, bei dem die Temperatur des Zinkbades von 450 auf 420 gesenkt und die Ressource Zink um 80 Prozent eingespart wird. Für die klimaneutrale Produktion langlebiger Produkte sei jedoch der Kreislaufansatz entscheidend, sagt Baumgürtel. Zinq ist Cradle-to-Cradle zertifiziert. Über die eigenen Erfahrungen mit zirkulärem Wirtschaften und die Bedeutung der Kreislaufwirtschaft für den Klimaschutz tausche man sich in dem Netzwerk regelmäßig aus.

Der Austausch zwischen Branchen fördert Innovation

Jens Hesselbach, Professor am Lehrstuhl für umweltgerechte Produkte und Prozesse an der Universität Kassel, begleitet die Initiative seit acht Jahren. Er sagt: “In den Projekten merken wir sehr deutlich, dass der branchenübergreifende Austausch innovative Ansätze fördert.” Zumal die Bewerber, um aufgenommen zu werden, bereits Vorreiter sein müssten. Neben Maßnahmen zur Energieeffizienz, Umwelt-Managementsystemen, einem Nachhaltigkeitsberichtswesen, einer ausgearbeiteten Klimastrategie, grüner Eigenstromerzeugung oder der Nutzung von Abwärme, gehe es um Ansätze zur Kreislaufwirtschaft, Carbon-Footprints und Konzepte für die Emissionsreduktion in der Lieferkette. “Die low hanging fruits haben viele Mitgliedsfirmen schon abgeerntet”, fasst Hesselbach die Ausgangslage zusammen.

Zirkuläre Geschäftsmodelle auch in die Diskussion um die Norm zur Klimaneutralität (ISO 14068) einzubringen, ist dem Verband ein Anliegen: “Unternehmen brauchen beim Klimaschutz Planungssicherheit“, sagt Verbandsgeschäftsführer Philipp Andree. Sei es in den Planungs- und Genehmigungsverfahren, bei der Förderung von Investitionen oder in der Definition, welche Teile der Wertschöpfung der Begriff der Klimaneutralität umfasse: “Wir setzen uns dafür ein, dass Unternehmen, die im Klima- und Ressourcenschutz Vorreiter sind, durch künftige Regulatorik nicht bestraft werden”, betont er. Zweimal jährlich gibt es einen Austausch mit dem BMWK und dem BMUV. “Dieser Zugang zur Politik macht das Netzwerk insbesondere für kleinere und mittlere Unternehmen natürlich auch interessant“, sagt Wissenschaftsbeirat Hesselbach.

Im internen Diskurs gehe es um die Herausforderungen produzierender Unternehmen auf dem Weg zur Klimaneutralität: “Mit regenerativer Eigenstromerzeugung auf dem Betriebsgelände können produzierende Firmen in den meisten Fällen ihren Eigenenergiebedarf nicht decken”, erklärt Andree. Beteiligungsmodelle an bestehenden Anlagen (PPA), die Errichtung eigener Windkraftanlagen und Finanzierungsoptionen diskutiere man untereinander intensiv. Auch Regulierungsfragen beträfen die Unternehmen branchenunabhängig. “In jedem Bereich ist ein anderes Unternehmen weiter vorne und spielt sein Wissen in das Netzwerk ein”, meint Andree.

Bei Scope 3 könnten Unternehmen von Lammsbräu lernen

Bei der Messung des CO₂-Fußabdrucks in der Lieferkette steht beispielsweise die Familienbrauerei Lammsbräu ganz vorne. Der Biopionier (155 Mitarbeitende, 31,5 Millionen Euro Umsatz in 2022) stellte bereits vor 40 Jahren auf ein ganzheitliches ökologisches Unternehmenskonzept um. 2012 ermittelte das Unternehmen seine erste Klimabilanz und formulierte eine Klimastrategie. Im vergangenen Jahr schloss sich Lammsbräu als erster mittelständischer Lebensmittelhersteller in Deutschland der SBT-Initiative an.

Bei den “Klimaschutz-Unternehmen” war Lammsbräu von Anfang an dabei. “Wir ziehen aus der Mitgliedschaft einen großen Nutzen. Geteiltes Wissen potenziert sich durch Vielfalt und unterschiedliche Perspektiven”, sagt Geschäftsführer Johannes Ehrnsperger. Über Veranstaltungen erhalte man viel Wissen aus erster Hand. Die Schnittmenge zu anderen Unternehmen sei groß: “Wir arbeiten alle konkret an der Energie- und Wärmewende und teilen Wissen über Bewältigungsstrategien, die man individuell ausdifferenzieren kann.” Bei Lammsbräu brauchen die Braukessel viel Wärmeenergie. Lammsbräu will weg vom Erdgas und hat hierfür wissenschaftlich begleitet und vom Verband unterstützt Szenarien erarbeitet.

Beim Scope 3 können andere von Lammsbräu lernen. Mit Sekundärdaten hat man die Emissionen vom Anbau bis zur ersten Handelsstufe ermittelt. Primärdaten von den Landwirten liegen keine vor, außer für Gerste und Zuckerrüben, dort hat Lammsbräu die Daten selbst erfasst. “Die Transformation braucht viel Beziehungsarbeit mit Lieferanten”, meint Ehrnsperger. Lammsbräu fördert eine Humus aufbauende, CO₂-bindende Landwirtschaft und veranstaltet Seminare, zu denen die regionale Erzeugergemeinschaft der Brauerei zusammenkommt. Auch Zitrusbauern aus Südeuropa, die für Lammsbräu den Zitronensaft für die Bio-Limonaden liefern, haben in der Community schon über ihre Erfahrungen in wasserarmen Regionen referiert. “Für die Landwirtschaft sind Netzwerke für die Transformation genauso wichtig wie für die Industrie“, sagt Ehrnsperger. In diesem Fall stößt Lammsbräu selbst den Austausch zwischen den landwirtschaftlichen Lieferanten an.

Zinsanstieg gefährdet globale Energiewende

Photovoltaikanlagen in der südafrikanischen Provinz Westkap.

Der G7-Gipfel im japanischen Hiroshima hat auf eine Bedrohung hingewiesen, die bisher noch kaum in den Schlagzeilen ist: Die Schuldenkrise vieler Entwicklungs- und Schwellenländer gefährdet auch die Pläne zur globalen Energiewende. Die Bewältigung der Klimakrise und der Schuldenanfälligkeit “hängen zusammen und verstärken sich gegenseitig”, heißt es im Abschlussdokument des Gipfels.

Die angespannte finanzielle Lage und Zinserhöhungen in den Industriestaaten wirken sich auch auf den dringend nötigen Ausbau der erneuerbaren Energien in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern aus. Durch steigende Zinsen und Kapitalflucht in Industrieländer ist der Ausbau der Solar- und Windkraft ins Stocken geraten.

Für die Energiewende und den Ausbau der erneuerbaren Energien werden bis 2030 weltweit Investitionen in Höhe von 44 Billionen US-Dollar benötigt, so die International Renewable Energy Association (IRENA). Doch um die Inflation infolge von Ukraine-Krieg und hohen Energiekosten zu bekämpfen, erhöhen die Zentralbanken der Industrieländer immer wieder die Leitzinsen. Das führt dazu, dass die Kapitalkosten in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern in die Höhe schnellen. Entwicklungsexperten und Ökonomen warnen, der zur Erreichung der globalen Klimaziele notwendige Zubau könnte stark verlangsamt werden. In einigen Schwellen- und Entwicklungsländern drohe “leider beträchtlicher Gegenwind”, sagt Ottmar Edenhofer, Direktor des Berliner Klimaforschungsinstituts MCC gegenüber Table.Media.

Während der Zinsanstieg im Globalen Norden meist noch recht moderat ausfällt, haben sich die Finanzierungskosten in vielen Länder des Südens stark verschlechtert. Für Deutschland ist der Zinsanstieg “ein kleiner Gegenwind. Aber für Nigeria oder Kenia, wo die US-Dollar-Kreditzinsen jetzt bei 13 Prozent liegen, hat dies die Kosten für den Bau erneuerbarer Energien deutlich erhöht”, sagt der Analyst Teal Emery.

IWF: Akuteste Situation seit Jahrzehnten

Der Zinsanstieg wirkt sich dabei besonders auf den Ausbau der Erneuerbaren aus. Solar- und Windkraftwerke benötigen höhere Anfangsinvestitionen als Kohlekraftwerke ähnlicher Größe, so die IRENA kürzlich in einem Bericht. Schon “kleine Änderungen der Zinssätze wirken sich im Laufe der Zeit immer stärker auf die Projektkosten aus”, schreibt die IRENA. Und Edenhofer sagt: “Steigen die Zinsen, werden die Investitionen in nachhaltige Infrastrukturprojekte im Vergleich zu fossilen stärker zurückgefahren”.

Entwicklungs- und Schwellenländer sind für den steilen Anstieg der Kapitalkosten kaum verantwortlich, wie Abebe Aemro Selassie, Direktor der Afrika-Abteilung des Internationalen Währungsfonds (IWF), schreibt. Viele private und institutionelle Investoren haben sich in den letzten Monaten aus diesen Ländern zurückgezogen. Die Inflation und eine risikoreiche Weltwirtschaft treiben Investoren in sichere Anlagen, zumeist im Globalen Norden. Durch dieses Austrocknen internationaler Finanzströme steigen die Kapitalkosten im Globalen Süden viel stärker als im Norden. Die Folge: “Der globale Zinsanstieg macht den Erneuerbaren in Afrika den Garaus“, so das Fazit von “Energy for Growth”.

Selassie vom IWF nennt die schlechte Finanzierungssituation der Entwicklungs- und Schwellenländer, “die bei weitem akuteste Situation dieser Art seit Jahrzehnten”. Während sich “bessergestellte Volkswirtschaften auf ihre beträchtlichen Devisenreserven und tiefgreifenden Kapitalmärkte verlassen” könnten, haben sich die Schuldenkosten und der Zugang zu frischem Kapital für Staaten des Globalen Südens massiv verschlechtert, so Selassie. Das wirkt sich auch auf die Energiewende aus.

Globaler Norden in der Verantwortung

Um die Kosten der Energiewende im Globalen Süden zu senken, schlagen Experten einige Gegenmaßnahmen vor:

  • Staaten des Globalen Nordens sollten die Kreditkosten in den Entwicklungs- und Schwellenländern senken und ihrem 100-Milliarden-Versprechen für die Klimafinanzierung nachkommen. Es müsste auch mehr “konditionale Transfers an Regierungen” geben, sagt Matthias Kalkuhl, Leiter der Arbeitsgruppe Wirtschaftswachstum und menschliche Entwicklung am MCC Berlin. Auch Selassie vom IWF schlägt mehr Budgethilfen vor: “Die OECD-Länder gewähren heute nur noch einen Bruchteil der Budgethilfe, die sie vor einem Jahrzehnt geleistet haben, und das entstandene Loch wird durch eine teurere Kreditaufnahme gefüllt”, so der Afrika-Direktor des Währungsfonds.
  • (Multilaterale) Entwicklungsbanken wie die Weltbank sollten ihr gutes Kreditrating nutzen, um mehr vergünstigte Kredite an die Staaten des Globalen Südens zu vergeben, sagt Teal. Auch für Edenhofer sind “Entwicklungsbanken für die Finanzierung einer nachhaltigen Energieinfrastruktur von überragender Bedeutung”.
  • Laut Edenhofer “könnte auch der Green Climate Fund für das Ausfallrisiko von Krediten” in Ländern mit hohen Kapitalkosten bürgen – so würden Investitionsrisiken gesenkt und private Investoren wären eher bereit, Mittel zur Verfügung zu stellen.
  • Edenhofer hält es aber auch für “entscheidend, dass es gerade in den Schwellenländern zu einer CO₂-Bepreisung kommt”. Dadurch würde der Zinsanstieg “teilweise kompensiert”, da fossile Investitionen verteuert würden.

Deutschland: “Traumkonstellation” nicht ausreichend genutzt

In Deutschland wird der Zinsanstieg laut Experten nicht so gravierende Folgen haben. Durch die höheren Zinsen werden die Kosten der Energiewende zwar steigen. Doch durch den Emissionshandel gäbe es genug Anreize, auch weiterhin in die Erneuerbaren zu investieren, so Kalkuhl. Absehbar steigende CO₂-Preise durch die Erweiterung des europäischen Emissionshandels gäben vielen Investoren Planungssicherheit.

Laut Hans Ulrich Buhl waren die letzten zehn Jahre mit niedrigen Zinsen eine “Traumkonstellation”, die zu wenig genutzt wurde, so der Wirtschaftsprofessor am Kernkompetenzzentrum Finanz- und Informationsmanagement Augsburg und Bayreuth. Deutschland war vor dem Ukraine-Krieg das Land mit den geringsten Finanzierungskosten beim Ausbau der Erneuerbaren, wie eine IRENA-Studie zeigt.

Die Bundespolitik hätte die Energiewende in dieser Zeit “viel schneller voranbringen müssen“, sagt Buhl. Zwar stehe Deutschland im globalen Vergleich bei der Finanzierung der Energiewende noch gut da. Zusätzliche “hohe Kosten, beispielsweise durch lange Genehmigungsverfahren” könne sich die Bundesrepublik aber “nicht mehr leisten”, mahnt der Wirtschaftsprofessor zu Bürokratieabbau und beschleunigten Verfahren.

  • Energie
  • Energiewende
  • Finanzen
  • Fossile Investitionen
  • Globaler Süden
  • IRENA
  • Schulden

Neuer Standard soll mehr Re-Use im Gebäudesektor fördern

Warum haben Sie ein Unternehmen für zirkuläres Bauen gegründet?
Die Baubranche ist der größte Umweltverschmutzer der Welt: 60 Prozent des Abfalls und 40 Prozent des CO₂ stammen aus dem Bausektor. Ein genauerer Blick auf die Zahlen zeigt, dass die Hälfte des CO₂, also 20 Prozent, aus der Herstellung von Material stammt – also dem Take-Make-Waste-Prinzip folgt. Das heißt: Wir nehmen Ressourcen aus der Erde, stellen Materialien her, verbauen sie in Gebäuden und teilweise nach nur 10 bis 15 Jahren nehmen wir die Materialien und entsorgen sie wieder – obwohl sie noch sehr gut sind. Nur 1 Prozent wird heutzutage wieder auf hochwertige Weise in Gebäude eingebracht.

