Table.Briefing: ESG

Aktienrente auch nachhaltig? + ESG-Rating: Europa braucht eigenen Ansatz + Transformation setzt Einkäufer unter Druck

  • Aktienrente – mit oder ohne ESG?
  • Europa braucht eigene ESG-Grammatik
  • ESG in Lieferketten erhöht Druck auf Einkäufer
  • Termine
  • Trotz BIP-Wachstum sinkt der Wohlstand in Deutschland
  • GLS-Bank verlässt UN-Klimainitiative
  • EU-Kommission setzt auf Carbon Farming
  • Mehr Biohöfe und Bioflächen in Deutschland 
  • Menschenrechtliche Sorgfaltspflichten: Neues KMU-Praxismodul
  • Ganzheitliche Strategie hilft bei ESG-Umsetzung
  • Europäische Versicherer verbessern ihren ESG-Wert
  • Presseschau
  • Standpunkt: Mit Hilfe von Gas und Öl die Klimakrise lösen
  • Heiko Kolz – Der Coworking-Pionier
  • Dessert: Streit um “Strüßjer”
Liebe Leserin, lieber Leser,

richtig eingesetzt ist Geld ein gewaltiger Hebel für den Aufbau einer zukunftsfähigen Wirtschaft. Das ist die Grundidee von ESG. Aber das ist leichter gesagt als getan. So hat sich Bundesfinanzminister Christian Lindner bislang nicht darauf festgelegt, nach welchen Kriterien die Gelder der geplanten neuen Aktienrente angelegt werden sollen. Dazu hat der Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung einige Ideen. Aber bislang ist er vom Finanzministerium dazu nicht befragt worden, was Beiratsmitglieder ärgert. Am Freitag kommt es nun zum Austausch von Beirat und Lindner. Verena von Ondarza berichtet.

Anleger brauchen für die ESG-konforme Geldanlage genaue Informationen über Unternehmen. Diese liefern im Idealfall Ratingagenturen. Bislang dominieren US-Anbieter das Geschäft. Was in den USA oder Europa als ESG-konforme Geldanlagen bewertet wird, unterscheidet sich allerdings. Von einem “Clash” spricht, Carole Sirou, Direktorin der neuen französischen Ratingagentur Ethifinance, gegenüber Table.Media-Korrespondentin Claire Stam.

Viele ESG-Versprechen von Akteuren der Finanzwelt haben sich in der Vergangenheit als hohl erwiesen. Ein möglicher Kandidat für die nächste Enttäuschung könnte die Net Zero Banking Alliance sein. Angetreten, um den Weg zur Klimaneutralität zu gestalten, investieren viele Mitgliedsbanken weiterhin in großem Ausmaß in fossile Ressourcenprojekte. Jetzt hat sich mit der GLS Bank eine der wichtigsten Nachhaltigkeitsbanken aus der Allianz verabschiedet. Carsten Hübner berichtet.

In einer schwierigen Transformationsphase befinden sich die Einkäufer in Unternehmen angesichts der Flut von neuen Vorschriften für die Lieferketten. Um ihre schwierige Rolle geht es im Interview von Annette Mühlberger mit Yvonne Jamal, Gründerin und Vorstandsvorsitzende des JARO-Instituts für Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Wie viel zu tun ist, zeigt der am Dienstag veröffentlichte Neue Wohlfahrtindex, demnach sinkt der Wohlstand in Deutschland, was sich wohl erst ändern dürfte, wenn es zu echten Fortschritten bei der sozial-ökologischen Transformation kommt.

Zu guter Letzt: Wenn Ihnen der ESG.Table gefällt, leiten Sie uns bitte weiter. Wenn Ihnen diese Mail zugeleitet wurde: Hier können Sie das Briefing kostenlos testen.

Ihr
Caspar Dohmen
Bild von Caspar  Dohmen

Analyse

Aktienrente – mit oder ohne ESG?

Aktienrente ESG
Windanlagenbau von Siemens in Le Havre.

Es geht um zehn Milliarden Euro jedes Jahr, die der Bund künftig in Aktien und andere Wertpapiere anlegen will. 15 Jahre lang soll das Kapital wachsen und dann dabei helfen, Defizite der Rentenkassen auszugleichen. Ein Paradigmenwechsel, der eine Abkehr von der rein umlagefinanzierten Rente einleiten soll und der das Thema Nachhaltigkeit am Finanzmarkt ganz oben auf die Agenda setzen könnte. 

“Wir reden schon so lange darüber, dass wir passende Instrumente schaffen müssen, um mit langfristiger strategischer Perspektive Geld im Interesse künftiger Generationen anzulegen“, sagt Kristina Jeromin. Sie ist im Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung eine der Vorsitzenden für die Arbeitsgruppe Politik und Wirtschaft. Sie bezieht sich auf das im Koalitionsvertrag festgeschriebene Ziel, Deutschland zu einem führenden Sustainable Finance Standort zu machen. Deshalb sei es erstmal eine gute Nachricht, dass für das Generationenkapital Nachhaltigkeitskriterien geben soll. Nur hätte sie von den Plänen lieber aus dem Finanzministerium direkt erfahren und nicht über einen Stream eines Events des Finanzministers in einem Co-Working-Space. Mitte Januar hatte Bundesfinanzminister Christian Lindner dort in einem Social Media Format seine Vorstellungen vom Generationenkapital präsentiert. 

Der Staat soll als Vorbild vorangehen

Schon in der vergangenen Legislaturperiode hatte der Beirat eine klare Forderung in Sachen öffentliche Finanzen formuliert. Der Staat solle als Vorbild vorangehen, wenn es darum geht, Geld nachhaltig anzulegen. Das schreibe auch das Pariser Klimaschutzabkommen vor, hieß es im Abschlussbericht. Das Generationenkapital könnte nun der erste Anwendungsfall werden. Doch bislang wurde der Beirat dazu nicht befragt. Das bestätigen auch andere Mitglieder und betonen, dass es hier nicht um die Eitelkeit Einzelner ginge, aber es stelle sich doch die Frage, warum ein Beratungsgremium mit ausgewiesener Expertise nicht konsultiert werden sollte, das genau für solche Themen geschaffen wurde. 

Ideen, mit welchen nachhaltigen Komponenten das Generationenkapital versehen werden könnte, haben Beiratsmitglieder jede Menge. Kristina Jeromin könnte sich zum Beispiel vorstellen, dass der neue Fonds Unternehmen aktiv bei der Transformation begleiten könnte. “Geld gibt es nicht umsonst”, sagt sie, das heißt, die Investitionen des Staates sollten an Bedingungen geknüpft werden. Sie nennt das eine klar formulierte Erwartungshaltung, die dann auch Planungssicherheit für die Wirtschaftszweige schafft, in die der Staat die Gelder der Aktienrente investieren wolle. Gut gemacht, könne der Staat so die Transformation der Wirtschaft beschleunigen. 

Eindeutige Signale des Bundes an den Kapitalmarkt

Der Staat sollte dabei strategisch vorgehen, sagt Marco Wilkens. Der Wirtschaftswissenschaftler der Universität Augsburg sitzt nicht direkt im Beirat – als offizieller Beobachter versteht er sich eher als Impulsgeber. “Wir müssen unbedingt darüber sprechen, ob mit der Aktienrente auch Wirkungen in der Realwirtschaft angestrebt werden sollen“, sagt er.

Möglich sei dies etwa, wenn der Staat substantielle Anteile an einem Unternehmen erwerben würde. Außerdem könne man zusätzliche Effekte erzielen, indem man transparent macht, warum der Bund in bestimmte Unternehmen investiert und in andere nicht: Wichtig seien starke und eindeutige Signale des Bundes an den Kapitalmarkt. Würden zum Beispiel CO₂-intensive Unternehmen grundsätzlich nicht ausgeschlossen, könnten Anleger dies als Indiz dafür nehmen, dass die Bundesregierung selbst nicht wirklich an die Transformation der Wirtschaft glaube, sagt er: “Das wäre fatal.” 

Lindner: Geplante Stiftung ist frei vom parteipolitischen Einfluss

Damit spricht Wilkens einen Punkt an, der möglicherweise beim Besuch des Finanzministers beim Beirat am Freitag zu Diskussionen führen könnte. Schließlich hatte der Finanzminister bei dem Online-Event im Januar auf die Nachfrage, ob der Fonds bestimmte – klimaschädliche – Investitionen ausschließen wolle, ausweichend reagiert. Stattdessen hatte er betont, die geplante Stiftung sei frei von parteipolitischen Einflüssen und agiere neutral. 

Diese Haltung stößt bei Beiratsmitgliedern auf Unverständnis. Grundsätzlich sei es richtig zu sagen, das Generationenkapital “nicht moralisch” aufladen zu wollen, sagt ein Beiratsmitglied. Aber wo beginnt die Moral? Oder geht es nicht viel mehr darum, internationale Verträge, die Deutschland unterschrieben hat, in eine Anlagestrategie zu übersetzen. “Gewisse Ausschlüsse sollten sich von selbst verstehen – etwa in Hersteller kontroverser Waffen oder wenn Unternehmen Verletzungen im Sinne der Menschenrechts-Konventionen der UNO begehen”, sagt Roland Kölsch, Geschäftsführer des Qualitätssicherungsgesellschaft Nachhaltiger Geldanlagen mbH, die unter anderem das FNG-Siegel vergibt.

Ausfallrisiko für Firmen ohne klimaneutrale Geschäftsmodelle

Eine klare Ausschlussstrategie sei ökonomisch klug und notwendig, sagt Kristina Jeromin. Bestimmte Geschäftsmodelle, die sich nicht transformieren können, müssten schon aus Risikogesichtspunkten zwingend ausgeschlossen werden. Schließlich gehe es bei der Aktienrente um einen Zeithorizont von 15 bis 20 Jahren, in dem der Kapitalstock aufgebaut werde. Dann müssten Deutschland und die EU laut selbst gesteckter Klimaziele schon bei Netto-Null-Emissionen sein. Und das wiederum heißt, dass Investitionen in Unternehmen, die keine Pläne für klimaneutrale Geschäftsmodelle haben, ein hohes Ausfallrisiko haben.

Silke Stremlau, die Vorsitzende des Gesamtbeirates, formuliert es positiver. Sie sagt, die Anlagestragie der Aktienrente müsse über klassische Ausschlusskriterien hinausgehen. Stattdessen sollte man definieren, in welche zukunftsfähigen Branchen investiert werden sollte. Als Beispiele nennt sie erneuerbare Energien, Infrastruktur, zukunftsfähige Mobilität, energetische Gebäudesanierung, ökologische Landwirtschaft, Kreislaufwirtschaft und Tranformationsvorhaben Richtung Klimaneutralität. So würde man bestimmte nicht-nachhaltige Unternehmen ausschließen und gleichzeitig Geld für die sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft bereitstellen. 

Wenn also Christian Lindner am Freitag den Beirat für Nachhaltige Finanzen besucht, gibt es einiges zu besprechen. Ein Sprecher sagte auf Anfrage, das Gremium sei ein wichtiger Berater und Partner. Aber die Anlagerichtlinien würden von den zuständigen Ressorts erlassen. Die Beiratsmitglieder ernüchtert das vorerst nicht. “Als Gremium der Bundesregierung muss man sich wahrscheinlich diese Wahrnehmung immer auch ein bisschen verdienen”, sagt Kristina Jeromin. Verena von Ondarza

  • Ökologische Landwirtschaft

Europa braucht eigene ESG-Grammatik

Europa braucht eigene ESG-Ratingfirmen.
Waldbrände in Kalifornien.

Bewegung in der stillen Welt der grünen Finanzen: Auf eine Phase, in der US-amerikanische Konzerne europäische “Nuggets” des ESG-Ratings aufkauften, reagieren die Europäer mit neuen eigenen Aktivitäten. So wurde im Februar 2022 Ethifinance gegründet, nachdem das französische Unternehmen Qivalio, die spanische Nr. 1 für Kreditratings Axesor Rating, übernommen hatte. Ziel sei es, ein “führender europäischer Akteur in den Bereichen Research, Beratung und integriertes, finanzielles und ESG-orientiertes Rating” zu werden, sagte die Direktorin von Ethifinance, Carole Sirou, in einem Interview mit Table.Media in Paris.

Carole Sirou, die rund dreißig Jahre bei Standard & Poor’s Ratings verbracht hatte, wurde vier Monate nach dem Start von Ethifinance eingestellt. Ihre Aufgabe: Die Entwicklung dieses Akteurs zu beschleunigen, der in der Liga der Großen im Bereich der ESG-Ratings mitspielen will und gleichzeitig unabhängig bleiben soll.

Die Französin bringt große Kenntnisse des amerikanischen Finanz- und ESG-Marktes mit: Sie trat 1990 bei Standard & Poor’s Ratings ein und wurde nacheinander Präsidentin von S&P Frankreich und Leiterin des französischsprachigen Raums in Europa und Afrika (2009-2013). Anschließend leitete sie die sechs europäischen Büros (2013-2014), bevor sie 2014 nach New York versetzt wurde, um die neuen Vorschriften für Ratingagenturen umzusetzen. Zwischen 2016 und 2018 bekleidete sie verschiedene Führungspositionen im Bereich Risiko und Compliance innerhalb der S&P Global Inc.

“Clash” zwischen zwei Modellen

Um bei der Entwicklung globaler ESG-Standards mitreden zu können, brauche man ein starkes Ökosystem in Europa, davon ist Carole Sirou überzeugt. So müssten europäische Investoren und europäische Agenten in die Lage versetzt werden, die von Europäern erstellten Analysen über Unternehmen in Europa lesen zu können, “was heute schwierig ist”. Denn derzeit gebe es auf dem europäischen ESG-Markt “keine gemeinsamen Instrumente, keine gemeinsame Grammatik, die es Europa ermöglichen, sein eigenes Wirtschaftsgefüge zu analysieren, sei es unter finanziellen oder nicht-finanziellen Aspekten”, sagt sie. Um eine gemeinsame Grammatik entwickeln zu können, müsse man zunächst einmal die Konvergenzpunkte finden.

Dies gelte umso mehr, weil es “eine sehr starke Divergenz der Ansichten” zwischen den ESG-Akteuren aus den USA und Europa gebe, insbesondere über “die ökologischen und sozialen Aspekte”. Die Direktorin von Ethifinance spricht sogar von einem “Clash” beider Wirtschaftsräume in diesen Zusammenhang. “Es scheint uns entscheidend und lebenswichtig zu sein, ein bestimmtes Modell, eine bestimmte Art, über Wirtschaft und Finanzen nachzudenken, zu verteidigen”.

In diesem Zusammenhang weist Carole Sirou darauf hin, dass der europäische Markt für ESG-Daten derzeit strukturiert wird, hauptsächlich durch die Arbeiten der EFRAG zu den Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung und die Umsetzung der europäischen Taxonomie. “Der europäische Markt für Analysen verbessert sich ständig und beschleunigt sich stark, da es einen immer größeren Bedarf an Quantität und Qualität gibt, den wir versuchen, bestmöglich zu decken”, betont sie.

Ethifinance plant zunächst, seine Aktivitäten in Südeuropa (Frankreich, Spanien, Portugal) auszubauen. Dann will sich das Unternehmen den skandinavischen Ländern und Deutschland zuwenden, einem Markt, der aufgrund seines wirtschaftlichen Gewichts, seines Potenzials – und seiner Verbindungen zu Frankreich – als “unumgänglich” angesehen wird. Die Gruppe will bis zum Herbst 2.300 Unternehmen abdecken. Sie fokussierte sich vor allem auf KMU mit einer Marktkapitalisierung von 150 Millionen Euro bis zehn Milliarden Euro.

“Doppelte Materialität”, Dekarbonisierung und Biodiversität

Die Expertin für nachhaltige Finanzen sieht in dieser Erweiterung “einen ersten wichtigen Schritt hin zum Aufbau einer europäischen Agentur für doppelte Materialität”, welche in Europa eine führende Rolle spielen könnte. “Um ein Unternehmen unter dem ESG-Blickwinkel zu analysieren, muss man nicht nur die Auswirkungen der Umwelt auf das Unternehmen untersuchen, sondern auch die Auswirkungen des Unternehmens auf seine Umwelt“, sagt Carole Sirou. “Das ist einer der Hauptpunkte, der uns von unseren amerikanischen Konkurrenten unterscheidet”, fügt sie hinzu. Diese Strategie ermögliche es, “eine Verbindung zwischen dem Konzept der Auswirkungen (Impact) und den Zielen der nachhaltigen Entwicklung herzustellen”, erläutert sie. Die Direktorin von Ethifinance verweist auf das Beispiel der Brände in Kalifornien. Ein Großteil davon sei durch die mangelnde Wartung des nationalen Betreibers verursacht worden, der diese Infrastruktur nicht instand hielt.

Die Dekarbonisierung von Unternehmen ist der andere strategische Pfeiler von Ethifinance. Aber auch wenn das Thema Klima “weiterhin im Mittelpunkt steht”, nennt die Direktorin auch die Biodiversität als ein “unumgängliches” Thema, auf das Antworten gefunden werden müssten. “Wir sind davon überzeugt, dass die Finanzbranche bei der Umsetzung des ökologischen und energetischen Wandels eine Rolle spielen muss”, so Carole Sirou weiter. Durch Finanzierungen und Investitionen könne das Finanzwesen “Verhaltensänderungen bewirken”.

