die sozial-ökologische Transformation kann nur dann erfolgreich bewältigt werden, wenn alle Akteure konsequent neue Wege einschlagen. Im Fall der deutschen Automobilkonzerne VW, BMW und Mercedes-Benz stellt sich die Frage: Können sie in der Region Xinjiang in China tätig sein und gleichzeitig das Risiko der Zwangsarbeit von Uiguren in ihren Lieferketten ausschließen?
Eine Antwort darauf liefern könnte nun die Beschwerde der Menschenrechtsorganisation ECCHR gegen die drei Autobauer beim BAFA, mit der ich mich gemeinsam mit den Kollegen von Report Mainz exklusiv beschäftige. Dazu habe ich außerdem ein Interview mit dem Juristen Markus Krajewski geführt, unter anderem zu der wichtigen Frage, wann sich deutsche Unternehmen aus einer Region zurückziehen müssten.
Gewaltige Änderungen sind notwendig, damit die Bevölkerung die Transformation akzeptiert. In einer weiteren Analyse geht es um die Ideen von Minouche Shafik, der scheidenden Präsidentin der London School of Economis, und dem Mannheimer Ökonomen Tom Krebs – sie wurden beide für ihre publizistischen Arbeiten mit dem Hans-Matthöfer-Preis ausgezeichnet. Shafik geht es um einen neuen Gesellschaftsvertrag und Krebs um eine moderne Klimapolitik und die Rolle der Ökonomen.
Außerdem: Ein wichtiger Hebel für die Transformation ist in den Augen der EU-Kommission die Taxonomie. Nun gibt es Änderungen, die Leonie Düngefeld analysiert. Und: Jascha Rohr, der Gründer des Instituts für partizipatives Gestalten hält vieles, was unter dem Label Transformation firmiert, für Humbug. Worauf es bei Veränderungsprozessen wirklich ankommt, beschreibt er im Standpunkt.
Zu guter Letzt: Wenn Ihnen der ESG.Table gefällt, leiten Sie uns bitte weiter. Wenn Ihnen diese Mail zugeschickt wurde: Hier können Sie das Briefing kostenlos testen.
Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) sieht für Betroffene oder stellvertretend für Organisationen explizit die Möglichkeit von Beschwerden beim BAFA als zuständiger Behörde vor, um auf mögliche Verstöße aufmerksam zu machen. Die Möglichkeit nutzt nun das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und legt Beschwerden gegen BMW, Mercedes-Benz und VW ein, weil die drei Unternehmen ihren Sorgfaltspflichten aus dem LkSG mit Blick auf mögliche Zwangsarbeit in ihren Lieferketten in der chinesischen Region Xinjiang nur unzureichend nachgekommen sein sollen. “Wir können nicht erkennen, dass die Unternehmen dieses Risiko ausreichend ernst nehmen“, sagt Miriam Saage-Maaß, Legal Director beim ECCHR.
Zentrales Argument der Beschwerden: Die Maßnahmen, die die Unternehmen in ihren öffentlichen Unterlagen zur menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht beschrieben, seien “nicht angemessen, um die bekannten Risiken uigurischer Zwangsarbeit in ihren Lieferketten zu erkennen, zu verhindern und zu minimieren“, heißt es beim ECCHR. Die Unternehmen verließen sich “nur auf Überprüfungen vor Ort und vertragliche Zusicherungen, um die Einhaltung der Menschenrechte in ihren Lieferketten zu überprüfen”.
Solche Überprüfungen durch Auditunternehmen können schon unter normalen Verhältnissen schwierig sein. In autoritären Staaten wie China stößt die Methode an Grenzen, weil sie nur funktioniert, wenn sich Beschäftigte zumindest ansatzweise frei äußern können. Davon kann in Xinjiang keine Rede sein. Unter anderem deshalb zogen sich fünf führende Auditunternehmen Ende 2020 aus der Region zurück. Andere Auditunternehmen sind dort aber weiter tätig. Das ECCHR ist der Meinung, dass die einzige angemessene Sorgfaltspflicht darin bestehen würde, den Empfehlungen des von über 400 zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützten Aktionsaufrufs zur Beendigung der uigurischen Zwangsarbeit zu folgen und “dringend Maßnahmen zu ergreifen, um sich von Lieferanten zu trennen“, die in der Region ansässig seien oder von dort beziehen.
“Die drei Autohersteller konnten bis jetzt nicht glaubhaft belegen, dass sie uigurische Zwangsarbeit in ihren Lieferketten ausschließen können”, sagt der Präsident des Weltkongresses der Uiguren, Dolkun Isa, gegenüber Table.Media. “Sie nehmen damit das Risiko in Kauf, dass sie zum Unterstützer des Genozids an den Uigur*innen werden”. In der Region geht die kommunistische Regierung brutal gegen die muslimische Volksgruppe der Uiguren vor. Einige Parlamente, darunter das französische und britische, sprechen von Völkermord.
Der ECCHR hat die Beschwerde gegen die drei deutschen Autobauer ex officio, also im Namen der Betroffenen, eingelegt, entsprechend § 14 des LkSG. Wegen der “äußerst repressiven Situation in der uigurischen Region“, könnten einzelne Arbeitnehmer, die von Zwangsarbeit betroffen seien, “unmöglich” selbst eine Beschwerde als “betroffene Person” einreichen, heißt es zur Begründung. Deswegen sei dieser Weg, die einzige rechtliche Möglichkeit, um Maßnahmen im Rahmen des Gesetzes einzuleiten.
Auf jeweils rund 30 Seiten untermauert die NGO ihre Beschwerde. Es ist die zweite Beschwerde im Rahmen des Gesetzes, die erste Beschwerde hatte das ECCHR mit der Organisation Femnet gegen Amazon und Ikea eingereicht (Table.Media berichtete). Das LkSG trat Anfang des Jahres in Kraft und gilt für Unternehmen mit hierzulande mehr als 3.000 Beschäftigten.
VW wollte sich in der Sache der Beschwerde nicht äußern: “Wir haben bislang keine Kenntnis von der von ihnen zitierten Beschwerde”, teilte ein Sprecher mit. Deswegen können “wir uns zu den Inhalten und den etwaigen Gründen der Beschwerde zurzeit inhaltlich nicht äußern”. Mercedes-Benz verweist ebenfalls darauf, dass die Beschwerde nicht vorliege und “dass wir uns deswegen nicht dazu äußern können”. Auch BMW trifft keine Aussage in der Sache, “da uns selbst bisher weder von besagter NGO noch seitens BAFA diesbezüglich Informationen übermittelt wurden”. Alle drei Unternehmen betonen aber die generelle Bedeutung von Menschenrechten. Volkswagen schreibt beispielsweise, Geschäftspartner müssten jeden bewussten Einsatz von Zwangs- und Pflichtarbeit sowie alle Formen der modernen Sklaverei ablehnen. BMW und Mercedes verweisen darauf, Lieferanten seien vertraglich zur Einhaltung von Standards verpflichtet. Mercedes schrieb außerdem, man sei mit seinen Geschäftspartnern in Kontakt und dränge auf eine Klärung der Vorwürfe.
Eine wichtige Rolle bei dieser und künftiger Beschwerden dürfte die Frage spielen, ob die drei Unternehmen “begründete Kenntnis” davon haben müssten, dass es in ihren Lieferketten in Xinjiang zu Menschenrechtsverletzungen gekommen sein könnte. Denn darauf müssten sie laut dem LkSG reagieren, bei direkten und indirekten Lieferanten. Das BAFA muss im Falle von Beschwerden prüfen, ob sie dies ausreichend getan haben. Zu den drei Beschwerden erklärte die Behörde: Sie könne zu “etwaigen Beschwerden gegen einzelne Unternehmen grundsätzlich keine Angaben machen”. Das LkSG verpflichtet Unternehmen, in der gesamten Lieferkette für die Einhaltung von Menschenrechten zu sorgen. Wenn sie dies nicht tun, drohen empfindliche Strafzahlungen, ein erheblicher Reputationsschaden und möglicherweise der weitere Rückzug von Investoren.
Das ECCHR argumentiert bei den Beschwerden wesentlich mit den Erkenntnissen der Studie “Driving Forces” der Universität Sheffield und der NGO NomoGaia von Ende 2022. Demnach haben mehr als hundert internationale Automobilzulieferer oder Automobilhersteller in gewissem Maße mit Waren aus uigurischer Zwangsarbeit zu tun. Auch BMW, Mercedes-Benz und Volkswagen sollen demnach direkte und indirekte Beziehungen zu Zulieferern haben, bei denen die Wahrscheinlichkeit groß sei, dass sie uigurische Arbeitskräfte eingesetzt haben, die zur Arbeit gezwungen würden, schreibt der ECCHR. Demnach könne man davon ausgehen, dass die Autohersteller angesichts umfangreicher Medienberichterstattung über die Menschenrechtslage in der Region sowie direkter Mitteilungen der internationalen Zivilgesellschaft von den Risiken begründete Kenntnis haben müssen. Erstmals hatten Medien in großem Umfang über die Zwangsarbeitsthematik in der Region mit der Veröffentlichung der China Cables Ende 2019 berichtet.
In der Beschwerde gegen Volkswagen geht es um das Joint Venture SAIC-Volkswagen sowie einen direkten Zulieferer und acht indirekte Zulieferer, bei BMW um drei direkte Zulieferer und vier indirekte Zulieferer, bei Mercedes um einen direkten Zulieferer und vier indirekte Zulieferer. Auffällig ist ein direkter Zulieferer, der Airbags, Sicherheitsgurte, Lenkräder und deren Komponenten herstellt. Er soll laut der Beschwerden alle drei deutschen Unternehmen beliefern. In diesem Fall gibt es laut dem China-Wissenschaftler Björn Alpermann “ein hohes Risiko von Zwangsarbeit“. Er forscht seit vielen Jahren an der Universität Würzburg zur Situation in Xinjiang und hat die Beschwerde analysiert.
“Die Hinweise auf Zwangsarbeit bei Zulieferern sind ausreichend in dem Maße, dass die Behörde eigentlich eine Untersuchung nach dem LkSG einleiten müsste.” Für eine solche Beschwerde einer NGO genüge grundsätzlich ein begründeter Verdacht und der sei gegeben. (siehe auch das Interview mit dem Völkerrechtler Markus Krajewski in diesem Briefing). Allerdings sieht Alpermann auch Schwächen der Studie der Universität Sheffield. Manches sei “ungenügend belegt” oder “unzulässig miteinander vermischt”.
Die Unternehmen stecken nach Ansicht von China-Wissenschaftler Björn Alpermann in einem Reputationsdilemma: “Sie können eigentlich nur verlieren, egal, ob sie sich jetzt lauthals distanzieren und groß an die Glocke hängen, dass sie jetzt versuchten, Audits durchzuführen und zu publizieren. Wenn dies nicht funktioniere, dann verscherzen sie es sich mit einem ihrer wichtigsten Märkte. Oder sie machen gar nichts und wiegeln ab. Dann bleiben sie weiter im Kreuzfeuer der Kritik bei uns im Westen”, sagt Alpermann, der es für wahrscheinlich hält, dass die Unternehmen nun lavieren und versuchen, den Schaden auf beiden Seiten zu begrenzen, was dazu führe, “dass man eigentlich immer irgendwie schlecht aussieht”. Unter Druck steht vor allem VW wegen der Thematik – auch durch Investoren.
Unterstützt werden die Beschwerden vom Dachverband der Kritischen Aktionäre, was deren Co-Geschäftsführer Tilman Massa auch mit einer unzureichenden Transparenz der Autokonzerne begründet. “Über das Auskunftsrecht als Aktionär*innen haben wir bisher keine konkreten Auskünfte erhalten, etwa, welche Zulieferer geprüft wurden oder ob Verträge mit Zuliefern gekündigt wurden.” Vor allem Volkswagen verfange sich “immer mehr in dem Widerspruch”, zum einen auf die angeblich nicht gegebenen Einflussmöglichkeiten auf den Joint-Venture-Partner SAIC und damit das Werk in Ürümqi zu haben, zum anderen aber stets zu betonen, die Situation vor Ort genau geprüft zu haben”. Doch der konkrete Vorwurf der Beschwerde richte sich nicht gegen dieses Werk, sondern gegen Zulieferer.
Bei der Frage des aktuellen Umfangs des Problems von Zwangsarbeit in der Region, verweist der Weltkongress der Uiguren, der die Beschwerde ebenfalls unterstützt, auf die Berichte von Journalisten, die die Region jüngst besucht hätten, demnach “geht die Zahl der Internierungslager zurück”. Dagegen nähmen Haftstrafen und Zwangsarbeit zu. “Viele Uiguri*nnen, die aus den Internierungslagern entlassen wurden, wurden direkt zur Zwangsarbeit transferiert”, sagt Dolkun Isa. China könne diese staatlich verordnete Zwangsarbeit “nur mit der stillschweigenden Hilfe der internationalen Gesellschaft aufrechterhalten”. Die derzeitigen Schlupflöcher in den nationalen und internationalen Rechtsvorschriften ermöglichten es, “dass Produkte, die mit uigurischer Zwangsarbeit hergestellt wurden, ungehindert in den globalen Lieferketten zirkulieren können”.
Was ist der Stellenwert der Beschwerde des ECCHR beim BAFA?
Sie weisen im Grunde genommen das BAFA darauf hin, dass die Unternehmen ihren gesetzlichen Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen sind. Dafür stellt das BAFA ja sogar eine Webseite zur Verfügung. Das ist wie ein Hinweis an eine Verwaltungsbehörde. Sie könnten auch zum Ordnungsamt gehen und sagen, ich glaube, mein Nachbar kippt immer Farbe in den Gully. Dann muss das Ordnungsamt überlegen, ob es dem Hinweis nachgeht oder nicht. Und genauso muss das BAFA nun überlegen, ob es den jetzigen Hinweisen der Beschwerde nachgehen will.
In der Beschwerde nennt der ECCHR keine konkreten Betroffenen. Kann man dann trotzdem eine solche Beschwerde beim BAFA einreichen?
Ja, man muss keine konkreten Beschwerdeführer nennen, es muss aber klar zum Ausdruck gebracht werden, welche Arten von Sorgfaltspflichtverletzung vorliegen könnten. Später könnte dies dann wichtig werden, wenn das BAFA nicht tätig wird oder in den Augen der Beschwerdeführer nicht ausreichend tätig wird. Dann haben die Beschwerdeführer die Möglichkeit, vor dem Verwaltungsgericht Klage gegen das BAFA zu erheben. Das könnte ein nächster Schritt sein.
Die Beschwerde wird maßgeblich damit begründet, dass die bisherigen Informationen der deutschen Autobauer nicht ausreichen, um beurteilen zu können, inwiefern sie sich entsprechend der Vorgaben des Lieferkettengesetzes mit dem Risiko der Zwangsarbeit in der Region Xinjiang auseinandergesetzt haben. Bedeutet das Lieferkettengesetz, dass Unternehmen mehr Transparenz an dieser Stelle zeigen müssen?
Das ist der Gedanke des Gesetzes. Sie sind verpflichtet, darüber zu berichten, was sie jetzt konkret gemacht haben. Die Praxis wird erst noch zeigen müssen, wie das jetzt genau läuft und was das BAFA für notwendig hält. Aber ich würde schon sagen, wenn Unternehmen auf irgendein menschenrechtliches Risiko hingewiesen worden sind, dann haben sie Nachtforschungspflichten und müssen transparent berichten, was sie getan haben. Das Gesetz sieht in jedem Fall deutlich erhöhte Berichts- und Transparenzpflichten gegenüber dem vor, was wir bislang hatten. Bislang gab es im Grunde genommen nur eine Pflicht auf der Grundlage der CSR-Berichterstattungsaufträge.
Muss das BAFA jetzt prüfen, ob die Unternehmen plausibel ihren Verpflichtungen nachgekommen sind?
Ja, es muss aktiv prüfen, was die Unternehmen gemacht haben. Dazu muss es selbst zu einer Bewertung kommen. Dazu hat es auch die Kompetenz, um die Sachlage selbst zu bewerten. Aber es muss nicht in jedem Fall tätig werden. Wenn jetzt jemand eine Beschwerde gegen ein Unternehmen wegen möglicher Zwangsarbeit in der Oberpfalz erhebt und das betroffene Unternehmen sagt nachvollziehbar, dass das Nonsens ist, dann muss die Behörde da nicht vorgehen. Es muss schon klare Belege für das Risiko in der Region geben.
Jetzt sagen Unternehmen häufig, sie selbst oder auch Dritte, wie Auditoren, könnten die Situation in Xinjiang eigentlich gar nicht unabhängig menschenrechtlich bewerten. Und nun hat China auch noch ein Anti-Spionage-Gesetz beschlossen, was die Beschaffung von Informationen erschwert. Bleibt den Unternehmen am Ende des Tages nur noch die Möglichkeit, sich aus der Region zurückzuziehen, wenn sie im Einklang mit dem deutschen Lieferkettengesetz handeln wollen?