Gestartet sind Sie 2012 mit Restado – einem Marktplatz für gebrauchte Bauteile. Was war 2020 der Impuls, das Geschäftsmodell zu Concular weiterzuentwickeln?
Wir haben die großen Akteure, die ökonomisch und ökologisch einen erheblichen Impact haben, nicht erreicht. Im Austausch haben wir festgestellt, dass schlicht das Wissen über verbaute Materialien in Gebäuden in Deutschland fehlt. Deshalb haben wir das Konzept für Concular entwickelt – ein digitales Ökosystem für zirkuläres Bauen.

Bei neuen Gebäuden digitalisieren und dokumentieren wir die genutzten Materialien mit einem multidimensionalen BIM-Modell. Für den Bestand haben wir Software entwickelt, mit der wir durch Gebäude gehen und alle Materialien erfassen können. Das erleichtert es, das Material wieder einzubringen – über Recycling-Unternehmen, Hersteller oder auch direkt in Gebäude. In den vergangenen drei Jahren haben wir 250 Projekte durchgeführt.

Welche weiteren Hürden für zirkuläres Bauen haben Sie identifiziert?
Wir haben festgestellt, dass zirkuläres Bauen noch nicht den gleichen Stellenwert hat wie konventionelles Bauen, weil wichtige Tools und Standards fehlen. Deshalb schaffen wir sie selbst. Zwei Beispiele sind der Gebäuderessourcenpass, den wir mit der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen entwickelt haben und der Circularity Performance Index (CPX), mit dem wir messen, wie zirkulär ein Gebäude ist. Diese Bewertung der Zirkularität können Akteure nutzen, um Fördergelder zu bekommen oder auch fürs ESG-Reporting.

Sie sind aktuell außerdem dabei, ein DIN-Standard zu entwickeln. Worum geht es?
Die DIN SPEC 91484 definiert ein Verfahren für Pre-Demolition Audits, also zur Erfassung von Bauprodukten als Grundlage für Bewertungen des hochwertigen Anschlussnutzungspotenzials vor Abbruch- und Renovierungsarbeiten. Die Norm soll Bauherren mindestens dazu motivieren, vor einem Abriss oder Renovierungsarbeiten in das Gebäude zu schauen und zu bewerten, wie die verbauten Materialien wieder eingebracht werden können. Damit wollen wir vermeiden, dass wertvolle Materialien einfach deponiert werden oder im Downcycling enden.

Und: Bisher ist ein Abriss in Deutschland nicht genehmigungspflichtig, würde es im Idealfall aber werden, wenn die DIN SPEC in Zukunft beim Rück- oder Umbau verpflichtend durchgeführt werden müsste. Das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen hat schon signalisiert, dass es großes Interesse hat, die Norm in die Gesetzgebung einzubringen.

Welches Potenzial hätte eine Verpflichtung auf den neuen Standard?
Aktuell gibt es beim Neu- oder Umbau häufig noch ein Henne-Ei-Problem. Häufig heißt es: Wir haben nicht die Materialien, um die Recycling- oder Re-Use-Quoten zu erfüllen. Und beim Rückbau heißt es: Wir haben nicht die Zeit, uns die Materialien genau anzuschauen. Aber die verpflichtende Durchführung der DIN SPEC würde genau an diesem Punkt eine Lösung bringen, weil wir uns die Materialien anschauen müssen und damit gleichzeitig die Verfügbarkeit von wiederverwertbaren Materialien höher ist.

Das könnte das Datenproblem lösen.
Ja, jedes Jahr werden in Deutschland 20.000 Gebäude abgerissen. Wenn wir also 20.000 Mal pro Jahr das Verfahren zur Erfassung von Bauprodukten durchführen, das durch die Norm festgelegt wird, dann wissen wir, welche Stoffströme wir haben. Und das gelingt, auch wenn wir es nur 10.000 Mal machen.

So können wir uns die Daten auf Gebäudeebene, aber auch auf Stadtebene, anschauen. Das gibt uns die Möglichkeit, Städte komplett neu zu planen – weil wir wissen, was in Zukunft an Materialien zur Verfügung stehen wird. Und mit der Datenverfügbarkeit ist auch ein Matching-Prozess möglich zwischen Materialien aus dem Rückbau, die sich für Neubauten eignen. Das gibt uns ganz neue Möglichkeiten der Analyse und auch der Förderung von zirkulärem Bauen. Wenn wir wissen, dass in einem Jahr dieses Gebäude mit diesen Materialien abgerissen wird, dann können wir ein neues Gebäude basierend auf diesen Materialien planen. Nach dem Prinzip “form follows availability”.

Wann wird die DIN SPEC 91484 veröffentlicht?
Mitte Juni.

Welche Regulierungsinitiativen braucht es für zirkuläres Bauen in Deutschland?
Erstens müssen die Hürden für das Wiedereinbringen von Materialien sinken. Dazu gehört, dass Materialien aus dem Rückbau von Gebäuden nicht mehr als Abfall gelten und dass die Grenzwerte für Schadstoffe wie Asbest steigen – denn solange eine Null-Faser-Regelung gilt, lässt sich quasi kein Baumaterial wiederverwenden. Zudem dürfen für wiedergewonnene Materialien nicht dieselben Anforderungen gelten wie für neue Materialien. Das Ordnungsrecht muss also auf zirkuläres Bauen ausgerichtet werden.

Zweitens braucht es aber auch ökonomische Anreize. Das heißt, dass es etwa Fördergelder gibt, wenn wiedergewonnene Materialien verbaut werden oder wenn wir Materialien in einem Gebäude dokumentieren – etwa mit dem Gebäuderessourcenpass.

Drittens müssen wir auch die Finanzströme in Richtung zirkuläres Bauen steuern. Die EU-Taxonomie ist eine Chance. Dort gibt es auch Quoten für den Einsatz für Recycling- und Re-Use-Material. Leider sind diese sehr verwässert worden, sodass der Effekt ausbleiben könnte. Aber auch die Dokumentation von Materialien in Gebäuden ist dort verpflichtend geworden. Das heißt, eine Richtung ist vorgegeben, der Weg aber noch nicht gegangen.

Viertens sind es die Normen, über die wir gesprochen haben. Die meisten Normen sind auf lineares Bauen ausgerichtet. Durch die Circular Economy Initiative der DIN beginnt bereits ein Prozess, in dem systematisch die Normen für zirkuläres Bauen angepasst werden.

Warum sollten Bauherren und Investoren sich mit zirkulärem Bauen beschäftigen?
Zirkuläres Bauen wird auf jeden Fall kommen. Ich muss also heute schon das Risiko einpreisen, dass ich meine Immobilien künftig nicht mehr verkaufen kann, wenn ich nicht zirkulär baue. Dazu gehört, die Materialien zu dokumentieren und sie so einzubauen, dass sie wieder ausgebaut werden können. Das ist eine einfache Rechnung: Wenn ich Material ausbauen und wieder einbringen kann, bekomme ich Geld dafür, anstatt für die Deponierung zahlen zu müssen. Dass dies heutzutage viele Immobilienfonds noch nicht einpreisen ist ein Risiko, weil Gebäude so zu einem “stranded asset” werden können.

  • Circular Economy
  • Kreislaufwirtschaft

Neu: Agrifood.Table Professional Briefing – jetzt kostenlos anmelden. Wie unsere Lebensgrundlagen geschaffen, gesichert und reguliert werden. Für die entscheidenden Köpfe in Landwirtschaft und Ernährung in Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft, Verbänden und NGO. Von Table.Media. (Anmelden)

Termine

1.-2.6.2023, Berlin
Konferenz Move – Die Konferenz für Nachhaltigkeitskommunikation Info & Anmeldung

2.6.2023, 9:00-10:00 Uhr
Table.Live-Briefing EU-Lieferkettengesetz – Was ist der Status Quo vor den finalen Verhandlungen? Info & Anmeldung

2.6.2023, Köln
Fachtagung Die globale Verantwortung von Unternehmerinnen und Unternehmern für nachhaltige Entwicklung (KAS) Info & Anmeldung

6.6.2023, 15:00-16:30 Uhr
Webinar Wie können naturbasierte Lösungen Kommunen resilienter machen? (UBA) Info & Anmeldung

7.6.2023, 13:00-14:00 Uhr
Webinar Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – Marktüberblick und digitale Lösungen (BNW) Info & Anmeldung

12.6.2023, 13:00-18:00 Uhr
Online-Konferenz Vom Planen zum Handeln: Wie kann die Mobilitätswende beschleunigt werden? (Agora Verkehrswende) Info & Anmeldung

12.-16.6.2023, Darmstadt
Tagung Darmstädter Tage der Transformation 2023 – Dialog über die sozial-ökologische Transformation von KMU Info & Anmeldung

13.6.2023, 10:00-12:30 Uhr
Webinar Energieeffizienzgesetz: Chancen für die IT-Branche (UBA) Info

14.-15.6.2023, Berlin
Konferenz BDEW Kongress – Wir sichern Energie Info & Anmeldung

14.-16.6.2023, Cottbus
Konferenz Bundeskongress: Tag der Regionen 2023 – So gelingt die Transformation in der Region (BBSR) Info & Anmeldung

News

EU-Sorgfaltspflichtengesetz: Einigung im Parlament könnte scheitern

Vielleicht schafft es das Europaparlament am Donnerstag nicht, sich auf seine Position für die Trilog-Verhandlungen zur Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen zu einigen. Grund: Gegen den Bericht von Lara Wolters (S&D) formiert sich breiter Widerstand auf Seiten der EVP. “Wir als CDU/CSU-Gruppe werden am Donnerstag gegen den Bericht stimmen“, sagt der Co-Vorsitzende Daniel Caspary zu Table.Media. Er empfange auch aus den anderen großen EVP-Delegationen “klare Signale”, dass diese den Entwurf ebenfalls kritisch sähen, so der CDU-Politiker. Wie geschlossen die größte Fraktion im Europaparlament gegen den Bericht stimmt, wird sich erst bei der Fraktionssitzung im Laufe des heutigen Tages zeigen.

Über ungefähr 50 Änderungsanträge werden die Parlamentarier am Donnerstag abstimmen. Von der EVP kommen Änderungsanträge, die die Reichweite des Gesetzes deutlich begrenzen würden – etwa, dass Unternehmen erst betroffen wären, wenn sie mindestens 1.000 Mitarbeitende haben oder dass es nur für die Lieferketten statt für die ganze Wertschöpfungskette gelten würde. Dabei wurde die von Wolters gewünschte strengere Ausgestaltung des Gesetzes schon verworfen, um überhaupt eine Einigung im Rechtsausschuss zu ermöglichen.

In EVP-Kreisen heißt es aber, um Änderungsanträge oder eine etwaige Abschwächung des Gesetzes gehe es gar nicht mehr. Vielmehr stehe die Frage im Zentrum, ob man der Industrie weitere Bürokratie auferlegen wolle. CDU/CSU wie EVP fordern schon länger ein regulatorisches Moratorium. Das Sorgfaltspflichtengesetz könnte demnach als Exempel dienen.

Die liberale Fraktion ist entscheidend für die Abstimmung

Entscheidend für die Abstimmung zum Sorgfaltspflichtengesetz dürfte sein, wie viele Renew-Abgeordnete den Wolters-Bericht unterstützen. Auch der liberale Emmanuel Macron hatte kürzlich eine Regulierungspause gefordert – allerdings mit Blick auf die nächste Legislaturperiode. Die Schattenberichterstatter von Renew, darunter der Macron-Vertraute Pascal Canfin, stünden aber weiter hinter dem Kompromisstext, heißt es im Europaparlament. Die FDP und auch nordische Abgeordnete würden den Bericht hingegen ablehnen, ist in Renew-Kreisen zu vernehmen.

Es ist aber unklar, ob die S&D genug Unterstützung hat, um den Bericht durchzubringen. In Fraktionskreisen gibt es Stimmen, dass Berichterstatterin Lara Wolters gegen ihren eigenen Bericht stimmen würde, wenn die EVP ihre Schlüssel-Änderungsanträge durchsetzt. cw/tho

  • EU
  • Lieferketten
  • Menschenrechte
  • Sorgfaltspflichten

Weitere Versicherer verlassen Klimabündnis NZIA

Nach dem Austritt weiterer Mitglieder steckt die Net-Zero Insurance Alliance (NZIA) in einer existenziellen Krise. Innerhalb weniger Tage haben sechs weitere Versicherungsunternehmen das globale Klimabündnis verlassen – darunter der französische Konzern Axa, der bis zu seinem Rückzug den Vorsitz innehatte. Auch der Pariser Rückversicherer Scor, die japanische Sompo, die Versicherer QBE (Australien) und Mapfre (Spanien) sowie die Versicherungsbörse Lloyd’s of London erklärten ihren Austritt.

Mit der Allianz ist Ende vergangener Woche zudem der letzte verbliebene deutsche Versicherer ausgestiegen. Hannover Rück und Munich Re hatten der Initiative, die 2021 unter dem Dach der Vereinten Nationen gegründet wurde, bereits vor Wochen den Rücken gekehrt. Die in der NZIA zusammengeschlossenen Unternehmen haben sich verpflichtet, ihre Portfolios bis 2050 so umzubauen, dass die Ziele des Pariser Abkommens erreicht werden.

Hintergrund der Austrittswelle ist der zunehmende Druck auf die in den USA tätige Finanzindustrie. Dort führen republikanische Politiker seit mehr als zwei Jahren eine immer aggressivere Kampagne gegen ESG und “woke capitalism”, die sich zunehmend auch gegen Versicherungsunternehmen richtet. 

Zuletzt forderten 23 republikanische Generalstaatsanwälte die Mitglieder der NZIA auf, ihnen bis zum 15. Juni Kopien relevanter Kommunikation und Dokumente auszuhändigen (Table.Media berichtete). Der Vorwurf der Strafverfolger: Die NZIA diskriminiere Unternehmen der fossilen Energiewirtschaft und verstoße gegen das Kartellrecht. Wie es mit der NZIA weitergeht, scheint völlig offen, nachdem sich die Zahl der beteiligten Unternehmen innerhalb kürzester Zeit von über 30 auf jetzt 17 fast halbiert hat. ch

  • Versicherungen

ESG-Manager verdienen mehr als Manager

In den USA schießen sich immer mehr konservative Politiker auf den Begriff “ESG” ein. Banker und Finanzmanager, die sich mit Nachhaltigkeit befassen, verdienen mit ihrer Spezialisierung allerdings ziemlich gut. Wie die Nachrichtenagentur Reuters zusammen mit dem New Yorker Daten-Start-up Revelio Labs ermittelt hat, liegen Gehälter von Experten, die im Jobtitel “ESG” oder “Sustainability” tragen, um 20 Prozent höher als die Gehälter von vergleichbaren Kolleginnen und Kollegen, die mit konventionellen Geldanlagen und Investitionen arbeiten. 