  • ESG-Rating
  • Finanzen
  • Investitionen

ESG in Lieferketten erhöht Druck auf Einkäufer

Yvonne Jamal ist Gründerin und Vorstandsvorsitzende des JARO Instituts für Nachhaltigkeit und Digitalisierung - im Interview redet sich über Lieferketten und ESG-Kriterien, die den Druck auf Unternehmen erhöhen.
Yvonne Jamal ist Gründerin und Vorstandsvorsitzende des JARO Instituts für Nachhaltigkeit und Digitalisierung.

Nachhaltigkeitsstrategien werden in CSR-Abteilungen entworfen, in der Lieferkette umsetzen muss sie aber der Einkauf. Wissen Einkaufsverantwortliche genug über ESG?
Hier beobachten wir in der Praxis eine Lücke. Einkaufsabteilungen können sich oft nicht vorstellen, wie ihnen die CSR-Abteilung, die die Nachhaltigkeitsberichte schreibt, konkret helfen kann. Umgekehrt sehen wir, dass CSR-Verantwortliche nicht tief genug in die Herausforderungen der eigenen Lieferketten eintauchen und nicht wissen, wie sie den Einkauf unterstützen können. Um die Zusammenarbeit zu fördern, ist es wichtig, die Bereiche aktiv zu vernetzen. In unseren Projekten tun wir das auch.

Woran mangelt es besonders?
Ganz klar am Knowhow. Das ist auch verständlich, schließlich wurde der Einkauf in der Vergangenheit vor allem auf Einsparungen getrimmt. Nachhaltigkeit stand nicht auf der Agenda, auch nicht in Studium oder Ausbildung der Einkäufer und Einkäuferinnen. Diese Wissenslücke macht vielen Teams und Führungskräften Angst. Verstärkt hat sich dies durch den immensen Druck durch Pandemie, Versorgungsengpässe, Ukrainekrieges und Inflation. Noch nie stand der Einkauf so im Rampenlicht. Viele Mitarbeitende befinden sich im Dauerkrisenmodus. Dazu kommt die oft viel zu dünne Personaldecke.

Wir versuchen deshalb immer zunächst das große Bild aufzuzeigen und zu erklären, warum sich diese Krisen verstärken werden, wenn wir nicht endlich anfangen, einen deutlich strategischeren und nachhaltigen Einkauf zu etablieren. Dazu gehört weitaus mehr, als “nur” Nachhaltigkeitskriterien von Lieferanten abzufragen und sie einen Code of Conduct unterzeichnen zu lassen.

Hat das Wissen in den Unternehmen durch die Anforderungen des LkSG zugenommen?
Viele Firmen haben sich in den vergangenen Monaten erstmals intensiv mit ihren Lieferketten und den darin verborgenen Chancen und Risiken auseinandergesetzt. Nicht wenige haben zum ersten Mal ihre Beschaffungsprozesse sauber definiert und reflektiert, um zu diskutieren, wie Nachhaltigkeit im Arbeitsalltag verankert werden kann. Dadurch haben die Firmen erkannt, welche Vorteile es bringt, wenn sie geeignete Warengruppenstrategien bis zu den Rohstoffen einsetzen. Dieses Verständnis ist dringend notwendig, damit sich etwas ändert.

Bekommt die junge Generation ausreichend ESG-Knowhow vermittelt?
Ich denke mittlerweile ja. Zahlreiche Hochschulen haben Nachhaltigkeit in ihren Studiengängen verankert oder arbeiten zumindest daran. Wir wissen beispielsweise von der Technischen Hochschule Nürnberg, der Hochschule München oder der Hochschule Heilbronn, dass hier Beschaffung und Nachhaltigkeit gemeinsam betrachtet werden. Es gibt FairTrade-Hochschulen oder Universitäten wie die FU Berlin, die den Klimanotstand ausgerufen haben. Vor einiger Zeit gab es ein größeres Projekt namens “HOCH-N: Hochschulen für eine nachhaltige Entwicklung”, dessen Arbeit die Deutschen Gesellschaft für Nachhaltigkeit an Hochschulen als gemeinnütziger Verein weiterführt.

Die Umsetzung des UNESCO-Programms Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) koordiniert in Deutschland das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Wir sind mit der JARO Academy ebenfalls ein BNE-Akteur. Auf internationaler Ebene sind die “Principles for Responsible Management” (PRME), eine Initiative des UN Global Compact, das größte Netzwerk mit dem Ziel ESG in der Führungskräfteausbildung zu implementieren.

Welches Ziel verfolgt Ihr Institut mit dem Lehrgang “Sustainable Procurement Professional”?
Sehr viele Einkaufsverantwortliche sind mit ESG überfordert. Es ist eine Sache, Studien zu lesen und Veranstaltungen zu besuchen, eine andere ist die Umsetzung im eigenen Beschaffungsumfeld. Mit unserem Lehrgang bauen wir die notwendigen Handlungskompetenzen auf. Dazu haben wir ein modulares, rollenbasiertes E-Learning entwickelt. Je nach Lernbedarf, Reifegrad der Organisation und Nachhaltigkeitsfokus lassen sich daraus bis zu 40 Einzelmodule oder ganze Curricula mit unterschiedlichen Schwerpunkten buchen. Auch ihre Lieferanten können Unternehmen damit gezielt auf ESG-Themen trainieren. Eine Zertifizierung ist ebenfalls möglich.

Kommt ESG also aus der Nerd-Ecke heraus und in der Unternehmensbreite an?
Ja, das beobachten wir und dazu haben ganz wesentlich die Diskussionen rund um das LkSG und die kommenden EU-Regelungen beigetragen. Diesen Schwung gilt es jetzt aber durch gute Kommunikation auch zu nutzen! Mit seinem Netzwerk kann der Einkauf tausende Lieferanten erreichen und mit diesen in die Wertschöpfungsketten wirken. Über das eigene Engagement, die damit verbundenen Herausforderungen und über erste Erfolge transparent und authentisch zu berichten, ist ganz wesentlich, um intern und extern weitere Unterstützung zu erhalten.

Gibt es einen Austausch mit NGO?
Den Austausch mit NGO scheuen viele Einkaufsverantwortliche noch, auch aus Angst, öffentlich kritisiert zu werden. Die Praxis zeigt jedoch, dass man viel voneinander lernen kann und einander braucht: Die Teams, die mit unserer Hilfe einen Stakeholderdialog aus dem Einkauf heraus aufgesetzt haben, waren positiv überrascht und haben einen großen Mehrwert daraus gezogen. Umgekehrt war es für die NGOs sehr hilfreich, so tiefe Praxiseinblicke zu den Bemühungen und täglichen Herausforderungen in der Beschaffung zu erhalten und das konstruktiv und pragmatisch zu diskutieren. Allein wird kaum ein Unternehmen den Herausforderungen in Sachen ESG gerecht werden können. Die Zusammenarbeit mit den Akteuren vor Ort ist hierfür extrem wichtig.

Was halten Sie von einer ESG-abhängigen Bezahlung?
Das ist gut, weil es eine größere Verbindlichkeit erzeugt. Allerdings machen solche Ziele im Einkauf nur dann Sinn, wenn sie mit entsprechenden Indikatoren hinterlegt werden, wie das zum Beispiel bei CO₂-Emissionen jetzt möglich wird. In unseren Workshops sehen wir jedoch, wie schwer es für die Unternehmen ist, für die gesamte Breite der Nachhaltigkeit smarte Ziele und messbare Kennzahlen zu definieren, mit denen sie ihren Erfolg konkret messen können. In einer neuen Arbeitsgruppe werden wir uns deshalb mit den nötigen Indikatoren für eine nachhaltige Beschaffung auseinandersetzen. Wer mitmachen will, ist herzlich eingeladen, Mitglied zu werden.

Wie wichtig wären Anreize für Einkäufer, damit sie selbst Missstände melden?
Ich bin mir nicht sicher, ob es sinnvoll ist, im Einkauf Anreize für eine Meldung von Missständen zu schaffen. Die intrinsische Motivation zu fördern, ist aus unserer Sicht zielführender und diese ist oft durchaus vorhanden. Anreize zu schaffen, um sich systematisch mit Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen, zum Beispiel in der Form von Kostenübernahmen und Freistellungen für Veranstaltungen oder Weiterbildungen, ist für die Transformation aus unserer Sicht wirkungsvoller.

Die wichtigen Beschwerdemechanismen an neutrale Stellen existieren aufgrund des LkSG. Genauso wichtig ist es jedoch, dass im Einkauf die gemeldeten Missstände mit den Lieferanten besprochen und abgestellt werden. Nachhaltigkeit und die Prüfung von Missständen muss deshalb als feste Agenda in Lieferantengesprächen und Teammeetings. Und dann kann man über Kennzahlen verfolgen, inwieweit die Probleme tatsächlich auch gelöst worden sind.

  • Handel
  • Lieferketten

Termine

15.2.2023, 18 Uhr, Hildesheim
Präsenz-Workshop Wirtschaftliche Transformation gestalten (Friedrich Ebert Stiftung)
Wie steht um die niedersächsische Wirtschaft und was können Betriebe, Politik und Beschäftigte tun, um die wirtschaftliche Transformation zu gestalten? Das diskutieren Teilnehmende auf dieser Veranstaltung. Info & Anmeldung

17.2.2023, 17 Uhr
Buchvorstellung Brett Scott – Cash, Cards, Crypto: inside the War for our wallets
Brett Scott will be presenting his new book “Cloud Money”: The digitization of money is tightening the link between Big Tech and Big Finance. Our data, especially our payment data, is the gold of the future. Discuss the most important questions with the author Info & Anmeldung

18.-19.2.2023, Berlin
Präsenz-Workshop Können wir die Klimakrise rückgängig machen? (Heinrich Böll Stiftung)
Wie können Lösungen auf den Weg gebracht werden, bei denen die Atmosphären-Sanierung nicht den fossilen Großkonzernen überlassen wird? Dieser Workshop gibt einen Überblick und führt ins Thema ein. Info & Anmeldung

22.2.2023, 14 Uhr
Webinar End Double Standards in Pesticide Trade: Country Examples of Legislative Efforts from Germany, India and Tunisia (u.a. Inkota)
In the case of the European Union (EU), most hazardous agrochemicals are not approved for use because of their negative effects on human health and/or the environment, yet manufacturers in EU countries such as Germany and others are still producing them to sell them abroad. Inputs from Germany, India and Tunisia provide examples on how governments can take legislative efforts. Info & Anmeldung

23.2.2023
Webinar Die Auswirkung der Planetary Health Diet auf die Landwirtschaft (Food Campus Berlin)
Margarethe Scheffler und Kirsten Wiegmann vom Ökoinstitut e.V. haben die Auswirkungen der Planetary Health Diet auf die Landwirtschaft in Deutschland untersucht. Gemeinsam mit Jörg Reuter vom Food Campus Berlin und Katharina Reuter vom Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft erläutern sie die Ergebnisse ihrer Studie. Info & Anmeldung

28.2-2.3.2023, Niamey, Niger und online
Konferenz Ninth session of the Africa Regional Forum on Sustainable Development Info

28.2.2023, 10 Uhr
Webinar Menschenrechtliche Sorgfalt in konfliktbetroffenen und Hochrisikogebieten – Herausforderungen und Lösungsansätze für verantwortungsvolles Wirtschaften (Global Compact)
Teilnehmende des Webinars erfahren, wie die besonderen Anforderungen an die Sorgfaltspflicht in Hochrisikoregionen erfüllt werden können und lernen, welche erfolgreiche Ansätze es bereits gibt. Info & Anmeldung

28.2.2023, 15.30 bis 16 Uhr
Webinar Value Chain Visibility for the EU Supply Chain Act (Everstream)
Teilnehmende erfahren in diesem englischsprachigen Webinar alles, was Sie über das neue EU-Lieferkettengesetz wissen müssen. Anmeldung unter everstream@grayling.com.

01.3.2023, 10 Uhr
Webinar Nachhaltigkeitsbericht – Neue Anforderungen & der Weg zum eigenen Bericht (TÜV SÜD)
Durch die neue EU-Gesetzgebung CSRD wird die Nachhaltigkeitsberichterstattung künftig für deutlich mehr Unternehmen verpflichtend. Über die Anforderungen und den Weg zum eigenen Nachhaltigkeitsbericht informiert der TÜV SÜD. Info & Anmeldung

2.3.2023, Hornbostel/Aller
Konferenz 2. Netzwerktreffen: Gutes gut verpackt. Mission Kreislaufwirtschaft 2.0 (Aller Liebe)
Auf der Konferenz geht es um Mehrweg-Lösungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette, also von der Produktion der Verpackung, über die Abfüller, Hersteller und Vermarkter, über die privaten Haushalte, durch den Leergutautomaten in die Spülstraßen zurück in den Kreislauf. Info & Anmeldung

2.3.2023, 9:30 Uhr
Online-Seminar Forum Umweltrechtsschutz 2023 – Alles beschleunigen? (Ufu)
Ein besonderer Fokus soll in dem Seminar auf die aktuelle umfangreiche Beschleunigungsgesetzgebung sowie auf die Entwicklungen auf völker- und unionsrechtlicher Ebene sowie deren Implikationen für den Umweltrechtsschutz gelegt werden. Info & Anmeldung

2.3.2023, 10 Uhr
Webinar Wie Gebäude einen Beitrag zu den globalen Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (SDGs) leisten (DGNB)
Die Veranstaltung richtet sich an alle am Bau-Beteiligten, aber auch an Marketingverantwortliche, die mehr über die SDG im Gebäudesektor erfahren wollen. Info & Anmeldung

News

Trotz BIP-Wachstum sinkt der Wohlstand in Deutschland

Während das BIP 2021 in Deutschland um 2,6 Prozent stieg, nahm der Wohlstand gemessen am NWI 2021 um 1,8 Indexpunkte auf 94,6 Punkte ab. Dies teilte das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) am Dienstag anlässlich der Veröffentlichung des neuen NWI mit. Ein gegenläufiges Bild zeigt sich auch über die vergangenen 30 Jahre: Während das BIP deutlich wuchs, sank der NWI von 100 Indexpunkten auf einen Wert von 96,4 Punkten. Erstellt haben den aktuellen NWI Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser und Prof. Hand Diefenbacher vom Institut für Interdisziplinäre Forschung (FEST e.V.) in Heidelberg.

Wohlstand in Deutschland: BIP steigt, doch der Wohlstand sinkt.

Der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) wird jährlich im Auftrag des IMK berechnet und soll eine breitere Betrachtung der Wohlfahrtsentwicklung ermöglichen als der übliche Indikator des Bruttoinlandsprodukts, welcher den Wert aller Güter und Dienstleistungen misst, die in einer Volkswirtschaft binnen eines Kalenderjahres hergestellt oder bereitgestellt werden.

Dagegen erfasst der NWI 21 Komponenten, sechs wohlfahrtssteigernde wie Hausarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten und 15 wohlfahrtsmindernde Aktivitäten wie Kriminalität oder Flächenverluste in der Umwelt. Alle Dimensionen werden monetär in Euro bewertet und entweder addiert oder abgezogen, weswegen der NWI keine nicht materiellen Dimensionen von Wohlstand erfasst.

Hauptursache für den Rückgang des NWI 2021 waren die materiellen Schäden der Flutkatastrophen an Ahr und Erft, die mit Schäden von über 30 Milliarden Euro in die Bewertung eingingen. Negativ wirkten zudem die “wieder ansteigenden Emissionen von Treibhausgasen”, ein erhöhter Verbrauch fossiler Energieträger sowie die Tatsache, dass sich eine “leichte Erhöhung der Einkommensungleichheit abzuzeichnen” scheine. cd

  • Deutschland
  • Wirtschaft

GLS-Bank verlässt UN-Klimainitiative

Die in Bochum ansässige GLS-Bank hat die Net-Zero Banking Alliance (NZBA) verlassen. GLS-Sprecherin Nora Schareika begründete den Schritt gegenüber Table.Media damit, dass “zahlreiche Akteure des Bündnisses an der Erschließung neuer fossiler Projekte auf dem afrikanischen Kontinent beteiligt sind.” Namen nannte sie nicht, verwies aber auf eine Studie der NGO Urgewald. Darin werden mehrere US-amerikanische Großbanken genannt, aber auch die Schweizer UBS.

Laut einer Studie der französischen NGO Reclaim Finance hatten 56 große Banken der NZBA zwischen dem Eintritt in die Initiative und August 2022 mindestens 269 Milliarden Dollar in 102 der größten Fossile-Energien-Unternehmen investiert (Table.Media berichtete).

Austritt war abgewogene Entscheidung

Die GLS-Bank gehörte im April 2021 zu den Gründungsmitgliedern der NZBA. Die dort zusammengeschlossenen Banken haben sich verpflichtet, ihr Kredit- und Anlageportfolio bis 2050 klimaneutral auszurichten. Für 2030 sollen Zwischenziele gesetzt werden. Nach dem Rückzug der Nachhaltigkeitsbank GLS sind aus Deutschland die beiden Schwergewichte Commerzbank und Deutsche Bank sowie die ProCredit Holding mit von der Partie. Weltweit hat die NZBA gegenwärtig 125 Mitglieder aus 41 Ländern. Sie repräsentiert nach eigenen Angaben 41 Prozent des weltweiten Bankvermögens.