Da muss man deutlich sein. Es gibt genügend gut belegte Berichte über die menschenrechtliche Lage und Zwangsarbeit in der Region Xinjiang, was die automobilen Lieferketten anbelangt. Wenn man jetzt mal strafrechtlich sprechen würde, so gäbe es einen Anfangsverdacht. Wenn Unternehmen diesen Verdacht nicht entkräften können oder sagen, wir können unsere Risiken nicht angemessen bewerten, dann müssen sie diese Geschäftstätigkeit aufgeben. Denn man darf nach dem Gesetz keine Bereiche in seiner Zuliefererkette haben, wo man überhaupt nicht in der Lage ist, die menschenrechtlichen Risiken zu bewerten.
Die EU-Kommission hat vergangene Woche im Rahmen eines Gesetzespakets zum nachhaltigen Finanzwesen neue Kriterien für die grüne Taxonomie vorgestellt. Damit ergänzt die Kommission den Katalog der Wirtschaftsaktivitäten, die nach diesem Klassifizierungssystem als nachhaltig gelten und somit klima- und umweltfreundliche Investitionen anziehen sollen. Diese wurden zuvor von der Plattform für nachhaltige Finanzen, dem Beratungsgremium der Kommission, erarbeitet.
Für die grüne EU-Taxonomie hatte die Kommission bislang delegierte Rechtsakte zu den zwei klimabezogenen Zielen sowie zu Erdgas und Atomkraft angenommen. Nun schlägt sie weitere Taxonomiekriterien für Wirtschaftstätigkeiten vor, die einen wesentlichen Beitrag zu einem oder mehreren der übrigen vier (nicht klimabezogenen) Ziele leisten:
Darüber hinaus hat die Kommission Änderungen am delegierten Rechtsakt zur EU-Klimataxonomie angenommen. Durch diese wird das Spektrum der Wirtschaftstätigkeiten erweitert, die zum Klimaschutz und zur Anpassung an den Klimawandel beitragen und bisher nicht unter die Taxonomie fielen. Dazu gehören vor allem das verarbeitende Gewerbe und der Verkehrssektor.
Unter anderem sollen die folgenden Wirtschaftsaktivitäten unter bestimmten Kriterien in die EU-Taxonomie fallen:
Für alle Wirtschaftsaktivitäten gelten die “Do No Significant Harm”-Kriterien, nach denen die jeweilige Aktivität einen substanziellen Beitrag zu mindestens einem Umweltziel leisten und keinem der anderen Ziele schaden darf. Darüber hinaus schreiben die Rechtsakte eine Reihe spezifischer technischer Kriterien für jede einzelne Aktivität vor.
Zum Beispiel sollen die aufgeführten Unterbringungsaktivitäten einen erheblichen Beitrag zum Schutz und zur Wiederherstellung der biologischen Vielfalt und der Ökosysteme leisten (und dürfen keinem der anderen Ziele schaden). Dies reicht von Hotels über Ferienwohnungen und Jugendherbergen bis hin zum Biwakplatz im Wald, vorausgesetzt die Betriebe sind durch eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zertifiziert und erfüllen bestimmte Mindeststandards bei Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit.
Betreiber von Aktivitäten zur Erhaltung und Wiederherstellung von Lebensräumen, Ökosystemen und Arten müssen beispielsweise unabhängig zertifiziert sein und einen Bewirtschaftungsplan im 10-Jahres-Rhythmus umsetzen.
Für die Herstellung von Kunststoffverpackungen waren in der öffentlichen Konsultation der Kommission Anpassungen gefordert worden. Interessengruppen hatten angeregt, die Kriterien der Taxonomie an andere EU-Gesetzgebungen anzupassen: etwa an die derzeit verhandelte Überarbeitung der Verpackungsverordnung, die Wasserrahmenrichtlinie oder die ebenfalls momentan überarbeitete Ökodesign-Richtlinie.
Nun gelten für Kunststoffverpackungen in der Taxonomie strengere Kriterien als die in der anstehenden überarbeiteten Gesetzgebung. Diese beziehen sich auf die Verwendung von Rezyklat, das Ökodesign und die Rezyklierbarkeit des Produkts. Der Anteil von Rezyklat in Verpackungen etwa muss nach der Taxonomie bis 2028 mindestens 35 Prozent (bei berührungsunempfindlichen Verpackungen) betragen, bei berührungsempfindlichen Verpackungen (etwa für Lebensmittel) gilt ein Zielwert von zehn Prozent. Ab 2028 werden diese Werte auf 65 bzw. 50 Prozent erhöht. Der Kommissionsentwurf für die Verpackungsverordnung sieht ab 2030 einen Mindestwert von bis zu 35 Prozent, ab 2040 von bis zu 65 Prozent vor.
Die Reaktionen auf die delegierten Rechtsakte fielen im Grundsatz positiv aus. Der Bundesverband der deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Kreislaufwirtschaft (BDE) erklärte, die EU-Taxonomieverordnung sei ein “sachgerechtes und vernünftiges Instrument für mehr Nachhaltigkeit”. Besonders erfreulich sei, dass die Kreislaufwirtschaft ausdrücklich genannt werde. Aus Sicht des Verbandes sei bedauerlich, dass die energetische Abfallverwertung bislang nicht als nachhaltige Tätigkeit berücksichtigt wurde, da sie als Schadstoffsenke für gefährliche Stoffe in Abfällen und durch die Rückgewinnung von Metallen einen wichtigen Beitrag zu den Umweltzielen der Taxonomie leiste.
Der Klima-Thinktank E3G kritisiert in einer Stellungnahme, einige Aktivitäten, die ursprünglich von der Plattform für nachhaltige Finanzen vorgeschlagen wurden, seien nicht in den Kommissionsvorschlag aufgenommen worden. Dazu gehörten insbesondere Sektoren mit hohen Umweltauswirkungen wie Chemikalien, Textilien, Landwirtschaft und Fischerei. “Für diese sollten wissenschaftlich fundierte, ehrgeizige Kriterien entwickelt und in die Taxonomie aufgenommen werden”, schreibt Tsvetelina Kuzmanova von E3G. Ebenso hätten bereits bestehende schwache Kriterien, etwa für den Forstsektor, ebenfalls verbessert werden müssen.
Die delegierten Rechtsakte werden nun dem Parlament und dem Rat zu einer zweimonatigen Prüfung vorgelegt und treten voraussichtlich ab Januar 2024 in Kraft.
Klimakrise, Digitalisierung, geopolitische Verschiebungen – Transformation werde von vielen Entwicklungen beeinflusst, sagte Anke Rehlinger, Ministerpräsidentin des Saarlandes, am Dienstag bei der Verleihung des Hans-Matthöfer-Preises im Rahmen des “Tages der Progressiven Wirtschaftspolitik” der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Berlin. Dabei finde Transformation nicht mehr im theoretischen Raum statt, sondern gehöre zum politischen Tagesgeschäft. Die Politik benötige aber “Impulse aus der Wissenschaft, was gehen könnte“. Ganz entscheidend ist für die SPD-Politikerin, den Menschen angesichts der Transformation die Angst vor Wohlstandsverlusten und Abstieg zu nehmen.
Grundlegende Impulse für eine Transformation gaben die beiden Preisträger: Minouche Shafik, scheidende Präsidentin der London School of Economics (LSE) und künftige Präsidentin der Columbia-Universität, fordert in ihrem von der Jury ausgezeichneten Buch “Was wir einander schulden” (Ullstein) einen neuen Gesellschaftsvertrag, um die Bevölkerung in der Breite bei der Transformation mitzunehmen und Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu schaffen. Und Tom Krebs, der an der Universität Mannheim Wirtschaft lehrt, las seiner deutschen Zunft die Leviten, sieht er sie doch eher als Hindernis denn als Katalysator für die notwendige transformatorische Entwicklung.
Ausgangspunkt der Überlegungen von Minouche Shafik war die Beobachtung, dass einerseits der globale Wohlstand in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen sei, andererseits die Wut und Unzufriedenheit der Menschen in vielen Ländern aber groß war und sie Populisten in Ämter wählten. Vier von fünf Menschen in Europa, den USA oder China dächten, “dass das System für sie nicht funktioniert” und Regierungen ständen überall ganz unten im Ranking der Anerkennung. Eine zentrale Ursache dafür sei, dass die Gesellschaften den Sozialpakt des 20. Jahrhunderts gebrochen hätten. Abzulesen beispielsweise an der Länge der Zeit, die Menschen heute im Schnitt benötigen, um in Gesellschaften in der Einkommensleiter von unten in die Mitte aufzusteigen. In Europa dauere es drei bis vier Generationen, in den USA und Großbritannien fünf Generationen und in Brasilien neun, sagte sie. Es brauche einen neuen Gesellschaftsvertrag, bei dem sie drei Prinzipien für grundlegend hält:
Der Ökonom Tom Krebs, der den Sonderpreis für zwei Aufsätze zu einer modernen Klimapolitik erhielt, hält die gegenwärtig dominierenden Instrumente der Klimapolitik für kontraproduktiv und bringt dies in zwei Thesen auf den Punkt:
Ein Hindernis für die Transformation besteht nach Ansicht von Krebs darin, dass die Mehrheit der Ökonomen, die in der öffentlichen Debatte in Deutschland zu Wort kommen, “sehr stark dem marktliberalen Paradigma anhängen“, das gelte auf Arbeitsebene auch für die Ministerien. “Damit verteidigen sie den Status Quo“, wenn sie darauf setzen, dass alleine der Markt über Preissignale die notwendige Transformation herbeiführen könnte. Aus dieser Denkweise heraus hätten viele Ökonomen in Deutschland auch den Industrial Inflation Act in den USA abgelehnt. Tom Krebs hält diesen Ansatz trotz einzelner Schwächen dagegen für moderne Klimapolitik. Denn er stelle eine “fundamentale Rekalibrierung der US-amerikanischen Wirtschaftspolitik dar, hin zu einer modernen Klimapolitik”. Hier wird genau die Verbindung in der Wirtschaftspolitik zwischen Infrastruktur-, Arbeitsmarkt und Wirtschaftspolitik unternommen, die der Ökonom für wegweisend hält, wenn etwa Unternehmen zusätzliche Subventionen für gute Entlohnung ihrer Beschäftigten erhalten.
Notwendig findet der Ökonom deswegen einen Paradigmenwechsel in der deutschen Ökonomie. Der sei in Ansätzen auch zu beobachten, sagt er, aber es werde noch dauern. Mit Blick auf die seinerzeitigen Diskussionen über die Einführung eines Mindestlohnes sagte er: “Wir können jetzt nicht wieder 20 Jahre warten, bis die Wissenschaft sagt, der CO₂-Preis allein macht es nicht – die Politik muss vorangehen.”
21.6.2023, 11:00-13:00 Uhr
Öffentliche Anhörung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur “Änderung des Gebäudeenergiegesetzes, zur Änderung der Heizkostenverordnung und zur Änderung der Kehr- und Überprüfungsordnung” Info
21.6.2023, 17:15 Uhr
Öffentliches Fachgespräch des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Thema “Weiterentwicklung des Parlamentarischen Beirates für nachhaltige Entwicklung” Info
21.6.2023, 18:00 Uhr
Plenum Abschließende Beratung des Antrags der CDU/CSU-Fraktion “Förderung des energieeffizienten Neubaus: Den Traum von den eigenen vier Wänden ermöglichen” Info
22.6.2023, 9:00 Uhr
Plenum Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler zum Europäischen Rat am 29./30. Juni 2023 Info
22.6.2023, 10:40 Uhr
Plenum Erste Lesung des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs zur “Beschleunigung von Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich und zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2021/1187 über die Straffung von Maßnahmen zur rascheren Verwirklichung des transeuropäischen Verkehrsnetzes” Info
22.6.2023, 18:45 Uhr
Plenum Erste Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE “Gesetzlichen Mindestlohn gemäß EU-Mindestlohnrichtlinie erhöhen” Info
22.6.2023, 20:00 Uhr
Plenum Abschließende Beratung des Antrags der CDU/CSU-Fraktion “Pflicht zur Stilllegung von 4 Prozent der Agrarflächen ab 2024 dauerhaft aussetzen” Info
23.6.2023, 10:20 Uhr
Plenum Abschließende Beratung des Antrags der CDU/CSU-Fraktion “Politische und wirtschaftliche Beziehungen zu Lateinamerika stärken – Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten in Kraft setzen” sowie der Anträge der Fraktion DIE LINKE “EU-Mercosur-Abkommen neu verhandeln – Für eine faire Wirtschafts- und Handelspolitik” und “Den demokratischen Prozess schützen – Die Aufteilung des EU-Mercosur-Handelsabkommens verhindern” Info
22.6.2023, 14:40 Uhr
Plenum Erste Lesung des von den Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP eingebrachten Gesetzentwurfs zur Änderung des Lobbyregistergesetzes Info
Der Rat für nachhaltige Entwicklung (RNE) empfiehlt der Bundesregierung, eine Umwandlung der Weltbank und anderer internationaler Entwicklungsbanken hin zu Transaktionsbanken zu befürworten. “Kapital solle stärker als bisher für Klima- und Nachhaltigkeit eingesetzt werden”, heißt es in einer Stellungnahme, die Table.Media exklusiv vorliegt.
Das Beratergremium der Bundesregierung verweist auf die zunehmende Lücke für die Anforderungen an die Finanzierung einer nachhaltigen Entwicklung und die Folgekosten der multiplen Krisen. In den Entwicklungs- und Schwellenländern würden nach neusten Berechnungen rund eine Billion US-Dollar pro Jahr benötigt, um das Pariser Klimaabkommen und die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung umzusetzen. “Schuldenerlasse sind aus unserer Sicht unabdingbar, um auch in stark verschuldeten Staaten die Weichen Richtung Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu stellen”, sagt Reiner Hoffmann, Vorsitzender des RNE.
Außerdem sollte das Instrument des Schuldentauschs (“Debt swap”) ausgeweitet werden. Es ermöglicht verschuldeten Ländern, eine fällige Rückzahlungssumme in vereinbarte Projekte, etwa für Klimaschutz und die Gesundheitsvorsorge zu investieren, statt den Betrag an die Gläubiger zurückzuzahlen. Ebenso unterstützt der RNE die Idee eines Treuhandfonds für die multilateralen Entwicklungsbanken, um effizient und zielorientiert den stark verschuldeten Ländern in Zeiten der multiplen Krisen eine Perspektive für nachhaltige Entwicklung zu eröffnen.
Am Donnerstag und Freitag treffen sich Dutzende Staats- und Regierungschefs zu einem Gipfeltreffen in Paris. Frankreichs Präsident Emanuel Macron will dabei einen Fahrplan zur Reduzierung der Schuldenlast von Ländern mit niedrigem Einkommen auf den Weg bringen. Gleichzeitig sollen mehr Mittel für die Klimafinanzierung freigesetzt werden. Angestrebt wird eine Einigung darüber, wie verschiedene Initiativen vorangebracht werden können, die in Gremien wie der G20, dem IWF, der Weltbank und den Vereinten Nationen umstritten sind. Viele Themen – vom Schuldenerlass bis hin zur Klimafinanzierung – greifen Vorschläge einer Gruppe von Entwicklungsländern auf, die von der Premierministerin von Barbados, Mia Mottley, angeführt wird und als “Bridgetown-Initiative” bezeichnet wird.
Obwohl keine verbindlichen Entscheidungen erwartet werden, sagten Beamte, die an der Planung des Gipfels beteiligt waren, dass einige starke Verpflichtungen zur Finanzierung armer Länder eingegangen werden sollten. Insbesondere soll bekannt gegeben werden, dass man sich einig sei, 100 Milliarden Dollar über den IWF für gefährdete Länder zur Verfügung zu stellen, sagen die Beamten. Dabei könnten die wohlhabenden Länder ungenutzte Sonderziehungsrechte zur Verfügung stellen, damit diese für Kredite an arme Länder genutzt werden können. Die Zuteilung von Sonderziehungsrechten ist ein 1969 vom IWF eingeführtes Reserveguthaben. Sie bietet Ländern in Krisensituationen eine Möglichkeit, Reservewährungen zu erhalten, erfolgt aber bisher im Umfang der Quoten, die die Länder beim IWF halten. Ärmere Länder profitieren entsprechend wenig. Außerdem wollen die Regierungen erreichen, dass die Weltbank mehr Mittel an ärmere Länder vergeben kann, ohne ihre erstklassige Bonität zu verlieren. cd / mit Reuters
Der Hersteller von Outdoorbekleidung VAUDE geht eine Partnerschaft mit UPM Biochemicals ein, um Funktionskleidung aus holzbasiertem Polyester herzustellen, das teilten beide Unternehmen kürzlich mit. Dafür nutzen die Firmen ein von UPM entwickeltes Bio-Monoethylenglykol, das den sonst aus Erdöl gewonnenen Stoff zur Herstellung von Polyester ersetzen soll. Ein weiterer Partner, das italienische Unternehmen Ponteporto, soll das produzierte Garn zu einem biobasierten Polyestergewebe verarbeiten.
