schon wieder ein IPCC-Bericht? Und dann auch noch “nur” der Synthese-Report, der bislang Bekanntes zusammenfasst? Wer so denkt, sollte sich nicht täuschen: Die umfangreiche Zusammenfassung des 6. IPCC-Sachstandsberichts hat es in sich. Deshalb hier diese schnelle Reaktion mit einer Climate.Table-Sonderausgabe.
Denn der Bericht, für den Hunderte Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Politik intensiv die Köpfe zusammengesteckt haben, zeigt nicht nur, wie rasend schnell die Klimakrise voranschreitet, dass sie die Ärmsten und Unschuldigsten am härtesten trifft und dass wir eigentlich alles gleichzeitig machen müssen, wenn wir das Schlimmste verhindern wollen. Sondern er zeigt auch, dass und was alles geht: Dass wir das Geld haben, aber falsch einsetzen. Dass wir die neuen sauberen Techniken haben, aber an den dreckigen alten festhalten. Dass wir wissen, was zu tun ist, aber zu träge sind, uns zu ändern.
So politisch und relevant war ein IPCC-Bericht noch nie. Es war aber auch noch nie so dringend, sofort und umfassend zu handeln.
Wenn Ihnen diese Ausgabe gefällt, leiten Sie uns bitte weiter. Wenn Ihnen diese Mail zugeleitet wurde: Hier können Sie das Briefing kostenlos testen.
Wir sind am Donnerstag wieder mit einem normalen Climate.Table da – und gleichzeitig sprechen wir am kommenden Donnerstag mit Jennifer Morgan, der Sondergesandten für Klima im Auswärtigen Amt, über die globale und die deutsche Klimapolitik für 2023 – sicher auch über diesen IPCC-Bericht. Schalten Sie sich hier gern dazu und sagen Sie es weiter!
Und vor allem: Behalten Sie einen langen Atem!
Die Wirkung von wissenschaftlichen Daten auf die Klimapolitik ist bislang kaum messbar. Aber der 6. Synthese-Bericht des Weltklimarats IPCC, der am Montag vorgestellt wurde, wird die globale Klimapolitik deutlich prägen:
Der Synthesebericht des 6. IPCC-Sachstandsbericht (AR6) fasst den Stand der Wissenschaft zusammen, der seit August 2021 erarbeitet wurde. Hunderte von Forscherinnen und Forschern haben in drei Arbeitsgruppen (Physikalische Grundlagen; Klimafolgen und Anpassung; und Emissionsminderung) seit 2015 Tausende von Studien ausgewertet. Außerdem fasst der Synthesebericht die Ergebnisse von drei IPCC-Sondergutachten zusammen: Den 1,5-Grad-Bericht, den Bericht zur Landnutzung und Ernährung und den Bericht über Ozeane und Eis-Regionen der Erde.
Der Synthesebericht enthält also keine neuen Fakten. Er bringt die verschiedenen Ergebnisse der Arbeitsgruppen zusammen und ordnet sie neu. Der aktuelle Bericht ist auch deutlich politischer: Er betont die Rolle der globalen Ungerechtigkeit im Klimawandel, erwähnt vernachlässigte und vulnerable Gruppen, gibt Hinweise auf Lebenstil-Änderungen und beschreibt Lösungen wie erneuerbare Energien als ökonomisch und gesundheitspolitisch vorteilhaft.
Allerdings fasst der Synthesebericht die heißen Eisen der Klimadebatte nur sehr vorsichtig an: Einen Ausstieg aus den fossilen Energien nennt er ebenso wenig konkret wie ein Auslaufen von deren Subventionen oder die Rolle eines CO₂-Preises. Vor allem die großen Schwellenländer wie Indien, China und Saudi-Arabien haben in diesen Bereichen Druck gemacht. Und in fast allen Szenarien des IPCC spielt Gas zumindest bis 2050 noch eine wichtige Rolle.