In die Analyse flossen online verfügbare Profile von Positionen im Investmentbanking und Asset Management ein. Bonusleistungen, die Firmen in der Regel nicht öffentlich bekannt machen, konnten hingegen nicht berücksichtigt werden. Anhand der Angaben ließ sich aber feststellen, dass der Zuwachs des Basisgehalts von ESG-Jobs seit 2019 um 38 Prozent höher lag als der von Nicht-ESG-Jobs. Im April 2023 lag das Gehalt im Schnitt bei 110.348 gegenüber 90.283 US-Dollar. Grund für den deutlich besseren Verdienst: die zunehmende Nachfrage nach ESG-Investments und die Knappheit von ausgewiesenen ESG-Experten. maw

  • Banken
  • Finanzen

Keine Kohärenz zwischen Finanz- und Umweltpolitik

Die “Spending Review” des Finanzministeriums reicht nicht aus, um Kohärenz zwischen der Finanz- und Umweltpolitik herzustellen und sollte weiterentwickelt werden. Zu diesem Schluss kommen die Autoren einer Studie des Naturschutzbundes (NABU) und des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS). Unter dem Titel “Was kann das SDG-Budgeting der Bundesregierung leisten?” haben sie die Verknüpfung von Nachhaltigkeitszielen mit dem Bundeshaushalt untersucht.

Zentraler Kritikpunkt: Der bisherige Ansatz der “Spending Review” betrachtet alle 17 Nachhaltigkeitsziele der UN, anstatt Prioritäten zu setzen, etwa beim Klimaschutz. Die zu große Bandbreite überfordere den Ansatz. Kritisiert wird auch, dass klima- und umweltschädliche Steuervergünstigungen explizit nicht in die Betrachtung einbezogen werden. Damit blieben zentrale Problemfelder und zusätzliche Einnahmemöglichkeiten ausgeblendet.

Insgesamt sehen die Autoren die Gefahr des Rosinenpickens, da den Ressorts zu viel Spielraum zur Selbsteinschätzung gelassen werde. So wären die Ausgaben des Bundes für den Umweltschutz im Jahr 2021 nach Selbsteinschätzung der Bundesregierung mit 33,3 Milliarden Euro fast dreimal so hoch gewesen wie vom Statistischen Bundesamt (Destatis) berechnet. Nach einer deutlich strengeren Methode kam Destatis nur auf 12,6 Milliarden Euro. Mehr Transparenz, parlamentarische Kontrolle und externe Expertise seien daher notwendig.

Dennoch kann der NABU der Spending Review auch positive Aspekte abgewinnen. So sei es gut, “dass nun überhaupt ein Prozess zur Entwicklung eines nachhaltigen Haushaltsansatzes für Deutschland in Gang kommt”. Schließlich sei Deutschland im internationalen Vergleich ein Nachzügler beim “Green Budgeting”. Zu begrüßen sei auch, dass die Bundesregierung die Bereitschaft signalisiert habe, den Ansatz zu verbessern und weiterzuentwickeln. ch

  • Nachhaltigkeit

Innovationskraft der Wirtschaft geht zurück

Zur Bewältigung grundlegender Transformationsprozesse sind Volkswirtschaften in besonderem Maße auf die Innovationsfähigkeit ihrer Unternehmen angewiesen. Doch die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft hat in den vergangenen Jahren spürbar nachgelassen. 

Das zeigt die Studie “Innovative Milieus 2023”, die die Bertelsmann Stiftung jetzt vorgelegt hat. Demnach kann heute nur noch jedes fünfte deutsche Unternehmen als besonders innovativ bezeichnet werden. 2019 war es noch jedes vierte. Gleichzeitig ist der Anteil der Unternehmen, die nicht aktiv nach Innovationen suchen, in den vergangenen drei Jahren von 27 auf 38 Prozent gestiegen.

In der Folge nahm laut Studie auch die Innovationstätigkeit auf gesamtwirtschaftlicher Ebene ab. So sank der “innovative Output”, also die Gesamtheit der erfolgreich umgesetzten Innovationen aller Unternehmen, zwischen 2019 und 2022 um 15 Prozent.

“Diese Entwicklung wird schwerwiegende Folgen für die Stellung deutscher Unternehmen auf den Weltmärkten haben”, sagt Armando García Schmidt, Wirtschaftsexperte der Bertelsmann Stiftung. “Unser Wohlstand ist massiv gefährdet, wenn immer weniger Unternehmen sich als technologische Vorreiter sehen oder sich nicht mehr an tiefgreifende Neuerungen wagen.” Zudem leisteten innovationsstarke Unternehmen deutlich mehr für die Nachhaltigkeitstransformation.

Um die Innovationsfähigkeit und -bereitschaft grundlegend zu verbessern, empfehlen die Autoren der Studie die Etablierung von netzwerkartigen Innovationsökosystemen, die auf die Lösung von “Grand Challenges” ausgerichtet sind. Damit könnte der gesamte Innovationsprozess von der Ideengenerierung über die Entwicklung bis hin zur Markteinführung abgedeckt werden.

Die Studie basiert auf aktuellen Ergebnissen des IW-Zukunftspanels. Das Institut der deutschen Wirtschaft befragt darin seit 2006 regelmäßig mehr als 1.000 Unternehmen zu wirtschafts- und gesellschaftsrelevanten Veränderungsprozessen. ch

  • Transformation
  • Wirtschaft

Rohstoffclubs müssen Metallrecycling einbeziehen

Nach dem Klimaclub soll laut Plänen der EU und der USA ein Rohstoffclub westliche Länder mit rohstoffreichen Ländern Asiens, Lateinamerikas und Afrikas zusammenbringen. Der Verband deutscher Metallhändler und Recycler (VDM) fordert jetzt, auch die Märkte für Metallschrott im globalen Süden in den Club einzubeziehen. Rohstoffpartnerschaften auf Augenhöhe könnten nur gelingen, wenn der Westen nicht nur Rohstoffe aus dem globalen Süden beziehe, sondern auch wiederverarbeitete Rohstoffe dorthin exportiere. Darauf weisen Kilian Schwaiger und Murat Bayram in einem Gastbeitrag für Table.Media hin. Schwaiger ist Geschäftsführer beim Verband Deutscher Metallhändler und Recycler (VDM). Bayram ist Geschäftsführer der EMR European Metal Recycling GmbH.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte im September 2022 angekündigt, die EU werde ihre handelspolitischen Maßnahmen verstärken, unter anderem durch die Gründung eines Clubs für kritische Rohstoffe “für alle gleichgesinnten Länder, die die globalen Lieferketten stärken wollen”. Diskutiert werden der Verzicht auf Exportbeschränkungen oder Zölle im gegenseitigen Handel mit Rohstoffen sowie gemeinsame Umwelt- und Arbeitsschutzstandards für Minen oder Hüttenwerke.

Wie die beiden Autoren betonen, sei Indien beispielsweise der zweitgrößte Stahlproduzent der Welt und exportiere wichtige Ferrolegierungen in die EU, die für die hiesige Stahlproduktion benötigt würden. Doch gleichzeitig wolle das Land nachhaltiger produzieren und rechne mit einem steigenden Einsatz von Stahlschrott, den das Land unter anderem aus den USA und der EU beziehe. 

Derzeit plane die EU mit der Abfallverbringungsverordnung jedoch, die Handelsbarrieren für Metallschrott zu erhöhen. “Wenn wir allen ein gewisses Maß an Wohlstand ermöglichen wollen, müssen wir Länder wie Indien, Pakistan, Malaysia oder Thailand in unsere Handelsstrukturen einbeziehen”, schreiben Kilian Schwaiger und Murat Bayram. “Das bedeutet, dass wir gemeinsame Umwelt- und Arbeitsstandards anerkennen und damit Import- und Exportbeschränkungen minimieren”. leo

  • Lieferketten
  • Rohstoffe

Presseschau

Ukraine built more onshore wind turbines in past year than England – The Guardian
Nicht nur in Deutschland zieht sich der Ausbau der Erneuerbaren Energien hin. England hat 2022 nur zwei Onshore-Windanlagen aufgestellt – und damit weniger als die Ukraine seit Einmarsch der russischen Truppen. Analysten zufolge hat diese Politik die britischen Haushalte im vergangenen Winter geschätzte 800 Millionen Pfund zusätzlich gekostet. Zum Artikel 

Can carbon removal become a trillion-dollar business? – The Economist
Bereits emittiertes CO₂ muss wieder aus der Atmosphäre geholt werden, das rät selbst der Weltklimarat. Aber haben die zahlreichen Start-ups, die sich an der Technologie versuchen, das Potenzial für den großen Durchbruch? Möglich ist es, analysiert der Economist. Aber die Zeit läuft gegen sie. Zum Artikel

France’s short-haul domestic flight ban: A measure lacking substance – Le Monde
Vergangene Woche trat in Frankreich ein wegweisendes Verbot in Kraft. Ab sofort sollen Inlandsflüge untersagt sein, die Regierung nannte ihr Vorhaben ein “starkes Signal”. De facto aber verändert es fast nichts – untersagt sind Flüge in der Praxis lediglich auf drei Routen, wie Le Monde zeigt. Zum Artikel

Australia Tries to Break Its Dependence on China for Lithium Mining – New York Times
Australien gewinnt mehr als die Hälfte des weltweiten Lithiums – und verkauft bislang alles an China. Das will die Regierung jetzt ändern, die Verarbeitung ins eigene Land holen und an westliche Partner verkaufen. Kein einfaches Unterfangen, wie Natasha Frost schreibt. Zum Artikel

‘Worthless’: Chevron’s carbon offsets are mostly junk and some may harm, research says – The Guardian
Nina Lakhani berichtet exklusiv über neue Untersuchungen der Umweltorganisation Corporate Accountability. Demnach haben die Kompensationsprogramme des US-Energieriesens Chevron nur eine geringe Wirkung. Zum Artikel

These countries will be dangerously hot within the next century – The Washington Post
Das Global Systems Institute der Universität Exeter hat untersucht, welche Gebiete der Erde bis zum Ende des Jahrhunderts durch den Klimawandel unbewohnbar werden. Michael Birnbaum hat sich die Studie genauer angesehen. Zum Artikel

The Anti-Woke Presidential Candidate Who Wants to Crush ESG and Gut the Fed – The Wall Street Journal
Peter Rudegeair und Angel Au-Yeung haben den Unternehmer Vivek Ramaswam unter die Lupe genommen. Er will nächster US-Präsident werden, dürfte aber gegen die republikanischen Schwergewichte Trump und DeSantis keine Chance haben. Zum Artikel

Was passieren muss, damit Smartphones weniger Umweltschäden anrichten – Der Standard
Tech-Konzerne wie Apple wollen mit dem iPhone möglichst viel Profit generieren. Mickey Manakas hat herausgefunden, dass sie sich dafür umweltfreundlicher darstellen, als sie sind. Zum Artikel

Green IT: Wie nachhaltige Anwendungen CO₂-Emissionen reduzieren – t3n
Der Energieverbrauch von Software ist riesig. Ein Schlüssel für nachhaltige Anwendungen: Demand-Shaping. Thomas Kräuter ist der Frage nachgegangen, was sich dahinter verbirgt. Zum Artikel

Climate-Quitting: Kündigung wg. Klima – Die Zeit
Viele Menschen würden ihren Job aufgeben, wenn sich ihr Betrieb zu wenig für den Umweltschutz einsetzt. Nicht nur das bringt Arbeitgeber in Zugzwang, berichtet Jennifer Garic. Zum Artikel

Diskussion in Großbritannien: Keine neuen Ölfelder in der Nordsee? – FAZ
Philip Pickert berichtet aus London, dass die britische Labour-Partei ein Verbot neuer Öl- und Gas-Bohrungen in der Nordsee erwägt. Die Industrie ist entsetzt. Zum Artikel

Standpunkt

Heutige Finanzströme prägen die Realwirtschaft von morgen 

Von Mauricio Vargas
Mauricio Vargas ist Volkswirt und Analyst bei Greenpeace.

Der Boom nachhaltiger Geldanlagen als attraktives Geschäftsfeld für die Finanzindustrie ist in vollem Gange und Buzzwords wie ESG, SDG und PRI sind mittlerweile im Mainstream angekommen. Gleichzeitig häufen sich kritische Stimmen aus verschiedenen Ecken: Auf der einen Seite stellen zivilgesellschaftliche Gruppen regelmäßig die Glaubwürdigkeit vieler Nachhaltigkeitsversprechen im Finanzsektor in Frage und wittern Greenwashing. Auf der anderen Seite mehren sich die Stimmen, die die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit von Sustainable Finance grundsätzlich in Frage stellen. 

Doch wo stehen wir tatsächlich? Kann “Verantwortliches Investieren” speziell aus Umweltsicht eine sinnvolle Wirkung entfalten? Um diese Fragen zu beantworten, muss man sich zunächst die Grundlagen der Idee vergegenwärtigen, weshalb nachhaltiges Investieren wirkungsvoll sein und sogar den entscheidenden Unterschied bei der Transformation der Wirtschaft machen kann:

Das Finanzwesen ist zentral für die Funktionsweise des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Durch die Kreditwirtschaft werden Entscheidungen getroffen, bevor (!) die realwirtschaftlichen Prozesse ins Rollen kommen. So werden zum Beispiel Investitionsentscheidungen von Unternehmen auf dem Reißbrett der Banken entweder verworfen oder aber finanziert und umgesetzt. Auch wenn es um die Beendigung einer bestehenden Geschäftstätigkeit geht, sitzen die Finanzplaner am entscheidenden Hebel: Verliert ein Unternehmen an finanzieller Attraktivität oder ist gar die Zahlungsfähigkeit gefährdet, versiegen die Finanzströme und das Geschäft muss zwangsläufig eingestellt werden. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass die Finanzströme von heute die Ausprägung unserer Wirtschaft von morgen bestimmen.