UPM baut aktuell an der nach eigenen Aussagen ersten Bioraffinerie im industriellen Maßstab in Leuna, Sachsen-Anhalt. Die Anlage soll bis Ende des Jahres in Betrieb gehen und 220.000 Tonnen Biochemikalien produzieren. Dafür sollen am Standort 500.000 Tonnen regionales Holz verarbeitet werden, das nach dem PEFC oder dem FSC-Standard zertifiziert ist.
Die Verwendung von Polyester in der Textilindustrie führt insbesondere aufgrund von Fast-Fashion zu großen Umweltproblemen, weil die Bekleidung oft nicht lange genug getragen und weniger als Prozent überhaupt zu neuer Kleidung recycelt wird. Der Rest landet entweder im Downcycling oder auf Deponien – nicht selten außerhalb Europas.
Abhilfe schaffen könnte neben einem geringeren Konsum die Weiterentwicklung des Recyclings von Textilabfällen. Dies im industriellen Maßstab zu tun, planen nun die Lenzing-Gruppe, ein Anbieter von Spezialfasern für die Textil- und Vliesstoffindustrien, sowie der schwedische Zellstoffproduzent Södra. Die beiden Unternehmen erhalten im Rahmen des EU-Programms für Umwelt- und Klimapolitik LIFE einen Zuschuss von zehn Millionen Euro. Die Firmen wollen nach eigenen Aussagen Textilien verarbeiten und recyceln, die aus einem Mix unterschiedlicher Fasern bestehen. Künftig sollen im schwedischen Södra-Werk in Mörrum dann 60.000 Tonnen Zellstoff produziert werden, der zu 50 Prozent aus recyceltem Material und zu 50 Prozent aus nachhaltigem Holz bestehe. nh / mit dpa
Eine Allianz kleinerer Wirtschaftsverbände hat die Bundesregierung aufgefordert, eine neue Rechtsform für Unternehmen zu schaffen, die “Gesellschaft mit gebundenem Vermögen” (GmgV). Ein entsprechender Halbsatz findet sich bereits im Koalitionsvertrag. Ziel sei es, “den Pool potenzieller Nachfolgerinnen maßgeblich zu erweitern.” Die Auswahl neuer Gesellschafter soll demnach unabhängig von Verwandtschaftsverhältnissen oder der individuellen Vermögenssituation “nach dem Prinzip der Fähigkeiten und Werte” erfolgen. So kämen über den Kreis der leiblichen Familie hinaus beispielsweise “Mitarbeitende oder andere Leistungsträger” in Betracht. Anteilseignern einer GmgV sollen keine Gewinnbezugsrechte zustehen, sondern nur ein nicht vererbbares Stimmrecht. Ihre Entlohnung soll nach dem Leistungsprinzip erfolgen.
Kernelement des Konzepts ist “die unabänderliche Vermögensbindung”. Unternehmensgewinne sollen demnach weder offen noch verdeckt an die Gesellschafter ausgeschüttet werden können. Sie müssten stattdessen im Unternehmen verbleiben oder gemeinnützig gespendet werden. Gleichwohl wären Geschäfte zwischen der GmgV und ihren Gesellschaftern erlaubt. Ein staatlich lizenzierter und mit “Einsichts- und Klagerecht ausgestatteter Unternehmeraufsichtsverband” soll Missbrauch verhindern. Auch müsse sichergestellt werden, dass die GmgV nicht als Steuersparmodell genutzt wird, heißt es in dem Papier.
Das Konzept eines GmgV wird seit mehreren Jahren von der Stiftung Verantwortungseigentum beworben, die dem anthroposophischen Spektrum nahesteht. Die Gruppe der Unterzeichner ist allerdings deutlich breiter. Sie reicht vom Bundesverband mittelständische Wirtschaft und Verband deutscher Unternehmerinnen über den Bundesverband Deutsche Start-Ups und den Blockchain Bundesverband bis zum Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft, Demeter und dem Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft.
Auf einer Pressekonferenz am Montag unterstützten mehrere Bundestagsabgeordnete der Ampel das Konzept. “Es ist eine richtig, richtig gute Sache”, sagte die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Verena Hubertz und versicherte, sie sei “Unterstützerin in der Sache aus tiefster Überzeugung”. Auch Katharina Beck, finanzpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, sprach sich für die GmgV aus und dafür, “die Zielsetzung dieser Rechtsform wirklich zu beschränken und sie nicht noch mit irgendwelchen ökosozialen Labels zu überfrachten”. Sie solle lediglich Rechtssicherheit bei der Vermögensbindung schaffen, so Beck.
Etwas distanzierter äußerte sich Otto Fricke, haushaltspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Aus seiner Sicht seien noch einige rechtliche Fragen offen. Dennoch glaube er, “dass diese zusätzliche Rechtsform etwas ist, was der Markt braucht”.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und der Bundesverband Deutscher Stiftungen (BDS) warnen hingegen vor einer weiteren Rechtsform für Unternehmen. In einem gemeinsamen Positionspapier vom September vergangenen Jahres heißt es, die diskutierte Struktur sei “weder geeignet noch erforderlich für die Zielsetzung eines nachhaltigen und verantwortungsvollen Unternehmertums“. Kurze Zeit später sprach sich auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium mehrheitlich gegen das Konzept der Stiftung Verantwortungseigentum aus. ch
Die grün-schwarze Landesregierung von Baden-Württemberg will öffentliche Aufträge an innovative Start-Ups künftig bis zu einem Wert von 100.000 Euro direkt vergeben – also ohne vorherige Bekanntmachung oder Aufruf zum Wettbewerb. Damit setzt die Regierung ein Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag um. Sie folgt dabei dem Vorbild des französischen Modellprojekts “L’achat public innovant”, das 2021 nach dreijähriger Laufzeit auf unbestimmte Zeit verlängert wurde. Baden-Württemberg will nun eine ähnliche Regelung in der Novellierung der Verwaltungsvorschrift Beschaffung des Landes erstmalig in Deutschland verankern. Auch die Landesregierung plant einen Pilotzeitraum von drei Jahren, bevor sie das Projekt evaluieren will.
Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, sagt Table.Media: “Die Transformation erfordert Umdenken. Wir wollen und müssen alle Wege öffnen, um Innovationen in unsere Verwaltung zu bringen. Deshalb brauchen wir im öffentlichen Sektor effektive Hebel, um neue Ideen, die Lösungen für die Zukunft parat haben, schnell und effektiv zu fördern.” Zudem habe der Staat eine Vorbildfunktion: “Staatliche Investitionen, die gezielt junge Unternehmen mit disruptiven Ansätzen in den Blick nehmen, können Türöffner sein und Impulse setzen, die dann auch in der Privatwirtschaft Resonanz finden”, ergänzt der Politiker von Bündnis 90/Die Grünen. nh
Am Donnerstag hat das Bundesumweltministerium den Dialogprozess für die neue Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt in Deutschland (NBS 2030) gestartet. Mit dieser soll Deutschland die im Dezember auf dem Weltnaturgipfel in Montreal (COP15) beschlossenen Ziele für Artenvielfalt erreichen. Der Entwurf benennt 65 Ziele, die bis 2030 oder 2050 erreicht werden sollen. Er umfasst insgesamt 21 Handlungsfelder. Der Dialogprozess läuft noch bis zum 9. Juli. Stellungnahmen können Interessierte online einreichen. Das Kabinett soll die Strategie im ersten Halbjahr 2024 verabschieden.
Die bis dato letzte Nationale Biodiversitätsstrategie stammt aus dem Jahr 2007. Die Evaluation des BMUV im Entwurf für die neue Biodiversitätsstrategie fällt eindeutig aus: Ein Großteil der verfolgten Ziele für 2020 wurde “nicht in ausreichendem Maße” erreicht. Mit der NBS 2030 wolle die Bundesregierung nun “einen ehrgeizigen Beitrag” zur Umsetzung des Montreal-Abkommens sowie der EU-Biodiversitätsstrategie 2030 leisten. Um konkrete Maßnahmen statt nur Ziele festzuschreiben, plant das BMUV die NBS 2030 zusammen mit einem 1. Aktionsplan zur Abstimmung zu bringen. Dieser soll präzisieren, was die Bundesregierung bis 2026 tun wird, um die Ziele der Strategie zu erreichen. Bevor der 2. Aktionsplan für den Zeitraum bis 2030 verabschiedet wird, soll die Bundesregierung eine Zwischenbilanz ziehen. Zudem will das BMUV eine bessere Messbarkeit und regelmäßiges Monitoring sowie mehr Verbindlichkeit sicherstellen.
Der WWF sagt auf Anfrage, dass die interne Bewertung der Diskussionsvorschläge des BMUV für die NBS 2030 noch nicht abgeschlossen sei, verweist aber auf ein Statement zu Beginn des Dialogprozesses. Demnach wolle die Umweltorganisation die NBS 2030 daran messen, ob sie ein “langfristiges und erfolgsorientiertes Leitkonzept” darstellt, das “von der gesamten Bundesregierung […] umgesetzt wird”. Ähnlich äußert sich Olaf Bandt, Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), in einer Mitteilung: “Am Ende muss eine Strategie der Bundesregierung mit konkreten Maßnahmen und Verpflichtungen für jedes einzelne Ressort stehen.” nh
Eine erste Evaluation der im Jahr 2021 gestarteten Bundesförderung für effiziente Gebäude (BEG), die die Prognos AG im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz erstellt hat, zeigt: Die Ziele wurden im Jahr 2021 weit übertroffen. Insgesamt gab es Förderung in 308.720 Fällen, dabei wurden Brutto-Investitionen in Höhe von 79 Milliarden Euro getätigt und die Reduktion bei den Treibhausgasemissionen beträgt 1,7 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente. Der größte Teil an Einsparungen von Emissionen (rund 78 Prozent) gelang demnach durch Sanierungen im Programm BEG Einzelmaßnahmen.
Der Gebäudesektor in Deutschland verursacht laut Deutscher Energieagentur rund 40 Prozent der nationalen CO₂-Emissionen – mehr als kein anderer. Die Erhöhung der Energieeffizienz durch bessere Dämmung und Optimierung des Energieverbrauchs sowie der Umstieg auf erneuerbare Energie beim Heizen können diese Emissionen senken. Trotzdem stagniert die Sanierungsrate seit Jahren bei rund einem Prozent. Unter anderem die umstrittene Novelle des Gebäudeenergiegesetzes der Ampel-Koalition sowie die auf EU-Ebene diskutierte Richtlinie für die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden sollen die Dynamik für mehr Energieeffizienz und erneuerbare Energien erhöhen. nh
Die EU-Batterieindustrie ist möglicherweise nicht in der Lage, über 2025 hinaus die Nachfrage zu decken. In der Folge besteht das Risiko, dass die EU entweder ihre CO₂-Ziele für 2035 verfehlt oder dieses Ziel durch importierte Batterien oder Elektroautos erreichen müsste, was der europäischen Industrie schaden würde. Zu diesem Ergebnis kommt ein Montag veröffentlichter Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofs (European Court of Auditors, ECA), der den strategischen Aktionsplan der EU für Batterien evaluiert hat.
Die EU-Kommission habe zwar für die meisten Teile des Batterie-Aktionsplans Maßnahmen ergriffen. Unter anderem wurde kürzlich die Batterieverordnung verabschiedet. Doch es dauere teils noch mehrere Jahre, bis die einzelnen neuen Vorgaben für die Stärkung der europäischen Batteriewertschöpfungsketten in Kraft treten.
Der Bericht identifiziert vier wesentliche Probleme:
Die Prüfer warnen vor zwei Szenarien für den Fall, dass die Produktionskapazität für Batterien in der EU nicht wie geplant wächst. Es könne passieren, dass die EU den Verkauf neuer Benzin- und Dieselautos erst nach 2035 verbietet. Damit würden die Klimaziele nicht erreicht werden. Bei dem zweiten Szenario müsse stark auf Batterien und Elektrofahrzeuge aus Drittländern gesetzt werden, um die EU-Klimaziele zu erreichen. Dies sei zum Nachteil der europäischen Automobilindustrie und ihrer Beschäftigten.
Fast jeder fünfte im Jahr 2021 in der EU zugelassene Neuwagen hatte nach Angaben des Europäischen Automobilherstellerverbands Elektroantrieb. Zudem soll der Verkauf neuer Benzin- und Dieselautos ab 2035 verboten werden. Daher seien Batterien von großer strategischer Bedeutung für die EU – und wichtig, um die Klimaziele zu erreichen, heißt es in dem Bericht des Rechnungshofs. leo / mit dpa
Mit ihren Plänen, Rohstoffe künftig selbst als “strategisch” und “kritisch” einstufen zu können, verstößt die EU-Kommission gegen geltendes EU-Recht. Das ist das Ergebnis einer Studie des Centrums für Europäische Politik (cep). Aus dieser Festlegung, die im Kommissionsentwurf für den Critical Raw Materials Act vorgesehen ist, würden sich für Kommission, Mitgliedstaaten und Unternehmen weitreichende Rechte und Pflichten ergeben, sagte cep-Jurist Götz Reichert. “Folglich handelt es sich um eine ,wesentliche’ Frage, die Rat und Parlament im Gesetzgebungsverfahrens entscheiden müssen – und nicht an die Kommission delegieren dürfen”.
Auch mit den geplanten Informationspflichten schieße die Kommission beim Risikomanagement über das Ziel hinaus, erklärt André Wolf, cep-Experte für Neue Technologien. Verpflichtendes Risikoreporting für “große Industrieunternehmen” stelle einen unangemessenen Eingriff in das Risikomanagement privater Unternehmen dar. “Statt Kontrolle wären mehr Positivanreize für Unternehmen sinnvoll. Auf dem Weg zu einer zukunftssicheren Rohstoffstrategie droht sich die EU im regulatorischen Klein-Klein zu verheddern”.
Als positiv bewertet die Studie, dass die Kommission über die heimische Rohstoffförderung und -raffinade hinaus auch strategische Partnerschaften und Rohstoffrecycling in den Blick nehme. Die vorgeschlagene Priorisierung “strategischer Projekte” sei angesichts finanzieller und administrativer Restriktionen ein geeignetes Mittel, um den Fokus auf für Zukunftstechnologien besonders essenzielle Rohstoffe zu setzen. Als Maßstab diene das ökonomisch vernünftige Prinzip der Diversifizierung von Beschaffungswegen. leo
Academic freedom in ESG research is under threat – Financial Times
Ben Caldecott schreibt in seinem Meinungsbeitrag, dass es Finanzinstitutionen und Datenlieferanten, etwa Rating-Anbietern, nicht erlaubt sein sollte, die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen zu ESG zu verhindern. Der Gründungsdirektor der Oxford Sustainable Finance Group fordert daher einen konstruktiven Austausch zwischen Forschung, Wirtschaft und Politik sowie Regulierungsinitiativen. Zum Artikel
Radikahlschlag – Süddeutsche Zeitung
Alex Rühle war in Schweden und hat sich angesehen, wie dort Wälder bewirtschaftet werden. Das Ergebnis: In den meisten Nutzwäldern geschieht dies mittels Kahlschlags. Diese Art der Nutzung sehen dem Autor zufolge viele kritisch mit Blick auf den Schutz der Biodiversität. Zum Artikel
Schlappe für DWS-Vorstand: Zehn Prozent der Aktionäre verweigern Entlastung – Handelsblatt
Die Greenwashing-Vorwürfe seien auf der Hauptversammlung der Deutsche-Bank-Tochter DWS das dominierende Thema gewesen, schreibt Anke Rezmer. Auf der Hauptversammlung habe fast ein Zehntel der stimmberechtigten Aktionäre gegen die Entlastung des Vorstands gestimmt. Zum Artikel
Why Kenya could take the lead in carbon removal – The Economist
Der Große Afrikanische Grabenbruch, der auch durch Kenia geht, könnte sich laut Wissenschaftlern sehr gut eignen, um CO₂ in der Erde zu speichern. Der Economist berichtet über mögliche Szenarien für Kenia und ein Start-Up, das aktuell am zweitgrößten Projekt für das Abschneiden von CO₂ direkt aus der Luft und dem Speichern im Grabenbruch arbeitet. Zum Artikel
Wettbewerbsfähigkeit: Deutschland stürzt ab, die Schweiz sichert sich Bronze – Neue Zürcher Zeitung
Von einem “Alarmsignal” für die deutsche Wirtschaft spricht Christoph Eisenring angesichts des jüngsten Rankings des Management-Instituts IMD. Deutschland falle in dem Ranking um sieben Positionen zurück auf Rang 22 unter 64 Nationen. Zum Artikel
A wealth tax could help poorer countries tackle climate crisis, economists say – The Guardian
Die Besteuerung der wohlhabendsten Menschen der Welt könnte armen Ländern helfen eine Wirtschaft mit geringen CO₂-Emissionen zu schaffen und Klimaschäden zu beseitigen, sagt eine Gruppe von hundert führenden Ökonomen. Eine Steuer von zwei Prozent würde schätzungsweise jährlich 2,5 Billionen Dollar einbringen. Zum Artikel
European truck makers ‘trail in global race to net zero’ – The Guardian
DAF und Iveco gehören laut Studie zu den Unternehmen, die am wenigsten auf die Umstellung auf kohlenstofffreie Technologien vorbereitet sind, schreibt Jasper Jolly mit Bezug auf Transport & Environment, eine Kampagnenorganisation aus Brüssel. Scania und MAN, welche zu Volkswagen gehörten, und Mercedes-Benz-Trucks ständen am besten unter den europäischen Herstellern beim Umstieg auf Elektrofahrzeuge da. Zum Artikel
Can the EU sustainable finance taxonomy unlock the circular economy? – Euractiv
In ihrem Gastbeitrag schreiben Jack Barrie und Patrick Schröder, beide vom Chatham House Environment and Society Programme, dass die EU-Taxonomie nur ein Werkzeug sein kann, um die Transformation zur Kreislaufwirtschaft zu schaffen. Damit der Wandel gelinge, müsse sie unter anderem von einem starken regulatorischen Rahmen flankiert werden. Zum Artikel
EU turns to Africa to build green hydrogen supply – Financial Times
In der Strategie Europas, in Afrika in großem Stil Produktionskapazitäten für Wasserstoff aufzubauen, sehen Kritiker das Risiko einer neuen Kolonialisierung, bei der die lokale Bevölkerung nicht von den wirtschaftlichen Aktivitäten profitiert, berichtet Philippa Nuttall. Zudem würden Firmen wie Siemens noch nicht investieren, weil vielerorts das politische Risiko groß ist. Zum Artikel
Nature at risk of breakdown if Cop15 pledges not met, world leaders warned – The Guardian
Rund sechs Monate nach dem Biodiversitätsgipfel im kanadischen Montreal, wo Teilnehmende ein neues Naturschutzabkommen beschlossen haben, fordert Partha Dasgupta, dass zügig Maßnahmen umgesetzt werden, um die Ziele zu erreichen. Dasgupta hatte 2021 den weltweit beachteten Bericht zur Ökonomie der Artenvielfalt veröffentlicht. Zum Artikel
Transformation ist weder Trendbegriff noch Selbstzweck – sondern eine Notwendigkeit, um die multiplen Krisen der Gegenwart zu meistern. Jascha Rohr ist Philosoph, Sozialunternehmer und Mitgründer des Instituts für partizipatives Gestalten, das sich mit den Grundlagen für eine zukunftsfähige Zivilisation beschäftigt. Kokreation kann einen Beitrag leisten, eine lebenswerte Zukunft zu schaffen, argumentiert er.