Andere Nachhaltigkeitsbanken sind weiter dabei, auch solche, mit denen die GLS Bank in der Global Alliance for Banking on Values zusammenarbeitet.

Auch Triodos-Bank überdenkt NZBA-Mitgliedschaft

Dazu zählt die niederländische Triodos-Bank. Auch hier teilt man den Frust über zu lasche Standards innerhalb der NZBA. Es sei “enttäuschend und entmutigend”, dass einige Mitglieder “immer noch die Expansion und Exploration fossiler Brennstoffe finanzieren”, heißt es gegenüber Table.Media. Das widerspreche den eingegangenen Verpflichtungen. Man werde deshalb gemeinsam mit anderen Banken “einen letzten Versuch unternehmen, strengere Richtlinien für NZBA-Mitglieder festzulegen”. Deadline für “eine greifbare Verbesserung” sei die COP28 im November. Dann werde die Triodos-Bank ihre Mitgliedschaft in der NZBA “neu überdenken”. ch

  • Banken
  • Finanzen
  • Sustainable Finance

EU-Kommission setzt auf Carbon Farming

Bis 2050 will die EU klimaneutral werden. Soll heißen: Es dürfen nicht mehr Treibhausgase ausgestoßen als eingespeichert werden. Doch auch über 2050 hinaus wird es Emissionen geben – vor allem in der Landwirtschaft, aber auch in einigen Industriebranchen oder im Verkehr. Ohne die systematische Abscheidung und Speicherung von CO₂ aus der Atmosphäre kann das Ziel also kaum erreicht werden.

Gegenwärtig sind in der EU rund 250 Millionen Tonnen CO₂ gespeichert – hauptsächlich in Wäldern. Die Summe soll gemäß LULUCF-Ziel bis 2030 auf 310 Millionen anwachsen. Die natürliche Speicherfähigkeit der Wälder nimmt allerdings aufgrund von Dürren, Extremwetter, Schädlingen und der wachsenden Nachfrage nach Holz kontinuierlich ab. Und technische Lösungen (Carbon Capture and Storage, CCS) sind viel zu teuer und weit von einer Marktreife und somit von einem flächendeckenden Einsatz entfernt.

Carbon Farming: CO2-Speicherung in Ackerböden.

Die Brüsseler Behörde setzt deshalb auf das Potenzial von Carbon Farming. So soll die CO₂-Speicherfähigkeit der landwirtschaftlichen Böden signifikant erhöht werden, hauptsächlich, indem mehr Humus aufgebaut wird. Beispielsweise durch Zwischenfruchtanbau, aber auch den Einsatz spezieller Maschinen bei der Aussaat, wodurch die Struktur des Bodens erhalten bleibt und die CO₂-Speicherung durch das Wurzelwerk über die Jahre steigt. Positive Nebeneffekte laut Kommission: Stärkung der Biodiversität, der Fruchtbarkeit der Böden sowie des Wasserhaushalts.

Carbon Farming sei ein Schlüssel zur Klimaneutralität bei der Nahrungsmittelproduktion, sagt Joachim Rukwied, Präsident des Deutschen Bauernverbands. “Wir Landwirte sind in hohem Maße bereit, im Sinne des Klimaschutzes, der Bodenfruchtbarkeit und der Anpassung an den Klimawandel zu wirtschaften.”

Kommission mit Vorschlag für Zertifizierungsrahmen

Um die CO₂-Entnahme in der EU quantifizieren und überwachen zu können, hat die Kommission einen Rechtsrahmen für die Zertifizierung auf den Weg gebracht. Norbert Lins (EVP), Vorsitzender des Agrarausschusses im EU-Parlament, begrüßt die Initiative. “Das wird ein guter Anreiz für die Landwirtschaft sein, mehr Kohlenstoffbindung zu erreichen”, sagt der Abgeordnete, der von einem “guten zusätzlichen Geschäftsmodell” spricht.

Dem Kommissionsvorschlag zufolge kommt eine Zertifizierung grundsätzlich dann infrage, wenn vier Qualitätsrichtlinien erfüllt werden:

  • Quantifizierung: Die Maßnahmen zur Erhöhung der CO₂-Speicherung im Boden müssen einen klar messbaren Effekt haben.
  • Additionalität: Die Maßnahmen müssen über die bestehenden Verfahren und Vorgaben hinausgehen und eine zusätzliche Speicherung ermöglichen.
  • Langfristigkeit: Die Zertifikate sind an langfristige Verträge geknüpft, um eine möglichst dauerhafte Speicherung zu gewährleisten.
  • Nachhaltigkeit: Die Maßnahmen müssen Co-Benefits erbringen, etwa für Wasserqualität oder Artenvielfalt.

“Noch stehen wir ganz am Anfang. Es ist noch viel Forschung nötig, um zu verstehen, wie genau die Speicherung in unterschiedlichen Böden in unterschiedlichen Regionen bei verschiedenen Methoden funktioniert”, sagt Christian Holzleiter von der Generaldirektion Klima der EU-Kommission. “Und vor allem brauchen wir Instrumente für das Monitoring.” Der Kommissionsvorschlag sei nur der erste Schritt auf dem Weg zu einem umfassenden Legislativ-Paket zur CO₂-Entnahme.

Weitere Schritte folgen im März mit der Vorstellung der “Green-Claims-Richtlinie” zur Umweltverträglichkeit von Produkten sowie im Sommer mit einem delegierten Rechtsakt, der festlegen soll, nach welchen Kriterien ein Unternehmen in seiner Berichterstattung CO₂-Neutralität beanspruchen kann. til

  • Agrar

Mehr Biohöfe und Bioflächen in Deutschland 

Bei der ökologischen Landwirtschaft, der eine Schlüsselrolle für die Transformation der Landwirtschaft zukommt, sind die Umsätze 2022 um 3,5 Prozent auf 15,3 Milliarden Euro gegenüber dem Vorjahr gesunken, teilte der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) am Dienstag mit. Leicht vorwärts geht es bei dem Ausbau: Die Zahl der Betriebe sei um 3,5 Prozent auf 36.548 Biohöfe gestiegen, womit jeder siebte Hof 2022 ökologisch wirtschaftete. Tina Andres, Vorstandsvorsitzende von BÖLW, forderte mehr Hilfen für die Biobetriebe: “Die Bundesregierung kann und muss jetzt durch Maßnahmen, wie einer Senkung der Mehrwertsteuer auf Biolebensmittel, zu fairen Wettbewerbsbedingungen beitragen”, sagt Andres und fügte hinzu: Unsere Gesellschaft könne sich eine nicht-nachhaltige Produktion mit jährlich 90 Milliarden Euro Kosten für Umweltfolgeschäden nicht mehr leisten. 

Wichtigster Absatzkanal war für Bio der Lebensmitteleinzelhandel, der seine Erlöse um 3,2 Prozent auf 10,2 Milliarden Euro steigerte. Insbesondere die Discounter legten zu, während der Absatz bei den Vollsortimentern weitgehend stabil geblieben sei, heißt es. Die Verbraucher griffen vor allem bei günstigeren Handelsmarken öfter zu. Auf den Naturkostfachhandel mit einem hundertprozentigen Bioangebot entfiel ein Umsatz von 3,83 Milliarden Euro. Ein deutliches Minus von 18 Prozent gab es bei den sonstigen Verkaufsstätten (Hofläden, Online-Handel, Wochenmärkten, Reformhäuser und so weiter) auf 1,97 Milliarden Euro Umsatz. Allerdings war dieser Bereich in den beiden Vorjahren coronabedingt deutlich gewachsen. 

Die Preise für Bioprodukte stiegen deutlich geringer als die für konventionelle Lebensmittel: Für Bio zahlten die Verbraucher laut dem AMI-Verbraucherpreisindex 6,6 Prozent mehr, für konventionelle Lebensmittel waren es 12,1 Prozent. Bei den Produkten gab es den starken Zuwachs bei Bio-Milch und Fleisch-Ersatzprodukten. cd

  • Agrar
  • Biodiversität
  • Klima & Umwelt
  • Landwirtschaft
  • Ökologische Landwirtschaft
  • Transformation

Menschenrechtliche Sorgfaltspflichten: Neues KMU-Praxismodul 

Wie können Unternehmen menschenrechtliche Missstände in den Lieferketten verhindern und beseitigen? Dazu hat Chemiehoch3, die Nachhaltigkeitsinitiative der Chemieindustrie (BVAC, IGBCE, VCI) das dritte von fünf geplanten Modulen zu ihrem Branchenstandard vorgelegt. Es solle Unternehmen Praxishilfen zu Präventions- und Abhilfemaßnahmen bieten, teilte die Initiative vergangene Woche mit. So gibt es unter anderem Vorlagen für einen Musterverhaltenscodex, den Unternehmen mit ihren Lieferanten abschließen können. Unternehmen erfahren zudem genau, was sie machen müssen, um das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz einzuhalten. 

Der Branchenstandard orientiere sich an den “Leitprinzipien Wirtschaft und Menschenrechte” der Vereinten Nationen und dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Demnach sollten Unternehmen die fünf Kernelemente der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht (Verantwortung anerkennen, Risiken ermitteln, Risiken minimieren, informieren und berichten sowie Beschwerden ermöglichen) in ihre Geschäftsprozesse integrieren. Maßgeblich für die Ausarbeitung der Module sind die Erkenntnisse einer Facharbeitsgruppe, an der Vertreter großer Unternehmen, KMU und Betriebsräte teilgenommen haben. Vorgeschaltet waren der Ausarbeitung der Module durch die Stakeholdergruppe Interviews mit rund 200 Unternehmen. Im April sollen das vierte und fünfte Modul fertiggestellt werden. cd

  • Handel
  • Lieferketten
  • Menschenrechte

Ganzheitliche Strategie hilft bei ESG-Umsetzung

Eine am Dienstag veröffentlichte Studie von PWC zeigt, dass Unternehmen erfolgreicher bei der Umsetzung von ESG-Maßnahmen sind, wenn sie in allen Geschäftsbereichen eine übergreifende Strategie verfolgen und bei der Digitalisierung weit sind. Über die Hälfte der Unternehmen befände sich aber noch am Anfang der Transformation, heißt es.

Die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsfirma hat für die Studie “ESG Empowered Value Chains 2025” rund 900 Führungskräfte weltweit zur Transformation in ihren Unternehmen befragt. Nur sechs Prozent der Firmen verfolgten demnach für die Transformation notwendige Maßnahmen “in voller Konsequenz”. 53 Prozent befänden sich noch am Anfang und setzten bisher nur auf Maßnahmen wie Emissionsausgleich durch CO2-Zertifikate.

Grad der Digitalisierung wesentlich

Die ESG-Vorreiter seien erfolgreich, weil ihre Maßnahmen die gesamte Wertschöpfungskette abdeckten. 81 Prozent davon würden demnach ihre Geschäftsmodelle “in erheblichem Maße” neu ausrichten, indem sie etwa den Kreislaufgedanken zum Zentrum ihrer Tätigkeit machten oder ihre Produkte ESG-Zielen entsprechend entwickelten.

Auch der Grad der Digitalisierung spiele eine große Rolle für die Umsetzung von ESG-Maßnahmen. Daten müssten zuverlässig und über Abteilungen hinweg zugänglich sein, um Ziele in Echtzeit überwachen zu können. Laut PWC nutzten Vorreiter dafür moderne IoT-Lösungen. Ein Vergleich zeigt: Bei 81 Prozent der Vorreiter seien notwendige Daten vollständig verfügbar und nutzbar – bei den Nachzüglern nur 13 Prozent.

Gleichzeitig sei die größte Sorge der Vorreiter, dass sie unzureichend Zugang zu wichtigen Daten haben. Die Nachzügler hingegen machten sich eher Sorgen über hohe Kosten, unklare Auswirkungen von Maßnahmen sowie das Fehlen einer übergreifenden Strategie.

Die Studie zeigt allerdings auch, dass es insbesondere große Unternehmen sind, die bei der Umsetzung von ESG-Maßnahmen Vorreiter sind – solche mit einem Umsatz von über 3 Milliarden Euro. nh

  • Digitalisierung
  • Technologie

Europäische Versicherer verbessern ihren ESG-Wert

Gemessen an den Angaben aus ihren Nachhaltigkeitsberichten schneiden 20 europäische Versicherer aus neun Ländern mit Blick auf ESG-Kriterien besser ab als bisher. Die Zielke Research Consult GmbH bewertet die Versicherer mit einem eigenen methodischen Ansatz seit 2018 jedes Jahr aufs Neue: Zuletzt verbesserten sich die Versicherer demnach in allen drei ESG-Dimensionen; insgesamt sei der Wert von 1,74 auf 2,93 gestiegen, heißt es in dem jüngst veröffentlichten CSR-Spotlight der Unternehmensberatung. Die Spannbreite der Punkte reicht von minus 4,67 bis plus 5,25 Prozent. 

Große Unterschiede gibt es auch bei den veröffentlichten Angaben über CO₂-Emissionen. Einige hätten bereits Schritte zur Überwachung ihrer Scope-3-Emissionen (Wasser- und Papierverbrauch, Müll, Emissionen von Mitarbeitern auf Reisen etc.) eingeleitet. Dazu zählten AXA, KBC, Belfius, Swiss Life Gruppe, Talanx Gruppe, Munich Re und CNP Assurance. Andere Versicherer machten dagegen in ihren Nachhaltigkeitsberichten keine Angaben zu ihren Emissionen in den Scope-Bereichen 1, 2 und 3, und zwar Crelan, Ethias und BNP Paribas. 

Die untersuchten Unternehmen setzen auch auf unterschiedliche ESG-Strategien. Sieben der 20 Versicherer würden eine Best-in-Class-Anlagestrategie anwenden: AXA, Belfius, BNP Paribas, CNP Assurance, KBC, Prisma Life und Talanx Gruppe. Alle 20 Versicherer nutzten die Ansätze einer ESG-Integration und eines ESG-Ausschlusses, heißt es. Einzig Argenta habe im Jahr 2021 keine nachhaltigen oder thematischen Investitionen durchgeführt. Der Versicherer habe zudem ebenso wie fünf andere (CNP Assurance, Crelan, Generali Group, Swiss Life Gruppe und Helvetia) keine Informationen über Impact-Investment-Strategien offengelegt, heißt es. cd 

  • Emissionen
  • ESG-Kriterien
  • Klima & Umwelt
  • Unternehmen
  • Wirtschaft

Presseschau

Wer kontrolliert die Energiequelle der Zukunft? – SZ
Florian Müller beschreibt das Wettrennen um die Solarindustrie zwischen China und dem Westen. In der für die Transformation mitentscheidenden Industrie gibt es eine riesige Abhängigkeit von China: Laut der Lieferkettenexpertin Wan-Hsin Liu vom Kieler Institut für Weltwirtschaft stammten alle zehn führenden Maschinenbauer in der Solarindustrie aus China. Zum Artikel

Green subsidies: What about the global south? – Social Europe
Rachel Thrasher geht der Frage nach, welche Folgen das neue grüne Wettrennen der USA und Europa für die Entwicklungsländer haben könnte. Mit ihren Hilfsprojekten könnten sie die notwendigen technologischen und finanziellen Hilfen für den globalen Süden schwächen. Zum Artikel

Der Kampf um das Herz des Elektroautos – Der Spiegel
Die europäische Batterieindustrie drängt auf mehr Unterstützung durch die Politik. Zuletzt habe der Kontinent laut Europäischer Batterieallianz die geringste Wachstumsrate bei E-Autos verzeichnet, der auch BMW, VW, Bosch, BASF und Siemens angehören. Das liege an der Knappheit bei Halbleitern und Batterien sowie dem US-Hilfspaket für die Wirtschaft, dem Inflation Reduction Act. Zum Artikel

Joe Biden is not quitting fossil fuels – The Economist
Innerhalb der Hälfte der Amtszeit von Joe Biden haben die für das öffentliche Land zuständigen Stellen rund 6.500 Erlaubnisse zum Bohren nach Öl oder Gas erteilt. Unter Trump waren es im gleichen Zeitraum 6.300. Aber die aktuelle Erlaubnis-Bonanza sei mehr in Überhang aus der Trump-Zeit als ein beabsichtigter Politikwechsel, schreibt der Economist. Zum Artikel

Wissenschaftlerin über Geoengineering: “Wir geben der Natur Rückenwind” – Taz
Susanne Schwarz hat für die Taz die Geologin Maria-Elena Vorrath interviewt. Diese entwickelt Techniken, mit denen CO₂ aus der Atmosphäre geholt werden kann. Sie sagt: Ohne Geoengineering geht es nicht. Sie sagt aber auch: “Wir können CO₂-Entnahme nur für die Emissionen einsetzen, die sich wirklich nicht vermeiden lassen.” Zum Artikel

Wir wollen leben, nicht überleben – SZ
Ein Autorenteam beobachtet für die Süddeutsche Zeitung die Streiks in Europa und fragt sich, ob gerade eine neue Arbeiterbewegung entsteht. Sie schauen nach Deutschland, Frankreich und Großbritannien, wo sich die Situation allerdings unterscheidet. Erfolgreiche Gewerkschaften ziehen dabei neue Mitglieder an. So habe die IG Metall im vergangenen Jahr 117.000 neue Mitglieder gewonnen, so viele wie seit vier Jahren nicht mehr. Zum Artikel

Why Adani Group’s troubles will reverberate across India – The Economist
Mit der Adani Group ist ein großer Konzern Indiens in die Krise geraten, weil die Investmentfirma Hindenburg ihm vorwirft, die Aktienkurse von Tochterfirmen manipuliert zu haben. Das indische Unternehmen spielt eine wichtige Rolle beim Umbau der Wirtschaft des Subkontinents. Die Gruppe habe angekündigt, bis 2030 70 Milliarden Dollar in den grünen Umbau der Wirtschaft zu investieren. Zum Artikel

Können Aktionäre Klimaschutz einklagen? – SZ
Unternehmen werden immer stärker verpflichtet, ihre Strategien auf Nachhaltigkeit ausrichten, womit die Chancen aktivistischer Kläger steigen. Wolfgang Janisch geht in der Süddeutschen Zeitung der Frage nach, wie erfolgreich solche Klagen bisher waren und was noch zu erwarten ist. Zum Artikel

Der Kredit der Weltordnung OXI
Stephan Kaufmann hat sich im linken Wirtschaftsmagazin OXI mit dem Internationalen Währungsfonds befasst. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass der IWF ein globales Wirtschafts- und Handelssystem stabilisiert, “das permanent Verlierer produziert”. Zum Artikel

Standpunkt

Mit Hilfe von Gas und Öl die Klimakrise lösen

Von Kai A. Konrad
Kai A. Konrad

Mit der richtigen Weichenstellung könnte die Welt Gas und Öl im Kampf gegen den Klimawandel nutzen. Was paradox klingt, macht Sinn, wenn man sich das gegenwärtige Dilemma in der Klimabemühungen bei dem Umgang mit den fossilen Brennstoffen vor Augen führt. Während Politiker versuchen, aus der Nutzung fossiler Brennstoffe auszusteigen, fürchten Ölstaaten in Zukunft auf ihren bislang wertvollen Ressourcen sitzen zu bleiben. Denn nähme die Nachfrage nach Öl und Gas in den kommenden Jahrzehnten tatsächlich drastisch ab oder wird sogar ein kompletter Ausstieg aus der Nutzung beschlossen, wären die Energieträger weitgehend wertlos. 