Immerhin warnt die Zusammenfassung für Entscheidungsträger (SPM), dass schon die jetzige fossile Infrastruktur bei anhaltendem Trend das CO₂-Budget für 1,5 Grad sprengt und fordert “substanzielle Reduktion beim Gebrauch fossiler Brennstoffe” für das Klimaziel. Darauf werden sich alle berufen, die mehr Klimaschutz fordern.
Denn diese Formulierungen werden von allen Regierungen geteilt. In den IPCC-Delegationen sitzen Vertreter der jeweiligen Regierungen. Alles, was der IPCC beschließt, ist also nicht nur Stand der Wissenschaft, sondern auch von den knapp 200 Regierungen abgesegnet, die beim IPCC mitarbeiten. Oliver Geden, Klimaexperte der “Stiftung Wissenschaft und Politik” und Kernautor des Syntheseberichts, nennt ihn deshalb auch ein “diplomatisches Dokument zwischen den Regierungen”. Es definiere “die Grundlagen der UN-Verhandlungen, die nicht mehr infrage gestellt werden.”
Trotzdem führt es immer wieder zu bizarren Situationen, wenn Regierungen beim IPCC Positionen zustimmen, die sie in den politischen Verhandlungen, etwa den UN-Klimaverhandlungen torpedieren. So hat der IPCC im AR6 festgestellt, dass “bestehende und derzeit geplante fossile Infrastruktur die Emissionen für 1,5 Grad-Erwärmung überschreiten” – aber Pläne zum globalen Ausstieg aus den Fossilen scheitern regelmäßig an dem Erfordernis der Einstimmigkeit in der UNO. Ebenfalls moniert der IPCC, private und öffentliche Finanzflüsse in Fossile seien “größer als jene für Anpassung und Klimaschutz” – aber ihre Selbstverpflichtung von 100 Milliarden Dollar pro Jahr an Klimafinanzierung ab 2020 haben die Industrieländer bislang nicht erreicht.
Und auch wenn der Bericht bis 2030 eine Reduzierung der globalen Treibhausgase um 43 Prozent bis 2030 fordert, um das Klimaziel von 1,5 Grad noch zu erreichen, sperren sich viele Regierungen gegen eben jene schnelle und drastische Reduktionsschritte, denen sie im Synthesebericht zustimmen.
Die entscheidende Frage ist für Bob Ward, Klimaexperte der London School of Economics, ob der abschließende Synthesebericht des AR6 “eine starke Erzählung enthält, die den Regierungen eine Richtschnur gibt”. Für ihn gehört dazu ein klares Statement zu einem Ausstieg aus den fossilen Energien. “Die sind der Lord Voldemort der Klimapolitik: Alle wissen, sie sind das Übel, aber niemand wagt es zu benennen.” Bei der COP27 in Ägypten scheiterte etwa ein Vorstoß Indiens und etwa 80 anderer Staaten – also einer Mehrheit des Plenums – einen “Rückgang aller fossilen Brennstoffe” zu beschließen.
Der Synthesebericht wird zentraler Bestandteil der weltweit ersten Bestandsaufnahme der Klimapolitik, die Ende des Jahres auf der COP28 in Dubai verhandelt und beschlossen wird. Das “Global Stocktake” (GST), das im Pariser Abkommen verankert ist, erstellt eine Bilanz, wie weit die Länder kollektiv bei der Erreichung der Klimaziele sind – und was sie noch bis 2030 tun müssen, um auf einen 1,5-Grad-Pfad zu kommen. Dazu müssten die Maßnahmen ganz konkret für die einzelnen Sektoren aufgeschlüsselt werden.
Die einzelnen IPCC-Berichte unterstützen das, wenn sie etwa die Vorteile der Erneuerbaren bei der Energiewende unterstreichen. Der Bericht sei “die zentrale Ressource für Entscheider für das Global Stocktake”, sagte der IPCC-Vorsitzende Hoesung Lee. Dadurch wird der Bericht aber auch zentral für die nächste Runde der nationalen Klimapläne (NDC), die die Regierungen bis 2025 vorlegen müssen. Auch diese Pläne, die bisher höchst unzureichend sind, werden künftig am Maßstab des Synthese-Berichts gemessen.