Alle, die derzeit in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Verantwortung übernehmen, Projekte leiten und Dinge voranbringen, wollen und müssen Transformationen begleiten. Sie reden längst nicht mehr über das Ob, sondern über das Wie. Das zeigt: Wir haben realisiert und akzeptiert, dass wir uns ändern müssen. Individuell, in unseren Organisationen, als Gesellschaften und als globale Zivilisation. Wir haben auch längst damit begonnen. Aber nun fragen wir uns: wie geht Transformation eigentlich wirklich? An konkreten Lösungen, technischen und sozialen Innovationen, inhaltlichem Wissen und fachlicher Kompetenz mangelt es nicht. Das Wie stellt uns vor die eigentlichen Herausforderungen. Denn dazu benötigen wir Prozessverständnis, neue Haltungen und Kulturtechniken, die selbst schon Teil der Lösung sein müssen. Die Katze beißt sich in den Schwanz.
Dabei gibt es Transformationsexpert:innen, -begleiter:innen und -designer:innen wie Sand am Meer. Sie verkaufen allen Transformation, die noch nicht genug davon haben. Das Ergebnis: ein neues Teambuilding oder Unternehmensleitbild, neue digitale Tools, ein neues Produkt, ein neues Organigramm. Das ist leider Humbug und hat mit Transformation wenig zu tun. Denn all das ist die Optimierung und der Erhalt des Bestehenden. Ebenso ist es Humbug, Transformation der Transformation wegen zu betreiben. Kein Mensch, der in einem stabilen nachhaltigen Umfeld lebt und arbeitet, braucht Transformation! Transformation hat einen einzigen Zweck: kollabierende Strukturen und toxische Kulturen umzubauen – in nachhaltige Strukturen und lebendige Kulturen. Transformation soll eine Zukunft der Menschheit ermöglichen, sie soll dafür sorgen, dass die planetaren Grenzen eingehalten werden und soziale Ziele der Nachhaltigkeit umgesetzt werden, wie sie die SDG beschreiben. Dazu müssen wir uns mit dem operativen Paradigma unserer Kultur beschäftigen und unsere kulturelle DNA neu codieren. Multiple existentielle Krisen und dysfunktionale Strukturen erzwingen, dass wir uns komplett neu erfinden und die Welt neu gestalten.
Wir befinden uns seit der Industrialisierung, spätestens seit den 1950er Jahren, in einer Zeit der großen Beschleunigung, in der die Weltbevölkerung, unser Wohlstand und unser Ressourcenverbrauch exponentiell gewachsen ist. Das hat uns große Fortschritte beschert und uns gleichzeitig globale, insbesondere ökosystemische und klimatische Probleme beschert, die nun sogar die menschliche Existenz gefährden. Deswegen brauchen wir eine große Transformation, in der wir herausfinden müssen, wie wir dem ökologischen Kollaps des Planeten begegnen, unsere Gesellschaften stabilisieren, den Wohlstand sichern und die Umwelt schützen können. Kurz: wie wir ein gutes Leben für die 10-12 Milliarden Menschen, die bald auf der Erde leben werden, ermöglichen können. Alles, was wir heute tun: jedes Produkt, das wir entwickeln, jedes Gesetz, das wir schreiben, jede Initiative, die wir starten, jedes Projekt, das wir in Angriff nehmen, wird ein Element dieser großen Transformation sein müssen. Und dazu müssen die vielen kleinen Transformationen in den Bereichen, auf die wir Einfluss nehmen können, gelingen. So schaffen wir in unseren Kommunen, Organisationen und Gesellschaften neue Grundlagen für nachhaltige Stabilität.
Kokreation ist Teil dieses zukunftsfähigen Paradigmas – und die Methode, um es zu erreichen. Kokreation ist kein definierter Begriff. Als partizipativen Ansatz und Methodik etablieren wir ihn jedoch zunehmend. Kokreation ist eine Kulturtechnik, die uns in die Lage versetzt:
Die internationalen Klimakonferenzen sind das State-Of-The-Art-Format, wenn es darum geht, globale Probleme zu lösen. Sind sie für die Aufgabe, den Klimawandel zu stoppen, ausreichend und schnell genug? Nein! Sind sie in der Lage, die unterschiedlichen Interessen so zusammenzuführen, dass innovative soziale, ökonomische und ökologische Lösungen entstehen? Dass gemeinsame Strategien, Maßnahmen und eine gemeinsame Handlungsorientierung entstehen, die die unterschiedlichen regionalen Voraussetzungen, die unterschiedliche Privilegierung und die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe befrieden und berücksichtigt? Nein! Kokreation gibt uns die Methoden, Formate und Prozesse, um genau diese Punkte zu adressieren und eine schnellere und strategische internationale Zusammenarbeit zu ermöglichen. Dazu gehört vor allem die Einbindung aller Stakeholder in demokratischen Foren, um widerstreitende Interessen zu einem Kompromiss zu bringen, den alle akzeptieren können.
In Oldenburg hatten wir beispielsweise die Gelegenheit auf Initiative von Fridays for Future, mit allen Fraktionen des Stadtrates, der Verwaltung, Wissenschaft und anderen Akteuren am Thema Klimaschutz zu arbeiten. Die Teilnehmenden hatten sich nicht darauf beschränkt, Empfehlungen auszusprechen, sondern kokreativ einen gemeinsamen Leitantrag mit 103 Einzelbeschlüssen entwickelt und geschrieben. Dieser wurde in den Stadtrat eingebracht und beschlossen. Oldenburg will nun bis 2035 klimaneutral werden. Im neuen Klimaschutzkonzept der Stadt sind 90 Maßnahmen enthalten. Diese Form von Zusammenarbeit ist vielfach auf kleineren Ebenen erprobt, nun gilt es, sie für nationale und internationale Vorhaben auszubauen.
Nehmen wir die nationale Ebene: Was sich beim Gebäudeenergiegesetz gezeigt hat, gilt für viele Gesetzesinitiativen: Eine substanzielle frühzeitige Einbindung aller Stakeholder findet immer noch viel zu selten statt. In einem kokreativen Prozess wären beispielsweise verschiedene Ressorts, Bauwirtschaft und Heizungsbauer, wissenschaftliche Expertinnen und Experten und Mitglieder aus Parteien und NGOs zusammen gekommen, hätten ihre Perspektiven geteilt, voneinander gelernt und innovative Lösungen entwickelt. Damit hätte ein großer Teil des Streits und die damit einhergehenden Verzögerungen vermieden werden können, das Gesetz wäre durch die inhaltliche Zusammenarbeit besser und nicht durch nachträgliche Kompromisse schlechter geworden. Und diejenigen, die die Vorgaben nun erfüllen und das Gesetz in ihrer täglichen Arbeit beachten und umsetzen müssen, hätten sich mit “ihrem” Gesetz identifizieren können.
Konzepte für eine kokreative Arbeit an Gesetzen gibt es mittlerweile. In der Cocreation Foundation führen wir dazu gerade ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt durch. Nur scheuen sich die Ministerien noch diesen Weg einzuschlagen und zu erproben wie man Beteiligte konsequent und kontinuierlich in die Entwicklung von Gesetzen einbindet. In einer Bundeswerkstatt als dritter Kammer könnten beispielsweise in offenen Verfahren innovative soziale und ökologische Ansätze entwickelt und in Gesetzesvorhaben übersetzt werden. Dazu bräuchte es nur den politischen Willen und den Mut auch die eigenen Institutionen und Verfahren zu transformieren.
Kokreation bedeutet zuallererst eine neue Haltung: Wir agieren innerhalb sich ständig verändernder Prozesse mit diversen Stakeholdern, die alle ihre eigenen Perspektiven, Wahrheiten und Kulturen mitbringen. Die eine richtige Lösung gibt es nicht, sondern nur die gemeinsame Vielfalt von Lösungen für das gleiche Ziel. Diese gilt es gemeinsam zu entwickeln, zu entwerfen und im Umsetzungsprozess an unsere Erfahrungen und Ergebnisse anzupassen. Diese Prozesse zu begleiten, bedeutet für Führungskräfte, aus dem Kontroll- und Steuerungsverständnis auszusteigen und in die Arbeit an gemeinsamen, spielerischen und prozessoffenen Entwürfen einzusteigen. Methoden dafür gibt es mittlerweile genug. Aber wir müssen sie auch einsetzen und kulturell verankern. Dafür ist die Transformation unserer Strukturen notwendig.
Jascha Rohr begleitet und berät Verwaltung, Politik, NGOs und Unternehmen dabei, Zukunft zu entwerfen. Momentan u.a. den Deutschen Bundestag bei der Durchführung von Bürgerräten, die Berliner Senatsverwaltung bei Governance- und Digitalisierungsthemen oder Carbon Market Watch in Brüssel bei der Entwicklung neuer Policy Vorschläge für die EU. In seinem neuen Buch “Die große Kokreation” (Murmann Verlag) skizziert Jascha Rohr den Transformationsprozess, den wir individuell, organisatorisch und zivilisatorisch benötigen, um aus den multiplen Krisen das Momentum für mehr Kokreation zu gewinnen.
www.partizipativ-gestalten.de, www.die-grosse-kokreation.net
Als Wael Sawan im Januar 2023 CEO von Shell wurde, hatten Analysten Hoffnungen auf einen beschleunigten grünen Wandel. Der im Libanon geborene Kanadier leitete vor seinem Aufstieg an die Unternehmensspitze die Abteilung für “Integrated Gas and Renewables”. Seine Beförderung zum CEO sei ein “klares Zeichen”, dass Shell seine “vage Strategie für Erneuerbare” überarbeiten wolle, zitiert der Guardian eine Analystin. Doch vergangene Woche warf Sawan das Klimaziel des Öl- und Gasriesen über den Haufen, die Ölförderung bis 2030 um 20 Prozent zu senken. Schon im Frühjahr ließ er den Rotstift kreisen und beendete einige Offshore-Wind-, Wasserstoff- und Biokraftstoff-Projekte. Die Renditeprognosen dieser grünen Projekte überzeugten den Top-Manager nicht.
Eigentlich könnte Wael Sawan sehr zufrieden sein. Der 48-Jährige konnte in seiner kurzen Amtszeit schon zweimal Rekord-Quartalsgewinne vermelden. Doch Sawan ist enttäuscht vom Aktienkurs Shells, der hinter den Kursen der Konkurrenz zurückbleibt. In Zeiten hoher Energiepreise fährt die Öl- und Gasproduktion hohe Gewinne ein, auf die Shell nicht verzichten will. Die Milliarden-Gewinne sollen in Zukunft noch stärker für Aktienrückkäufe genutzt werden, um den Kurs der eigenen Papiere in die Höhe zu treiben.
Sawan sagt, man müsse “rentable Geschäftsmodelle” entwickeln, um die Dekarbonisierung des Energiesystems “wirklich zu beeinflussen”. “Wir werden in die Modelle investieren, die funktionieren – diejenigen mit den höchsten Renditen, die unsere Stärken ausspielen”. Für Shell bedeutet das jedoch: Weiter auf fossile Energien zu setzen. Zwischen 2023 und 2025 will der Öl-Riese 40 Milliarden US-Dollar in die Öl- und Gasproduktion investieren. Die führende Position im LNG-Markt soll verteidigt werden. Dem stehen Investitionen von lediglich zehn bis 15 Milliarden für die “Entwicklung kohlenstoffarmer Energielösungen”, beispielsweise in den Bereichen Wasserstoff und Biokraftstoffe, sowie in Lade-Lösungen für E-Autos und Carbon-Capture-Technologien gegenüber.
Sawans Investitionsstrategie läuft den Forderungen und Beschlüssen zuwider, die etwa auf der COP26 in Glasgow oder von der Internationalen Energieagentur IEA formuliert worden sind: Die 1,5 Grad sind nur zu halten, wenn es keine neuen Investitionen in fossile Infrastruktur gibt.
Shells Kehrtwende in Sachen Klimaziel zeigt einmal mehr: Freiwillig werden die großen Öl- und Gasförderer nicht aus den fossilen Energien aussteigen. Zwar sagt Sultan al Jaber, COP28-Präsident und CEO der Abu Dhabi National Oil Company, ein Absenken der Förderung fossiler Energien sei “unvermeidlich”. Allerdings nennt er keinen Zeitpunkt und spricht häufig nur vom “Ausstieg aus den Emissionen”. Und Shell-Konkurrent BP hatte schon im Februar 2023 seine Emissions-Reduktionsziele aufgeweicht. Der Wettbewerb unter den Öl-Multis, der kurzfristige Blick auf Aktionäre und hohe Gewinne, macht einen phasenweisen Ausstieg aus den Fossilen unwahrscheinlich.
Shell müsse “langfristig Werte für unsere Aktionäre” schaffen, hat Sawan gegenüber der Financial Times gesagt. “Die Antwort kann nicht lauten: ‘Ich werde [in saubere Energieprojekte] investieren und schlechte Renditen erzielen, und das wird mein Gewissen entlasten’. Das ist falsch”.
Ob Sawans Strategie, den Aktienkurz hochzutreiben und weiterhin in fossile Energieträger zu investieren, erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten. Denn der Druck steigt. Im Sommer 2021 entschied ein niederländisches Gericht nach einer Klage, dass Shell seine Emissionen bis 2030 um 45 Prozent im Vergleich zu 2019 senken müsse. Shell ist in Berufung gegangen. Die Klimaziele des Konzerns basieren derzeit noch auf der Emissions-Intensität der erzeugten Energie. Die absoluten Emissionen können also steigen, wenn Shell zwar nachhaltiger produziert, aber mehr Öl und Gas fördert.
Wael Sawan scheint sich von der Klage nicht allzu sehr ablenken zu wollen. Als Absolvent der Harvard Business School sei er “nicht emotional”, was Geschäftsentscheidungen angehe. Er müsse “gutherzig, aber hartgesotten” sein, gibt ihn die Financial Times wieder. Diesen Aussagen ist zu entnehmen, dass Shell erst wirksame Dekarbonisierungs-Schritte einleitet, wenn die fossilen Geschäftsmodelle den Aktienkurs und die Gewinne schmälern sollten.