Ein “rush to burn” hätte fatale Folgen

Diese Perspektive liefert den Besitzern großer Öl- und Gasvorkommen einen Anreiz, so schnell wie möglich zu fördern und zu verkaufen, um nicht auf den “stranded assets” sitzenzubleiben, also auf Vermögenswerten, die dauerhaft von Wertverlusten bis hin zum Totalverlust gekennzeichnet sind. Der Marktwert und damit die Preise sinken drastisch. Öl und Gas zu verbrennen, wird deutlich billiger und wieder attraktiver, was den Ausstoß schädlicher CO₂-Emissionen beschleunigt. Ein sogenannter “rush to burn” hätte fatale Folgen und würde die Bemühungen der Weltgemeinschaft im Kampf gegen den Klimawandel konterkarieren. 

Deutlich wird dies anhand eines formalen Gleichgewichtsmodells: Je höher der künftig zu erwartende Rohstoffpreis ist, umso eher wird die Nutzung fossiler Energieträger für die CO₂-intensive Verbrennung gestoppt. Doch wie lässt sich die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen aufrechterhalten, ohne weiter große Mengen an CO₂ freizusetzen? Ein Ausweg aus dem Dilemma könnte darin bestehen, erfinderischer bei der Verarbeitung von Erdöl und Erdgas zu werden und neue Produkte zu entwickeln, die einen geringen oder sogar negativen Beitrag zur CO₂-Bilanz liefern. 

Weltweit höhere Preise würde die Energiewende beflügeln

Das würde den Markt radikal verändern. Öl und Gas wären als Rohstoffe für zukünftige Produkte wertvoller, als sie es derzeit sind. Länder mit großen fossilen Ressourcen könnten sich mit der Förderung und dem Verkauf in Bezug auf ihre ökonomischen Vorteile Jahrzehnte Zeit lassen. Weltweit höhere Preise würden die Energiewende beflügeln, denn alternative klimafreundliche Energiekonzepte wären am Markt konkurrenzfähiger und ihre Innovation wirtschaftlich interessanter. 

Selbst wenn manche der wirtschaftlich interessanten klimaneutralen Produkte aus Öl und Gas erst in Jahren oder Jahrzehnten marktreif sein sollten, zeigen gleichgewichtstheoretische Überlegungen, dass die Wirkung auf dem Markt unmittelbar einsetzt. Das hat mit einer Besonderheit von Rohstoffmärkten zu tun. Der Ressourcenvorrat an Öl und Gas ist gegeben und endlich. Wer seinen Vorrat heute verschleudert, hat morgen nichts mehr zu verkaufen. Je lukrativer die künftigen Möglichkeiten sind, desto mehr werden sich die erdölproduzierenden Länder heute bei der Förderung zurückhalten.

“Türkiser” Wasserstoff aus Methan

Ohne klare klimafreundliche Nutzungsalternativen wären diese Überlegungen nur Glasperlenspiele. Was aber könnten klimaneutrale Verwendungen für Öl und Gas sein? Eine der vielleicht interessantesten Ideen besteht in der Erzeugung von “türkisem” Wasserstoff aus Methan. Daran wird auch bei der Max-Planck-Gesellschaft geforscht.

Mit dem Verfahren der katalytischen Pyrolyse wird Erdgas weitgehend ohne Ausstoß von CO₂ in zwei nützliche Stoffe zerlegt: in Wasserstoff, für den es in einer künftigen Wasserstoffwirtschaft eine große Nachfrage geben könnte, und in festen Kohlenstoff. Dieser wiederum kann in Form von Graphit oder von Kohlenstoffnanoröhrchen (CNTs) erzeugt werden und traditionelle Baustoffe wie Aluminium, Stahl oder Beton ersetzen oder bei der Fertigung von Lithium-Ionen-Batterien genutzt werden.

Die Nutzungszyklen von Plastik sind nicht naturgegeben

Die Perspektiven für alternative Nutzungskonzepte für Erdöl sind weniger offensichtlich. Langlebige Kunststoffe wie Kunstfasern, Baudämmstoffe oder andere Plastikprodukte sind solche alternativen Nutzungen fossiler Energieträger – besonders, wenn es gelingt, diesen Produkten eine lange Lebensdauer zu geben. Die Nutzungszyklen von Plastik sind nicht naturgegeben. Würden etwa Kunststoffprodukte aus Öl am Ende einer langen und hochwertigen Nutzung tief in die Erde verbracht, letztendlich also dorthin zurück, von wo man das Rohöl zu ihrer Produktion einst entnommen hat, würde der Kohlenstoff dauerhaft gebunden, ohne negativen Folgen für das Klima oder für die Gesundheit von Tier und Mensch. 

Was klimaneutralen Verwendungen von Öl und Gas angeht, sind Fantasie und Innovationswillen keine Grenzen gesetzt. Im derzeitigen gesellschaftlichen und politischen Klima würden sich die Anreize aber eher auf die Suche nach Stoffen richten, die Plastik ersetzen können und nicht aus Erdöl hergestellt werden. Substitute verdrängen oder verringern aber die künftige Nachfrage nach fossilem Öl und Gas.

Klimaneutrale oder klimafreundliche Alternativen für die Nutzung von Erdöl und Gas sind eine Lösung des “rush to burn”, die viele Vorteile bringt: Man muss nicht auf kollektive Vereinbarungen warten, die Lösung ist kostengünstig und sie nutzt statt hoher Subventionen und staatlicher Verbote die Kräfte des Marktes für eine erfolgreiche Klimawende. 

Prof. Dr. Kai A. Konrad ist Direktor am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen sowie Wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft. Er ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften – Leopoldina und vier weiterer wissenschaftlicher Akademien. Von 2007 bis 2018 war er Co-Editor des »Journal of Public Economics«. Seit 1999 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen und war dessen Vorsitzender von 2011 bis 2014. (Der Text ist eine leichte Modifizierung eines Textes, der beim Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen erschienen ist). 

  • Energie
  • Erdgas
  • Klima & Umwelt
  • Klimapolitik
  • Klimaschutz

Heads

Heiko Kolz – Der Coworking-Pionier

Heiko Kolz Coworking
Heiko Kolz ist Wirtschaftsberater für neue Arbeitsformen.

Für eine erfolgreiche Transformation der Wirtschaft spielt für Heiko Kolz der Austausch von Arbeitenden mit unterschiedlichen Erfahrungen eine zentrale Rolle. Er inspiriere die Beteiligten, Ideen würden geboren und Energie freigesetzt, sagt der 38-Jährige. Und hier könnten richtig konzipierte Coworking-Spaces eine wichtige Rolle spielen, wenn etwa eine Schneiderin, ein Physiker, ein Gewässerbiologe und ein Verkäufer von Robotik-Armprothesen beim Mittagessen ins Gespräch kommen über Digitalisierung. Wie er es auf dem Alsenhof erlebte, einem Coworking-Space, den er mit drei Mitstreitern in Schleswig-Holstein gegründet hat und als Geschäftsführer führt, so wie auch den Coworking-Space auf dem Anscharcampus, in einem ehemaligen Militärlazarett in Kiel. 

Menschen mit unterschiedlichen Berufen arbeiten unter einem Dach

Die Idee von Büros, in denen Menschen je nach Bedarf stunden-, tagesweise oder auch länger einen Schreibtisch mieten können, stammt aus Kaliforniern und fand zunächst Nachahmer in Metropolen. Heiko Kolz gehört zu den Pionieren, die die Idee auf dem Land umsetzten. Auf dem Alsenhof in Lägerdorf bei Itzehoe, wo früher Rinder gezüchtet wurden, arbeiten heute Menschen mit den unterschiedlichen Berufen unter einem Dach. Die Bandbreite an Tätigkeiten gehe von Immobilien- und Projektentwicklung bis zum Aufbau von Communitys und neuer Systeme, sagt Kolz. Menschen können hier auch wohnen oder handwerklich arbeiten. Das ist Kolz, einem gelernten Dachdecker, besonders wichtig. 

Volkswirtschaftsstudium in Kiel

Fünf Jahre hat er in dem Beruf gearbeitet und sich gefragt, warum Handwerker eigentlich den ganzen Tag hart arbeiten, Werte und Produkte schaffen und dann mit zwölf Euro nach Hause gehen? Und warum verdienten Manager dagegen das Vielfache? Was ist das für ein Wirtschaftssystem, in dem das möglich ist, fragte sich Kolz und suchte Antworten in einem Volkswirtschaftsstudium in Kiel.

Aber er war unzufrieden mit den Antworten im herkömmlichen Lehrangebot, wollte grundlegender in die Materie eintauchen. Wieder stellte er sich Fragen: Warum lesen beispielsweise angehende Ökonomen im Bachelor-Studium nicht selbst die Werke von Adam Smith, dem Begründer der Nationalökonomie? Wäre das nicht notwendig, um selbst richtige Schlüsse für sich ziehen zu können? Kolz gründete eine Hochschulgruppe der pluralen Ökonomie, schloss sich also dem Netzwerk an, das von Studierenden nach der Finanzkrise gegründet worden war, die genauso auf der Suche waren wie er selbst. 

Menschen am Rand der Überforderung

Lebhaft erzählt er Ende Januar in einem Berliner Café von den großen Krisen unserer Tage: Krieg, Klimawandel, Digitalisierung und Automatisierung. All dies bringe viele Menschen an den Rand der Überforderung oder zur Sinnfrage. Er erzählt von einem IT-Experten, der Pflegeroboter programmieren sollte, aber zu dessen Menschenbild die Pflege von alten Menschen durch Roboter nicht passt. Menschen wie er kämen regelmäßig in die Coworking-Spaces.  

Aber Kolz redet auch offen darüber, dass viele solcher Coworking-Spaces eher eine Fortsetzung des bisherigen Systems mit einer Profitmaximierung seien als ein Keim für Neues. Die Erfahrung hat er gerade selbst in Berlin gemacht. Zwei Anbieter hätten für drei Stunden mehr als 30 Euro verlangt, sagt er. Als er in seinem sozialen Netzwerk nach Alternativen fragte, schrieb einer, in Berlin gebe es über 80 öffentliche Bibliotheken, wo jeder ganz umsonst in Ruhe arbeiten könne. “Guter Punkt”, antwortete Kolz, der selbst mittlerweile den Begriff Coworking-Spaces vermeidet und lieber von Kreativzentren spricht. Für ihn sind es Orte, an denen Ökonomie, Soziales und Ökologie zusammenfinden. Einige solcher Orte, wo dies gelingt, will er demnächst besuchen. Dafür baut er mit Gleichgesinnten einen Reisebus zu einem Bürobus um, um dann von Kiel bis in die Schweiz zu fahren und auf der Strecke einige solcher Kreativzentren zu besuchen.

Erste Auszeit seit 20 Jahren

Kolz kann andere begeistern und investiert auch eine Menge Zeit, um seine Ideen und Überzeugungen in den sozialen Medien zu verbreiten. Aber eines habe er über all sein Tun vernachlässigt, sagt er, das Leben. Nachdenklich erzählt er bei einem Stück Torte, er habe nie ein richtiges Privatleben gehabt, ob als Soldat, Dachdecker, Student oder Unternehmer. “Ich habe mich immer voll in die Aufgaben gestürzt, ohne den Sinn für eine Auszeit.

Klar geworden sei ihm dies durch seine neue Lebensgefährtin, die er kennenlernte, als sie selbst kürzertreten wollte und nicht glauben konnte, wie viel er arbeitete. Er hat die Reißleine gezogen. Gemeinsam haben sie im Winter vier Wochen Urlaub auf Madeira gemacht und sind gewandert. Für ihn war es die erste Auszeit von der Arbeit seit 20 Jahren. Und er hat festgestellt, in den Kreativzentren kamen die Menschen in dieser Zeit auch ganz gut ohne ihn klar. Caspar Dohmen 

  • Arbeit
  • Klima & Umwelt

Dessert

Die Roten Funken beim Kölner Rosenmontagsumzug im Jahr 2020.

Nur wenige Tage vor dem Rosenmontag ist in Köln ein “Strüßjer”-Streit entbrannt. Doch was sind eigentlich Strüßjer? Eine kurze Recherche zeigt: Ein kleiner Strauß, bestehend aus einer Blume mit etwas Grünzeug. Sie gehören zum rheinischen Karneval wie die legendäre Kamelle. Allein in Köln werfen die Karnevalisten rund 300.000 dieser Strüßjer beim Rosenmontagszug, dem “Zoch”, in die Menge.

Dort werden sie idealerweise noch in der Luft aufgefangen und eilends in mitgebrachte Beutel gestopft. Und genau da liegt der Kern des Problems. Um zu verhindern, dass im Getümmel die Blüte abknickt oder das ganze Strüßjer auseinanderfällt, wird es in Plastik gehüllt. Ein Umstand, der aus Sicht des Festkomitees Kölner Karneval nicht mehr zeitgemäß ist. Also rief es seine Gesellschaften dazu auf, künftig auf die Kunststoffverpackungen zu verzichten.

Wie zu erwarten, kam prompt Widerspruch von der Basis, vorneweg die Roten Funken. Die sind nicht irgendjemand. In diesem Jahr feiern sie ihr 200-jähriges Jubiläum und stellen auch noch das Dreigestirn, die offiziellen Regenten über das närrische Volk während der fünften Jahreszeit. Ihr Wort hat Gewicht – und es lautete nein. Aus Gründe des Strüßjer-Schutzes. Außerdem sei es viel entscheidender, bei den 300 Tonnen Kamelle auf Müllvermeidung zu achten, was man selbst bereits tue.

Weder das Festkomitee noch die Roten Funken stehen mit ihrem Bemühen alleine da. Köln ist schließlich eine Fair-Trade-Stadt. Und so berichtet Olivér Szabó von den Grünen Rheinfunken über positive Erfahrungen, die sein 2020 gegründeter erster ökologischer und sozialer Karnevalsverein Kölns gemacht hat. Aus seiner Sicht ist vor allem die schiere Menge des Wurfmaterials das Problem. Vieles werde zertrampelt oder lande im Müll. Vor allem in dieser Hinsicht müsste ein Umdenken stattfinden, vielleicht auch reguliert werden.