Kapitalmarktakteure sind keine homogene Gruppe 

Kritiker halten dem entgegen, dass der ethisch motivierte Rückzug eines Teils der Investorenschaft ins Leere laufen müsse, da die fehlende Finanzierung unmittelbar und dankbar von den “moralfreien” Investoren zur Verfügung gestellt würde. Dies trifft nicht zu. Zum einen ist es ein Mythos, dass der Kapitalmarkt aus homogenen Akteuren besteht. Das Gegenteil ist der Fall. Viele Investoren sind reguliert und mit eingeschränkten Freiheitsgraden ausgestattet, sodass insbesondere auf den Anleihe- und Kreditmärkten faktisch eine ausgeprägte Heterogenität vorherrscht. Empirische Analysen aus kontroversen Sektoren wie dem Suchtmittelbereich bestätigen, dass ein Abzug von circa 20 Prozent der Investorengelder zu einer spürbaren Veränderung der Refinanzierungskosten führt. Auch die Nachfrageseite ist wählerisch. CFOs von Unternehmen sind stets bemüht, etablierte institutionelle Investoren als Ankerinvestoren beziehungsweise “sticky money” zu gewinnen, während Hedgefonds und anderes “schnelles Geld” mit höherer Unsicherheit verbunden und somit als Investoren weniger attraktiv sind. 

Aus all diesen zentralen Überlegungen heraus folgt die Überzeugung, dass die Kraft der Finanzmärkte konstruktiv genutzt werden kann, um eine nachhaltige Wirtschaftsordnung durch eine Umlenkung der Kapitalströme zu etablieren. Das bedeutet, dass bevorzugt in gesellschaftlich wünschenswerte Wirtschaftsaktivitäten investiert werden muss, während unerwünschte Wirtschaftsbereiche finanziell trocken gelegt werden müssen, damit sie verschwinden. 

Widersprüche und Konflikte 

Das Wesen verantwortlichen Investierens beruht also auf zwei elementaren Merkmalen: Erstens auf der Idee expliziter Zukunftsvisionen, die mit den investierten Geldern ermöglicht werden. Und zweitens auf der Klarheit darüber, welche wirtschaftlichen Aktivitäten gemeinhin als schädlich für Gesellschaft, Klima und Umwelt gelten und zu unterlassen sind.

Die Zukunftsvisionen, die in Finanzprodukten mit den unterschiedlichsten Nachhaltigkeitslabeln zum Ausdruck kommen, offenbaren jedoch schnell, dass in pluralen Gesellschaften die Vorstellungen darüber, wie die Zukunft aussehen soll, sehr unterschiedlich ausfallen und zu Widersprüchen und Konflikten führen. Dieses Spannungsfeld reicht von Ideen einer Rückbesinnung auf naturnahe und konsumreduzierte Gesellschaftsentwürfe bis hin zu High-Tech-Gesellschaften, die all ihre Probleme mit Hilfe technischer Lösungen zu überwinden suchen. In diesem Spannungsfeld lässt sich nur schwer ein Konsens finden, wie beispielsweise die Kritik an grün gelabelten Finanzprodukten zeigt, die in umstrittene Unternehmen wie Tesla investieren. 

Breiter Konsens herrscht in der Regel darüber, dass bestimmte Wirtschaftsaktivitäten unseren natürlichen Lebensgrundlagen langfristig massiv schaden, wie die Nutzung von fossilen Brennstoffen oder die Abholzung von wertvollen Regenwäldern. Es ist wichtig, entsprechend unverrückbare Mindeststandards in die Finanzwelt zu integrieren, um ethische Regeln für Finanzprodukte zu schaffen.

Nachhaltigkeit wird normales Kerngeschäft

Überträgt man diese Grundüberlegungen in die praktische Umsetzung, so folgt daraus, dass Finanzunternehmen unstrittige Mindestkriterien für ihre Finanzgeschäfte definieren müssen. Diese müssen jedoch zwingend für ihre gesamte Produktpalette gelten und nicht nur für einzelne Finanzprodukte mit grünem Etikett. Ein Beispiel für ein solches Mindestkriterium ist der Ausschluss fossiler Energieunternehmen, deren Geschäftsgebaren nicht im Einklang mit dem Pariser 1,5-Grad-Klimaziel stehen, weil sie weiterhin den Ausbau ihrer Kohle-, Öl- und Gasgeschäfte ungebremst vorantreiben. Unternehmen, die Urwälder roden, Naturreservate oder Ökosysteme zerstören oder Arbeitnehmerrechte nicht einhalten, sollten ebenfalls grundsätzlich ausgeschlossen werden. 

Wenn solche ethischen Mindestregeln unternehmensweit für alle Produkte gelten, können in einem zweiten Schritt explizite Nachhaltigkeitsthemen leichter in Finanzprodukte integriert werden, die verschiedene individuelle Nachhaltigkeitspräferenzen der Menschen abdecken. Aktive Armutsbekämpfung, Ausbau erneuerbarer Energien, Schutz der Meere oder die Förderung der Kreislaufwirtschaft würden sich dann in spezialisierten Nachhaltigkeitsprodukten wiederfinden und wären aufgrund der Mindeststandards resistenter gegen den Vorwurf des Greenwashing. Das Konzept der Impact Investments, die gemeinhin als dunkelgrüne Öko-Investments gelten, entspräche dann dem Gedanken explizit nachhaltiger Geldanlagen. Und was heute vielerorts unter Nachhaltigkeit firmiert, wäre normales Kerngeschäft.

Mauricio Vargas ist seit 2020 Finanz- und Wirtschaftsexperte von Greenpeace Deutschland und erstellt Analysen vor allem für die Teams Energiewende und Mobilität der Umweltschutzorganisation. Zuvor war der promovierte Volkswirt fast zehn Jahre lang für den Vermögensverwalter Union Investment tätig, zuletzt als Senior Global Economist.

  • Arbeitnehmerrechte
  • Sustainable Finance

Heads

Bärbel Höhn – die Energiebeauftragte für Afrika

Bärbel Höhn ist ehrenamtlich als Energiebeauftragte des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Afrika tätig.

Das Thema Energie beschäftigt Bärbel Höhn schon lange. Als die Grünenpolitikerin 1990 erstmals in den nordrhein-westfälischen Landtag einzog, ging es für sie um die energetische Nutzung von Abfall. Heute ist die 71-jährige im Ehrenamt Energiebeauftragte für Afrika im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Sie versucht, mit Energie die wirtschaftliche Entwicklung des Globalen Südens anzukurbeln

“Energie ist wirklich ein Treiber, und damit etwas ganz anderes als die anderen Nachhaltigkeitsziele”, sagt Höhn. Der Zugang zu bezahlbarer und sauberer Energie ist Ziel Nr 7 der 17 SDG. “Mit Energie kann ich zwei Drittel der anderen Ziele besser erreichen.” Das trifft schon auf die ersten drei SDG zu: die Bekämpfung von Armut und Hunger sowie eine Gesundheitsversorgung für alle Menschen.

Schon während ihres Mathematik- und VWL-Studiums in Kiel in den 70er-Jahren engagierte Höhn sich politisch, für Umwelt und Frieden. Doch so richtig begann ihr Einsatz nach dem Umzug nach Oberhausen 1980. Nach wenigen Monaten entwickelte ihr kleiner Sohn in der Ruhrstadt eine heftige Bronchitis. Höhn fing an, sich in Bürgerinitiativen einzubringen, gegen Giftmüllverbrennung, für bessere Kindergärten. Zunächst ohne Parteibuch, dann als Mitglied der Grünen. Als Landtagsabgeordnete kämpfte sie gegen den Tagebau Garzweiler II – verhindern konnte sie ihn nicht mehr, doch immerhin wird es die letzte Grube NRWs. 

Parteiübergreifende Anerkennung

In Vorbereitung auf die Landtagswahlen und Koalitionsverhandlungen 1995 kam Höhn erstmals mit der Entwicklungsarbeit in Kontakt: Für die Grünen übernahm sie die Verantwortung für die Eine-Welt-Arbeit. Ab 2000 war sie als Landesministerin zuständig für Umwelt, Naturschutz und Landwirtschaft sowie als erste deutsche Ministerin überhaupt für Verbraucherschutz. Die Kooperation mit Ländern des Globalen Südens im Rahmen der Eine-Welt-Arbeit lag damit direkt in ihrem Aufgabenbereich, etwa mit dem Kohleland Südafrika. 2005 wechselte Bärbel Höhn in den Bundestag. Als MdB arbeitete sie zusammen mit dem CSU-Politiker und späteren Entwicklungsminister Gerd Müller, der sie schließlich ins BMZ berufen würde.

Man habe sich trotz Differenzen gut verstanden, sagt Höhn. Zu Müllers Amtsantritt im BMZ habe sie gefrotzelt: “Jetzt müssen Sie ja alle Schäden auf dieser Erde, die Sie vorher mit dem Export von Schweinefleisch ausgelöst haben, wieder reparieren.” Trotzdem berief Müller sie 2017 gemeinsam mit Josef Göppel (CSU) zu Energiebeauftragten für Afrika in sein Ministerium. Und auch die amtierende Nachfolgerin Svenja Schulze (SPD) scheint Höhns Arbeit zu schätzen – sie arbeitet für die neue Leitung jetzt in gleicher Position. 

Der Strom ist günstig, aber nicht gratis.

Im BMZ ist Höhn heute verantwortlich für das Projekt Grüne Bürgerenergie, das in neun afrikanischen Ländern dezentrale Energieerzeugung im ländlichen Raum fördert: Senegal, Elfenbeinküste, Ghana, Benin, Äthiopien, Uganda, Sambia, Mosambik und Namibia. Kleine, dezentrale Projekte machten auf dem Land oft mehr Sinn als der Anschluss an ein nationales Stromnetz, erklärt Höhn. Zudem hätten die Länder des Globalen Südens häufig den Vorteil, anders als die Industriestaaten noch nicht alte Technik genutzt zu haben. Darum könnten sie direkt modernstes Equipment installieren

Es gehe um die produktive Nutzung von Energie, etwa darum, mehr aus der Ernte herauszuholen, beispielsweise durch Kühlung, Trocknung oder Weiterverarbeitung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Oder bei der Kühlung von Medikamenten, die diese länger haltbar machten. Das schaffe nicht nur mehr wirtschaftliche Aktivität, sagt die Afrika-Energiebeauftragte. Es trägt auch zu einem friedlichen Umgang bei. Ein höherer Lebensstandard mache Dorfbewohner weniger anfällig gegen die Rekrutierung durch terroristische Gruppen. 

Das Ministerium setzt dabei auf ein Bezahlmodell: Der Strom ist günstig, aber nicht gratis. Dies soll zum einen die Betreiber zur ordentlichen Wartung der meist solarbetriebenen Anlagen bewegen, zum anderen soll es Unternehmertum befördern und damit auch Arbeitsplätze schaffen. Für die Wartung, und um die Menschen vor billigen Ramsch-Anlagen zu schützen, bietet das Projekt Bildung und Messgeräte. Finanziert werden die kleinen Netze von der Stiftung Clean Energy and Energy Inclusion for Africa, die Höhn gemeinsam mit der deutschen Entwicklungsbank KfW eigens dafür ins Leben gerufen hat. 

Entwicklung und Energie zusammendenken

Entwicklungsarbeit und Energiefragen müssten sehr viel stärker zusammengedacht werden, findet Höhn. 2015 sei ein Schlüsseljahr für sie gewesen. Damals fanden sowohl der Nachhaltigkeitsgipfel der Vereinten Nationen als auch die Klimakonferenz von Paris statt. “So wie ich als Energieexpertin lernen musste, mich mit Entwicklungszusammenarbeit zu beschäftigen, ist es auch ganz wichtig, dass Entwicklungsexperten die Chancen von Energie erkennen.” Für die Zukunft sei die Förderung Erneuerbarer Energien in den Ländern des Globalen Südens unerlässlich, sagt Höhn. Aber auch Deutschland müsse sich als ein Land begreifen, das sich weiter entwickeln muss. Arne Schütte

  • Afrika
  • Erneuerbare Energien

ESG.Table Redaktion

Licenses:
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    morgen will das Europaparlament seine Position zum EU-Sorgfaltspflichtengesetz beschließen, das Unternehmen verpflichten soll, für die Einhaltung der Menschenrechte in ihren Lieferketten zu sorgen. Doch auf Seiten der EVP-Fraktion formiert sich breiter Widerstand, etwa die CDU/CSU-Gruppe will dagegen stimmen. Dass es trotzdem zu einer Einigung kommt, ist alles andere als sicher. Charlotte Wirth berichtet über die Gründe.

    Um die Finanzierung der Transformation geht es heute zweimal: Die G7-Staaten schlagen Alarm in ihrem Abschlussbericht zum kürzlichen Gipfel – steigende Zinsen gefährdeten die Energiewende im globalen Süden. Nico Beckert erklärt, wie Lösungen aussehen könnten. Außerdem: Nachhaltiges Investieren kann die gewünschte Wirkung entfalten, wenn es gelinge, unstrittige Mindestkriterien zu entwickeln, die auf alle Produkte angewendet werden, schreibt Mauricio Vargas, Analyst bei Greenpeace, in seinem Standpunkt.

    Wie Unternehmen versuchen, im Austausch mit anderen Unternehmen schneller klimaneutral zu werden, das beschreibt Annette Mühlberger am Beispiel des Feuerverzinkers Zinq und des Bio-Bierbrauers Lammsbräu.

    Über einen neuen Standard, der Re-Use im Gebäudesektor fördern soll und welche Regulierung es für mehr kreislaufgerechtes Bauen in Deutschland braucht, berichtet Dominik Campanella, Mitgründer von Concular – einem Dienstleister für zirkuläres Bauen -, im Interview mit mir.

    Zu guter Letzt: Wenn Ihnen der ESG.Table gefällt, leiten Sie uns bitte weiter. Wenn Ihnen diese Mail zugeschickt wurde: Hier können Sie das Briefing kostenlos testen.

    Ihr
    Nicolas Heronymus
    Bild von Nicolas  Heronymus

    Analyse

    Unternehmensnetzwerke können die Transformation erleichtern

    Weil der Klimaschutz verschiedene Branchen vor ähnliche Herausforderungen stellt, bildete sich vor 15 Jahren das Netzwerk “Klimaschutz-Unternehmen” – unter anderem auf Initiative des damaligen BMWi und BMU. Heute gehören dem selbstständigen Verband 61 mehrheitlich familiengeführte Unternehmen an, die sich regelmäßig über ihre Ziele und Maßnahmen zur Dekarbonisierung austauschen.