Sawan hat seine gesamte Karriere bei Shell verbracht. Er ist in Dubai aufgewachsen und hat einen Master-Abschluss in Chemieingenieurwesen. Er ist verheiratet und hat drei Söhne. Nico Beckert
die sozial-ökologische Transformation kann nur dann erfolgreich bewältigt werden, wenn alle Akteure konsequent neue Wege einschlagen. Im Fall der deutschen Automobilkonzerne VW, BMW und Mercedes-Benz stellt sich die Frage: Können sie in der Region Xinjiang in China tätig sein und gleichzeitig das Risiko der Zwangsarbeit von Uiguren in ihren Lieferketten ausschließen?
Eine Antwort darauf liefern könnte nun die Beschwerde der Menschenrechtsorganisation ECCHR gegen die drei Autobauer beim BAFA, mit der ich mich gemeinsam mit den Kollegen von Report Mainz exklusiv beschäftige. Dazu habe ich außerdem ein Interview mit dem Juristen Markus Krajewski geführt, unter anderem zu der wichtigen Frage, wann sich deutsche Unternehmen aus einer Region zurückziehen müssten.
Gewaltige Änderungen sind notwendig, damit die Bevölkerung die Transformation akzeptiert. In einer weiteren Analyse geht es um die Ideen von Minouche Shafik, der scheidenden Präsidentin der London School of Economis, und dem Mannheimer Ökonomen Tom Krebs – sie wurden beide für ihre publizistischen Arbeiten mit dem Hans-Matthöfer-Preis ausgezeichnet. Shafik geht es um einen neuen Gesellschaftsvertrag und Krebs um eine moderne Klimapolitik und die Rolle der Ökonomen.
Außerdem: Ein wichtiger Hebel für die Transformation ist in den Augen der EU-Kommission die Taxonomie. Nun gibt es Änderungen, die Leonie Düngefeld analysiert. Und: Jascha Rohr, der Gründer des Instituts für partizipatives Gestalten hält vieles, was unter dem Label Transformation firmiert, für Humbug. Worauf es bei Veränderungsprozessen wirklich ankommt, beschreibt er im Standpunkt.
Zu guter Letzt: Wenn Ihnen der ESG.Table gefällt, leiten Sie uns bitte weiter. Wenn Ihnen diese Mail zugeschickt wurde: Hier können Sie das Briefing kostenlos testen.
Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) sieht für Betroffene oder stellvertretend für Organisationen explizit die Möglichkeit von Beschwerden beim BAFA als zuständiger Behörde vor, um auf mögliche Verstöße aufmerksam zu machen. Die Möglichkeit nutzt nun das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und legt Beschwerden gegen BMW, Mercedes-Benz und VW ein, weil die drei Unternehmen ihren Sorgfaltspflichten aus dem LkSG mit Blick auf mögliche Zwangsarbeit in ihren Lieferketten in der chinesischen Region Xinjiang nur unzureichend nachgekommen sein sollen. “Wir können nicht erkennen, dass die Unternehmen dieses Risiko ausreichend ernst nehmen“, sagt Miriam Saage-Maaß, Legal Director beim ECCHR.
Zentrales Argument der Beschwerden: Die Maßnahmen, die die Unternehmen in ihren öffentlichen Unterlagen zur menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht beschrieben, seien “nicht angemessen, um die bekannten Risiken uigurischer Zwangsarbeit in ihren Lieferketten zu erkennen, zu verhindern und zu minimieren“, heißt es beim ECCHR. Die Unternehmen verließen sich “nur auf Überprüfungen vor Ort und vertragliche Zusicherungen, um die Einhaltung der Menschenrechte in ihren Lieferketten zu überprüfen”.
Solche Überprüfungen durch Auditunternehmen können schon unter normalen Verhältnissen schwierig sein. In autoritären Staaten wie China stößt die Methode an Grenzen, weil sie nur funktioniert, wenn sich Beschäftigte zumindest ansatzweise frei äußern können. Davon kann in Xinjiang keine Rede sein. Unter anderem deshalb zogen sich fünf führende Auditunternehmen Ende 2020 aus der Region zurück. Andere Auditunternehmen sind dort aber weiter tätig. Das ECCHR ist der Meinung, dass die einzige angemessene Sorgfaltspflicht darin bestehen würde, den Empfehlungen des von über 400 zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützten Aktionsaufrufs zur Beendigung der uigurischen Zwangsarbeit zu folgen und “dringend Maßnahmen zu ergreifen, um sich von Lieferanten zu trennen“, die in der Region ansässig seien oder von dort beziehen.
“Die drei Autohersteller konnten bis jetzt nicht glaubhaft belegen, dass sie uigurische Zwangsarbeit in ihren Lieferketten ausschließen können”, sagt der Präsident des Weltkongresses der Uiguren, Dolkun Isa, gegenüber Table.Media. “Sie nehmen damit das Risiko in Kauf, dass sie zum Unterstützer des Genozids an den Uigur*innen werden”. In der Region geht die kommunistische Regierung brutal gegen die muslimische Volksgruppe der Uiguren vor. Einige Parlamente, darunter das französische und britische, sprechen von Völkermord.
Der ECCHR hat die Beschwerde gegen die drei deutschen Autobauer ex officio, also im Namen der Betroffenen, eingelegt, entsprechend § 14 des LkSG. Wegen der “äußerst repressiven Situation in der uigurischen Region“, könnten einzelne Arbeitnehmer, die von Zwangsarbeit betroffen seien, “unmöglich” selbst eine Beschwerde als “betroffene Person” einreichen, heißt es zur Begründung. Deswegen sei dieser Weg, die einzige rechtliche Möglichkeit, um Maßnahmen im Rahmen des Gesetzes einzuleiten.
Auf jeweils rund 30 Seiten untermauert die NGO ihre Beschwerde. Es ist die zweite Beschwerde im Rahmen des Gesetzes, die erste Beschwerde hatte das ECCHR mit der Organisation Femnet gegen Amazon und Ikea eingereicht (Table.Media berichtete). Das LkSG trat Anfang des Jahres in Kraft und gilt für Unternehmen mit hierzulande mehr als 3.000 Beschäftigten.
VW wollte sich in der Sache der Beschwerde nicht äußern: “Wir haben bislang keine Kenntnis von der von ihnen zitierten Beschwerde”, teilte ein Sprecher mit. Deswegen können “wir uns zu den Inhalten und den etwaigen Gründen der Beschwerde zurzeit inhaltlich nicht äußern”. Mercedes-Benz verweist ebenfalls darauf, dass die Beschwerde nicht vorliege und “dass wir uns deswegen nicht dazu äußern können”. Auch BMW trifft keine Aussage in der Sache, “da uns selbst bisher weder von besagter NGO noch seitens BAFA diesbezüglich Informationen übermittelt wurden”. Alle drei Unternehmen betonen aber die generelle Bedeutung von Menschenrechten. Volkswagen schreibt beispielsweise, Geschäftspartner müssten jeden bewussten Einsatz von Zwangs- und Pflichtarbeit sowie alle Formen der modernen Sklaverei ablehnen. BMW und Mercedes verweisen darauf, Lieferanten seien vertraglich zur Einhaltung von Standards verpflichtet. Mercedes schrieb außerdem, man sei mit seinen Geschäftspartnern in Kontakt und dränge auf eine Klärung der Vorwürfe.
Eine wichtige Rolle bei dieser und künftiger Beschwerden dürfte die Frage spielen, ob die drei Unternehmen “begründete Kenntnis” davon haben müssten, dass es in ihren Lieferketten in Xinjiang zu Menschenrechtsverletzungen gekommen sein könnte. Denn darauf müssten sie laut dem LkSG reagieren, bei direkten und indirekten Lieferanten. Das BAFA muss im Falle von Beschwerden prüfen, ob sie dies ausreichend getan haben. Zu den drei Beschwerden erklärte die Behörde: Sie könne zu “etwaigen Beschwerden gegen einzelne Unternehmen grundsätzlich keine Angaben machen”. Das LkSG verpflichtet Unternehmen, in der gesamten Lieferkette für die Einhaltung von Menschenrechten zu sorgen. Wenn sie dies nicht tun, drohen empfindliche Strafzahlungen, ein erheblicher Reputationsschaden und möglicherweise der weitere Rückzug von Investoren.
Das ECCHR argumentiert bei den Beschwerden wesentlich mit den Erkenntnissen der Studie “Driving Forces” der Universität Sheffield und der NGO NomoGaia von Ende 2022. Demnach haben mehr als hundert internationale Automobilzulieferer oder Automobilhersteller in gewissem Maße mit Waren aus uigurischer Zwangsarbeit zu tun. Auch BMW, Mercedes-Benz und Volkswagen sollen demnach direkte und indirekte Beziehungen zu Zulieferern haben, bei denen die Wahrscheinlichkeit groß sei, dass sie uigurische Arbeitskräfte eingesetzt haben, die zur Arbeit gezwungen würden, schreibt der ECCHR. Demnach könne man davon ausgehen, dass die Autohersteller angesichts umfangreicher Medienberichterstattung über die Menschenrechtslage in der Region sowie direkter Mitteilungen der internationalen Zivilgesellschaft von den Risiken begründete Kenntnis haben müssen. Erstmals hatten Medien in großem Umfang über die Zwangsarbeitsthematik in der Region mit der Veröffentlichung der China Cables Ende 2019 berichtet.
In der Beschwerde gegen Volkswagen geht es um das Joint Venture SAIC-Volkswagen sowie einen direkten Zulieferer und acht indirekte Zulieferer, bei BMW um drei direkte Zulieferer und vier indirekte Zulieferer, bei Mercedes um einen direkten Zulieferer und vier indirekte Zulieferer. Auffällig ist ein direkter Zulieferer, der Airbags, Sicherheitsgurte, Lenkräder und deren Komponenten herstellt. Er soll laut der Beschwerden alle drei deutschen Unternehmen beliefern. In diesem Fall gibt es laut dem China-Wissenschaftler Björn Alpermann “ein hohes Risiko von Zwangsarbeit“. Er forscht seit vielen Jahren an der Universität Würzburg zur Situation in Xinjiang und hat die Beschwerde analysiert.
“Die Hinweise auf Zwangsarbeit bei Zulieferern sind ausreichend in dem Maße, dass die Behörde eigentlich eine Untersuchung nach dem LkSG einleiten müsste.” Für eine solche Beschwerde einer NGO genüge grundsätzlich ein begründeter Verdacht und der sei gegeben. (siehe auch das Interview mit dem Völkerrechtler Markus Krajewski in diesem Briefing). Allerdings sieht Alpermann auch Schwächen der Studie der Universität Sheffield. Manches sei “ungenügend belegt” oder “unzulässig miteinander vermischt”.
Die Unternehmen stecken nach Ansicht von China-Wissenschaftler Björn Alpermann in einem Reputationsdilemma: “Sie können eigentlich nur verlieren, egal, ob sie sich jetzt lauthals distanzieren und groß an die Glocke hängen, dass sie jetzt versuchten, Audits durchzuführen und zu publizieren. Wenn dies nicht funktioniere, dann verscherzen sie es sich mit einem ihrer wichtigsten Märkte. Oder sie machen gar nichts und wiegeln ab. Dann bleiben sie weiter im Kreuzfeuer der Kritik bei uns im Westen”, sagt Alpermann, der es für wahrscheinlich hält, dass die Unternehmen nun lavieren und versuchen, den Schaden auf beiden Seiten zu begrenzen, was dazu führe, “dass man eigentlich immer irgendwie schlecht aussieht”. Unter Druck steht vor allem VW wegen der Thematik – auch durch Investoren.
Unterstützt werden die Beschwerden vom Dachverband der Kritischen Aktionäre, was deren Co-Geschäftsführer Tilman Massa auch mit einer unzureichenden Transparenz der Autokonzerne begründet. “Über das Auskunftsrecht als Aktionär*innen haben wir bisher keine konkreten Auskünfte erhalten, etwa, welche Zulieferer geprüft wurden oder ob Verträge mit Zuliefern gekündigt wurden.” Vor allem Volkswagen verfange sich “immer mehr in dem Widerspruch”, zum einen auf die angeblich nicht gegebenen Einflussmöglichkeiten auf den Joint-Venture-Partner SAIC und damit das Werk in Ürümqi zu haben, zum anderen aber stets zu betonen, die Situation vor Ort genau geprüft zu haben”. Doch der konkrete Vorwurf der Beschwerde richte sich nicht gegen dieses Werk, sondern gegen Zulieferer.
Bei der Frage des aktuellen Umfangs des Problems von Zwangsarbeit in der Region, verweist der Weltkongress der Uiguren, der die Beschwerde ebenfalls unterstützt, auf die Berichte von Journalisten, die die Region jüngst besucht hätten, demnach “geht die Zahl der Internierungslager zurück”. Dagegen nähmen Haftstrafen und Zwangsarbeit zu. “Viele Uiguri*nnen, die aus den Internierungslagern entlassen wurden, wurden direkt zur Zwangsarbeit transferiert”, sagt Dolkun Isa. China könne diese staatlich verordnete Zwangsarbeit “nur mit der stillschweigenden Hilfe der internationalen Gesellschaft aufrechterhalten”. Die derzeitigen Schlupflöcher in den nationalen und internationalen Rechtsvorschriften ermöglichten es, “dass Produkte, die mit uigurischer Zwangsarbeit hergestellt wurden, ungehindert in den globalen Lieferketten zirkulieren können”.
Was ist der Stellenwert der Beschwerde des ECCHR beim BAFA?
Sie weisen im Grunde genommen das BAFA darauf hin, dass die Unternehmen ihren gesetzlichen Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen sind. Dafür stellt das BAFA ja sogar eine Webseite zur Verfügung. Das ist wie ein Hinweis an eine Verwaltungsbehörde. Sie könnten auch zum Ordnungsamt gehen und sagen, ich glaube, mein Nachbar kippt immer Farbe in den Gully. Dann muss das Ordnungsamt überlegen, ob es dem Hinweis nachgeht oder nicht. Und genauso muss das BAFA nun überlegen, ob es den jetzigen Hinweisen der Beschwerde nachgehen will.
In der Beschwerde nennt der ECCHR keine konkreten Betroffenen. Kann man dann trotzdem eine solche Beschwerde beim BAFA einreichen?
Ja, man muss keine konkreten Beschwerdeführer nennen, es muss aber klar zum Ausdruck gebracht werden, welche Arten von Sorgfaltspflichtverletzung vorliegen könnten. Später könnte dies dann wichtig werden, wenn das BAFA nicht tätig wird oder in den Augen der Beschwerdeführer nicht ausreichend tätig wird. Dann haben die Beschwerdeführer die Möglichkeit, vor dem Verwaltungsgericht Klage gegen das BAFA zu erheben. Das könnte ein nächster Schritt sein.
Die Beschwerde wird maßgeblich damit begründet, dass die bisherigen Informationen der deutschen Autobauer nicht ausreichen, um beurteilen zu können, inwiefern sie sich entsprechend der Vorgaben des Lieferkettengesetzes mit dem Risiko der Zwangsarbeit in der Region Xinjiang auseinandergesetzt haben. Bedeutet das Lieferkettengesetz, dass Unternehmen mehr Transparenz an dieser Stelle zeigen müssen?
Das ist der Gedanke des Gesetzes. Sie sind verpflichtet, darüber zu berichten, was sie jetzt konkret gemacht haben. Die Praxis wird erst noch zeigen müssen, wie das jetzt genau läuft und was das BAFA für notwendig hält. Aber ich würde schon sagen, wenn Unternehmen auf irgendein menschenrechtliches Risiko hingewiesen worden sind, dann haben sie Nachtforschungspflichten und müssen transparent berichten, was sie getan haben. Das Gesetz sieht in jedem Fall deutlich erhöhte Berichts- und Transparenzpflichten gegenüber dem vor, was wir bislang hatten. Bislang gab es im Grunde genommen nur eine Pflicht auf der Grundlage der CSR-Berichterstattungsaufträge.
Muss das BAFA jetzt prüfen, ob die Unternehmen plausibel ihren Verpflichtungen nachgekommen sind?
Ja, es muss aktiv prüfen, was die Unternehmen gemacht haben. Dazu muss es selbst zu einer Bewertung kommen. Dazu hat es auch die Kompetenz, um die Sachlage selbst zu bewerten. Aber es muss nicht in jedem Fall tätig werden. Wenn jetzt jemand eine Beschwerde gegen ein Unternehmen wegen möglicher Zwangsarbeit in der Oberpfalz erhebt und das betroffene Unternehmen sagt nachvollziehbar, dass das Nonsens ist, dann muss die Behörde da nicht vorgehen. Es muss schon klare Belege für das Risiko in der Region geben.
Jetzt sagen Unternehmen häufig, sie selbst oder auch Dritte, wie Auditoren, könnten die Situation in Xinjiang eigentlich gar nicht unabhängig menschenrechtlich bewerten. Und nun hat China auch noch ein Anti-Spionage-Gesetz beschlossen, was die Beschaffung von Informationen erschwert. Bleibt den Unternehmen am Ende des Tages nur noch die Möglichkeit, sich aus der Region zurückzuziehen, wenn sie im Einklang mit dem deutschen Lieferkettengesetz handeln wollen?