Strüßjer und Kamelle aus fairer Produktion zu bekommen, ist in Köln jedenfalls kein Problem. Dafür sorgen Initiativen wie die “Jecke Fairsuchung”. Aber viele Karnevalsgruppen kaufen weiterhin überwiegend nicht als fair ausgewiesenes Wurfmaterial. Christoph Alessio, Leiter der Initiative, räumt bedauernd ein, dass es daher bis heute noch nicht gelungen sei, den angestrebten Anteil von 10 Prozent zu erreichen. Doch wie lautet § 5 des Kölner Grundgesetzes: Nix bliev wie et wor. Kölle Alaaf. Carsten Hübner

ESG.Table Redaktion

Licenses:
    • Aktienrente – mit oder ohne ESG?
    • Europa braucht eigene ESG-Grammatik
    • ESG in Lieferketten erhöht Druck auf Einkäufer
    • Termine
    • Trotz BIP-Wachstum sinkt der Wohlstand in Deutschland
    • GLS-Bank verlässt UN-Klimainitiative
    • EU-Kommission setzt auf Carbon Farming
    • Mehr Biohöfe und Bioflächen in Deutschland 
    • Menschenrechtliche Sorgfaltspflichten: Neues KMU-Praxismodul
    • Ganzheitliche Strategie hilft bei ESG-Umsetzung
    • Europäische Versicherer verbessern ihren ESG-Wert
    • Presseschau
    • Standpunkt: Mit Hilfe von Gas und Öl die Klimakrise lösen
    • Heiko Kolz – Der Coworking-Pionier
    • Dessert: Streit um “Strüßjer”
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    richtig eingesetzt ist Geld ein gewaltiger Hebel für den Aufbau einer zukunftsfähigen Wirtschaft. Das ist die Grundidee von ESG. Aber das ist leichter gesagt als getan. So hat sich Bundesfinanzminister Christian Lindner bislang nicht darauf festgelegt, nach welchen Kriterien die Gelder der geplanten neuen Aktienrente angelegt werden sollen. Dazu hat der Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung einige Ideen. Aber bislang ist er vom Finanzministerium dazu nicht befragt worden, was Beiratsmitglieder ärgert. Am Freitag kommt es nun zum Austausch von Beirat und Lindner. Verena von Ondarza berichtet.

    Anleger brauchen für die ESG-konforme Geldanlage genaue Informationen über Unternehmen. Diese liefern im Idealfall Ratingagenturen. Bislang dominieren US-Anbieter das Geschäft. Was in den USA oder Europa als ESG-konforme Geldanlagen bewertet wird, unterscheidet sich allerdings. Von einem “Clash” spricht, Carole Sirou, Direktorin der neuen französischen Ratingagentur Ethifinance, gegenüber Table.Media-Korrespondentin Claire Stam.

    Viele ESG-Versprechen von Akteuren der Finanzwelt haben sich in der Vergangenheit als hohl erwiesen. Ein möglicher Kandidat für die nächste Enttäuschung könnte die Net Zero Banking Alliance sein. Angetreten, um den Weg zur Klimaneutralität zu gestalten, investieren viele Mitgliedsbanken weiterhin in großem Ausmaß in fossile Ressourcenprojekte. Jetzt hat sich mit der GLS Bank eine der wichtigsten Nachhaltigkeitsbanken aus der Allianz verabschiedet. Carsten Hübner berichtet.

    In einer schwierigen Transformationsphase befinden sich die Einkäufer in Unternehmen angesichts der Flut von neuen Vorschriften für die Lieferketten. Um ihre schwierige Rolle geht es im Interview von Annette Mühlberger mit Yvonne Jamal, Gründerin und Vorstandsvorsitzende des JARO-Instituts für Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Wie viel zu tun ist, zeigt der am Dienstag veröffentlichte Neue Wohlfahrtindex, demnach sinkt der Wohlstand in Deutschland, was sich wohl erst ändern dürfte, wenn es zu echten Fortschritten bei der sozial-ökologischen Transformation kommt.

    Zu guter Letzt: Wenn Ihnen der ESG.Table gefällt, leiten Sie uns bitte weiter. Wenn Ihnen diese Mail zugeleitet wurde: Hier können Sie das Briefing kostenlos testen.

    Ihr
    Caspar Dohmen
    Bild von Caspar  Dohmen

    Analyse

    Aktienrente – mit oder ohne ESG?

    Aktienrente ESG
    Windanlagenbau von Siemens in Le Havre.

    Es geht um zehn Milliarden Euro jedes Jahr, die der Bund künftig in Aktien und andere Wertpapiere anlegen will. 15 Jahre lang soll das Kapital wachsen und dann dabei helfen, Defizite der Rentenkassen auszugleichen. Ein Paradigmenwechsel, der eine Abkehr von der rein umlagefinanzierten Rente einleiten soll und der das Thema Nachhaltigkeit am Finanzmarkt ganz oben auf die Agenda setzen könnte. 

    “Wir reden schon so lange darüber, dass wir passende Instrumente schaffen müssen, um mit langfristiger strategischer Perspektive Geld im Interesse künftiger Generationen anzulegen“, sagt Kristina Jeromin. Sie ist im Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung eine der Vorsitzenden für die Arbeitsgruppe Politik und Wirtschaft. Sie bezieht sich auf das im Koalitionsvertrag festgeschriebene Ziel, Deutschland zu einem führenden Sustainable Finance Standort zu machen. Deshalb sei es erstmal eine gute Nachricht, dass für das Generationenkapital Nachhaltigkeitskriterien geben soll. Nur hätte sie von den Plänen lieber aus dem Finanzministerium direkt erfahren und nicht über einen Stream eines Events des Finanzministers in einem Co-Working-Space. Mitte Januar hatte Bundesfinanzminister Christian Lindner dort in einem Social Media Format seine Vorstellungen vom Generationenkapital präsentiert. 

    Der Staat soll als Vorbild vorangehen

    Schon in der vergangenen Legislaturperiode hatte der Beirat eine klare Forderung in Sachen öffentliche Finanzen formuliert. Der Staat solle als Vorbild vorangehen, wenn es darum geht, Geld nachhaltig anzulegen. Das schreibe auch das Pariser Klimaschutzabkommen vor, hieß es im Abschlussbericht. Das Generationenkapital könnte nun der erste Anwendungsfall werden. Doch bislang wurde der Beirat dazu nicht befragt. Das bestätigen auch andere Mitglieder und betonen, dass es hier nicht um die Eitelkeit Einzelner ginge, aber es stelle sich doch die Frage, warum ein Beratungsgremium mit ausgewiesener Expertise nicht konsultiert werden sollte, das genau für solche Themen geschaffen wurde. 

    Ideen, mit welchen nachhaltigen Komponenten das Generationenkapital versehen werden könnte, haben Beiratsmitglieder jede Menge. Kristina Jeromin könnte sich zum Beispiel vorstellen, dass der neue Fonds Unternehmen aktiv bei der Transformation begleiten könnte. “Geld gibt es nicht umsonst”, sagt sie, das heißt, die Investitionen des Staates sollten an Bedingungen geknüpft werden. Sie nennt das eine klar formulierte Erwartungshaltung, die dann auch Planungssicherheit für die Wirtschaftszweige schafft, in die der Staat die Gelder der Aktienrente investieren wolle. Gut gemacht, könne der Staat so die Transformation der Wirtschaft beschleunigen. 

    Eindeutige Signale des Bundes an den Kapitalmarkt

    Der Staat sollte dabei strategisch vorgehen, sagt Marco Wilkens. Der Wirtschaftswissenschaftler der Universität Augsburg sitzt nicht direkt im Beirat – als offizieller Beobachter versteht er sich eher als Impulsgeber. “Wir müssen unbedingt darüber sprechen, ob mit der Aktienrente auch Wirkungen in der Realwirtschaft angestrebt werden sollen“, sagt er.

    Möglich sei dies etwa, wenn der Staat substantielle Anteile an einem Unternehmen erwerben würde. Außerdem könne man zusätzliche Effekte erzielen, indem man transparent macht, warum der Bund in bestimmte Unternehmen investiert und in andere nicht: Wichtig seien starke und eindeutige Signale des Bundes an den Kapitalmarkt. Würden zum Beispiel CO₂-intensive Unternehmen grundsätzlich nicht ausgeschlossen, könnten Anleger dies als Indiz dafür nehmen, dass die Bundesregierung selbst nicht wirklich an die Transformation der Wirtschaft glaube, sagt er: “Das wäre fatal.” 

    Lindner: Geplante Stiftung ist frei vom parteipolitischen Einfluss

    Damit spricht Wilkens einen Punkt an, der möglicherweise beim Besuch des Finanzministers beim Beirat am Freitag zu Diskussionen führen könnte. Schließlich hatte der Finanzminister bei dem Online-Event im Januar auf die Nachfrage, ob der Fonds bestimmte – klimaschädliche – Investitionen ausschließen wolle, ausweichend reagiert. Stattdessen hatte er betont, die geplante Stiftung sei frei von parteipolitischen Einflüssen und agiere neutral. 

    Diese Haltung stößt bei Beiratsmitgliedern auf Unverständnis. Grundsätzlich sei es richtig zu sagen, das Generationenkapital “nicht moralisch” aufladen zu wollen, sagt ein Beiratsmitglied. Aber wo beginnt die Moral? Oder geht es nicht viel mehr darum, internationale Verträge, die Deutschland unterschrieben hat, in eine Anlagestrategie zu übersetzen. “Gewisse Ausschlüsse sollten sich von selbst verstehen – etwa in Hersteller kontroverser Waffen oder wenn Unternehmen Verletzungen im Sinne der Menschenrechts-Konventionen der UNO begehen”, sagt Roland Kölsch, Geschäftsführer des Qualitätssicherungsgesellschaft Nachhaltiger Geldanlagen mbH, die unter anderem das FNG-Siegel vergibt.

    Ausfallrisiko für Firmen ohne klimaneutrale Geschäftsmodelle

    Eine klare Ausschlussstrategie sei ökonomisch klug und notwendig, sagt Kristina Jeromin. Bestimmte Geschäftsmodelle, die sich nicht transformieren können, müssten schon aus Risikogesichtspunkten zwingend ausgeschlossen werden. Schließlich gehe es bei der Aktienrente um einen Zeithorizont von 15 bis 20 Jahren, in dem der Kapitalstock aufgebaut werde. Dann müssten Deutschland und die EU laut selbst gesteckter Klimaziele schon bei Netto-Null-Emissionen sein. Und das wiederum heißt, dass Investitionen in Unternehmen, die keine Pläne für klimaneutrale Geschäftsmodelle haben, ein hohes Ausfallrisiko haben.

    Silke Stremlau, die Vorsitzende des Gesamtbeirates, formuliert es positiver. Sie sagt, die Anlagestragie der Aktienrente müsse über klassische Ausschlusskriterien hinausgehen. Stattdessen sollte man definieren, in welche zukunftsfähigen Branchen investiert werden sollte. Als Beispiele nennt sie erneuerbare Energien, Infrastruktur, zukunftsfähige Mobilität, energetische Gebäudesanierung, ökologische Landwirtschaft, Kreislaufwirtschaft und Tranformationsvorhaben Richtung Klimaneutralität. So würde man bestimmte nicht-nachhaltige Unternehmen ausschließen und gleichzeitig Geld für die sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft bereitstellen. 

    Wenn also Christian Lindner am Freitag den Beirat für Nachhaltige Finanzen besucht, gibt es einiges zu besprechen. Ein Sprecher sagte auf Anfrage, das Gremium sei ein wichtiger Berater und Partner. Aber die Anlagerichtlinien würden von den zuständigen Ressorts erlassen. Die Beiratsmitglieder ernüchtert das vorerst nicht. “Als Gremium der Bundesregierung muss man sich wahrscheinlich diese Wahrnehmung immer auch ein bisschen verdienen”, sagt Kristina Jeromin. Verena von Ondarza

    • Ökologische Landwirtschaft

    Europa braucht eigene ESG-Grammatik

    Europa braucht eigene ESG-Ratingfirmen.
    Waldbrände in Kalifornien.

    Bewegung in der stillen Welt der grünen Finanzen: Auf eine Phase, in der US-amerikanische Konzerne europäische “Nuggets” des ESG-Ratings aufkauften, reagieren die Europäer mit neuen eigenen Aktivitäten. So wurde im Februar 2022 Ethifinance gegründet, nachdem das französische Unternehmen Qivalio, die spanische Nr. 1 für Kreditratings Axesor Rating, übernommen hatte. Ziel sei es, ein “führender europäischer Akteur in den Bereichen Research, Beratung und integriertes, finanzielles und ESG-orientiertes Rating” zu werden, sagte die Direktorin von Ethifinance, Carole Sirou, in einem Interview mit Table.Media in Paris.

    Carole Sirou, die rund dreißig Jahre bei Standard & Poor’s Ratings verbracht hatte, wurde vier Monate nach dem Start von Ethifinance eingestellt. Ihre Aufgabe: Die Entwicklung dieses Akteurs zu beschleunigen, der in der Liga der Großen im Bereich der ESG-Ratings mitspielen will und gleichzeitig unabhängig bleiben soll.

    Die Französin bringt große Kenntnisse des amerikanischen Finanz- und ESG-Marktes mit: Sie trat 1990 bei Standard & Poor’s Ratings ein und wurde nacheinander Präsidentin von S&P Frankreich und Leiterin des französischsprachigen Raums in Europa und Afrika (2009-2013). Anschließend leitete sie die sechs europäischen Büros (2013-2014), bevor sie 2014 nach New York versetzt wurde, um die neuen Vorschriften für Ratingagenturen umzusetzen. Zwischen 2016 und 2018 bekleidete sie verschiedene Führungspositionen im Bereich Risiko und Compliance innerhalb der S&P Global Inc.

    “Clash” zwischen zwei Modellen

    Um bei der Entwicklung globaler ESG-Standards mitreden zu können, brauche man ein starkes Ökosystem in Europa, davon ist Carole Sirou überzeugt. So müssten europäische Investoren und europäische Agenten in die Lage versetzt werden, die von Europäern erstellten Analysen über Unternehmen in Europa lesen zu können, “was heute schwierig ist”. Denn derzeit gebe es auf dem europäischen ESG-Markt “keine gemeinsamen Instrumente, keine gemeinsame Grammatik, die es Europa ermöglichen, sein eigenes Wirtschaftsgefüge zu analysieren, sei es unter finanziellen oder nicht-finanziellen Aspekten”, sagt sie. Um eine gemeinsame Grammatik entwickeln zu können, müsse man zunächst einmal die Konvergenzpunkte finden.

    Dies gelte umso mehr, weil es “eine sehr starke Divergenz der Ansichten” zwischen den ESG-Akteuren aus den USA und Europa gebe, insbesondere über “die ökologischen und sozialen Aspekte”. Die Direktorin von Ethifinance spricht sogar von einem “Clash” beider Wirtschaftsräume in diesen Zusammenhang. “Es scheint uns entscheidend und lebenswichtig zu sein, ein bestimmtes Modell, eine bestimmte Art, über Wirtschaft und Finanzen nachzudenken, zu verteidigen”.

    In diesem Zusammenhang weist Carole Sirou darauf hin, dass der europäische Markt für ESG-Daten derzeit strukturiert wird, hauptsächlich durch die Arbeiten der EFRAG zu den Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung und die Umsetzung der europäischen Taxonomie. “Der europäische Markt für Analysen verbessert sich ständig und beschleunigt sich stark, da es einen immer größeren Bedarf an Quantität und Qualität gibt, den wir versuchen, bestmöglich zu decken”, betont sie.

    Ethifinance plant zunächst, seine Aktivitäten in Südeuropa (Frankreich, Spanien, Portugal) auszubauen. Dann will sich das Unternehmen den skandinavischen Ländern und Deutschland zuwenden, einem Markt, der aufgrund seines wirtschaftlichen Gewichts, seines Potenzials – und seiner Verbindungen zu Frankreich – als “unumgänglich” angesehen wird. Die Gruppe will bis zum Herbst 2.300 Unternehmen abdecken. Sie fokussierte sich vor allem auf KMU mit einer Marktkapitalisierung von 150 Millionen Euro bis zehn Milliarden Euro.

    “Doppelte Materialität”, Dekarbonisierung und Biodiversität

    Die Expertin für nachhaltige Finanzen sieht in dieser Erweiterung “einen ersten wichtigen Schritt hin zum Aufbau einer europäischen Agentur für doppelte Materialität”, welche in Europa eine führende Rolle spielen könnte. “Um ein Unternehmen unter dem ESG-Blickwinkel zu analysieren, muss man nicht nur die Auswirkungen der Umwelt auf das Unternehmen untersuchen, sondern auch die Auswirkungen des Unternehmens auf seine Umwelt“, sagt Carole Sirou. “Das ist einer der Hauptpunkte, der uns von unseren amerikanischen Konkurrenten unterscheidet”, fügt sie hinzu. Diese Strategie ermögliche es, “eine Verbindung zwischen dem Konzept der Auswirkungen (Impact) und den Zielen der nachhaltigen Entwicklung herzustellen”, erläutert sie. Die Direktorin von Ethifinance verweist auf das Beispiel der Brände in Kalifornien. Ein Großteil davon sei durch die mangelnde Wartung des nationalen Betreibers verursacht worden, der diese Infrastruktur nicht instand hielt.

    Die Dekarbonisierung von Unternehmen ist der andere strategische Pfeiler von Ethifinance. Aber auch wenn das Thema Klima “weiterhin im Mittelpunkt steht”, nennt die Direktorin auch die Biodiversität als ein “unumgängliches” Thema, auf das Antworten gefunden werden müssten. “Wir sind davon überzeugt, dass die Finanzbranche bei der Umsetzung des ökologischen und energetischen Wandels eine Rolle spielen muss”, so Carole Sirou weiter. Durch Finanzierungen und Investitionen könne das Finanzwesen “Verhaltensänderungen bewirken”.

    • ESG-Rating
    • Finanzen
    • Investitionen

    ESG in Lieferketten erhöht Druck auf Einkäufer

    Yvonne Jamal ist Gründerin und Vorstandsvorsitzende des JARO Instituts für Nachhaltigkeit und Digitalisierung - im Interview redet sich über Lieferketten und ESG-Kriterien, die den Druck auf Unternehmen erhöhen.
    Yvonne Jamal ist Gründerin und Vorstandsvorsitzende des JARO Instituts für Nachhaltigkeit und Digitalisierung.