    Wer in das Netzwerk aufgenommen werden will, muss ein mehrstufiges Aufnahmeverfahren durchlaufen. Aktuell wird unter anderem eine an der Science Based Target Initiative (SBT-Initiative) angelehnte Klimastrategie mit konkret abgeleiteten Zielen und Maßnahmen verlangt. Nur fünf bis zehn Prozent der Bewerber bestehen das Verfahren, 2022 waren es zehn der 200 Antragsteller. Ein Beirat aus Wissenschaftlern, Vertretern von NGO, DENA, BMWK, BMUV und DIHK ist für die Prüfung verantwortlich.

    Feuerverzinkung: Der Kreislaufansatz ist entscheidend

    Was bringt der Austausch für die Transformation? “Es ist wichtig, dass man weiß, wo man steht und dass man dies von Dritten gespiegelt bekommt”, beschreibt Lars Baumgürtel seine Motivation für die Bewerbung vor einigen Jahren. Baumgürtel ist Geschäftsführer von Zinq. Das Unternehmen (2.000 Mitarbeitende, 50 Standorte) ist der größte Produzent feuerverzinkter Oberflächen auf Stahl in Europa. Die Verzinkung ist ein Korrosionsschutz. Eingesetzt wird feuerverzinkter Stahl in der Bauwirtschaft, Automobilindustrie, im Schiffsbau, im Metall-, Maschinen- und Anlagenbau oder auch in der Raumfahrt (etwa die ESA ist Zinq-Kunde).

    Die Verfahren verursachen noch eine Menge CO₂. Denn Zinkbäder sind mehrere Hundert Grad heiß, rund um die Uhr, das ganze Jahr. Für die energetische Transformation wird Zinq viel Grünstrom und/oder grünen Wasserstoff benötigen. “Was für uns am Ende günstiger sein wird, wissen wir noch nicht”, sagt Lars Baumgürtel. Noch mangele es bei der grünen Energie, die die Prozesswärme brauche, an Verfügbarkeit und Infrastruktur. 

    Das Unternehmen hat sich auf dem Weg zur Klimaneutralität auch seine Kernprozesse angeschaut und unter anderem ein Verfahren entwickelt, bei dem die Temperatur des Zinkbades von 450 auf 420 gesenkt und die Ressource Zink um 80 Prozent eingespart wird. Für die klimaneutrale Produktion langlebiger Produkte sei jedoch der Kreislaufansatz entscheidend, sagt Baumgürtel. Zinq ist Cradle-to-Cradle zertifiziert. Über die eigenen Erfahrungen mit zirkulärem Wirtschaften und die Bedeutung der Kreislaufwirtschaft für den Klimaschutz tausche man sich in dem Netzwerk regelmäßig aus.

    Der Austausch zwischen Branchen fördert Innovation

    Jens Hesselbach, Professor am Lehrstuhl für umweltgerechte Produkte und Prozesse an der Universität Kassel, begleitet die Initiative seit acht Jahren. Er sagt: “In den Projekten merken wir sehr deutlich, dass der branchenübergreifende Austausch innovative Ansätze fördert.” Zumal die Bewerber, um aufgenommen zu werden, bereits Vorreiter sein müssten. Neben Maßnahmen zur Energieeffizienz, Umwelt-Managementsystemen, einem Nachhaltigkeitsberichtswesen, einer ausgearbeiteten Klimastrategie, grüner Eigenstromerzeugung oder der Nutzung von Abwärme, gehe es um Ansätze zur Kreislaufwirtschaft, Carbon-Footprints und Konzepte für die Emissionsreduktion in der Lieferkette. “Die low hanging fruits haben viele Mitgliedsfirmen schon abgeerntet”, fasst Hesselbach die Ausgangslage zusammen.

    Zirkuläre Geschäftsmodelle auch in die Diskussion um die Norm zur Klimaneutralität (ISO 14068) einzubringen, ist dem Verband ein Anliegen: “Unternehmen brauchen beim Klimaschutz Planungssicherheit“, sagt Verbandsgeschäftsführer Philipp Andree. Sei es in den Planungs- und Genehmigungsverfahren, bei der Förderung von Investitionen oder in der Definition, welche Teile der Wertschöpfung der Begriff der Klimaneutralität umfasse: “Wir setzen uns dafür ein, dass Unternehmen, die im Klima- und Ressourcenschutz Vorreiter sind, durch künftige Regulatorik nicht bestraft werden”, betont er. Zweimal jährlich gibt es einen Austausch mit dem BMWK und dem BMUV. “Dieser Zugang zur Politik macht das Netzwerk insbesondere für kleinere und mittlere Unternehmen natürlich auch interessant“, sagt Wissenschaftsbeirat Hesselbach.

    Im internen Diskurs gehe es um die Herausforderungen produzierender Unternehmen auf dem Weg zur Klimaneutralität: “Mit regenerativer Eigenstromerzeugung auf dem Betriebsgelände können produzierende Firmen in den meisten Fällen ihren Eigenenergiebedarf nicht decken”, erklärt Andree. Beteiligungsmodelle an bestehenden Anlagen (PPA), die Errichtung eigener Windkraftanlagen und Finanzierungsoptionen diskutiere man untereinander intensiv. Auch Regulierungsfragen beträfen die Unternehmen branchenunabhängig. “In jedem Bereich ist ein anderes Unternehmen weiter vorne und spielt sein Wissen in das Netzwerk ein”, meint Andree.

    Bei Scope 3 könnten Unternehmen von Lammsbräu lernen

    Bei der Messung des CO₂-Fußabdrucks in der Lieferkette steht beispielsweise die Familienbrauerei Lammsbräu ganz vorne. Der Biopionier (155 Mitarbeitende, 31,5 Millionen Euro Umsatz in 2022) stellte bereits vor 40 Jahren auf ein ganzheitliches ökologisches Unternehmenskonzept um. 2012 ermittelte das Unternehmen seine erste Klimabilanz und formulierte eine Klimastrategie. Im vergangenen Jahr schloss sich Lammsbräu als erster mittelständischer Lebensmittelhersteller in Deutschland der SBT-Initiative an.

    Bei den “Klimaschutz-Unternehmen” war Lammsbräu von Anfang an dabei. “Wir ziehen aus der Mitgliedschaft einen großen Nutzen. Geteiltes Wissen potenziert sich durch Vielfalt und unterschiedliche Perspektiven”, sagt Geschäftsführer Johannes Ehrnsperger. Über Veranstaltungen erhalte man viel Wissen aus erster Hand. Die Schnittmenge zu anderen Unternehmen sei groß: “Wir arbeiten alle konkret an der Energie- und Wärmewende und teilen Wissen über Bewältigungsstrategien, die man individuell ausdifferenzieren kann.” Bei Lammsbräu brauchen die Braukessel viel Wärmeenergie. Lammsbräu will weg vom Erdgas und hat hierfür wissenschaftlich begleitet und vom Verband unterstützt Szenarien erarbeitet.

    Beim Scope 3 können andere von Lammsbräu lernen. Mit Sekundärdaten hat man die Emissionen vom Anbau bis zur ersten Handelsstufe ermittelt. Primärdaten von den Landwirten liegen keine vor, außer für Gerste und Zuckerrüben, dort hat Lammsbräu die Daten selbst erfasst. “Die Transformation braucht viel Beziehungsarbeit mit Lieferanten”, meint Ehrnsperger. Lammsbräu fördert eine Humus aufbauende, CO₂-bindende Landwirtschaft und veranstaltet Seminare, zu denen die regionale Erzeugergemeinschaft der Brauerei zusammenkommt. Auch Zitrusbauern aus Südeuropa, die für Lammsbräu den Zitronensaft für die Bio-Limonaden liefern, haben in der Community schon über ihre Erfahrungen in wasserarmen Regionen referiert. “Für die Landwirtschaft sind Netzwerke für die Transformation genauso wichtig wie für die Industrie“, sagt Ehrnsperger. In diesem Fall stößt Lammsbräu selbst den Austausch zwischen den landwirtschaftlichen Lieferanten an.

    Zinsanstieg gefährdet globale Energiewende

    Photovoltaikanlagen in der südafrikanischen Provinz Westkap.

    Der G7-Gipfel im japanischen Hiroshima hat auf eine Bedrohung hingewiesen, die bisher noch kaum in den Schlagzeilen ist: Die Schuldenkrise vieler Entwicklungs- und Schwellenländer gefährdet auch die Pläne zur globalen Energiewende. Die Bewältigung der Klimakrise und der Schuldenanfälligkeit “hängen zusammen und verstärken sich gegenseitig”, heißt es im Abschlussdokument des Gipfels.

    Die angespannte finanzielle Lage und Zinserhöhungen in den Industriestaaten wirken sich auch auf den dringend nötigen Ausbau der erneuerbaren Energien in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern aus. Durch steigende Zinsen und Kapitalflucht in Industrieländer ist der Ausbau der Solar- und Windkraft ins Stocken geraten.

    Für die Energiewende und den Ausbau der erneuerbaren Energien werden bis 2030 weltweit Investitionen in Höhe von 44 Billionen US-Dollar benötigt, so die International Renewable Energy Association (IRENA). Doch um die Inflation infolge von Ukraine-Krieg und hohen Energiekosten zu bekämpfen, erhöhen die Zentralbanken der Industrieländer immer wieder die Leitzinsen. Das führt dazu, dass die Kapitalkosten in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern in die Höhe schnellen. Entwicklungsexperten und Ökonomen warnen, der zur Erreichung der globalen Klimaziele notwendige Zubau könnte stark verlangsamt werden. In einigen Schwellen- und Entwicklungsländern drohe “leider beträchtlicher Gegenwind”, sagt Ottmar Edenhofer, Direktor des Berliner Klimaforschungsinstituts MCC gegenüber Table.Media.

    Während der Zinsanstieg im Globalen Norden meist noch recht moderat ausfällt, haben sich die Finanzierungskosten in vielen Länder des Südens stark verschlechtert. Für Deutschland ist der Zinsanstieg “ein kleiner Gegenwind. Aber für Nigeria oder Kenia, wo die US-Dollar-Kreditzinsen jetzt bei 13 Prozent liegen, hat dies die Kosten für den Bau erneuerbarer Energien deutlich erhöht”, sagt der Analyst Teal Emery.

    IWF: Akuteste Situation seit Jahrzehnten

    Der Zinsanstieg wirkt sich dabei besonders auf den Ausbau der Erneuerbaren aus. Solar- und Windkraftwerke benötigen höhere Anfangsinvestitionen als Kohlekraftwerke ähnlicher Größe, so die IRENA kürzlich in einem Bericht. Schon “kleine Änderungen der Zinssätze wirken sich im Laufe der Zeit immer stärker auf die Projektkosten aus”, schreibt die IRENA. Und Edenhofer sagt: “Steigen die Zinsen, werden die Investitionen in nachhaltige Infrastrukturprojekte im Vergleich zu fossilen stärker zurückgefahren”.

    Entwicklungs- und Schwellenländer sind für den steilen Anstieg der Kapitalkosten kaum verantwortlich, wie Abebe Aemro Selassie, Direktor der Afrika-Abteilung des Internationalen Währungsfonds (IWF), schreibt. Viele private und institutionelle Investoren haben sich in den letzten Monaten aus diesen Ländern zurückgezogen. Die Inflation und eine risikoreiche Weltwirtschaft treiben Investoren in sichere Anlagen, zumeist im Globalen Norden. Durch dieses Austrocknen internationaler Finanzströme steigen die Kapitalkosten im Globalen Süden viel stärker als im Norden. Die Folge: “Der globale Zinsanstieg macht den Erneuerbaren in Afrika den Garaus“, so das Fazit von “Energy for Growth”.

    Selassie vom IWF nennt die schlechte Finanzierungssituation der Entwicklungs- und Schwellenländer, “die bei weitem akuteste Situation dieser Art seit Jahrzehnten”. Während sich “bessergestellte Volkswirtschaften auf ihre beträchtlichen Devisenreserven und tiefgreifenden Kapitalmärkte verlassen” könnten, haben sich die Schuldenkosten und der Zugang zu frischem Kapital für Staaten des Globalen Südens massiv verschlechtert, so Selassie. Das wirkt sich auch auf die Energiewende aus.

    Globaler Norden in der Verantwortung

    Um die Kosten der Energiewende im Globalen Süden zu senken, schlagen Experten einige Gegenmaßnahmen vor:

    • Staaten des Globalen Nordens sollten die Kreditkosten in den Entwicklungs- und Schwellenländern senken und ihrem 100-Milliarden-Versprechen für die Klimafinanzierung nachkommen. Es müsste auch mehr “konditionale Transfers an Regierungen” geben, sagt Matthias Kalkuhl, Leiter der Arbeitsgruppe Wirtschaftswachstum und menschliche Entwicklung am MCC Berlin. Auch Selassie vom IWF schlägt mehr Budgethilfen vor: “Die OECD-Länder gewähren heute nur noch einen Bruchteil der Budgethilfe, die sie vor einem Jahrzehnt geleistet haben, und das entstandene Loch wird durch eine teurere Kreditaufnahme gefüllt”, so der Afrika-Direktor des Währungsfonds.
    • (Multilaterale) Entwicklungsbanken wie die Weltbank sollten ihr gutes Kreditrating nutzen, um mehr vergünstigte Kredite an die Staaten des Globalen Südens zu vergeben, sagt Teal. Auch für Edenhofer sind “Entwicklungsbanken für die Finanzierung einer nachhaltigen Energieinfrastruktur von überragender Bedeutung”.
    • Laut Edenhofer “könnte auch der Green Climate Fund für das Ausfallrisiko von Krediten” in Ländern mit hohen Kapitalkosten bürgen – so würden Investitionsrisiken gesenkt und private Investoren wären eher bereit, Mittel zur Verfügung zu stellen.
    • Edenhofer hält es aber auch für “entscheidend, dass es gerade in den Schwellenländern zu einer CO₂-Bepreisung kommt”. Dadurch würde der Zinsanstieg “teilweise kompensiert”, da fossile Investitionen verteuert würden.

    Deutschland: “Traumkonstellation” nicht ausreichend genutzt

    In Deutschland wird der Zinsanstieg laut Experten nicht so gravierende Folgen haben. Durch die höheren Zinsen werden die Kosten der Energiewende zwar steigen. Doch durch den Emissionshandel gäbe es genug Anreize, auch weiterhin in die Erneuerbaren zu investieren, so Kalkuhl. Absehbar steigende CO₂-Preise durch die Erweiterung des europäischen Emissionshandels gäben vielen Investoren Planungssicherheit.