Da muss man deutlich sein. Es gibt genügend gut belegte Berichte über die menschenrechtliche Lage und Zwangsarbeit in der Region Xinjiang, was die automobilen Lieferketten anbelangt. Wenn man jetzt mal strafrechtlich sprechen würde, so gäbe es einen Anfangsverdacht. Wenn Unternehmen diesen Verdacht nicht entkräften können oder sagen, wir können unsere Risiken nicht angemessen bewerten, dann müssen sie diese Geschäftstätigkeit aufgeben. Denn man darf nach dem Gesetz keine Bereiche in seiner Zuliefererkette haben, wo man überhaupt nicht in der Lage ist, die menschenrechtlichen Risiken zu bewerten.
Die EU-Kommission hat vergangene Woche im Rahmen eines Gesetzespakets zum nachhaltigen Finanzwesen neue Kriterien für die grüne Taxonomie vorgestellt. Damit ergänzt die Kommission den Katalog der Wirtschaftsaktivitäten, die nach diesem Klassifizierungssystem als nachhaltig gelten und somit klima- und umweltfreundliche Investitionen anziehen sollen. Diese wurden zuvor von der Plattform für nachhaltige Finanzen, dem Beratungsgremium der Kommission, erarbeitet.
Für die grüne EU-Taxonomie hatte die Kommission bislang delegierte Rechtsakte zu den zwei klimabezogenen Zielen sowie zu Erdgas und Atomkraft angenommen. Nun schlägt sie weitere Taxonomiekriterien für Wirtschaftstätigkeiten vor, die einen wesentlichen Beitrag zu einem oder mehreren der übrigen vier (nicht klimabezogenen) Ziele leisten:
Darüber hinaus hat die Kommission Änderungen am delegierten Rechtsakt zur EU-Klimataxonomie angenommen. Durch diese wird das Spektrum der Wirtschaftstätigkeiten erweitert, die zum Klimaschutz und zur Anpassung an den Klimawandel beitragen und bisher nicht unter die Taxonomie fielen. Dazu gehören vor allem das verarbeitende Gewerbe und der Verkehrssektor.
Unter anderem sollen die folgenden Wirtschaftsaktivitäten unter bestimmten Kriterien in die EU-Taxonomie fallen:
Für alle Wirtschaftsaktivitäten gelten die “Do No Significant Harm”-Kriterien, nach denen die jeweilige Aktivität einen substanziellen Beitrag zu mindestens einem Umweltziel leisten und keinem der anderen Ziele schaden darf. Darüber hinaus schreiben die Rechtsakte eine Reihe spezifischer technischer Kriterien für jede einzelne Aktivität vor.
Zum Beispiel sollen die aufgeführten Unterbringungsaktivitäten einen erheblichen Beitrag zum Schutz und zur Wiederherstellung der biologischen Vielfalt und der Ökosysteme leisten (und dürfen keinem der anderen Ziele schaden). Dies reicht von Hotels über Ferienwohnungen und Jugendherbergen bis hin zum Biwakplatz im Wald, vorausgesetzt die Betriebe sind durch eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zertifiziert und erfüllen bestimmte Mindeststandards bei Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit.
Betreiber von Aktivitäten zur Erhaltung und Wiederherstellung von Lebensräumen, Ökosystemen und Arten müssen beispielsweise unabhängig zertifiziert sein und einen Bewirtschaftungsplan im 10-Jahres-Rhythmus umsetzen.
Für die Herstellung von Kunststoffverpackungen waren in der öffentlichen Konsultation der Kommission Anpassungen gefordert worden. Interessengruppen hatten angeregt, die Kriterien der Taxonomie an andere EU-Gesetzgebungen anzupassen: etwa an die derzeit verhandelte Überarbeitung der Verpackungsverordnung, die Wasserrahmenrichtlinie oder die ebenfalls momentan überarbeitete Ökodesign-Richtlinie.
Nun gelten für Kunststoffverpackungen in der Taxonomie strengere Kriterien als die in der anstehenden überarbeiteten Gesetzgebung. Diese beziehen sich auf die Verwendung von Rezyklat, das Ökodesign und die Rezyklierbarkeit des Produkts. Der Anteil von Rezyklat in Verpackungen etwa muss nach der Taxonomie bis 2028 mindestens 35 Prozent (bei berührungsunempfindlichen Verpackungen) betragen, bei berührungsempfindlichen Verpackungen (etwa für Lebensmittel) gilt ein Zielwert von zehn Prozent. Ab 2028 werden diese Werte auf 65 bzw. 50 Prozent erhöht. Der Kommissionsentwurf für die Verpackungsverordnung sieht ab 2030 einen Mindestwert von bis zu 35 Prozent, ab 2040 von bis zu 65 Prozent vor.
Die Reaktionen auf die delegierten Rechtsakte fielen im Grundsatz positiv aus. Der Bundesverband der deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Kreislaufwirtschaft (BDE) erklärte, die EU-Taxonomieverordnung sei ein “sachgerechtes und vernünftiges Instrument für mehr Nachhaltigkeit”. Besonders erfreulich sei, dass die Kreislaufwirtschaft ausdrücklich genannt werde. Aus Sicht des Verbandes sei bedauerlich, dass die energetische Abfallverwertung bislang nicht als nachhaltige Tätigkeit berücksichtigt wurde, da sie als Schadstoffsenke für gefährliche Stoffe in Abfällen und durch die Rückgewinnung von Metallen einen wichtigen Beitrag zu den Umweltzielen der Taxonomie leiste.
Der Klima-Thinktank E3G kritisiert in einer Stellungnahme, einige Aktivitäten, die ursprünglich von der Plattform für nachhaltige Finanzen vorgeschlagen wurden, seien nicht in den Kommissionsvorschlag aufgenommen worden. Dazu gehörten insbesondere Sektoren mit hohen Umweltauswirkungen wie Chemikalien, Textilien, Landwirtschaft und Fischerei. “Für diese sollten wissenschaftlich fundierte, ehrgeizige Kriterien entwickelt und in die Taxonomie aufgenommen werden”, schreibt Tsvetelina Kuzmanova von E3G. Ebenso hätten bereits bestehende schwache Kriterien, etwa für den Forstsektor, ebenfalls verbessert werden müssen.
Die delegierten Rechtsakte werden nun dem Parlament und dem Rat zu einer zweimonatigen Prüfung vorgelegt und treten voraussichtlich ab Januar 2024 in Kraft.
Klimakrise, Digitalisierung, geopolitische Verschiebungen – Transformation werde von vielen Entwicklungen beeinflusst, sagte Anke Rehlinger, Ministerpräsidentin des Saarlandes, am Dienstag bei der Verleihung des Hans-Matthöfer-Preises im Rahmen des “Tages der Progressiven Wirtschaftspolitik” der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Berlin. Dabei finde Transformation nicht mehr im theoretischen Raum statt, sondern gehöre zum politischen Tagesgeschäft. Die Politik benötige aber “Impulse aus der Wissenschaft, was gehen könnte“. Ganz entscheidend ist für die SPD-Politikerin, den Menschen angesichts der Transformation die Angst vor Wohlstandsverlusten und Abstieg zu nehmen.
Grundlegende Impulse für eine Transformation gaben die beiden Preisträger: Minouche Shafik, scheidende Präsidentin der London School of Economics (LSE) und künftige Präsidentin der Columbia-Universität, fordert in ihrem von der Jury ausgezeichneten Buch “Was wir einander schulden” (Ullstein) einen neuen Gesellschaftsvertrag, um die Bevölkerung in der Breite bei der Transformation mitzunehmen und Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu schaffen. Und Tom Krebs, der an der Universität Mannheim Wirtschaft lehrt, las seiner deutschen Zunft die Leviten, sieht er sie doch eher als Hindernis denn als Katalysator für die notwendige transformatorische Entwicklung.
Ausgangspunkt der Überlegungen von Minouche Shafik war die Beobachtung, dass einerseits der globale Wohlstand in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen sei, andererseits die Wut und Unzufriedenheit der Menschen in vielen Ländern aber groß war und sie Populisten in Ämter wählten. Vier von fünf Menschen in Europa, den USA oder China dächten, “dass das System für sie nicht funktioniert” und Regierungen ständen überall ganz unten im Ranking der Anerkennung. Eine zentrale Ursache dafür sei, dass die Gesellschaften den Sozialpakt des 20. Jahrhunderts gebrochen hätten. Abzulesen beispielsweise an der Länge der Zeit, die Menschen heute im Schnitt benötigen, um in Gesellschaften in der Einkommensleiter von unten in die Mitte aufzusteigen. In Europa dauere es drei bis vier Generationen, in den USA und Großbritannien fünf Generationen und in Brasilien neun, sagte sie. Es brauche einen neuen Gesellschaftsvertrag, bei dem sie drei Prinzipien für grundlegend hält:
Der Ökonom Tom Krebs, der den Sonderpreis für zwei Aufsätze zu einer modernen Klimapolitik erhielt, hält die gegenwärtig dominierenden Instrumente der Klimapolitik für kontraproduktiv und bringt dies in zwei Thesen auf den Punkt:
Ein Hindernis für die Transformation besteht nach Ansicht von Krebs darin, dass die Mehrheit der Ökonomen, die in der öffentlichen Debatte in Deutschland zu Wort kommen, “sehr stark dem marktliberalen Paradigma anhängen“, das gelte auf Arbeitsebene auch für die Ministerien. “Damit verteidigen sie den Status Quo“, wenn sie darauf setzen, dass alleine der Markt über Preissignale die notwendige Transformation herbeiführen könnte. Aus dieser Denkweise heraus hätten viele Ökonomen in Deutschland auch den Industrial Inflation Act in den USA abgelehnt. Tom Krebs hält diesen Ansatz trotz einzelner Schwächen dagegen für moderne Klimapolitik. Denn er stelle eine “fundamentale Rekalibrierung der US-amerikanischen Wirtschaftspolitik dar, hin zu einer modernen Klimapolitik”. Hier wird genau die Verbindung in der Wirtschaftspolitik zwischen Infrastruktur-, Arbeitsmarkt und Wirtschaftspolitik unternommen, die der Ökonom für wegweisend hält, wenn etwa Unternehmen zusätzliche Subventionen für gute Entlohnung ihrer Beschäftigten erhalten.
Notwendig findet der Ökonom deswegen einen Paradigmenwechsel in der deutschen Ökonomie. Der sei in Ansätzen auch zu beobachten, sagt er, aber es werde noch dauern. Mit Blick auf die seinerzeitigen Diskussionen über die Einführung eines Mindestlohnes sagte er: “Wir können jetzt nicht wieder 20 Jahre warten, bis die Wissenschaft sagt, der CO₂-Preis allein macht es nicht – die Politik muss vorangehen.”
21.6.2023, 11:00-13:00 Uhr
Öffentliche Anhörung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur “Änderung des Gebäudeenergiegesetzes, zur Änderung der Heizkostenverordnung und zur Änderung der Kehr- und Überprüfungsordnung” Info
21.6.2023, 17:15 Uhr
Öffentliches Fachgespräch des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Thema “Weiterentwicklung des Parlamentarischen Beirates für nachhaltige Entwicklung” Info
21.6.2023, 18:00 Uhr
Plenum Abschließende Beratung des Antrags der CDU/CSU-Fraktion “Förderung des energieeffizienten Neubaus: Den Traum von den eigenen vier Wänden ermöglichen” Info
22.6.2023, 9:00 Uhr
Plenum Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler zum Europäischen Rat am 29./30. Juni 2023 Info
22.6.2023, 10:40 Uhr
Plenum Erste Lesung des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs zur “Beschleunigung von Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich und zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2021/1187 über die Straffung von Maßnahmen zur rascheren Verwirklichung des transeuropäischen Verkehrsnetzes” Info
22.6.2023, 18:45 Uhr
Plenum Erste Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE “Gesetzlichen Mindestlohn gemäß EU-Mindestlohnrichtlinie erhöhen” Info
22.6.2023, 20:00 Uhr
Plenum Abschließende Beratung des Antrags der CDU/CSU-Fraktion “Pflicht zur Stilllegung von 4 Prozent der Agrarflächen ab 2024 dauerhaft aussetzen” Info
23.6.2023, 10:20 Uhr
Plenum Abschließende Beratung des Antrags der CDU/CSU-Fraktion “Politische und wirtschaftliche Beziehungen zu Lateinamerika stärken – Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten in Kraft setzen” sowie der Anträge der Fraktion DIE LINKE “EU-Mercosur-Abkommen neu verhandeln – Für eine faire Wirtschafts- und Handelspolitik” und “Den demokratischen Prozess schützen – Die Aufteilung des EU-Mercosur-Handelsabkommens verhindern” Info
22.6.2023, 14:40 Uhr
Plenum Erste Lesung des von den Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP eingebrachten Gesetzentwurfs zur Änderung des Lobbyregistergesetzes Info
Der Rat für nachhaltige Entwicklung (RNE) empfiehlt der Bundesregierung, eine Umwandlung der Weltbank und anderer internationaler Entwicklungsbanken hin zu Transaktionsbanken zu befürworten. “Kapital solle stärker als bisher für Klima- und Nachhaltigkeit eingesetzt werden”, heißt es in einer Stellungnahme, die Table.Media exklusiv vorliegt.
Das Beratergremium der Bundesregierung verweist auf die zunehmende Lücke für die Anforderungen an die Finanzierung einer nachhaltigen Entwicklung und die Folgekosten der multiplen Krisen. In den Entwicklungs- und Schwellenländern würden nach neusten Berechnungen rund eine Billion US-Dollar pro Jahr benötigt, um das Pariser Klimaabkommen und die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung umzusetzen. “Schuldenerlasse sind aus unserer Sicht unabdingbar, um auch in stark verschuldeten Staaten die Weichen Richtung Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu stellen”, sagt Reiner Hoffmann, Vorsitzender des RNE.
Außerdem sollte das Instrument des Schuldentauschs (“Debt swap”) ausgeweitet werden. Es ermöglicht verschuldeten Ländern, eine fällige Rückzahlungssumme in vereinbarte Projekte, etwa für Klimaschutz und die Gesundheitsvorsorge zu investieren, statt den Betrag an die Gläubiger zurückzuzahlen. Ebenso unterstützt der RNE die Idee eines Treuhandfonds für die multilateralen Entwicklungsbanken, um effizient und zielorientiert den stark verschuldeten Ländern in Zeiten der multiplen Krisen eine Perspektive für nachhaltige Entwicklung zu eröffnen.
Am Donnerstag und Freitag treffen sich Dutzende Staats- und Regierungschefs zu einem Gipfeltreffen in Paris. Frankreichs Präsident Emanuel Macron will dabei einen Fahrplan zur Reduzierung der Schuldenlast von Ländern mit niedrigem Einkommen auf den Weg bringen. Gleichzeitig sollen mehr Mittel für die Klimafinanzierung freigesetzt werden. Angestrebt wird eine Einigung darüber, wie verschiedene Initiativen vorangebracht werden können, die in Gremien wie der G20, dem IWF, der Weltbank und den Vereinten Nationen umstritten sind. Viele Themen – vom Schuldenerlass bis hin zur Klimafinanzierung – greifen Vorschläge einer Gruppe von Entwicklungsländern auf, die von der Premierministerin von Barbados, Mia Mottley, angeführt wird und als “Bridgetown-Initiative” bezeichnet wird.
Obwohl keine verbindlichen Entscheidungen erwartet werden, sagten Beamte, die an der Planung des Gipfels beteiligt waren, dass einige starke Verpflichtungen zur Finanzierung armer Länder eingegangen werden sollten. Insbesondere soll bekannt gegeben werden, dass man sich einig sei, 100 Milliarden Dollar über den IWF für gefährdete Länder zur Verfügung zu stellen, sagen die Beamten. Dabei könnten die wohlhabenden Länder ungenutzte Sonderziehungsrechte zur Verfügung stellen, damit diese für Kredite an arme Länder genutzt werden können. Die Zuteilung von Sonderziehungsrechten ist ein 1969 vom IWF eingeführtes Reserveguthaben. Sie bietet Ländern in Krisensituationen eine Möglichkeit, Reservewährungen zu erhalten, erfolgt aber bisher im Umfang der Quoten, die die Länder beim IWF halten. Ärmere Länder profitieren entsprechend wenig. Außerdem wollen die Regierungen erreichen, dass die Weltbank mehr Mittel an ärmere Länder vergeben kann, ohne ihre erstklassige Bonität zu verlieren. cd / mit Reuters
Der Hersteller von Outdoorbekleidung VAUDE geht eine Partnerschaft mit UPM Biochemicals ein, um Funktionskleidung aus holzbasiertem Polyester herzustellen, das teilten beide Unternehmen kürzlich mit. Dafür nutzen die Firmen ein von UPM entwickeltes Bio-Monoethylenglykol, das den sonst aus Erdöl gewonnenen Stoff zur Herstellung von Polyester ersetzen soll. Ein weiterer Partner, das italienische Unternehmen Ponteporto, soll das produzierte Garn zu einem biobasierten Polyestergewebe verarbeiten.