    Nachhaltigkeitsstrategien werden in CSR-Abteilungen entworfen, in der Lieferkette umsetzen muss sie aber der Einkauf. Wissen Einkaufsverantwortliche genug über ESG?
    Hier beobachten wir in der Praxis eine Lücke. Einkaufsabteilungen können sich oft nicht vorstellen, wie ihnen die CSR-Abteilung, die die Nachhaltigkeitsberichte schreibt, konkret helfen kann. Umgekehrt sehen wir, dass CSR-Verantwortliche nicht tief genug in die Herausforderungen der eigenen Lieferketten eintauchen und nicht wissen, wie sie den Einkauf unterstützen können. Um die Zusammenarbeit zu fördern, ist es wichtig, die Bereiche aktiv zu vernetzen. In unseren Projekten tun wir das auch.

    Woran mangelt es besonders?
    Ganz klar am Knowhow. Das ist auch verständlich, schließlich wurde der Einkauf in der Vergangenheit vor allem auf Einsparungen getrimmt. Nachhaltigkeit stand nicht auf der Agenda, auch nicht in Studium oder Ausbildung der Einkäufer und Einkäuferinnen. Diese Wissenslücke macht vielen Teams und Führungskräften Angst. Verstärkt hat sich dies durch den immensen Druck durch Pandemie, Versorgungsengpässe, Ukrainekrieges und Inflation. Noch nie stand der Einkauf so im Rampenlicht. Viele Mitarbeitende befinden sich im Dauerkrisenmodus. Dazu kommt die oft viel zu dünne Personaldecke.

    Wir versuchen deshalb immer zunächst das große Bild aufzuzeigen und zu erklären, warum sich diese Krisen verstärken werden, wenn wir nicht endlich anfangen, einen deutlich strategischeren und nachhaltigen Einkauf zu etablieren. Dazu gehört weitaus mehr, als “nur” Nachhaltigkeitskriterien von Lieferanten abzufragen und sie einen Code of Conduct unterzeichnen zu lassen.

    Hat das Wissen in den Unternehmen durch die Anforderungen des LkSG zugenommen?
    Viele Firmen haben sich in den vergangenen Monaten erstmals intensiv mit ihren Lieferketten und den darin verborgenen Chancen und Risiken auseinandergesetzt. Nicht wenige haben zum ersten Mal ihre Beschaffungsprozesse sauber definiert und reflektiert, um zu diskutieren, wie Nachhaltigkeit im Arbeitsalltag verankert werden kann. Dadurch haben die Firmen erkannt, welche Vorteile es bringt, wenn sie geeignete Warengruppenstrategien bis zu den Rohstoffen einsetzen. Dieses Verständnis ist dringend notwendig, damit sich etwas ändert.

    Bekommt die junge Generation ausreichend ESG-Knowhow vermittelt?
    Ich denke mittlerweile ja. Zahlreiche Hochschulen haben Nachhaltigkeit in ihren Studiengängen verankert oder arbeiten zumindest daran. Wir wissen beispielsweise von der Technischen Hochschule Nürnberg, der Hochschule München oder der Hochschule Heilbronn, dass hier Beschaffung und Nachhaltigkeit gemeinsam betrachtet werden. Es gibt FairTrade-Hochschulen oder Universitäten wie die FU Berlin, die den Klimanotstand ausgerufen haben. Vor einiger Zeit gab es ein größeres Projekt namens “HOCH-N: Hochschulen für eine nachhaltige Entwicklung”, dessen Arbeit die Deutschen Gesellschaft für Nachhaltigkeit an Hochschulen als gemeinnütziger Verein weiterführt.

    Die Umsetzung des UNESCO-Programms Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) koordiniert in Deutschland das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Wir sind mit der JARO Academy ebenfalls ein BNE-Akteur. Auf internationaler Ebene sind die “Principles for Responsible Management” (PRME), eine Initiative des UN Global Compact, das größte Netzwerk mit dem Ziel ESG in der Führungskräfteausbildung zu implementieren.

    Welches Ziel verfolgt Ihr Institut mit dem Lehrgang “Sustainable Procurement Professional”?
    Sehr viele Einkaufsverantwortliche sind mit ESG überfordert. Es ist eine Sache, Studien zu lesen und Veranstaltungen zu besuchen, eine andere ist die Umsetzung im eigenen Beschaffungsumfeld. Mit unserem Lehrgang bauen wir die notwendigen Handlungskompetenzen auf. Dazu haben wir ein modulares, rollenbasiertes E-Learning entwickelt. Je nach Lernbedarf, Reifegrad der Organisation und Nachhaltigkeitsfokus lassen sich daraus bis zu 40 Einzelmodule oder ganze Curricula mit unterschiedlichen Schwerpunkten buchen. Auch ihre Lieferanten können Unternehmen damit gezielt auf ESG-Themen trainieren. Eine Zertifizierung ist ebenfalls möglich.

    Kommt ESG also aus der Nerd-Ecke heraus und in der Unternehmensbreite an?
    Ja, das beobachten wir und dazu haben ganz wesentlich die Diskussionen rund um das LkSG und die kommenden EU-Regelungen beigetragen. Diesen Schwung gilt es jetzt aber durch gute Kommunikation auch zu nutzen! Mit seinem Netzwerk kann der Einkauf tausende Lieferanten erreichen und mit diesen in die Wertschöpfungsketten wirken. Über das eigene Engagement, die damit verbundenen Herausforderungen und über erste Erfolge transparent und authentisch zu berichten, ist ganz wesentlich, um intern und extern weitere Unterstützung zu erhalten.

    Gibt es einen Austausch mit NGO?
    Den Austausch mit NGO scheuen viele Einkaufsverantwortliche noch, auch aus Angst, öffentlich kritisiert zu werden. Die Praxis zeigt jedoch, dass man viel voneinander lernen kann und einander braucht: Die Teams, die mit unserer Hilfe einen Stakeholderdialog aus dem Einkauf heraus aufgesetzt haben, waren positiv überrascht und haben einen großen Mehrwert daraus gezogen. Umgekehrt war es für die NGOs sehr hilfreich, so tiefe Praxiseinblicke zu den Bemühungen und täglichen Herausforderungen in der Beschaffung zu erhalten und das konstruktiv und pragmatisch zu diskutieren. Allein wird kaum ein Unternehmen den Herausforderungen in Sachen ESG gerecht werden können. Die Zusammenarbeit mit den Akteuren vor Ort ist hierfür extrem wichtig.

    Was halten Sie von einer ESG-abhängigen Bezahlung?
    Das ist gut, weil es eine größere Verbindlichkeit erzeugt. Allerdings machen solche Ziele im Einkauf nur dann Sinn, wenn sie mit entsprechenden Indikatoren hinterlegt werden, wie das zum Beispiel bei CO₂-Emissionen jetzt möglich wird. In unseren Workshops sehen wir jedoch, wie schwer es für die Unternehmen ist, für die gesamte Breite der Nachhaltigkeit smarte Ziele und messbare Kennzahlen zu definieren, mit denen sie ihren Erfolg konkret messen können. In einer neuen Arbeitsgruppe werden wir uns deshalb mit den nötigen Indikatoren für eine nachhaltige Beschaffung auseinandersetzen. Wer mitmachen will, ist herzlich eingeladen, Mitglied zu werden.

    Wie wichtig wären Anreize für Einkäufer, damit sie selbst Missstände melden?
    Ich bin mir nicht sicher, ob es sinnvoll ist, im Einkauf Anreize für eine Meldung von Missständen zu schaffen. Die intrinsische Motivation zu fördern, ist aus unserer Sicht zielführender und diese ist oft durchaus vorhanden. Anreize zu schaffen, um sich systematisch mit Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen, zum Beispiel in der Form von Kostenübernahmen und Freistellungen für Veranstaltungen oder Weiterbildungen, ist für die Transformation aus unserer Sicht wirkungsvoller.

    Die wichtigen Beschwerdemechanismen an neutrale Stellen existieren aufgrund des LkSG. Genauso wichtig ist es jedoch, dass im Einkauf die gemeldeten Missstände mit den Lieferanten besprochen und abgestellt werden. Nachhaltigkeit und die Prüfung von Missständen muss deshalb als feste Agenda in Lieferantengesprächen und Teammeetings. Und dann kann man über Kennzahlen verfolgen, inwieweit die Probleme tatsächlich auch gelöst worden sind.

    • Handel
    • Lieferketten

    Termine

    15.2.2023, 18 Uhr, Hildesheim
    Präsenz-Workshop Wirtschaftliche Transformation gestalten (Friedrich Ebert Stiftung)
    Wie steht um die niedersächsische Wirtschaft und was können Betriebe, Politik und Beschäftigte tun, um die wirtschaftliche Transformation zu gestalten? Das diskutieren Teilnehmende auf dieser Veranstaltung. Info & Anmeldung

    17.2.2023, 17 Uhr
    Buchvorstellung Brett Scott – Cash, Cards, Crypto: inside the War for our wallets
    Brett Scott will be presenting his new book “Cloud Money”: The digitization of money is tightening the link between Big Tech and Big Finance. Our data, especially our payment data, is the gold of the future. Discuss the most important questions with the author Info & Anmeldung

    18.-19.2.2023, Berlin
    Präsenz-Workshop Können wir die Klimakrise rückgängig machen? (Heinrich Böll Stiftung)
    Wie können Lösungen auf den Weg gebracht werden, bei denen die Atmosphären-Sanierung nicht den fossilen Großkonzernen überlassen wird? Dieser Workshop gibt einen Überblick und führt ins Thema ein. Info & Anmeldung

    22.2.2023, 14 Uhr
    Webinar End Double Standards in Pesticide Trade: Country Examples of Legislative Efforts from Germany, India and Tunisia (u.a. Inkota)
    In the case of the European Union (EU), most hazardous agrochemicals are not approved for use because of their negative effects on human health and/or the environment, yet manufacturers in EU countries such as Germany and others are still producing them to sell them abroad. Inputs from Germany, India and Tunisia provide examples on how governments can take legislative efforts. Info & Anmeldung

    23.2.2023
    Webinar Die Auswirkung der Planetary Health Diet auf die Landwirtschaft (Food Campus Berlin)
    Margarethe Scheffler und Kirsten Wiegmann vom Ökoinstitut e.V. haben die Auswirkungen der Planetary Health Diet auf die Landwirtschaft in Deutschland untersucht. Gemeinsam mit Jörg Reuter vom Food Campus Berlin und Katharina Reuter vom Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft erläutern sie die Ergebnisse ihrer Studie. Info & Anmeldung

    28.2-2.3.2023, Niamey, Niger und online
    Konferenz Ninth session of the Africa Regional Forum on Sustainable Development Info

    28.2.2023, 10 Uhr
    Webinar Menschenrechtliche Sorgfalt in konfliktbetroffenen und Hochrisikogebieten – Herausforderungen und Lösungsansätze für verantwortungsvolles Wirtschaften (Global Compact)
    Teilnehmende des Webinars erfahren, wie die besonderen Anforderungen an die Sorgfaltspflicht in Hochrisikoregionen erfüllt werden können und lernen, welche erfolgreiche Ansätze es bereits gibt. Info & Anmeldung

    28.2.2023, 15.30 bis 16 Uhr
    Webinar Value Chain Visibility for the EU Supply Chain Act (Everstream)
    Teilnehmende erfahren in diesem englischsprachigen Webinar alles, was Sie über das neue EU-Lieferkettengesetz wissen müssen. Anmeldung unter everstream@grayling.com.

    01.3.2023, 10 Uhr
    Webinar Nachhaltigkeitsbericht – Neue Anforderungen & der Weg zum eigenen Bericht (TÜV SÜD)
    Durch die neue EU-Gesetzgebung CSRD wird die Nachhaltigkeitsberichterstattung künftig für deutlich mehr Unternehmen verpflichtend. Über die Anforderungen und den Weg zum eigenen Nachhaltigkeitsbericht informiert der TÜV SÜD. Info & Anmeldung

    2.3.2023, Hornbostel/Aller
    Konferenz 2. Netzwerktreffen: Gutes gut verpackt. Mission Kreislaufwirtschaft 2.0 (Aller Liebe)
    Auf der Konferenz geht es um Mehrweg-Lösungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette, also von der Produktion der Verpackung, über die Abfüller, Hersteller und Vermarkter, über die privaten Haushalte, durch den Leergutautomaten in die Spülstraßen zurück in den Kreislauf. Info & Anmeldung

    2.3.2023, 9:30 Uhr
    Online-Seminar Forum Umweltrechtsschutz 2023 – Alles beschleunigen? (Ufu)
    Ein besonderer Fokus soll in dem Seminar auf die aktuelle umfangreiche Beschleunigungsgesetzgebung sowie auf die Entwicklungen auf völker- und unionsrechtlicher Ebene sowie deren Implikationen für den Umweltrechtsschutz gelegt werden. Info & Anmeldung

    2.3.2023, 10 Uhr
    Webinar Wie Gebäude einen Beitrag zu den globalen Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (SDGs) leisten (DGNB)
    Die Veranstaltung richtet sich an alle am Bau-Beteiligten, aber auch an Marketingverantwortliche, die mehr über die SDG im Gebäudesektor erfahren wollen. Info & Anmeldung

    News

    Trotz BIP-Wachstum sinkt der Wohlstand in Deutschland

    Während das BIP 2021 in Deutschland um 2,6 Prozent stieg, nahm der Wohlstand gemessen am NWI 2021 um 1,8 Indexpunkte auf 94,6 Punkte ab. Dies teilte das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) am Dienstag anlässlich der Veröffentlichung des neuen NWI mit. Ein gegenläufiges Bild zeigt sich auch über die vergangenen 30 Jahre: Während das BIP deutlich wuchs, sank der NWI von 100 Indexpunkten auf einen Wert von 96,4 Punkten. Erstellt haben den aktuellen NWI Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser und Prof. Hand Diefenbacher vom Institut für Interdisziplinäre Forschung (FEST e.V.) in Heidelberg.

    Wohlstand in Deutschland: BIP steigt, doch der Wohlstand sinkt.

    Der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) wird jährlich im Auftrag des IMK berechnet und soll eine breitere Betrachtung der Wohlfahrtsentwicklung ermöglichen als der übliche Indikator des Bruttoinlandsprodukts, welcher den Wert aller Güter und Dienstleistungen misst, die in einer Volkswirtschaft binnen eines Kalenderjahres hergestellt oder bereitgestellt werden.

    Dagegen erfasst der NWI 21 Komponenten, sechs wohlfahrtssteigernde wie Hausarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten und 15 wohlfahrtsmindernde Aktivitäten wie Kriminalität oder Flächenverluste in der Umwelt. Alle Dimensionen werden monetär in Euro bewertet und entweder addiert oder abgezogen, weswegen der NWI keine nicht materiellen Dimensionen von Wohlstand erfasst.

    Hauptursache für den Rückgang des NWI 2021 waren die materiellen Schäden der Flutkatastrophen an Ahr und Erft, die mit Schäden von über 30 Milliarden Euro in die Bewertung eingingen. Negativ wirkten zudem die “wieder ansteigenden Emissionen von Treibhausgasen”, ein erhöhter Verbrauch fossiler Energieträger sowie die Tatsache, dass sich eine “leichte Erhöhung der Einkommensungleichheit abzuzeichnen” scheine. cd

    • Deutschland
    • Wirtschaft

    GLS-Bank verlässt UN-Klimainitiative

    Die in Bochum ansässige GLS-Bank hat die Net-Zero Banking Alliance (NZBA) verlassen. GLS-Sprecherin Nora Schareika begründete den Schritt gegenüber Table.Media damit, dass “zahlreiche Akteure des Bündnisses an der Erschließung neuer fossiler Projekte auf dem afrikanischen Kontinent beteiligt sind.” Namen nannte sie nicht, verwies aber auf eine Studie der NGO Urgewald. Darin werden mehrere US-amerikanische Großbanken genannt, aber auch die Schweizer UBS.

    Laut einer Studie der französischen NGO Reclaim Finance hatten 56 große Banken der NZBA zwischen dem Eintritt in die Initiative und August 2022 mindestens 269 Milliarden Dollar in 102 der größten Fossile-Energien-Unternehmen investiert (Table.Media berichtete).

    Austritt war abgewogene Entscheidung

    Die GLS-Bank gehörte im April 2021 zu den Gründungsmitgliedern der NZBA. Die dort zusammengeschlossenen Banken haben sich verpflichtet, ihr Kredit- und Anlageportfolio bis 2050 klimaneutral auszurichten. Für 2030 sollen Zwischenziele gesetzt werden. Nach dem Rückzug der Nachhaltigkeitsbank GLS sind aus Deutschland die beiden Schwergewichte Commerzbank und Deutsche Bank sowie die ProCredit Holding mit von der Partie. Weltweit hat die NZBA gegenwärtig 125 Mitglieder aus 41 Ländern. Sie repräsentiert nach eigenen Angaben 41 Prozent des weltweiten Bankvermögens.

    Andere Nachhaltigkeitsbanken sind weiter dabei, auch solche, mit denen die GLS Bank in der Global Alliance for Banking on Values zusammenarbeitet.