Für Carl-Friedrich Schleusner, Experte beim Thinktank Climate Analytics, ist deshalb “das Global Stocktake der Lackmustest für das Pariser Abkommen”. Dabei werde der Synthesebericht zeigen, “dass wir die Instrumente haben, die Emissionslücke vor 2030 zu schließen“, aber dass die Emissionen so schnell wie möglich bis 2025 sinken müssten – und dafür keine Zeit bis 2035 bleibe.
Ähnliches hofft auch der dänische Klimaminister Dan Jörgensen. “Wir sind weit weg vom richtigen Pfad, derzeit läuft es auf eine Erwärmung von 2,3 bis 2,5 Grad hinaus. Wir brauchen einen kurzfristigen Plan für schnellere Reduktionen bis 2030. Und ich bin zuversichtlich, dass der IPCC-Bericht uns den zeigen wird.” Die Zeit dränge sehr, so Jörgensen: Selbst in Dänemark, dem “Weltmeister der Windenergie” dauere es “sieben Jahre, bis eine Windkraftanlage steht” – und dann sei schon 2030 erreicht.
Für Li Shuo, Klimaexperte bei Greenpeace China, entscheidet über die Wirkung des Syntheseberichts, ob er “ein Gespür für die Dringlichkeit in die internationale Klimapolitik bringt”. Dann komme es darauf an, ob die Regierungen diesen Schwung nutzten. “Der Bericht zeigt die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht nur bei der CO₂-Reduktion, sondern auch bei Finanzen und bei Schäden und Verlusten. Da muss es eine Balance geben, wenn es Fortschritte geben soll.”
Tatsächlich haben IPCC-Berichte Wirkung: Der AR5 bereitete das Pariser Abkommen vor. Der 1,5-Grad-Bericht machte 2018 aus einem eher theoretischen Ziel eine Markierung, die seitdem weltweit akzeptiert wurde – auch wenn sich am Trend der dafür viel zu hohen Treibhausgas-Emissionen seitdem nichts geändert hat.
Die Gelegenheit, den AR6 im “Global Stocktake” als Argumente für entschiedenes Handeln zu nutzen, ergibt sich bald: Bei der UN-Zwischenkonferenz Anfang Juni in Bonn sollen die technischen Gespräche zum GST abgeschlossen werden, danach beginnt die “politische Phase”. Bisher ist das Interesse der politischen Führung an konkreten Schritten allerdings gering, beklagen Klima-Insider. Auch das soll der Synthesebericht ändern.
Der Bericht schafft auch Aufmerksamkeit für den neuen COP-Präsidenten aus Dubai, Sultan Al Jaber. Der tourt derzeit durch die Welt, um Stimmungen und Kompromisslinien vor der COP28 in seinem Land auszutesten. Anfang dieser Woche ist er in Kopenhagen, wo Dänemark Vertreter von etwa 40 Ländern versammelt, Anfang März war er in Houston bei der CERAWeek-Energie-Konferenz, demnächst wird er in China erwartet.
Auch die internationale Großwetterlage ist für eine Wirkung des IPCC-Berichts recht günstig. Zwar lähmt der russische Krieg gegen die Ukraine die G20 und die G7. Aber erst vor zwei Wochen einigten sich die UN-Staaten überraschend auf einen weitgehenden Vertrag zum Schutz der Meere. Und bereits im Dezember war eine Einigung bei der Artenschutz-Konferenz COP15 in Montreal gelungen.
Frau Jacob, zu jedem IPCC-Bericht gehört eine Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse, eigens für politische Entscheidungsträger destilliert. Wie viele Politikerinnen und Politiker lesen und verstehen diese Texte wirklich?
Ich glaube, der Synthesebericht wird von sehr vielen gelesen und auch verstanden. Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr das Interesse an den IPCC-Berichten in den vergangenen Jahren gestiegen ist, und in Kommunalverwaltungen, privaten Unternehmen und Ministerien erlebe ich sehr viel Sachverstand.