    Laut Hans Ulrich Buhl waren die letzten zehn Jahre mit niedrigen Zinsen eine “Traumkonstellation”, die zu wenig genutzt wurde, so der Wirtschaftsprofessor am Kernkompetenzzentrum Finanz- und Informationsmanagement Augsburg und Bayreuth. Deutschland war vor dem Ukraine-Krieg das Land mit den geringsten Finanzierungskosten beim Ausbau der Erneuerbaren, wie eine IRENA-Studie zeigt.

    Die Bundespolitik hätte die Energiewende in dieser Zeit “viel schneller voranbringen müssen“, sagt Buhl. Zwar stehe Deutschland im globalen Vergleich bei der Finanzierung der Energiewende noch gut da. Zusätzliche “hohe Kosten, beispielsweise durch lange Genehmigungsverfahren” könne sich die Bundesrepublik aber “nicht mehr leisten”, mahnt der Wirtschaftsprofessor zu Bürokratieabbau und beschleunigten Verfahren.

    • Energie
    • Energiewende
    • Finanzen
    • Fossile Investitionen
    • Globaler Süden
    • IRENA
    • Schulden

    Neuer Standard soll mehr Re-Use im Gebäudesektor fördern

    Warum haben Sie ein Unternehmen für zirkuläres Bauen gegründet?
    Die Baubranche ist der größte Umweltverschmutzer der Welt: 60 Prozent des Abfalls und 40 Prozent des CO₂ stammen aus dem Bausektor. Ein genauerer Blick auf die Zahlen zeigt, dass die Hälfte des CO₂, also 20 Prozent, aus der Herstellung von Material stammt – also dem Take-Make-Waste-Prinzip folgt. Das heißt: Wir nehmen Ressourcen aus der Erde, stellen Materialien her, verbauen sie in Gebäuden und teilweise nach nur 10 bis 15 Jahren nehmen wir die Materialien und entsorgen sie wieder – obwohl sie noch sehr gut sind. Nur 1 Prozent wird heutzutage wieder auf hochwertige Weise in Gebäude eingebracht.

    Gestartet sind Sie 2012 mit Restado – einem Marktplatz für gebrauchte Bauteile. Was war 2020 der Impuls, das Geschäftsmodell zu Concular weiterzuentwickeln?
    Wir haben die großen Akteure, die ökonomisch und ökologisch einen erheblichen Impact haben, nicht erreicht. Im Austausch haben wir festgestellt, dass schlicht das Wissen über verbaute Materialien in Gebäuden in Deutschland fehlt. Deshalb haben wir das Konzept für Concular entwickelt – ein digitales Ökosystem für zirkuläres Bauen.

    Bei neuen Gebäuden digitalisieren und dokumentieren wir die genutzten Materialien mit einem multidimensionalen BIM-Modell. Für den Bestand haben wir Software entwickelt, mit der wir durch Gebäude gehen und alle Materialien erfassen können. Das erleichtert es, das Material wieder einzubringen – über Recycling-Unternehmen, Hersteller oder auch direkt in Gebäude. In den vergangenen drei Jahren haben wir 250 Projekte durchgeführt.

    Welche weiteren Hürden für zirkuläres Bauen haben Sie identifiziert?
    Wir haben festgestellt, dass zirkuläres Bauen noch nicht den gleichen Stellenwert hat wie konventionelles Bauen, weil wichtige Tools und Standards fehlen. Deshalb schaffen wir sie selbst. Zwei Beispiele sind der Gebäuderessourcenpass, den wir mit der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen entwickelt haben und der Circularity Performance Index (CPX), mit dem wir messen, wie zirkulär ein Gebäude ist. Diese Bewertung der Zirkularität können Akteure nutzen, um Fördergelder zu bekommen oder auch fürs ESG-Reporting.

    Sie sind aktuell außerdem dabei, ein DIN-Standard zu entwickeln. Worum geht es?
    Die DIN SPEC 91484 definiert ein Verfahren für Pre-Demolition Audits, also zur Erfassung von Bauprodukten als Grundlage für Bewertungen des hochwertigen Anschlussnutzungspotenzials vor Abbruch- und Renovierungsarbeiten. Die Norm soll Bauherren mindestens dazu motivieren, vor einem Abriss oder Renovierungsarbeiten in das Gebäude zu schauen und zu bewerten, wie die verbauten Materialien wieder eingebracht werden können. Damit wollen wir vermeiden, dass wertvolle Materialien einfach deponiert werden oder im Downcycling enden.

    Und: Bisher ist ein Abriss in Deutschland nicht genehmigungspflichtig, würde es im Idealfall aber werden, wenn die DIN SPEC in Zukunft beim Rück- oder Umbau verpflichtend durchgeführt werden müsste. Das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen hat schon signalisiert, dass es großes Interesse hat, die Norm in die Gesetzgebung einzubringen.

    Welches Potenzial hätte eine Verpflichtung auf den neuen Standard?
    Aktuell gibt es beim Neu- oder Umbau häufig noch ein Henne-Ei-Problem. Häufig heißt es: Wir haben nicht die Materialien, um die Recycling- oder Re-Use-Quoten zu erfüllen. Und beim Rückbau heißt es: Wir haben nicht die Zeit, uns die Materialien genau anzuschauen. Aber die verpflichtende Durchführung der DIN SPEC würde genau an diesem Punkt eine Lösung bringen, weil wir uns die Materialien anschauen müssen und damit gleichzeitig die Verfügbarkeit von wiederverwertbaren Materialien höher ist.

    Das könnte das Datenproblem lösen.
    Ja, jedes Jahr werden in Deutschland 20.000 Gebäude abgerissen. Wenn wir also 20.000 Mal pro Jahr das Verfahren zur Erfassung von Bauprodukten durchführen, das durch die Norm festgelegt wird, dann wissen wir, welche Stoffströme wir haben. Und das gelingt, auch wenn wir es nur 10.000 Mal machen.

    So können wir uns die Daten auf Gebäudeebene, aber auch auf Stadtebene, anschauen. Das gibt uns die Möglichkeit, Städte komplett neu zu planen – weil wir wissen, was in Zukunft an Materialien zur Verfügung stehen wird. Und mit der Datenverfügbarkeit ist auch ein Matching-Prozess möglich zwischen Materialien aus dem Rückbau, die sich für Neubauten eignen. Das gibt uns ganz neue Möglichkeiten der Analyse und auch der Förderung von zirkulärem Bauen. Wenn wir wissen, dass in einem Jahr dieses Gebäude mit diesen Materialien abgerissen wird, dann können wir ein neues Gebäude basierend auf diesen Materialien planen. Nach dem Prinzip “form follows availability”.

    Wann wird die DIN SPEC 91484 veröffentlicht?
    Mitte Juni.

    Welche Regulierungsinitiativen braucht es für zirkuläres Bauen in Deutschland?
    Erstens müssen die Hürden für das Wiedereinbringen von Materialien sinken. Dazu gehört, dass Materialien aus dem Rückbau von Gebäuden nicht mehr als Abfall gelten und dass die Grenzwerte für Schadstoffe wie Asbest steigen – denn solange eine Null-Faser-Regelung gilt, lässt sich quasi kein Baumaterial wiederverwenden. Zudem dürfen für wiedergewonnene Materialien nicht dieselben Anforderungen gelten wie für neue Materialien. Das Ordnungsrecht muss also auf zirkuläres Bauen ausgerichtet werden.

    Zweitens braucht es aber auch ökonomische Anreize. Das heißt, dass es etwa Fördergelder gibt, wenn wiedergewonnene Materialien verbaut werden oder wenn wir Materialien in einem Gebäude dokumentieren – etwa mit dem Gebäuderessourcenpass.

    Drittens müssen wir auch die Finanzströme in Richtung zirkuläres Bauen steuern. Die EU-Taxonomie ist eine Chance. Dort gibt es auch Quoten für den Einsatz für Recycling- und Re-Use-Material. Leider sind diese sehr verwässert worden, sodass der Effekt ausbleiben könnte. Aber auch die Dokumentation von Materialien in Gebäuden ist dort verpflichtend geworden. Das heißt, eine Richtung ist vorgegeben, der Weg aber noch nicht gegangen.

    Viertens sind es die Normen, über die wir gesprochen haben. Die meisten Normen sind auf lineares Bauen ausgerichtet. Durch die Circular Economy Initiative der DIN beginnt bereits ein Prozess, in dem systematisch die Normen für zirkuläres Bauen angepasst werden.

    Warum sollten Bauherren und Investoren sich mit zirkulärem Bauen beschäftigen?
    Zirkuläres Bauen wird auf jeden Fall kommen. Ich muss also heute schon das Risiko einpreisen, dass ich meine Immobilien künftig nicht mehr verkaufen kann, wenn ich nicht zirkulär baue. Dazu gehört, die Materialien zu dokumentieren und sie so einzubauen, dass sie wieder ausgebaut werden können. Das ist eine einfache Rechnung: Wenn ich Material ausbauen und wieder einbringen kann, bekomme ich Geld dafür, anstatt für die Deponierung zahlen zu müssen. Dass dies heutzutage viele Immobilienfonds noch nicht einpreisen ist ein Risiko, weil Gebäude so zu einem “stranded asset” werden können.

    • Circular Economy
    • Kreislaufwirtschaft

    Neu: Agrifood.Table Professional Briefing – jetzt kostenlos anmelden. Wie unsere Lebensgrundlagen geschaffen, gesichert und reguliert werden. Für die entscheidenden Köpfe in Landwirtschaft und Ernährung in Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft, Verbänden und NGO. Von Table.Media. (Anmelden)

    Termine

    1.-2.6.2023, Berlin
    Konferenz Move – Die Konferenz für Nachhaltigkeitskommunikation Info & Anmeldung

    2.6.2023, 9:00-10:00 Uhr
    Table.Live-Briefing EU-Lieferkettengesetz – Was ist der Status Quo vor den finalen Verhandlungen? Info & Anmeldung

    2.6.2023, Köln
    Fachtagung Die globale Verantwortung von Unternehmerinnen und Unternehmern für nachhaltige Entwicklung (KAS) Info & Anmeldung

    6.6.2023, 15:00-16:30 Uhr
    Webinar Wie können naturbasierte Lösungen Kommunen resilienter machen? (UBA) Info & Anmeldung

    7.6.2023, 13:00-14:00 Uhr
    Webinar Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – Marktüberblick und digitale Lösungen (BNW) Info & Anmeldung

    12.6.2023, 13:00-18:00 Uhr
    Online-Konferenz Vom Planen zum Handeln: Wie kann die Mobilitätswende beschleunigt werden? (Agora Verkehrswende) Info & Anmeldung

    12.-16.6.2023, Darmstadt
    Tagung Darmstädter Tage der Transformation 2023 – Dialog über die sozial-ökologische Transformation von KMU Info & Anmeldung

    13.6.2023, 10:00-12:30 Uhr
    Webinar Energieeffizienzgesetz: Chancen für die IT-Branche (UBA) Info

    14.-15.6.2023, Berlin
    Konferenz BDEW Kongress – Wir sichern Energie Info & Anmeldung

    14.-16.6.2023, Cottbus
    Konferenz Bundeskongress: Tag der Regionen 2023 – So gelingt die Transformation in der Region (BBSR) Info & Anmeldung

    News

    EU-Sorgfaltspflichtengesetz: Einigung im Parlament könnte scheitern

    Vielleicht schafft es das Europaparlament am Donnerstag nicht, sich auf seine Position für die Trilog-Verhandlungen zur Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen zu einigen. Grund: Gegen den Bericht von Lara Wolters (S&D) formiert sich breiter Widerstand auf Seiten der EVP. “Wir als CDU/CSU-Gruppe werden am Donnerstag gegen den Bericht stimmen“, sagt der Co-Vorsitzende Daniel Caspary zu Table.Media. Er empfange auch aus den anderen großen EVP-Delegationen “klare Signale”, dass diese den Entwurf ebenfalls kritisch sähen, so der CDU-Politiker. Wie geschlossen die größte Fraktion im Europaparlament gegen den Bericht stimmt, wird sich erst bei der Fraktionssitzung im Laufe des heutigen Tages zeigen.

    Über ungefähr 50 Änderungsanträge werden die Parlamentarier am Donnerstag abstimmen. Von der EVP kommen Änderungsanträge, die die Reichweite des Gesetzes deutlich begrenzen würden – etwa, dass Unternehmen erst betroffen wären, wenn sie mindestens 1.000 Mitarbeitende haben oder dass es nur für die Lieferketten statt für die ganze Wertschöpfungskette gelten würde. Dabei wurde die von Wolters gewünschte strengere Ausgestaltung des Gesetzes schon verworfen, um überhaupt eine Einigung im Rechtsausschuss zu ermöglichen.

    In EVP-Kreisen heißt es aber, um Änderungsanträge oder eine etwaige Abschwächung des Gesetzes gehe es gar nicht mehr. Vielmehr stehe die Frage im Zentrum, ob man der Industrie weitere Bürokratie auferlegen wolle. CDU/CSU wie EVP fordern schon länger ein regulatorisches Moratorium. Das Sorgfaltspflichtengesetz könnte demnach als Exempel dienen.

    Die liberale Fraktion ist entscheidend für die Abstimmung

    Entscheidend für die Abstimmung zum Sorgfaltspflichtengesetz dürfte sein, wie viele Renew-Abgeordnete den Wolters-Bericht unterstützen. Auch der liberale Emmanuel Macron hatte kürzlich eine Regulierungspause gefordert – allerdings mit Blick auf die nächste Legislaturperiode. Die Schattenberichterstatter von Renew, darunter der Macron-Vertraute Pascal Canfin, stünden aber weiter hinter dem Kompromisstext, heißt es im Europaparlament. Die FDP und auch nordische Abgeordnete würden den Bericht hingegen ablehnen, ist in Renew-Kreisen zu vernehmen.

    Es ist aber unklar, ob die S&D genug Unterstützung hat, um den Bericht durchzubringen. In Fraktionskreisen gibt es Stimmen, dass Berichterstatterin Lara Wolters gegen ihren eigenen Bericht stimmen würde, wenn die EVP ihre Schlüssel-Änderungsanträge durchsetzt. cw/tho

    • EU
    • Lieferketten
    • Menschenrechte
    • Sorgfaltspflichten

    Weitere Versicherer verlassen Klimabündnis NZIA

    Nach dem Austritt weiterer Mitglieder steckt die Net-Zero Insurance Alliance (NZIA) in einer existenziellen Krise. Innerhalb weniger Tage haben sechs weitere Versicherungsunternehmen das globale Klimabündnis verlassen – darunter der französische Konzern Axa, der bis zu seinem Rückzug den Vorsitz innehatte. Auch der Pariser Rückversicherer Scor, die japanische Sompo, die Versicherer QBE (Australien) und Mapfre (Spanien) sowie die Versicherungsbörse Lloyd’s of London erklärten ihren Austritt.