    Auch Triodos-Bank überdenkt NZBA-Mitgliedschaft

    Dazu zählt die niederländische Triodos-Bank. Auch hier teilt man den Frust über zu lasche Standards innerhalb der NZBA. Es sei “enttäuschend und entmutigend”, dass einige Mitglieder “immer noch die Expansion und Exploration fossiler Brennstoffe finanzieren”, heißt es gegenüber Table.Media. Das widerspreche den eingegangenen Verpflichtungen. Man werde deshalb gemeinsam mit anderen Banken “einen letzten Versuch unternehmen, strengere Richtlinien für NZBA-Mitglieder festzulegen”. Deadline für “eine greifbare Verbesserung” sei die COP28 im November. Dann werde die Triodos-Bank ihre Mitgliedschaft in der NZBA “neu überdenken”. ch

    • Banken
    • Finanzen
    • Sustainable Finance

    EU-Kommission setzt auf Carbon Farming

    Bis 2050 will die EU klimaneutral werden. Soll heißen: Es dürfen nicht mehr Treibhausgase ausgestoßen als eingespeichert werden. Doch auch über 2050 hinaus wird es Emissionen geben – vor allem in der Landwirtschaft, aber auch in einigen Industriebranchen oder im Verkehr. Ohne die systematische Abscheidung und Speicherung von CO₂ aus der Atmosphäre kann das Ziel also kaum erreicht werden.

    Gegenwärtig sind in der EU rund 250 Millionen Tonnen CO₂ gespeichert – hauptsächlich in Wäldern. Die Summe soll gemäß LULUCF-Ziel bis 2030 auf 310 Millionen anwachsen. Die natürliche Speicherfähigkeit der Wälder nimmt allerdings aufgrund von Dürren, Extremwetter, Schädlingen und der wachsenden Nachfrage nach Holz kontinuierlich ab. Und technische Lösungen (Carbon Capture and Storage, CCS) sind viel zu teuer und weit von einer Marktreife und somit von einem flächendeckenden Einsatz entfernt.

    Carbon Farming: CO2-Speicherung in Ackerböden.

    Die Brüsseler Behörde setzt deshalb auf das Potenzial von Carbon Farming. So soll die CO₂-Speicherfähigkeit der landwirtschaftlichen Böden signifikant erhöht werden, hauptsächlich, indem mehr Humus aufgebaut wird. Beispielsweise durch Zwischenfruchtanbau, aber auch den Einsatz spezieller Maschinen bei der Aussaat, wodurch die Struktur des Bodens erhalten bleibt und die CO₂-Speicherung durch das Wurzelwerk über die Jahre steigt. Positive Nebeneffekte laut Kommission: Stärkung der Biodiversität, der Fruchtbarkeit der Böden sowie des Wasserhaushalts.

    Carbon Farming sei ein Schlüssel zur Klimaneutralität bei der Nahrungsmittelproduktion, sagt Joachim Rukwied, Präsident des Deutschen Bauernverbands. “Wir Landwirte sind in hohem Maße bereit, im Sinne des Klimaschutzes, der Bodenfruchtbarkeit und der Anpassung an den Klimawandel zu wirtschaften.”

    Kommission mit Vorschlag für Zertifizierungsrahmen

    Um die CO₂-Entnahme in der EU quantifizieren und überwachen zu können, hat die Kommission einen Rechtsrahmen für die Zertifizierung auf den Weg gebracht. Norbert Lins (EVP), Vorsitzender des Agrarausschusses im EU-Parlament, begrüßt die Initiative. “Das wird ein guter Anreiz für die Landwirtschaft sein, mehr Kohlenstoffbindung zu erreichen”, sagt der Abgeordnete, der von einem “guten zusätzlichen Geschäftsmodell” spricht.

    Dem Kommissionsvorschlag zufolge kommt eine Zertifizierung grundsätzlich dann infrage, wenn vier Qualitätsrichtlinien erfüllt werden:

    • Quantifizierung: Die Maßnahmen zur Erhöhung der CO₂-Speicherung im Boden müssen einen klar messbaren Effekt haben.
    • Additionalität: Die Maßnahmen müssen über die bestehenden Verfahren und Vorgaben hinausgehen und eine zusätzliche Speicherung ermöglichen.
    • Langfristigkeit: Die Zertifikate sind an langfristige Verträge geknüpft, um eine möglichst dauerhafte Speicherung zu gewährleisten.
    • Nachhaltigkeit: Die Maßnahmen müssen Co-Benefits erbringen, etwa für Wasserqualität oder Artenvielfalt.

    “Noch stehen wir ganz am Anfang. Es ist noch viel Forschung nötig, um zu verstehen, wie genau die Speicherung in unterschiedlichen Böden in unterschiedlichen Regionen bei verschiedenen Methoden funktioniert”, sagt Christian Holzleiter von der Generaldirektion Klima der EU-Kommission. “Und vor allem brauchen wir Instrumente für das Monitoring.” Der Kommissionsvorschlag sei nur der erste Schritt auf dem Weg zu einem umfassenden Legislativ-Paket zur CO₂-Entnahme.

    Weitere Schritte folgen im März mit der Vorstellung der “Green-Claims-Richtlinie” zur Umweltverträglichkeit von Produkten sowie im Sommer mit einem delegierten Rechtsakt, der festlegen soll, nach welchen Kriterien ein Unternehmen in seiner Berichterstattung CO₂-Neutralität beanspruchen kann. til

    • Agrar

    Mehr Biohöfe und Bioflächen in Deutschland 

    Bei der ökologischen Landwirtschaft, der eine Schlüsselrolle für die Transformation der Landwirtschaft zukommt, sind die Umsätze 2022 um 3,5 Prozent auf 15,3 Milliarden Euro gegenüber dem Vorjahr gesunken, teilte der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) am Dienstag mit. Leicht vorwärts geht es bei dem Ausbau: Die Zahl der Betriebe sei um 3,5 Prozent auf 36.548 Biohöfe gestiegen, womit jeder siebte Hof 2022 ökologisch wirtschaftete. Tina Andres, Vorstandsvorsitzende von BÖLW, forderte mehr Hilfen für die Biobetriebe: “Die Bundesregierung kann und muss jetzt durch Maßnahmen, wie einer Senkung der Mehrwertsteuer auf Biolebensmittel, zu fairen Wettbewerbsbedingungen beitragen”, sagt Andres und fügte hinzu: Unsere Gesellschaft könne sich eine nicht-nachhaltige Produktion mit jährlich 90 Milliarden Euro Kosten für Umweltfolgeschäden nicht mehr leisten. 

    Wichtigster Absatzkanal war für Bio der Lebensmitteleinzelhandel, der seine Erlöse um 3,2 Prozent auf 10,2 Milliarden Euro steigerte. Insbesondere die Discounter legten zu, während der Absatz bei den Vollsortimentern weitgehend stabil geblieben sei, heißt es. Die Verbraucher griffen vor allem bei günstigeren Handelsmarken öfter zu. Auf den Naturkostfachhandel mit einem hundertprozentigen Bioangebot entfiel ein Umsatz von 3,83 Milliarden Euro. Ein deutliches Minus von 18 Prozent gab es bei den sonstigen Verkaufsstätten (Hofläden, Online-Handel, Wochenmärkten, Reformhäuser und so weiter) auf 1,97 Milliarden Euro Umsatz. Allerdings war dieser Bereich in den beiden Vorjahren coronabedingt deutlich gewachsen. 

    Die Preise für Bioprodukte stiegen deutlich geringer als die für konventionelle Lebensmittel: Für Bio zahlten die Verbraucher laut dem AMI-Verbraucherpreisindex 6,6 Prozent mehr, für konventionelle Lebensmittel waren es 12,1 Prozent. Bei den Produkten gab es den starken Zuwachs bei Bio-Milch und Fleisch-Ersatzprodukten. cd

    • Agrar
    • Biodiversität
    • Klima & Umwelt
    • Landwirtschaft
    • Ökologische Landwirtschaft
    • Transformation

    Menschenrechtliche Sorgfaltspflichten: Neues KMU-Praxismodul 

    Wie können Unternehmen menschenrechtliche Missstände in den Lieferketten verhindern und beseitigen? Dazu hat Chemiehoch3, die Nachhaltigkeitsinitiative der Chemieindustrie (BVAC, IGBCE, VCI) das dritte von fünf geplanten Modulen zu ihrem Branchenstandard vorgelegt. Es solle Unternehmen Praxishilfen zu Präventions- und Abhilfemaßnahmen bieten, teilte die Initiative vergangene Woche mit. So gibt es unter anderem Vorlagen für einen Musterverhaltenscodex, den Unternehmen mit ihren Lieferanten abschließen können. Unternehmen erfahren zudem genau, was sie machen müssen, um das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz einzuhalten. 

    Der Branchenstandard orientiere sich an den “Leitprinzipien Wirtschaft und Menschenrechte” der Vereinten Nationen und dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Demnach sollten Unternehmen die fünf Kernelemente der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht (Verantwortung anerkennen, Risiken ermitteln, Risiken minimieren, informieren und berichten sowie Beschwerden ermöglichen) in ihre Geschäftsprozesse integrieren. Maßgeblich für die Ausarbeitung der Module sind die Erkenntnisse einer Facharbeitsgruppe, an der Vertreter großer Unternehmen, KMU und Betriebsräte teilgenommen haben. Vorgeschaltet waren der Ausarbeitung der Module durch die Stakeholdergruppe Interviews mit rund 200 Unternehmen. Im April sollen das vierte und fünfte Modul fertiggestellt werden. cd

    • Handel
    • Lieferketten
    • Menschenrechte

    Ganzheitliche Strategie hilft bei ESG-Umsetzung

    Eine am Dienstag veröffentlichte Studie von PWC zeigt, dass Unternehmen erfolgreicher bei der Umsetzung von ESG-Maßnahmen sind, wenn sie in allen Geschäftsbereichen eine übergreifende Strategie verfolgen und bei der Digitalisierung weit sind. Über die Hälfte der Unternehmen befände sich aber noch am Anfang der Transformation, heißt es.

    Die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsfirma hat für die Studie “ESG Empowered Value Chains 2025” rund 900 Führungskräfte weltweit zur Transformation in ihren Unternehmen befragt. Nur sechs Prozent der Firmen verfolgten demnach für die Transformation notwendige Maßnahmen “in voller Konsequenz”. 53 Prozent befänden sich noch am Anfang und setzten bisher nur auf Maßnahmen wie Emissionsausgleich durch CO2-Zertifikate.

    Grad der Digitalisierung wesentlich

    Die ESG-Vorreiter seien erfolgreich, weil ihre Maßnahmen die gesamte Wertschöpfungskette abdeckten. 81 Prozent davon würden demnach ihre Geschäftsmodelle “in erheblichem Maße” neu ausrichten, indem sie etwa den Kreislaufgedanken zum Zentrum ihrer Tätigkeit machten oder ihre Produkte ESG-Zielen entsprechend entwickelten.

    Auch der Grad der Digitalisierung spiele eine große Rolle für die Umsetzung von ESG-Maßnahmen. Daten müssten zuverlässig und über Abteilungen hinweg zugänglich sein, um Ziele in Echtzeit überwachen zu können. Laut PWC nutzten Vorreiter dafür moderne IoT-Lösungen. Ein Vergleich zeigt: Bei 81 Prozent der Vorreiter seien notwendige Daten vollständig verfügbar und nutzbar – bei den Nachzüglern nur 13 Prozent.

    Gleichzeitig sei die größte Sorge der Vorreiter, dass sie unzureichend Zugang zu wichtigen Daten haben. Die Nachzügler hingegen machten sich eher Sorgen über hohe Kosten, unklare Auswirkungen von Maßnahmen sowie das Fehlen einer übergreifenden Strategie.

    Die Studie zeigt allerdings auch, dass es insbesondere große Unternehmen sind, die bei der Umsetzung von ESG-Maßnahmen Vorreiter sind – solche mit einem Umsatz von über 3 Milliarden Euro. nh

    • Digitalisierung
    • Technologie

    Europäische Versicherer verbessern ihren ESG-Wert

    Gemessen an den Angaben aus ihren Nachhaltigkeitsberichten schneiden 20 europäische Versicherer aus neun Ländern mit Blick auf ESG-Kriterien besser ab als bisher. Die Zielke Research Consult GmbH bewertet die Versicherer mit einem eigenen methodischen Ansatz seit 2018 jedes Jahr aufs Neue: Zuletzt verbesserten sich die Versicherer demnach in allen drei ESG-Dimensionen; insgesamt sei der Wert von 1,74 auf 2,93 gestiegen, heißt es in dem jüngst veröffentlichten CSR-Spotlight der Unternehmensberatung. Die Spannbreite der Punkte reicht von minus 4,67 bis plus 5,25 Prozent. 

    Große Unterschiede gibt es auch bei den veröffentlichten Angaben über CO₂-Emissionen. Einige hätten bereits Schritte zur Überwachung ihrer Scope-3-Emissionen (Wasser- und Papierverbrauch, Müll, Emissionen von Mitarbeitern auf Reisen etc.) eingeleitet. Dazu zählten AXA, KBC, Belfius, Swiss Life Gruppe, Talanx Gruppe, Munich Re und CNP Assurance. Andere Versicherer machten dagegen in ihren Nachhaltigkeitsberichten keine Angaben zu ihren Emissionen in den Scope-Bereichen 1, 2 und 3, und zwar Crelan, Ethias und BNP Paribas. 

    Die untersuchten Unternehmen setzen auch auf unterschiedliche ESG-Strategien. Sieben der 20 Versicherer würden eine Best-in-Class-Anlagestrategie anwenden: AXA, Belfius, BNP Paribas, CNP Assurance, KBC, Prisma Life und Talanx Gruppe. Alle 20 Versicherer nutzten die Ansätze einer ESG-Integration und eines ESG-Ausschlusses, heißt es. Einzig Argenta habe im Jahr 2021 keine nachhaltigen oder thematischen Investitionen durchgeführt. Der Versicherer habe zudem ebenso wie fünf andere (CNP Assurance, Crelan, Generali Group, Swiss Life Gruppe und Helvetia) keine Informationen über Impact-Investment-Strategien offengelegt, heißt es. cd 

    • Emissionen
    • ESG-Kriterien
    • Klima & Umwelt
    • Unternehmen
    • Wirtschaft

    Presseschau

    Wer kontrolliert die Energiequelle der Zukunft? – SZ
    Florian Müller beschreibt das Wettrennen um die Solarindustrie zwischen China und dem Westen. In der für die Transformation mitentscheidenden Industrie gibt es eine riesige Abhängigkeit von China: Laut der Lieferkettenexpertin Wan-Hsin Liu vom Kieler Institut für Weltwirtschaft stammten alle zehn führenden Maschinenbauer in der Solarindustrie aus China. Zum Artikel

    Green subsidies: What about the global south? – Social Europe
    Rachel Thrasher geht der Frage nach, welche Folgen das neue grüne Wettrennen der USA und Europa für die Entwicklungsländer haben könnte. Mit ihren Hilfsprojekten könnten sie die notwendigen technologischen und finanziellen Hilfen für den globalen Süden schwächen. Zum Artikel

    Der Kampf um das Herz des Elektroautos – Der Spiegel
    Die europäische Batterieindustrie drängt auf mehr Unterstützung durch die Politik. Zuletzt habe der Kontinent laut Europäischer Batterieallianz die geringste Wachstumsrate bei E-Autos verzeichnet, der auch BMW, VW, Bosch, BASF und Siemens angehören. Das liege an der Knappheit bei Halbleitern und Batterien sowie dem US-Hilfspaket für die Wirtschaft, dem Inflation Reduction Act. Zum Artikel

    Joe Biden is not quitting fossil fuels – The Economist
    Innerhalb der Hälfte der Amtszeit von Joe Biden haben die für das öffentliche Land zuständigen Stellen rund 6.500 Erlaubnisse zum Bohren nach Öl oder Gas erteilt. Unter Trump waren es im gleichen Zeitraum 6.300. Aber die aktuelle Erlaubnis-Bonanza sei mehr in Überhang aus der Trump-Zeit als ein beabsichtigter Politikwechsel, schreibt der Economist. Zum Artikel

    Wissenschaftlerin über Geoengineering: “Wir geben der Natur Rückenwind” – Taz
    Susanne Schwarz hat für die Taz die Geologin Maria-Elena Vorrath interviewt. Diese entwickelt Techniken, mit denen CO₂ aus der Atmosphäre geholt werden kann. Sie sagt: Ohne Geoengineering geht es nicht. Sie sagt aber auch: “Wir können CO₂-Entnahme nur für die Emissionen einsetzen, die sich wirklich nicht vermeiden lassen.” Zum Artikel

    Wir wollen leben, nicht überleben – SZ
    Ein Autorenteam beobachtet für die Süddeutsche Zeitung die Streiks in Europa und fragt sich, ob gerade eine neue Arbeiterbewegung entsteht. Sie schauen nach Deutschland, Frankreich und Großbritannien, wo sich die Situation allerdings unterscheidet. Erfolgreiche Gewerkschaften ziehen dabei neue Mitglieder an. So habe die IG Metall im vergangenen Jahr 117.000 neue Mitglieder gewonnen, so viele wie seit vier Jahren nicht mehr. Zum Artikel

    Why Adani Group’s troubles will reverberate across India – The Economist
    Mit der Adani Group ist ein großer Konzern Indiens in die Krise geraten, weil die Investmentfirma Hindenburg ihm vorwirft, die Aktienkurse von Tochterfirmen manipuliert zu haben. Das indische Unternehmen spielt eine wichtige Rolle beim Umbau der Wirtschaft des Subkontinents. Die Gruppe habe angekündigt, bis 2030 70 Milliarden Dollar in den grünen Umbau der Wirtschaft zu investieren. Zum Artikel

    Können Aktionäre Klimaschutz einklagen? – SZ
    Unternehmen werden immer stärker verpflichtet, ihre Strategien auf Nachhaltigkeit ausrichten, womit die Chancen aktivistischer Kläger steigen. Wolfgang Janisch geht in der Süddeutschen Zeitung der Frage nach, wie erfolgreich solche Klagen bisher waren und was noch zu erwarten ist. Zum Artikel

    Der Kredit der Weltordnung OXI
    Stephan Kaufmann hat sich im linken Wirtschaftsmagazin OXI mit dem Internationalen Währungsfonds befasst. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass der IWF ein globales Wirtschafts- und Handelssystem stabilisiert, “das permanent Verlierer produziert”. Zum Artikel

    Standpunkt

    Mit Hilfe von Gas und Öl die Klimakrise lösen

    Von Kai A. Konrad
    Kai A. Konrad

    Mit der richtigen Weichenstellung könnte die Welt Gas und Öl im Kampf gegen den Klimawandel nutzen. Was paradox klingt, macht Sinn, wenn man sich das gegenwärtige Dilemma in der Klimabemühungen bei dem Umgang mit den fossilen Brennstoffen vor Augen führt. Während Politiker versuchen, aus der Nutzung fossiler Brennstoffe auszusteigen, fürchten Ölstaaten in Zukunft auf ihren bislang wertvollen Ressourcen sitzen zu bleiben. Denn nähme die Nachfrage nach Öl und Gas in den kommenden Jahrzehnten tatsächlich drastisch ab oder wird sogar ein kompletter Ausstieg aus der Nutzung beschlossen, wären die Energieträger weitgehend wertlos. 