UPM baut aktuell an der nach eigenen Aussagen ersten Bioraffinerie im industriellen Maßstab in Leuna, Sachsen-Anhalt. Die Anlage soll bis Ende des Jahres in Betrieb gehen und 220.000 Tonnen Biochemikalien produzieren. Dafür sollen am Standort 500.000 Tonnen regionales Holz verarbeitet werden, das nach dem PEFC oder dem FSC-Standard zertifiziert ist.
Die Verwendung von Polyester in der Textilindustrie führt insbesondere aufgrund von Fast-Fashion zu großen Umweltproblemen, weil die Bekleidung oft nicht lange genug getragen und weniger als Prozent überhaupt zu neuer Kleidung recycelt wird. Der Rest landet entweder im Downcycling oder auf Deponien – nicht selten außerhalb Europas.
Abhilfe schaffen könnte neben einem geringeren Konsum die Weiterentwicklung des Recyclings von Textilabfällen. Dies im industriellen Maßstab zu tun, planen nun die Lenzing-Gruppe, ein Anbieter von Spezialfasern für die Textil- und Vliesstoffindustrien, sowie der schwedische Zellstoffproduzent Södra. Die beiden Unternehmen erhalten im Rahmen des EU-Programms für Umwelt- und Klimapolitik LIFE einen Zuschuss von zehn Millionen Euro. Die Firmen wollen nach eigenen Aussagen Textilien verarbeiten und recyceln, die aus einem Mix unterschiedlicher Fasern bestehen. Künftig sollen im schwedischen Södra-Werk in Mörrum dann 60.000 Tonnen Zellstoff produziert werden, der zu 50 Prozent aus recyceltem Material und zu 50 Prozent aus nachhaltigem Holz bestehe. nh / mit dpa
Eine Allianz kleinerer Wirtschaftsverbände hat die Bundesregierung aufgefordert, eine neue Rechtsform für Unternehmen zu schaffen, die “Gesellschaft mit gebundenem Vermögen” (GmgV). Ein entsprechender Halbsatz findet sich bereits im Koalitionsvertrag. Ziel sei es, “den Pool potenzieller Nachfolgerinnen maßgeblich zu erweitern.” Die Auswahl neuer Gesellschafter soll demnach unabhängig von Verwandtschaftsverhältnissen oder der individuellen Vermögenssituation “nach dem Prinzip der Fähigkeiten und Werte” erfolgen. So kämen über den Kreis der leiblichen Familie hinaus beispielsweise “Mitarbeitende oder andere Leistungsträger” in Betracht. Anteilseignern einer GmgV sollen keine Gewinnbezugsrechte zustehen, sondern nur ein nicht vererbbares Stimmrecht. Ihre Entlohnung soll nach dem Leistungsprinzip erfolgen.
Kernelement des Konzepts ist “die unabänderliche Vermögensbindung”. Unternehmensgewinne sollen demnach weder offen noch verdeckt an die Gesellschafter ausgeschüttet werden können. Sie müssten stattdessen im Unternehmen verbleiben oder gemeinnützig gespendet werden. Gleichwohl wären Geschäfte zwischen der GmgV und ihren Gesellschaftern erlaubt. Ein staatlich lizenzierter und mit “Einsichts- und Klagerecht ausgestatteter Unternehmeraufsichtsverband” soll Missbrauch verhindern. Auch müsse sichergestellt werden, dass die GmgV nicht als Steuersparmodell genutzt wird, heißt es in dem Papier.
Das Konzept eines GmgV wird seit mehreren Jahren von der Stiftung Verantwortungseigentum beworben, die dem anthroposophischen Spektrum nahesteht. Die Gruppe der Unterzeichner ist allerdings deutlich breiter. Sie reicht vom Bundesverband mittelständische Wirtschaft und Verband deutscher Unternehmerinnen über den Bundesverband Deutsche Start-Ups und den Blockchain Bundesverband bis zum Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft, Demeter und dem Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft.
Auf einer Pressekonferenz am Montag unterstützten mehrere Bundestagsabgeordnete der Ampel das Konzept. “Es ist eine richtig, richtig gute Sache”, sagte die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Verena Hubertz und versicherte, sie sei “Unterstützerin in der Sache aus tiefster Überzeugung”. Auch Katharina Beck, finanzpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, sprach sich für die GmgV aus und dafür, “die Zielsetzung dieser Rechtsform wirklich zu beschränken und sie nicht noch mit irgendwelchen ökosozialen Labels zu überfrachten”. Sie solle lediglich Rechtssicherheit bei der Vermögensbindung schaffen, so Beck.
Etwas distanzierter äußerte sich Otto Fricke, haushaltspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Aus seiner Sicht seien noch einige rechtliche Fragen offen. Dennoch glaube er, “dass diese zusätzliche Rechtsform etwas ist, was der Markt braucht”.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und der Bundesverband Deutscher Stiftungen (BDS) warnen hingegen vor einer weiteren Rechtsform für Unternehmen. In einem gemeinsamen Positionspapier vom September vergangenen Jahres heißt es, die diskutierte Struktur sei “weder geeignet noch erforderlich für die Zielsetzung eines nachhaltigen und verantwortungsvollen Unternehmertums“. Kurze Zeit später sprach sich auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium mehrheitlich gegen das Konzept der Stiftung Verantwortungseigentum aus. ch
Die grün-schwarze Landesregierung von Baden-Württemberg will öffentliche Aufträge an innovative Start-Ups künftig bis zu einem Wert von 100.000 Euro direkt vergeben – also ohne vorherige Bekanntmachung oder Aufruf zum Wettbewerb. Damit setzt die Regierung ein Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag um. Sie folgt dabei dem Vorbild des französischen Modellprojekts “L’achat public innovant”, das 2021 nach dreijähriger Laufzeit auf unbestimmte Zeit verlängert wurde. Baden-Württemberg will nun eine ähnliche Regelung in der Novellierung der Verwaltungsvorschrift Beschaffung des Landes erstmalig in Deutschland verankern. Auch die Landesregierung plant einen Pilotzeitraum von drei Jahren, bevor sie das Projekt evaluieren will.
Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, sagt Table.Media: “Die Transformation erfordert Umdenken. Wir wollen und müssen alle Wege öffnen, um Innovationen in unsere Verwaltung zu bringen. Deshalb brauchen wir im öffentlichen Sektor effektive Hebel, um neue Ideen, die Lösungen für die Zukunft parat haben, schnell und effektiv zu fördern.” Zudem habe der Staat eine Vorbildfunktion: “Staatliche Investitionen, die gezielt junge Unternehmen mit disruptiven Ansätzen in den Blick nehmen, können Türöffner sein und Impulse setzen, die dann auch in der Privatwirtschaft Resonanz finden”, ergänzt der Politiker von Bündnis 90/Die Grünen. nh
Am Donnerstag hat das Bundesumweltministerium den Dialogprozess für die neue Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt in Deutschland (NBS 2030) gestartet. Mit dieser soll Deutschland die im Dezember auf dem Weltnaturgipfel in Montreal (COP15) beschlossenen Ziele für Artenvielfalt erreichen. Der Entwurf benennt 65 Ziele, die bis 2030 oder 2050 erreicht werden sollen. Er umfasst insgesamt 21 Handlungsfelder. Der Dialogprozess läuft noch bis zum 9. Juli. Stellungnahmen können Interessierte online einreichen. Das Kabinett soll die Strategie im ersten Halbjahr 2024 verabschieden.
Die bis dato letzte Nationale Biodiversitätsstrategie stammt aus dem Jahr 2007. Die Evaluation des BMUV im Entwurf für die neue Biodiversitätsstrategie fällt eindeutig aus: Ein Großteil der verfolgten Ziele für 2020 wurde “nicht in ausreichendem Maße” erreicht. Mit der NBS 2030 wolle die Bundesregierung nun “einen ehrgeizigen Beitrag” zur Umsetzung des Montreal-Abkommens sowie der EU-Biodiversitätsstrategie 2030 leisten. Um konkrete Maßnahmen statt nur Ziele festzuschreiben, plant das BMUV die NBS 2030 zusammen mit einem 1. Aktionsplan zur Abstimmung zu bringen. Dieser soll präzisieren, was die Bundesregierung bis 2026 tun wird, um die Ziele der Strategie zu erreichen. Bevor der 2. Aktionsplan für den Zeitraum bis 2030 verabschiedet wird, soll die Bundesregierung eine Zwischenbilanz ziehen. Zudem will das BMUV eine bessere Messbarkeit und regelmäßiges Monitoring sowie mehr Verbindlichkeit sicherstellen.
Der WWF sagt auf Anfrage, dass die interne Bewertung der Diskussionsvorschläge des BMUV für die NBS 2030 noch nicht abgeschlossen sei, verweist aber auf ein Statement zu Beginn des Dialogprozesses. Demnach wolle die Umweltorganisation die NBS 2030 daran messen, ob sie ein “langfristiges und erfolgsorientiertes Leitkonzept” darstellt, das “von der gesamten Bundesregierung […] umgesetzt wird”. Ähnlich äußert sich Olaf Bandt, Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), in einer Mitteilung: “Am Ende muss eine Strategie der Bundesregierung mit konkreten Maßnahmen und Verpflichtungen für jedes einzelne Ressort stehen.” nh
Eine erste Evaluation der im Jahr 2021 gestarteten Bundesförderung für effiziente Gebäude (BEG), die die Prognos AG im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz erstellt hat, zeigt: Die Ziele wurden im Jahr 2021 weit übertroffen. Insgesamt gab es Förderung in 308.720 Fällen, dabei wurden Brutto-Investitionen in Höhe von 79 Milliarden Euro getätigt und die Reduktion bei den Treibhausgasemissionen beträgt 1,7 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente. Der größte Teil an Einsparungen von Emissionen (rund 78 Prozent) gelang demnach durch Sanierungen im Programm BEG Einzelmaßnahmen.
Der Gebäudesektor in Deutschland verursacht laut Deutscher Energieagentur rund 40 Prozent der nationalen CO₂-Emissionen – mehr als kein anderer. Die Erhöhung der Energieeffizienz durch bessere Dämmung und Optimierung des Energieverbrauchs sowie der Umstieg auf erneuerbare Energie beim Heizen können diese Emissionen senken. Trotzdem stagniert die Sanierungsrate seit Jahren bei rund einem Prozent. Unter anderem die umstrittene Novelle des Gebäudeenergiegesetzes der Ampel-Koalition sowie die auf EU-Ebene diskutierte Richtlinie für die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden sollen die Dynamik für mehr Energieeffizienz und erneuerbare Energien erhöhen. nh
Die EU-Batterieindustrie ist möglicherweise nicht in der Lage, über 2025 hinaus die Nachfrage zu decken. In der Folge besteht das Risiko, dass die EU entweder ihre CO₂-Ziele für 2035 verfehlt oder dieses Ziel durch importierte Batterien oder Elektroautos erreichen müsste, was der europäischen Industrie schaden würde. Zu diesem Ergebnis kommt ein Montag veröffentlichter Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofs (European Court of Auditors, ECA), der den strategischen Aktionsplan der EU für Batterien evaluiert hat.
Die EU-Kommission habe zwar für die meisten Teile des Batterie-Aktionsplans Maßnahmen ergriffen. Unter anderem wurde kürzlich die Batterieverordnung verabschiedet. Doch es dauere teils noch mehrere Jahre, bis die einzelnen neuen Vorgaben für die Stärkung der europäischen Batteriewertschöpfungsketten in Kraft treten.
Der Bericht identifiziert vier wesentliche Probleme:
Die Prüfer warnen vor zwei Szenarien für den Fall, dass die Produktionskapazität für Batterien in der EU nicht wie geplant wächst. Es könne passieren, dass die EU den Verkauf neuer Benzin- und Dieselautos erst nach 2035 verbietet. Damit würden die Klimaziele nicht erreicht werden. Bei dem zweiten Szenario müsse stark auf Batterien und Elektrofahrzeuge aus Drittländern gesetzt werden, um die EU-Klimaziele zu erreichen. Dies sei zum Nachteil der europäischen Automobilindustrie und ihrer Beschäftigten.
Fast jeder fünfte im Jahr 2021 in der EU zugelassene Neuwagen hatte nach Angaben des Europäischen Automobilherstellerverbands Elektroantrieb. Zudem soll der Verkauf neuer Benzin- und Dieselautos ab 2035 verboten werden. Daher seien Batterien von großer strategischer Bedeutung für die EU – und wichtig, um die Klimaziele zu erreichen, heißt es in dem Bericht des Rechnungshofs. leo / mit dpa
Mit ihren Plänen, Rohstoffe künftig selbst als “strategisch” und “kritisch” einstufen zu können, verstößt die EU-Kommission gegen geltendes EU-Recht. Das ist das Ergebnis einer Studie des Centrums für Europäische Politik (cep). Aus dieser Festlegung, die im Kommissionsentwurf für den Critical Raw Materials Act vorgesehen ist, würden sich für Kommission, Mitgliedstaaten und Unternehmen weitreichende Rechte und Pflichten ergeben, sagte cep-Jurist Götz Reichert. “Folglich handelt es sich um eine ,wesentliche’ Frage, die Rat und Parlament im Gesetzgebungsverfahrens entscheiden müssen – und nicht an die Kommission delegieren dürfen”.
Auch mit den geplanten Informationspflichten schieße die Kommission beim Risikomanagement über das Ziel hinaus, erklärt André Wolf, cep-Experte für Neue Technologien. Verpflichtendes Risikoreporting für “große Industrieunternehmen” stelle einen unangemessenen Eingriff in das Risikomanagement privater Unternehmen dar. “Statt Kontrolle wären mehr Positivanreize für Unternehmen sinnvoll. Auf dem Weg zu einer zukunftssicheren Rohstoffstrategie droht sich die EU im regulatorischen Klein-Klein zu verheddern”.
Als positiv bewertet die Studie, dass die Kommission über die heimische Rohstoffförderung und -raffinade hinaus auch strategische Partnerschaften und Rohstoffrecycling in den Blick nehme. Die vorgeschlagene Priorisierung “strategischer Projekte” sei angesichts finanzieller und administrativer Restriktionen ein geeignetes Mittel, um den Fokus auf für Zukunftstechnologien besonders essenzielle Rohstoffe zu setzen. Als Maßstab diene das ökonomisch vernünftige Prinzip der Diversifizierung von Beschaffungswegen. leo
Academic freedom in ESG research is under threat – Financial Times
Ben Caldecott schreibt in seinem Meinungsbeitrag, dass es Finanzinstitutionen und Datenlieferanten, etwa Rating-Anbietern, nicht erlaubt sein sollte, die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen zu ESG zu verhindern. Der Gründungsdirektor der Oxford Sustainable Finance Group fordert daher einen konstruktiven Austausch zwischen Forschung, Wirtschaft und Politik sowie Regulierungsinitiativen. Zum Artikel
Radikahlschlag – Süddeutsche Zeitung
Alex Rühle war in Schweden und hat sich angesehen, wie dort Wälder bewirtschaftet werden. Das Ergebnis: In den meisten Nutzwäldern geschieht dies mittels Kahlschlags. Diese Art der Nutzung sehen dem Autor zufolge viele kritisch mit Blick auf den Schutz der Biodiversität. Zum Artikel
Schlappe für DWS-Vorstand: Zehn Prozent der Aktionäre verweigern Entlastung – Handelsblatt
Die Greenwashing-Vorwürfe seien auf der Hauptversammlung der Deutsche-Bank-Tochter DWS das dominierende Thema gewesen, schreibt Anke Rezmer. Auf der Hauptversammlung habe fast ein Zehntel der stimmberechtigten Aktionäre gegen die Entlastung des Vorstands gestimmt. Zum Artikel
Why Kenya could take the lead in carbon removal – The Economist
Der Große Afrikanische Grabenbruch, der auch durch Kenia geht, könnte sich laut Wissenschaftlern sehr gut eignen, um CO₂ in der Erde zu speichern. Der Economist berichtet über mögliche Szenarien für Kenia und ein Start-Up, das aktuell am zweitgrößten Projekt für das Abschneiden von CO₂ direkt aus der Luft und dem Speichern im Grabenbruch arbeitet. Zum Artikel
Wettbewerbsfähigkeit: Deutschland stürzt ab, die Schweiz sichert sich Bronze – Neue Zürcher Zeitung
Von einem “Alarmsignal” für die deutsche Wirtschaft spricht Christoph Eisenring angesichts des jüngsten Rankings des Management-Instituts IMD. Deutschland falle in dem Ranking um sieben Positionen zurück auf Rang 22 unter 64 Nationen. Zum Artikel
A wealth tax could help poorer countries tackle climate crisis, economists say – The Guardian
Die Besteuerung der wohlhabendsten Menschen der Welt könnte armen Ländern helfen eine Wirtschaft mit geringen CO₂-Emissionen zu schaffen und Klimaschäden zu beseitigen, sagt eine Gruppe von hundert führenden Ökonomen. Eine Steuer von zwei Prozent würde schätzungsweise jährlich 2,5 Billionen Dollar einbringen. Zum Artikel
European truck makers ‘trail in global race to net zero’ – The Guardian
DAF und Iveco gehören laut Studie zu den Unternehmen, die am wenigsten auf die Umstellung auf kohlenstofffreie Technologien vorbereitet sind, schreibt Jasper Jolly mit Bezug auf Transport & Environment, eine Kampagnenorganisation aus Brüssel. Scania und MAN, welche zu Volkswagen gehörten, und Mercedes-Benz-Trucks ständen am besten unter den europäischen Herstellern beim Umstieg auf Elektrofahrzeuge da. Zum Artikel
Can the EU sustainable finance taxonomy unlock the circular economy? – Euractiv
In ihrem Gastbeitrag schreiben Jack Barrie und Patrick Schröder, beide vom Chatham House Environment and Society Programme, dass die EU-Taxonomie nur ein Werkzeug sein kann, um die Transformation zur Kreislaufwirtschaft zu schaffen. Damit der Wandel gelinge, müsse sie unter anderem von einem starken regulatorischen Rahmen flankiert werden. Zum Artikel
EU turns to Africa to build green hydrogen supply – Financial Times
In der Strategie Europas, in Afrika in großem Stil Produktionskapazitäten für Wasserstoff aufzubauen, sehen Kritiker das Risiko einer neuen Kolonialisierung, bei der die lokale Bevölkerung nicht von den wirtschaftlichen Aktivitäten profitiert, berichtet Philippa Nuttall. Zudem würden Firmen wie Siemens noch nicht investieren, weil vielerorts das politische Risiko groß ist. Zum Artikel
Nature at risk of breakdown if Cop15 pledges not met, world leaders warned – The Guardian
Rund sechs Monate nach dem Biodiversitätsgipfel im kanadischen Montreal, wo Teilnehmende ein neues Naturschutzabkommen beschlossen haben, fordert Partha Dasgupta, dass zügig Maßnahmen umgesetzt werden, um die Ziele zu erreichen. Dasgupta hatte 2021 den weltweit beachteten Bericht zur Ökonomie der Artenvielfalt veröffentlicht. Zum Artikel
Transformation ist weder Trendbegriff noch Selbstzweck – sondern eine Notwendigkeit, um die multiplen Krisen der Gegenwart zu meistern. Jascha Rohr ist Philosoph, Sozialunternehmer und Mitgründer des Instituts für partizipatives Gestalten, das sich mit den Grundlagen für eine zukunftsfähige Zivilisation beschäftigt. Kokreation kann einen Beitrag leisten, eine lebenswerte Zukunft zu schaffen, argumentiert er.