    Mit der Allianz ist Ende vergangener Woche zudem der letzte verbliebene deutsche Versicherer ausgestiegen. Hannover Rück und Munich Re hatten der Initiative, die 2021 unter dem Dach der Vereinten Nationen gegründet wurde, bereits vor Wochen den Rücken gekehrt. Die in der NZIA zusammengeschlossenen Unternehmen haben sich verpflichtet, ihre Portfolios bis 2050 so umzubauen, dass die Ziele des Pariser Abkommens erreicht werden.

    Hintergrund der Austrittswelle ist der zunehmende Druck auf die in den USA tätige Finanzindustrie. Dort führen republikanische Politiker seit mehr als zwei Jahren eine immer aggressivere Kampagne gegen ESG und “woke capitalism”, die sich zunehmend auch gegen Versicherungsunternehmen richtet. 

    Zuletzt forderten 23 republikanische Generalstaatsanwälte die Mitglieder der NZIA auf, ihnen bis zum 15. Juni Kopien relevanter Kommunikation und Dokumente auszuhändigen (Table.Media berichtete). Der Vorwurf der Strafverfolger: Die NZIA diskriminiere Unternehmen der fossilen Energiewirtschaft und verstoße gegen das Kartellrecht. Wie es mit der NZIA weitergeht, scheint völlig offen, nachdem sich die Zahl der beteiligten Unternehmen innerhalb kürzester Zeit von über 30 auf jetzt 17 fast halbiert hat. ch

    • Versicherungen

    ESG-Manager verdienen mehr als Manager

    In den USA schießen sich immer mehr konservative Politiker auf den Begriff “ESG” ein. Banker und Finanzmanager, die sich mit Nachhaltigkeit befassen, verdienen mit ihrer Spezialisierung allerdings ziemlich gut. Wie die Nachrichtenagentur Reuters zusammen mit dem New Yorker Daten-Start-up Revelio Labs ermittelt hat, liegen Gehälter von Experten, die im Jobtitel “ESG” oder “Sustainability” tragen, um 20 Prozent höher als die Gehälter von vergleichbaren Kolleginnen und Kollegen, die mit konventionellen Geldanlagen und Investitionen arbeiten. 

    In die Analyse flossen online verfügbare Profile von Positionen im Investmentbanking und Asset Management ein. Bonusleistungen, die Firmen in der Regel nicht öffentlich bekannt machen, konnten hingegen nicht berücksichtigt werden. Anhand der Angaben ließ sich aber feststellen, dass der Zuwachs des Basisgehalts von ESG-Jobs seit 2019 um 38 Prozent höher lag als der von Nicht-ESG-Jobs. Im April 2023 lag das Gehalt im Schnitt bei 110.348 gegenüber 90.283 US-Dollar. Grund für den deutlich besseren Verdienst: die zunehmende Nachfrage nach ESG-Investments und die Knappheit von ausgewiesenen ESG-Experten. maw

    • Banken
    • Finanzen

    Keine Kohärenz zwischen Finanz- und Umweltpolitik

    Die “Spending Review” des Finanzministeriums reicht nicht aus, um Kohärenz zwischen der Finanz- und Umweltpolitik herzustellen und sollte weiterentwickelt werden. Zu diesem Schluss kommen die Autoren einer Studie des Naturschutzbundes (NABU) und des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS). Unter dem Titel “Was kann das SDG-Budgeting der Bundesregierung leisten?” haben sie die Verknüpfung von Nachhaltigkeitszielen mit dem Bundeshaushalt untersucht.

    Zentraler Kritikpunkt: Der bisherige Ansatz der “Spending Review” betrachtet alle 17 Nachhaltigkeitsziele der UN, anstatt Prioritäten zu setzen, etwa beim Klimaschutz. Die zu große Bandbreite überfordere den Ansatz. Kritisiert wird auch, dass klima- und umweltschädliche Steuervergünstigungen explizit nicht in die Betrachtung einbezogen werden. Damit blieben zentrale Problemfelder und zusätzliche Einnahmemöglichkeiten ausgeblendet.

    Insgesamt sehen die Autoren die Gefahr des Rosinenpickens, da den Ressorts zu viel Spielraum zur Selbsteinschätzung gelassen werde. So wären die Ausgaben des Bundes für den Umweltschutz im Jahr 2021 nach Selbsteinschätzung der Bundesregierung mit 33,3 Milliarden Euro fast dreimal so hoch gewesen wie vom Statistischen Bundesamt (Destatis) berechnet. Nach einer deutlich strengeren Methode kam Destatis nur auf 12,6 Milliarden Euro. Mehr Transparenz, parlamentarische Kontrolle und externe Expertise seien daher notwendig.

    Dennoch kann der NABU der Spending Review auch positive Aspekte abgewinnen. So sei es gut, “dass nun überhaupt ein Prozess zur Entwicklung eines nachhaltigen Haushaltsansatzes für Deutschland in Gang kommt”. Schließlich sei Deutschland im internationalen Vergleich ein Nachzügler beim “Green Budgeting”. Zu begrüßen sei auch, dass die Bundesregierung die Bereitschaft signalisiert habe, den Ansatz zu verbessern und weiterzuentwickeln. ch

    • Nachhaltigkeit

    Innovationskraft der Wirtschaft geht zurück

    Zur Bewältigung grundlegender Transformationsprozesse sind Volkswirtschaften in besonderem Maße auf die Innovationsfähigkeit ihrer Unternehmen angewiesen. Doch die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft hat in den vergangenen Jahren spürbar nachgelassen. 

    Das zeigt die Studie “Innovative Milieus 2023”, die die Bertelsmann Stiftung jetzt vorgelegt hat. Demnach kann heute nur noch jedes fünfte deutsche Unternehmen als besonders innovativ bezeichnet werden. 2019 war es noch jedes vierte. Gleichzeitig ist der Anteil der Unternehmen, die nicht aktiv nach Innovationen suchen, in den vergangenen drei Jahren von 27 auf 38 Prozent gestiegen.

    In der Folge nahm laut Studie auch die Innovationstätigkeit auf gesamtwirtschaftlicher Ebene ab. So sank der “innovative Output”, also die Gesamtheit der erfolgreich umgesetzten Innovationen aller Unternehmen, zwischen 2019 und 2022 um 15 Prozent.

    “Diese Entwicklung wird schwerwiegende Folgen für die Stellung deutscher Unternehmen auf den Weltmärkten haben”, sagt Armando García Schmidt, Wirtschaftsexperte der Bertelsmann Stiftung. “Unser Wohlstand ist massiv gefährdet, wenn immer weniger Unternehmen sich als technologische Vorreiter sehen oder sich nicht mehr an tiefgreifende Neuerungen wagen.” Zudem leisteten innovationsstarke Unternehmen deutlich mehr für die Nachhaltigkeitstransformation.

    Um die Innovationsfähigkeit und -bereitschaft grundlegend zu verbessern, empfehlen die Autoren der Studie die Etablierung von netzwerkartigen Innovationsökosystemen, die auf die Lösung von “Grand Challenges” ausgerichtet sind. Damit könnte der gesamte Innovationsprozess von der Ideengenerierung über die Entwicklung bis hin zur Markteinführung abgedeckt werden.

    Die Studie basiert auf aktuellen Ergebnissen des IW-Zukunftspanels. Das Institut der deutschen Wirtschaft befragt darin seit 2006 regelmäßig mehr als 1.000 Unternehmen zu wirtschafts- und gesellschaftsrelevanten Veränderungsprozessen. ch

    • Transformation
    • Wirtschaft

    Rohstoffclubs müssen Metallrecycling einbeziehen

    Nach dem Klimaclub soll laut Plänen der EU und der USA ein Rohstoffclub westliche Länder mit rohstoffreichen Ländern Asiens, Lateinamerikas und Afrikas zusammenbringen. Der Verband deutscher Metallhändler und Recycler (VDM) fordert jetzt, auch die Märkte für Metallschrott im globalen Süden in den Club einzubeziehen. Rohstoffpartnerschaften auf Augenhöhe könnten nur gelingen, wenn der Westen nicht nur Rohstoffe aus dem globalen Süden beziehe, sondern auch wiederverarbeitete Rohstoffe dorthin exportiere. Darauf weisen Kilian Schwaiger und Murat Bayram in einem Gastbeitrag für Table.Media hin. Schwaiger ist Geschäftsführer beim Verband Deutscher Metallhändler und Recycler (VDM). Bayram ist Geschäftsführer der EMR European Metal Recycling GmbH.

    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte im September 2022 angekündigt, die EU werde ihre handelspolitischen Maßnahmen verstärken, unter anderem durch die Gründung eines Clubs für kritische Rohstoffe “für alle gleichgesinnten Länder, die die globalen Lieferketten stärken wollen”. Diskutiert werden der Verzicht auf Exportbeschränkungen oder Zölle im gegenseitigen Handel mit Rohstoffen sowie gemeinsame Umwelt- und Arbeitsschutzstandards für Minen oder Hüttenwerke.

    Wie die beiden Autoren betonen, sei Indien beispielsweise der zweitgrößte Stahlproduzent der Welt und exportiere wichtige Ferrolegierungen in die EU, die für die hiesige Stahlproduktion benötigt würden. Doch gleichzeitig wolle das Land nachhaltiger produzieren und rechne mit einem steigenden Einsatz von Stahlschrott, den das Land unter anderem aus den USA und der EU beziehe. 

    Derzeit plane die EU mit der Abfallverbringungsverordnung jedoch, die Handelsbarrieren für Metallschrott zu erhöhen. “Wenn wir allen ein gewisses Maß an Wohlstand ermöglichen wollen, müssen wir Länder wie Indien, Pakistan, Malaysia oder Thailand in unsere Handelsstrukturen einbeziehen”, schreiben Kilian Schwaiger und Murat Bayram. “Das bedeutet, dass wir gemeinsame Umwelt- und Arbeitsstandards anerkennen und damit Import- und Exportbeschränkungen minimieren”. leo

    • Lieferketten
    • Rohstoffe

    Presseschau

    Ukraine built more onshore wind turbines in past year than England – The Guardian
    Nicht nur in Deutschland zieht sich der Ausbau der Erneuerbaren Energien hin. England hat 2022 nur zwei Onshore-Windanlagen aufgestellt – und damit weniger als die Ukraine seit Einmarsch der russischen Truppen. Analysten zufolge hat diese Politik die britischen Haushalte im vergangenen Winter geschätzte 800 Millionen Pfund zusätzlich gekostet. Zum Artikel 

    Can carbon removal become a trillion-dollar business? – The Economist
    Bereits emittiertes CO₂ muss wieder aus der Atmosphäre geholt werden, das rät selbst der Weltklimarat. Aber haben die zahlreichen Start-ups, die sich an der Technologie versuchen, das Potenzial für den großen Durchbruch? Möglich ist es, analysiert der Economist. Aber die Zeit läuft gegen sie. Zum Artikel

    France’s short-haul domestic flight ban: A measure lacking substance – Le Monde
    Vergangene Woche trat in Frankreich ein wegweisendes Verbot in Kraft. Ab sofort sollen Inlandsflüge untersagt sein, die Regierung nannte ihr Vorhaben ein “starkes Signal”. De facto aber verändert es fast nichts – untersagt sind Flüge in der Praxis lediglich auf drei Routen, wie Le Monde zeigt. Zum Artikel

    Australia Tries to Break Its Dependence on China for Lithium Mining – New York Times
    Australien gewinnt mehr als die Hälfte des weltweiten Lithiums – und verkauft bislang alles an China. Das will die Regierung jetzt ändern, die Verarbeitung ins eigene Land holen und an westliche Partner verkaufen. Kein einfaches Unterfangen, wie Natasha Frost schreibt. Zum Artikel

    ‘Worthless’: Chevron’s carbon offsets are mostly junk and some may harm, research says – The Guardian
    Nina Lakhani berichtet exklusiv über neue Untersuchungen der Umweltorganisation Corporate Accountability. Demnach haben die Kompensationsprogramme des US-Energieriesens Chevron nur eine geringe Wirkung. Zum Artikel

    These countries will be dangerously hot within the next century – The Washington Post
    Das Global Systems Institute der Universität Exeter hat untersucht, welche Gebiete der Erde bis zum Ende des Jahrhunderts durch den Klimawandel unbewohnbar werden. Michael Birnbaum hat sich die Studie genauer angesehen. Zum Artikel

    The Anti-Woke Presidential Candidate Who Wants to Crush ESG and Gut the Fed – The Wall Street Journal
    Peter Rudegeair und Angel Au-Yeung haben den Unternehmer Vivek Ramaswam unter die Lupe genommen. Er will nächster US-Präsident werden, dürfte aber gegen die republikanischen Schwergewichte Trump und DeSantis keine Chance haben. Zum Artikel

    Was passieren muss, damit Smartphones weniger Umweltschäden anrichten – Der Standard
    Tech-Konzerne wie Apple wollen mit dem iPhone möglichst viel Profit generieren. Mickey Manakas hat herausgefunden, dass sie sich dafür umweltfreundlicher darstellen, als sie sind. Zum Artikel

    Green IT: Wie nachhaltige Anwendungen CO₂-Emissionen reduzieren – t3n
    Der Energieverbrauch von Software ist riesig. Ein Schlüssel für nachhaltige Anwendungen: Demand-Shaping. Thomas Kräuter ist der Frage nachgegangen, was sich dahinter verbirgt. Zum Artikel

    Climate-Quitting: Kündigung wg. Klima – Die Zeit
    Viele Menschen würden ihren Job aufgeben, wenn sich ihr Betrieb zu wenig für den Umweltschutz einsetzt. Nicht nur das bringt Arbeitgeber in Zugzwang, berichtet Jennifer Garic. Zum Artikel

    Diskussion in Großbritannien: Keine neuen Ölfelder in der Nordsee? – FAZ
    Philip Pickert berichtet aus London, dass die britische Labour-Partei ein Verbot neuer Öl- und Gas-Bohrungen in der Nordsee erwägt. Die Industrie ist entsetzt. Zum Artikel

    Standpunkt

    Heutige Finanzströme prägen die Realwirtschaft von morgen 

    Von Mauricio Vargas
    Mauricio Vargas ist Volkswirt und Analyst bei Greenpeace.