    Ein “rush to burn” hätte fatale Folgen

    Diese Perspektive liefert den Besitzern großer Öl- und Gasvorkommen einen Anreiz, so schnell wie möglich zu fördern und zu verkaufen, um nicht auf den “stranded assets” sitzenzubleiben, also auf Vermögenswerten, die dauerhaft von Wertverlusten bis hin zum Totalverlust gekennzeichnet sind. Der Marktwert und damit die Preise sinken drastisch. Öl und Gas zu verbrennen, wird deutlich billiger und wieder attraktiver, was den Ausstoß schädlicher CO₂-Emissionen beschleunigt. Ein sogenannter “rush to burn” hätte fatale Folgen und würde die Bemühungen der Weltgemeinschaft im Kampf gegen den Klimawandel konterkarieren. 

    Deutlich wird dies anhand eines formalen Gleichgewichtsmodells: Je höher der künftig zu erwartende Rohstoffpreis ist, umso eher wird die Nutzung fossiler Energieträger für die CO₂-intensive Verbrennung gestoppt. Doch wie lässt sich die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen aufrechterhalten, ohne weiter große Mengen an CO₂ freizusetzen? Ein Ausweg aus dem Dilemma könnte darin bestehen, erfinderischer bei der Verarbeitung von Erdöl und Erdgas zu werden und neue Produkte zu entwickeln, die einen geringen oder sogar negativen Beitrag zur CO₂-Bilanz liefern. 

    Weltweit höhere Preise würde die Energiewende beflügeln

    Das würde den Markt radikal verändern. Öl und Gas wären als Rohstoffe für zukünftige Produkte wertvoller, als sie es derzeit sind. Länder mit großen fossilen Ressourcen könnten sich mit der Förderung und dem Verkauf in Bezug auf ihre ökonomischen Vorteile Jahrzehnte Zeit lassen. Weltweit höhere Preise würden die Energiewende beflügeln, denn alternative klimafreundliche Energiekonzepte wären am Markt konkurrenzfähiger und ihre Innovation wirtschaftlich interessanter. 

    Selbst wenn manche der wirtschaftlich interessanten klimaneutralen Produkte aus Öl und Gas erst in Jahren oder Jahrzehnten marktreif sein sollten, zeigen gleichgewichtstheoretische Überlegungen, dass die Wirkung auf dem Markt unmittelbar einsetzt. Das hat mit einer Besonderheit von Rohstoffmärkten zu tun. Der Ressourcenvorrat an Öl und Gas ist gegeben und endlich. Wer seinen Vorrat heute verschleudert, hat morgen nichts mehr zu verkaufen. Je lukrativer die künftigen Möglichkeiten sind, desto mehr werden sich die erdölproduzierenden Länder heute bei der Förderung zurückhalten.

    “Türkiser” Wasserstoff aus Methan

    Ohne klare klimafreundliche Nutzungsalternativen wären diese Überlegungen nur Glasperlenspiele. Was aber könnten klimaneutrale Verwendungen für Öl und Gas sein? Eine der vielleicht interessantesten Ideen besteht in der Erzeugung von “türkisem” Wasserstoff aus Methan. Daran wird auch bei der Max-Planck-Gesellschaft geforscht.

    Mit dem Verfahren der katalytischen Pyrolyse wird Erdgas weitgehend ohne Ausstoß von CO₂ in zwei nützliche Stoffe zerlegt: in Wasserstoff, für den es in einer künftigen Wasserstoffwirtschaft eine große Nachfrage geben könnte, und in festen Kohlenstoff. Dieser wiederum kann in Form von Graphit oder von Kohlenstoffnanoröhrchen (CNTs) erzeugt werden und traditionelle Baustoffe wie Aluminium, Stahl oder Beton ersetzen oder bei der Fertigung von Lithium-Ionen-Batterien genutzt werden.

    Die Nutzungszyklen von Plastik sind nicht naturgegeben

    Die Perspektiven für alternative Nutzungskonzepte für Erdöl sind weniger offensichtlich. Langlebige Kunststoffe wie Kunstfasern, Baudämmstoffe oder andere Plastikprodukte sind solche alternativen Nutzungen fossiler Energieträger – besonders, wenn es gelingt, diesen Produkten eine lange Lebensdauer zu geben. Die Nutzungszyklen von Plastik sind nicht naturgegeben. Würden etwa Kunststoffprodukte aus Öl am Ende einer langen und hochwertigen Nutzung tief in die Erde verbracht, letztendlich also dorthin zurück, von wo man das Rohöl zu ihrer Produktion einst entnommen hat, würde der Kohlenstoff dauerhaft gebunden, ohne negativen Folgen für das Klima oder für die Gesundheit von Tier und Mensch. 

    Was klimaneutralen Verwendungen von Öl und Gas angeht, sind Fantasie und Innovationswillen keine Grenzen gesetzt. Im derzeitigen gesellschaftlichen und politischen Klima würden sich die Anreize aber eher auf die Suche nach Stoffen richten, die Plastik ersetzen können und nicht aus Erdöl hergestellt werden. Substitute verdrängen oder verringern aber die künftige Nachfrage nach fossilem Öl und Gas.

    Klimaneutrale oder klimafreundliche Alternativen für die Nutzung von Erdöl und Gas sind eine Lösung des “rush to burn”, die viele Vorteile bringt: Man muss nicht auf kollektive Vereinbarungen warten, die Lösung ist kostengünstig und sie nutzt statt hoher Subventionen und staatlicher Verbote die Kräfte des Marktes für eine erfolgreiche Klimawende. 

    Prof. Dr. Kai A. Konrad ist Direktor am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen sowie Wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft. Er ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften – Leopoldina und vier weiterer wissenschaftlicher Akademien. Von 2007 bis 2018 war er Co-Editor des »Journal of Public Economics«. Seit 1999 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen und war dessen Vorsitzender von 2011 bis 2014. (Der Text ist eine leichte Modifizierung eines Textes, der beim Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen erschienen ist). 

    • Energie
    • Erdgas
    • Klima & Umwelt
    • Klimapolitik
    • Klimaschutz

    Heads

    Heiko Kolz – Der Coworking-Pionier

    Heiko Kolz Coworking
    Heiko Kolz ist Wirtschaftsberater für neue Arbeitsformen.

    Für eine erfolgreiche Transformation der Wirtschaft spielt für Heiko Kolz der Austausch von Arbeitenden mit unterschiedlichen Erfahrungen eine zentrale Rolle. Er inspiriere die Beteiligten, Ideen würden geboren und Energie freigesetzt, sagt der 38-Jährige. Und hier könnten richtig konzipierte Coworking-Spaces eine wichtige Rolle spielen, wenn etwa eine Schneiderin, ein Physiker, ein Gewässerbiologe und ein Verkäufer von Robotik-Armprothesen beim Mittagessen ins Gespräch kommen über Digitalisierung. Wie er es auf dem Alsenhof erlebte, einem Coworking-Space, den er mit drei Mitstreitern in Schleswig-Holstein gegründet hat und als Geschäftsführer führt, so wie auch den Coworking-Space auf dem Anscharcampus, in einem ehemaligen Militärlazarett in Kiel. 

    Menschen mit unterschiedlichen Berufen arbeiten unter einem Dach

    Die Idee von Büros, in denen Menschen je nach Bedarf stunden-, tagesweise oder auch länger einen Schreibtisch mieten können, stammt aus Kaliforniern und fand zunächst Nachahmer in Metropolen. Heiko Kolz gehört zu den Pionieren, die die Idee auf dem Land umsetzten. Auf dem Alsenhof in Lägerdorf bei Itzehoe, wo früher Rinder gezüchtet wurden, arbeiten heute Menschen mit den unterschiedlichen Berufen unter einem Dach. Die Bandbreite an Tätigkeiten gehe von Immobilien- und Projektentwicklung bis zum Aufbau von Communitys und neuer Systeme, sagt Kolz. Menschen können hier auch wohnen oder handwerklich arbeiten. Das ist Kolz, einem gelernten Dachdecker, besonders wichtig. 

    Volkswirtschaftsstudium in Kiel

    Fünf Jahre hat er in dem Beruf gearbeitet und sich gefragt, warum Handwerker eigentlich den ganzen Tag hart arbeiten, Werte und Produkte schaffen und dann mit zwölf Euro nach Hause gehen? Und warum verdienten Manager dagegen das Vielfache? Was ist das für ein Wirtschaftssystem, in dem das möglich ist, fragte sich Kolz und suchte Antworten in einem Volkswirtschaftsstudium in Kiel.

    Aber er war unzufrieden mit den Antworten im herkömmlichen Lehrangebot, wollte grundlegender in die Materie eintauchen. Wieder stellte er sich Fragen: Warum lesen beispielsweise angehende Ökonomen im Bachelor-Studium nicht selbst die Werke von Adam Smith, dem Begründer der Nationalökonomie? Wäre das nicht notwendig, um selbst richtige Schlüsse für sich ziehen zu können? Kolz gründete eine Hochschulgruppe der pluralen Ökonomie, schloss sich also dem Netzwerk an, das von Studierenden nach der Finanzkrise gegründet worden war, die genauso auf der Suche waren wie er selbst. 

    Menschen am Rand der Überforderung

    Lebhaft erzählt er Ende Januar in einem Berliner Café von den großen Krisen unserer Tage: Krieg, Klimawandel, Digitalisierung und Automatisierung. All dies bringe viele Menschen an den Rand der Überforderung oder zur Sinnfrage. Er erzählt von einem IT-Experten, der Pflegeroboter programmieren sollte, aber zu dessen Menschenbild die Pflege von alten Menschen durch Roboter nicht passt. Menschen wie er kämen regelmäßig in die Coworking-Spaces.  

    Aber Kolz redet auch offen darüber, dass viele solcher Coworking-Spaces eher eine Fortsetzung des bisherigen Systems mit einer Profitmaximierung seien als ein Keim für Neues. Die Erfahrung hat er gerade selbst in Berlin gemacht. Zwei Anbieter hätten für drei Stunden mehr als 30 Euro verlangt, sagt er. Als er in seinem sozialen Netzwerk nach Alternativen fragte, schrieb einer, in Berlin gebe es über 80 öffentliche Bibliotheken, wo jeder ganz umsonst in Ruhe arbeiten könne. “Guter Punkt”, antwortete Kolz, der selbst mittlerweile den Begriff Coworking-Spaces vermeidet und lieber von Kreativzentren spricht. Für ihn sind es Orte, an denen Ökonomie, Soziales und Ökologie zusammenfinden. Einige solcher Orte, wo dies gelingt, will er demnächst besuchen. Dafür baut er mit Gleichgesinnten einen Reisebus zu einem Bürobus um, um dann von Kiel bis in die Schweiz zu fahren und auf der Strecke einige solcher Kreativzentren zu besuchen.

    Erste Auszeit seit 20 Jahren

    Kolz kann andere begeistern und investiert auch eine Menge Zeit, um seine Ideen und Überzeugungen in den sozialen Medien zu verbreiten. Aber eines habe er über all sein Tun vernachlässigt, sagt er, das Leben. Nachdenklich erzählt er bei einem Stück Torte, er habe nie ein richtiges Privatleben gehabt, ob als Soldat, Dachdecker, Student oder Unternehmer. “Ich habe mich immer voll in die Aufgaben gestürzt, ohne den Sinn für eine Auszeit.

    Klar geworden sei ihm dies durch seine neue Lebensgefährtin, die er kennenlernte, als sie selbst kürzertreten wollte und nicht glauben konnte, wie viel er arbeitete. Er hat die Reißleine gezogen. Gemeinsam haben sie im Winter vier Wochen Urlaub auf Madeira gemacht und sind gewandert. Für ihn war es die erste Auszeit von der Arbeit seit 20 Jahren. Und er hat festgestellt, in den Kreativzentren kamen die Menschen in dieser Zeit auch ganz gut ohne ihn klar. Caspar Dohmen 

    • Arbeit
    • Klima & Umwelt

    Dessert

    Die Roten Funken beim Kölner Rosenmontagsumzug im Jahr 2020.

    Nur wenige Tage vor dem Rosenmontag ist in Köln ein “Strüßjer”-Streit entbrannt. Doch was sind eigentlich Strüßjer? Eine kurze Recherche zeigt: Ein kleiner Strauß, bestehend aus einer Blume mit etwas Grünzeug. Sie gehören zum rheinischen Karneval wie die legendäre Kamelle. Allein in Köln werfen die Karnevalisten rund 300.000 dieser Strüßjer beim Rosenmontagszug, dem “Zoch”, in die Menge.

    Dort werden sie idealerweise noch in der Luft aufgefangen und eilends in mitgebrachte Beutel gestopft. Und genau da liegt der Kern des Problems. Um zu verhindern, dass im Getümmel die Blüte abknickt oder das ganze Strüßjer auseinanderfällt, wird es in Plastik gehüllt. Ein Umstand, der aus Sicht des Festkomitees Kölner Karneval nicht mehr zeitgemäß ist. Also rief es seine Gesellschaften dazu auf, künftig auf die Kunststoffverpackungen zu verzichten.

    Wie zu erwarten, kam prompt Widerspruch von der Basis, vorneweg die Roten Funken. Die sind nicht irgendjemand. In diesem Jahr feiern sie ihr 200-jähriges Jubiläum und stellen auch noch das Dreigestirn, die offiziellen Regenten über das närrische Volk während der fünften Jahreszeit. Ihr Wort hat Gewicht – und es lautete nein. Aus Gründe des Strüßjer-Schutzes. Außerdem sei es viel entscheidender, bei den 300 Tonnen Kamelle auf Müllvermeidung zu achten, was man selbst bereits tue.

    Weder das Festkomitee noch die Roten Funken stehen mit ihrem Bemühen alleine da. Köln ist schließlich eine Fair-Trade-Stadt. Und so berichtet Olivér Szabó von den Grünen Rheinfunken über positive Erfahrungen, die sein 2020 gegründeter erster ökologischer und sozialer Karnevalsverein Kölns gemacht hat. Aus seiner Sicht ist vor allem die schiere Menge des Wurfmaterials das Problem. Vieles werde zertrampelt oder lande im Müll. Vor allem in dieser Hinsicht müsste ein Umdenken stattfinden, vielleicht auch reguliert werden.

    Strüßjer und Kamelle aus fairer Produktion zu bekommen, ist in Köln jedenfalls kein Problem. Dafür sorgen Initiativen wie die “Jecke Fairsuchung”. Aber viele Karnevalsgruppen kaufen weiterhin überwiegend nicht als fair ausgewiesenes Wurfmaterial. Christoph Alessio, Leiter der Initiative, räumt bedauernd ein, dass es daher bis heute noch nicht gelungen sei, den angestrebten Anteil von 10 Prozent zu erreichen. Doch wie lautet § 5 des Kölner Grundgesetzes: Nix bliev wie et wor. Kölle Alaaf. Carsten Hübner

    ESG.Table Redaktion

    Licenses:

      Jetzt kostenlos anmelden und sofort weiterlesen

      Keine Bankdaten. Keine automatische Verlängerung.

      Sie haben bereits das Table.Briefing Abonnement?

      Anmelden und weiterlesen