Alle, die derzeit in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Verantwortung übernehmen, Projekte leiten und Dinge voranbringen, wollen und müssen Transformationen begleiten. Sie reden längst nicht mehr über das Ob, sondern über das Wie. Das zeigt: Wir haben realisiert und akzeptiert, dass wir uns ändern müssen. Individuell, in unseren Organisationen, als Gesellschaften und als globale Zivilisation. Wir haben auch längst damit begonnen. Aber nun fragen wir uns: wie geht Transformation eigentlich wirklich? An konkreten Lösungen, technischen und sozialen Innovationen, inhaltlichem Wissen und fachlicher Kompetenz mangelt es nicht. Das Wie stellt uns vor die eigentlichen Herausforderungen. Denn dazu benötigen wir Prozessverständnis, neue Haltungen und Kulturtechniken, die selbst schon Teil der Lösung sein müssen. Die Katze beißt sich in den Schwanz.
Dabei gibt es Transformationsexpert:innen, -begleiter:innen und -designer:innen wie Sand am Meer. Sie verkaufen allen Transformation, die noch nicht genug davon haben. Das Ergebnis: ein neues Teambuilding oder Unternehmensleitbild, neue digitale Tools, ein neues Produkt, ein neues Organigramm. Das ist leider Humbug und hat mit Transformation wenig zu tun. Denn all das ist die Optimierung und der Erhalt des Bestehenden. Ebenso ist es Humbug, Transformation der Transformation wegen zu betreiben. Kein Mensch, der in einem stabilen nachhaltigen Umfeld lebt und arbeitet, braucht Transformation! Transformation hat einen einzigen Zweck: kollabierende Strukturen und toxische Kulturen umzubauen – in nachhaltige Strukturen und lebendige Kulturen. Transformation soll eine Zukunft der Menschheit ermöglichen, sie soll dafür sorgen, dass die planetaren Grenzen eingehalten werden und soziale Ziele der Nachhaltigkeit umgesetzt werden, wie sie die SDG beschreiben. Dazu müssen wir uns mit dem operativen Paradigma unserer Kultur beschäftigen und unsere kulturelle DNA neu codieren. Multiple existentielle Krisen und dysfunktionale Strukturen erzwingen, dass wir uns komplett neu erfinden und die Welt neu gestalten.
Wir befinden uns seit der Industrialisierung, spätestens seit den 1950er Jahren, in einer Zeit der großen Beschleunigung, in der die Weltbevölkerung, unser Wohlstand und unser Ressourcenverbrauch exponentiell gewachsen ist. Das hat uns große Fortschritte beschert und uns gleichzeitig globale, insbesondere ökosystemische und klimatische Probleme beschert, die nun sogar die menschliche Existenz gefährden. Deswegen brauchen wir eine große Transformation, in der wir herausfinden müssen, wie wir dem ökologischen Kollaps des Planeten begegnen, unsere Gesellschaften stabilisieren, den Wohlstand sichern und die Umwelt schützen können. Kurz: wie wir ein gutes Leben für die 10-12 Milliarden Menschen, die bald auf der Erde leben werden, ermöglichen können. Alles, was wir heute tun: jedes Produkt, das wir entwickeln, jedes Gesetz, das wir schreiben, jede Initiative, die wir starten, jedes Projekt, das wir in Angriff nehmen, wird ein Element dieser großen Transformation sein müssen. Und dazu müssen die vielen kleinen Transformationen in den Bereichen, auf die wir Einfluss nehmen können, gelingen. So schaffen wir in unseren Kommunen, Organisationen und Gesellschaften neue Grundlagen für nachhaltige Stabilität.
Kokreation ist Teil dieses zukunftsfähigen Paradigmas – und die Methode, um es zu erreichen. Kokreation ist kein definierter Begriff. Als partizipativen Ansatz und Methodik etablieren wir ihn jedoch zunehmend. Kokreation ist eine Kulturtechnik, die uns in die Lage versetzt:
Die internationalen Klimakonferenzen sind das State-Of-The-Art-Format, wenn es darum geht, globale Probleme zu lösen. Sind sie für die Aufgabe, den Klimawandel zu stoppen, ausreichend und schnell genug? Nein! Sind sie in der Lage, die unterschiedlichen Interessen so zusammenzuführen, dass innovative soziale, ökonomische und ökologische Lösungen entstehen? Dass gemeinsame Strategien, Maßnahmen und eine gemeinsame Handlungsorientierung entstehen, die die unterschiedlichen regionalen Voraussetzungen, die unterschiedliche Privilegierung und die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe befrieden und berücksichtigt? Nein! Kokreation gibt uns die Methoden, Formate und Prozesse, um genau diese Punkte zu adressieren und eine schnellere und strategische internationale Zusammenarbeit zu ermöglichen. Dazu gehört vor allem die Einbindung aller Stakeholder in demokratischen Foren, um widerstreitende Interessen zu einem Kompromiss zu bringen, den alle akzeptieren können.
In Oldenburg hatten wir beispielsweise die Gelegenheit auf Initiative von Fridays for Future, mit allen Fraktionen des Stadtrates, der Verwaltung, Wissenschaft und anderen Akteuren am Thema Klimaschutz zu arbeiten. Die Teilnehmenden hatten sich nicht darauf beschränkt, Empfehlungen auszusprechen, sondern kokreativ einen gemeinsamen Leitantrag mit 103 Einzelbeschlüssen entwickelt und geschrieben. Dieser wurde in den Stadtrat eingebracht und beschlossen. Oldenburg will nun bis 2035 klimaneutral werden. Im neuen Klimaschutzkonzept der Stadt sind 90 Maßnahmen enthalten. Diese Form von Zusammenarbeit ist vielfach auf kleineren Ebenen erprobt, nun gilt es, sie für nationale und internationale Vorhaben auszubauen.
Nehmen wir die nationale Ebene: Was sich beim Gebäudeenergiegesetz gezeigt hat, gilt für viele Gesetzesinitiativen: Eine substanzielle frühzeitige Einbindung aller Stakeholder findet immer noch viel zu selten statt. In einem kokreativen Prozess wären beispielsweise verschiedene Ressorts, Bauwirtschaft und Heizungsbauer, wissenschaftliche Expertinnen und Experten und Mitglieder aus Parteien und NGOs zusammen gekommen, hätten ihre Perspektiven geteilt, voneinander gelernt und innovative Lösungen entwickelt. Damit hätte ein großer Teil des Streits und die damit einhergehenden Verzögerungen vermieden werden können, das Gesetz wäre durch die inhaltliche Zusammenarbeit besser und nicht durch nachträgliche Kompromisse schlechter geworden. Und diejenigen, die die Vorgaben nun erfüllen und das Gesetz in ihrer täglichen Arbeit beachten und umsetzen müssen, hätten sich mit “ihrem” Gesetz identifizieren können.
Konzepte für eine kokreative Arbeit an Gesetzen gibt es mittlerweile. In der Cocreation Foundation führen wir dazu gerade ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt durch. Nur scheuen sich die Ministerien noch diesen Weg einzuschlagen und zu erproben wie man Beteiligte konsequent und kontinuierlich in die Entwicklung von Gesetzen einbindet. In einer Bundeswerkstatt als dritter Kammer könnten beispielsweise in offenen Verfahren innovative soziale und ökologische Ansätze entwickelt und in Gesetzesvorhaben übersetzt werden. Dazu bräuchte es nur den politischen Willen und den Mut auch die eigenen Institutionen und Verfahren zu transformieren.
Kokreation bedeutet zuallererst eine neue Haltung: Wir agieren innerhalb sich ständig verändernder Prozesse mit diversen Stakeholdern, die alle ihre eigenen Perspektiven, Wahrheiten und Kulturen mitbringen. Die eine richtige Lösung gibt es nicht, sondern nur die gemeinsame Vielfalt von Lösungen für das gleiche Ziel. Diese gilt es gemeinsam zu entwickeln, zu entwerfen und im Umsetzungsprozess an unsere Erfahrungen und Ergebnisse anzupassen. Diese Prozesse zu begleiten, bedeutet für Führungskräfte, aus dem Kontroll- und Steuerungsverständnis auszusteigen und in die Arbeit an gemeinsamen, spielerischen und prozessoffenen Entwürfen einzusteigen. Methoden dafür gibt es mittlerweile genug. Aber wir müssen sie auch einsetzen und kulturell verankern. Dafür ist die Transformation unserer Strukturen notwendig.
Jascha Rohr begleitet und berät Verwaltung, Politik, NGOs und Unternehmen dabei, Zukunft zu entwerfen. Momentan u.a. den Deutschen Bundestag bei der Durchführung von Bürgerräten, die Berliner Senatsverwaltung bei Governance- und Digitalisierungsthemen oder Carbon Market Watch in Brüssel bei der Entwicklung neuer Policy Vorschläge für die EU. In seinem neuen Buch “Die große Kokreation” (Murmann Verlag) skizziert Jascha Rohr den Transformationsprozess, den wir individuell, organisatorisch und zivilisatorisch benötigen, um aus den multiplen Krisen das Momentum für mehr Kokreation zu gewinnen.
www.partizipativ-gestalten.de, www.die-grosse-kokreation.net
Als Wael Sawan im Januar 2023 CEO von Shell wurde, hatten Analysten Hoffnungen auf einen beschleunigten grünen Wandel. Der im Libanon geborene Kanadier leitete vor seinem Aufstieg an die Unternehmensspitze die Abteilung für “Integrated Gas and Renewables”. Seine Beförderung zum CEO sei ein “klares Zeichen”, dass Shell seine “vage Strategie für Erneuerbare” überarbeiten wolle, zitiert der Guardian eine Analystin. Doch vergangene Woche warf Sawan das Klimaziel des Öl- und Gasriesen über den Haufen, die Ölförderung bis 2030 um 20 Prozent zu senken. Schon im Frühjahr ließ er den Rotstift kreisen und beendete einige Offshore-Wind-, Wasserstoff- und Biokraftstoff-Projekte. Die Renditeprognosen dieser grünen Projekte überzeugten den Top-Manager nicht.
Eigentlich könnte Wael Sawan sehr zufrieden sein. Der 48-Jährige konnte in seiner kurzen Amtszeit schon zweimal Rekord-Quartalsgewinne vermelden. Doch Sawan ist enttäuscht vom Aktienkurs Shells, der hinter den Kursen der Konkurrenz zurückbleibt. In Zeiten hoher Energiepreise fährt die Öl- und Gasproduktion hohe Gewinne ein, auf die Shell nicht verzichten will. Die Milliarden-Gewinne sollen in Zukunft noch stärker für Aktienrückkäufe genutzt werden, um den Kurs der eigenen Papiere in die Höhe zu treiben.
Sawan sagt, man müsse “rentable Geschäftsmodelle” entwickeln, um die Dekarbonisierung des Energiesystems “wirklich zu beeinflussen”. “Wir werden in die Modelle investieren, die funktionieren – diejenigen mit den höchsten Renditen, die unsere Stärken ausspielen”. Für Shell bedeutet das jedoch: Weiter auf fossile Energien zu setzen. Zwischen 2023 und 2025 will der Öl-Riese 40 Milliarden US-Dollar in die Öl- und Gasproduktion investieren. Die führende Position im LNG-Markt soll verteidigt werden. Dem stehen Investitionen von lediglich zehn bis 15 Milliarden für die “Entwicklung kohlenstoffarmer Energielösungen”, beispielsweise in den Bereichen Wasserstoff und Biokraftstoffe, sowie in Lade-Lösungen für E-Autos und Carbon-Capture-Technologien gegenüber.
Sawans Investitionsstrategie läuft den Forderungen und Beschlüssen zuwider, die etwa auf der COP26 in Glasgow oder von der Internationalen Energieagentur IEA formuliert worden sind: Die 1,5 Grad sind nur zu halten, wenn es keine neuen Investitionen in fossile Infrastruktur gibt.
Shells Kehrtwende in Sachen Klimaziel zeigt einmal mehr: Freiwillig werden die großen Öl- und Gasförderer nicht aus den fossilen Energien aussteigen. Zwar sagt Sultan al Jaber, COP28-Präsident und CEO der Abu Dhabi National Oil Company, ein Absenken der Förderung fossiler Energien sei “unvermeidlich”. Allerdings nennt er keinen Zeitpunkt und spricht häufig nur vom “Ausstieg aus den Emissionen”. Und Shell-Konkurrent BP hatte schon im Februar 2023 seine Emissions-Reduktionsziele aufgeweicht. Der Wettbewerb unter den Öl-Multis, der kurzfristige Blick auf Aktionäre und hohe Gewinne, macht einen phasenweisen Ausstieg aus den Fossilen unwahrscheinlich.
Shell müsse “langfristig Werte für unsere Aktionäre” schaffen, hat Sawan gegenüber der Financial Times gesagt. “Die Antwort kann nicht lauten: ‘Ich werde [in saubere Energieprojekte] investieren und schlechte Renditen erzielen, und das wird mein Gewissen entlasten’. Das ist falsch”.
Ob Sawans Strategie, den Aktienkurz hochzutreiben und weiterhin in fossile Energieträger zu investieren, erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten. Denn der Druck steigt. Im Sommer 2021 entschied ein niederländisches Gericht nach einer Klage, dass Shell seine Emissionen bis 2030 um 45 Prozent im Vergleich zu 2019 senken müsse. Shell ist in Berufung gegangen. Die Klimaziele des Konzerns basieren derzeit noch auf der Emissions-Intensität der erzeugten Energie. Die absoluten Emissionen können also steigen, wenn Shell zwar nachhaltiger produziert, aber mehr Öl und Gas fördert.
Wael Sawan scheint sich von der Klage nicht allzu sehr ablenken zu wollen. Als Absolvent der Harvard Business School sei er “nicht emotional”, was Geschäftsentscheidungen angehe. Er müsse “gutherzig, aber hartgesotten” sein, gibt ihn die Financial Times wieder. Diesen Aussagen ist zu entnehmen, dass Shell erst wirksame Dekarbonisierungs-Schritte einleitet, wenn die fossilen Geschäftsmodelle den Aktienkurs und die Gewinne schmälern sollten.
Sawan hat seine gesamte Karriere bei Shell verbracht. Er ist in Dubai aufgewachsen und hat einen Master-Abschluss in Chemieingenieurwesen. Er ist verheiratet und hat drei Söhne. Nico Beckert