    Der Boom nachhaltiger Geldanlagen als attraktives Geschäftsfeld für die Finanzindustrie ist in vollem Gange und Buzzwords wie ESG, SDG und PRI sind mittlerweile im Mainstream angekommen. Gleichzeitig häufen sich kritische Stimmen aus verschiedenen Ecken: Auf der einen Seite stellen zivilgesellschaftliche Gruppen regelmäßig die Glaubwürdigkeit vieler Nachhaltigkeitsversprechen im Finanzsektor in Frage und wittern Greenwashing. Auf der anderen Seite mehren sich die Stimmen, die die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit von Sustainable Finance grundsätzlich in Frage stellen. 

    Doch wo stehen wir tatsächlich? Kann “Verantwortliches Investieren” speziell aus Umweltsicht eine sinnvolle Wirkung entfalten? Um diese Fragen zu beantworten, muss man sich zunächst die Grundlagen der Idee vergegenwärtigen, weshalb nachhaltiges Investieren wirkungsvoll sein und sogar den entscheidenden Unterschied bei der Transformation der Wirtschaft machen kann:

    Das Finanzwesen ist zentral für die Funktionsweise des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Durch die Kreditwirtschaft werden Entscheidungen getroffen, bevor (!) die realwirtschaftlichen Prozesse ins Rollen kommen. So werden zum Beispiel Investitionsentscheidungen von Unternehmen auf dem Reißbrett der Banken entweder verworfen oder aber finanziert und umgesetzt. Auch wenn es um die Beendigung einer bestehenden Geschäftstätigkeit geht, sitzen die Finanzplaner am entscheidenden Hebel: Verliert ein Unternehmen an finanzieller Attraktivität oder ist gar die Zahlungsfähigkeit gefährdet, versiegen die Finanzströme und das Geschäft muss zwangsläufig eingestellt werden. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass die Finanzströme von heute die Ausprägung unserer Wirtschaft von morgen bestimmen.

    Kapitalmarktakteure sind keine homogene Gruppe 

    Kritiker halten dem entgegen, dass der ethisch motivierte Rückzug eines Teils der Investorenschaft ins Leere laufen müsse, da die fehlende Finanzierung unmittelbar und dankbar von den “moralfreien” Investoren zur Verfügung gestellt würde. Dies trifft nicht zu. Zum einen ist es ein Mythos, dass der Kapitalmarkt aus homogenen Akteuren besteht. Das Gegenteil ist der Fall. Viele Investoren sind reguliert und mit eingeschränkten Freiheitsgraden ausgestattet, sodass insbesondere auf den Anleihe- und Kreditmärkten faktisch eine ausgeprägte Heterogenität vorherrscht. Empirische Analysen aus kontroversen Sektoren wie dem Suchtmittelbereich bestätigen, dass ein Abzug von circa 20 Prozent der Investorengelder zu einer spürbaren Veränderung der Refinanzierungskosten führt. Auch die Nachfrageseite ist wählerisch. CFOs von Unternehmen sind stets bemüht, etablierte institutionelle Investoren als Ankerinvestoren beziehungsweise “sticky money” zu gewinnen, während Hedgefonds und anderes “schnelles Geld” mit höherer Unsicherheit verbunden und somit als Investoren weniger attraktiv sind. 

    Aus all diesen zentralen Überlegungen heraus folgt die Überzeugung, dass die Kraft der Finanzmärkte konstruktiv genutzt werden kann, um eine nachhaltige Wirtschaftsordnung durch eine Umlenkung der Kapitalströme zu etablieren. Das bedeutet, dass bevorzugt in gesellschaftlich wünschenswerte Wirtschaftsaktivitäten investiert werden muss, während unerwünschte Wirtschaftsbereiche finanziell trocken gelegt werden müssen, damit sie verschwinden. 

    Widersprüche und Konflikte 

    Das Wesen verantwortlichen Investierens beruht also auf zwei elementaren Merkmalen: Erstens auf der Idee expliziter Zukunftsvisionen, die mit den investierten Geldern ermöglicht werden. Und zweitens auf der Klarheit darüber, welche wirtschaftlichen Aktivitäten gemeinhin als schädlich für Gesellschaft, Klima und Umwelt gelten und zu unterlassen sind.

    Die Zukunftsvisionen, die in Finanzprodukten mit den unterschiedlichsten Nachhaltigkeitslabeln zum Ausdruck kommen, offenbaren jedoch schnell, dass in pluralen Gesellschaften die Vorstellungen darüber, wie die Zukunft aussehen soll, sehr unterschiedlich ausfallen und zu Widersprüchen und Konflikten führen. Dieses Spannungsfeld reicht von Ideen einer Rückbesinnung auf naturnahe und konsumreduzierte Gesellschaftsentwürfe bis hin zu High-Tech-Gesellschaften, die all ihre Probleme mit Hilfe technischer Lösungen zu überwinden suchen. In diesem Spannungsfeld lässt sich nur schwer ein Konsens finden, wie beispielsweise die Kritik an grün gelabelten Finanzprodukten zeigt, die in umstrittene Unternehmen wie Tesla investieren. 

    Breiter Konsens herrscht in der Regel darüber, dass bestimmte Wirtschaftsaktivitäten unseren natürlichen Lebensgrundlagen langfristig massiv schaden, wie die Nutzung von fossilen Brennstoffen oder die Abholzung von wertvollen Regenwäldern. Es ist wichtig, entsprechend unverrückbare Mindeststandards in die Finanzwelt zu integrieren, um ethische Regeln für Finanzprodukte zu schaffen.

    Nachhaltigkeit wird normales Kerngeschäft

    Überträgt man diese Grundüberlegungen in die praktische Umsetzung, so folgt daraus, dass Finanzunternehmen unstrittige Mindestkriterien für ihre Finanzgeschäfte definieren müssen. Diese müssen jedoch zwingend für ihre gesamte Produktpalette gelten und nicht nur für einzelne Finanzprodukte mit grünem Etikett. Ein Beispiel für ein solches Mindestkriterium ist der Ausschluss fossiler Energieunternehmen, deren Geschäftsgebaren nicht im Einklang mit dem Pariser 1,5-Grad-Klimaziel stehen, weil sie weiterhin den Ausbau ihrer Kohle-, Öl- und Gasgeschäfte ungebremst vorantreiben. Unternehmen, die Urwälder roden, Naturreservate oder Ökosysteme zerstören oder Arbeitnehmerrechte nicht einhalten, sollten ebenfalls grundsätzlich ausgeschlossen werden. 

    Wenn solche ethischen Mindestregeln unternehmensweit für alle Produkte gelten, können in einem zweiten Schritt explizite Nachhaltigkeitsthemen leichter in Finanzprodukte integriert werden, die verschiedene individuelle Nachhaltigkeitspräferenzen der Menschen abdecken. Aktive Armutsbekämpfung, Ausbau erneuerbarer Energien, Schutz der Meere oder die Förderung der Kreislaufwirtschaft würden sich dann in spezialisierten Nachhaltigkeitsprodukten wiederfinden und wären aufgrund der Mindeststandards resistenter gegen den Vorwurf des Greenwashing. Das Konzept der Impact Investments, die gemeinhin als dunkelgrüne Öko-Investments gelten, entspräche dann dem Gedanken explizit nachhaltiger Geldanlagen. Und was heute vielerorts unter Nachhaltigkeit firmiert, wäre normales Kerngeschäft.

    Mauricio Vargas ist seit 2020 Finanz- und Wirtschaftsexperte von Greenpeace Deutschland und erstellt Analysen vor allem für die Teams Energiewende und Mobilität der Umweltschutzorganisation. Zuvor war der promovierte Volkswirt fast zehn Jahre lang für den Vermögensverwalter Union Investment tätig, zuletzt als Senior Global Economist.

    • Arbeitnehmerrechte
    • Sustainable Finance

    Heads

    Bärbel Höhn – die Energiebeauftragte für Afrika

    Bärbel Höhn ist ehrenamtlich als Energiebeauftragte des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Afrika tätig.

    Das Thema Energie beschäftigt Bärbel Höhn schon lange. Als die Grünenpolitikerin 1990 erstmals in den nordrhein-westfälischen Landtag einzog, ging es für sie um die energetische Nutzung von Abfall. Heute ist die 71-jährige im Ehrenamt Energiebeauftragte für Afrika im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Sie versucht, mit Energie die wirtschaftliche Entwicklung des Globalen Südens anzukurbeln

    “Energie ist wirklich ein Treiber, und damit etwas ganz anderes als die anderen Nachhaltigkeitsziele”, sagt Höhn. Der Zugang zu bezahlbarer und sauberer Energie ist Ziel Nr 7 der 17 SDG. “Mit Energie kann ich zwei Drittel der anderen Ziele besser erreichen.” Das trifft schon auf die ersten drei SDG zu: die Bekämpfung von Armut und Hunger sowie eine Gesundheitsversorgung für alle Menschen.

    Schon während ihres Mathematik- und VWL-Studiums in Kiel in den 70er-Jahren engagierte Höhn sich politisch, für Umwelt und Frieden. Doch so richtig begann ihr Einsatz nach dem Umzug nach Oberhausen 1980. Nach wenigen Monaten entwickelte ihr kleiner Sohn in der Ruhrstadt eine heftige Bronchitis. Höhn fing an, sich in Bürgerinitiativen einzubringen, gegen Giftmüllverbrennung, für bessere Kindergärten. Zunächst ohne Parteibuch, dann als Mitglied der Grünen. Als Landtagsabgeordnete kämpfte sie gegen den Tagebau Garzweiler II – verhindern konnte sie ihn nicht mehr, doch immerhin wird es die letzte Grube NRWs. 

    Parteiübergreifende Anerkennung

    In Vorbereitung auf die Landtagswahlen und Koalitionsverhandlungen 1995 kam Höhn erstmals mit der Entwicklungsarbeit in Kontakt: Für die Grünen übernahm sie die Verantwortung für die Eine-Welt-Arbeit. Ab 2000 war sie als Landesministerin zuständig für Umwelt, Naturschutz und Landwirtschaft sowie als erste deutsche Ministerin überhaupt für Verbraucherschutz. Die Kooperation mit Ländern des Globalen Südens im Rahmen der Eine-Welt-Arbeit lag damit direkt in ihrem Aufgabenbereich, etwa mit dem Kohleland Südafrika. 2005 wechselte Bärbel Höhn in den Bundestag. Als MdB arbeitete sie zusammen mit dem CSU-Politiker und späteren Entwicklungsminister Gerd Müller, der sie schließlich ins BMZ berufen würde.

    Man habe sich trotz Differenzen gut verstanden, sagt Höhn. Zu Müllers Amtsantritt im BMZ habe sie gefrotzelt: “Jetzt müssen Sie ja alle Schäden auf dieser Erde, die Sie vorher mit dem Export von Schweinefleisch ausgelöst haben, wieder reparieren.” Trotzdem berief Müller sie 2017 gemeinsam mit Josef Göppel (CSU) zu Energiebeauftragten für Afrika in sein Ministerium. Und auch die amtierende Nachfolgerin Svenja Schulze (SPD) scheint Höhns Arbeit zu schätzen – sie arbeitet für die neue Leitung jetzt in gleicher Position. 

    Der Strom ist günstig, aber nicht gratis.

    Im BMZ ist Höhn heute verantwortlich für das Projekt Grüne Bürgerenergie, das in neun afrikanischen Ländern dezentrale Energieerzeugung im ländlichen Raum fördert: Senegal, Elfenbeinküste, Ghana, Benin, Äthiopien, Uganda, Sambia, Mosambik und Namibia. Kleine, dezentrale Projekte machten auf dem Land oft mehr Sinn als der Anschluss an ein nationales Stromnetz, erklärt Höhn. Zudem hätten die Länder des Globalen Südens häufig den Vorteil, anders als die Industriestaaten noch nicht alte Technik genutzt zu haben. Darum könnten sie direkt modernstes Equipment installieren

    Es gehe um die produktive Nutzung von Energie, etwa darum, mehr aus der Ernte herauszuholen, beispielsweise durch Kühlung, Trocknung oder Weiterverarbeitung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Oder bei der Kühlung von Medikamenten, die diese länger haltbar machten. Das schaffe nicht nur mehr wirtschaftliche Aktivität, sagt die Afrika-Energiebeauftragte. Es trägt auch zu einem friedlichen Umgang bei. Ein höherer Lebensstandard mache Dorfbewohner weniger anfällig gegen die Rekrutierung durch terroristische Gruppen. 

    Das Ministerium setzt dabei auf ein Bezahlmodell: Der Strom ist günstig, aber nicht gratis. Dies soll zum einen die Betreiber zur ordentlichen Wartung der meist solarbetriebenen Anlagen bewegen, zum anderen soll es Unternehmertum befördern und damit auch Arbeitsplätze schaffen. Für die Wartung, und um die Menschen vor billigen Ramsch-Anlagen zu schützen, bietet das Projekt Bildung und Messgeräte. Finanziert werden die kleinen Netze von der Stiftung Clean Energy and Energy Inclusion for Africa, die Höhn gemeinsam mit der deutschen Entwicklungsbank KfW eigens dafür ins Leben gerufen hat. 

    Entwicklung und Energie zusammendenken

    Entwicklungsarbeit und Energiefragen müssten sehr viel stärker zusammengedacht werden, findet Höhn. 2015 sei ein Schlüsseljahr für sie gewesen. Damals fanden sowohl der Nachhaltigkeitsgipfel der Vereinten Nationen als auch die Klimakonferenz von Paris statt. “So wie ich als Energieexpertin lernen musste, mich mit Entwicklungszusammenarbeit zu beschäftigen, ist es auch ganz wichtig, dass Entwicklungsexperten die Chancen von Energie erkennen.” Für die Zukunft sei die Förderung Erneuerbarer Energien in den Ländern des Globalen Südens unerlässlich, sagt Höhn. Aber auch Deutschland müsse sich als ein Land begreifen, das sich weiter entwickeln muss. Arne Schütte

    • Afrika
    • Erneuerbare Energien

    ESG.Table Redaktion

    Licenses:

      Jetzt kostenlos anmelden und sofort weiterlesen

      Keine Bankdaten. Keine automatische Verlängerung.

      Sie haben bereits das Table.Briefing Abonnement?

      Anmelden und weiterlesen