Dennoch sind Emissionen in den vergangenen Jahren trotz aller IPCC-Berichte weiter gestiegen. Wie sehr frustriert Sie das?
Ich würde das differenzierter betrachten. Es gibt heute sehr viel mehr Aufmerksamkeit für den Klimaschutz als noch vor fünf oder zehn Jahren, und viel mehr Menschen ist die Notwendigkeit für Klimaschutz bewusst. Das ist zunächst einmal gut.
Aufmerksamkeit allein reicht aber nicht. Was hat sich durch den IPCC politisch geändert?
Ohne den IPCC hätten wir kein Pariser Klimaabkommen. Die Klimaschutzversprechen der einzelnen Staaten innerhalb der UN-Verhandlungen sind ehrgeiziger geworden. Werden sie alle umgesetzt, könnte sich die Erderwärmung bei 2,3 oder 2,5 Grad plus stabilisieren – das ist zwar immer noch nicht das, was im Pariser Abkommen vereinbart wurde, aber doch deutlich besser als die drei oder vier Grad, auf die wir früher zusteuerten. Und auch die Versprechen vieler Nationen zur Klimaneutralität, zum Beispiel von Indien, das 2060 klimaneutral werden will, sind ein großer Schritt nach vorn.
Aber offensichtlich gibt es auch Widerstand gegen mehr Klimaschutz, sonst wären wir doch längst weiter.
Ja, und das ist das Frustrierende, finde ich: Die Zivilgesellschaft macht Druck, die Wirtschaft möchte Investitionssicherheit für Innovationen, und die Regierungen greifen das viel zu zögerlich auf. Auch in Deutschland gibt es ja so eine Tendenz zur Besitzstandswahrung in Teilen der Regierung. Das passt nicht mehr in die Zeit.
Sind Sie optimistisch oder pessimistisch, was die nächsten Jahre angeht?
Ich glaube, dass wir eine sehr turbulente Dekade vor uns haben, mit Konflikten zwischen denen, die schneller nach vorne wollen im Klimaschutz, und den anderen, die sich nicht reinreden lassen wollen und Verluste fürchten. Als Wissenschaftlerin überrascht mich der Widerstand zwar nicht, aber frustrierend ist es schon, dass es nicht schneller vorangeht.
Zugleich schrumpft die Zeit, die uns noch bleibt, um die Pariser Ziele zu erreichen.
Das war für mich ein Grund, nicht mehr so aktiv im IPCC mitzuarbeiten. Nach dem 1,5-Grad-Bericht hatte ich so viel Wissen angesammelt, dass ich mich lieber auf die Umsetzung konzentrieren wollte. So habe ich mehr Zeit, mein Wissen und meine Meinungen in Beratungen zur Entscheidungsunterstützung einzubringen.
Wenn Sie sagen, dass Sie in Kommunen und Ministerien viel Sachverstand erleben – wie äußert sich der?
Verantwortliche aus den Kommunen fragen mich, ob sie Entscheidungen, die sie vor fünf oder zehn Jahren auf der Grundlage der damals gültigen IPCC-Berichte getroffen haben, heute revidieren sollten. Sie haben beispielsweise ein riesiges Regenrückhaltebecken gebaut. Jetzt sagt der IPCC: Die extremen Niederschläge in ihrer Region werden mit hoher Wahrscheinlichkeit steigen. Brauchen sie also ein neues Becken, oder reicht das alte aus? Das ist eine ganz typische Frage und zeigt, dass sich die Kommunen zunehmend stärker mit den Inhalten der IPCC-Berichte auseinandersetzen.
Und international?
Da geht es häufig darum, welche Anpassungsmaßnahmen ein Land ergreifen kann. Im Rahmen der Vereinten Nationen wird debattiert, wie ein Nationaler Anpassungsplan für ein Land aussehen kann. In diese Diskussionen gehen nicht nur die Zusammenfassungen aus den IPCC-Berichten ein, sondern auch die dahinterliegenden wissenschaftlichen Arbeiten und Datenbanken.
Brauchen wir die Berichte des IPCC überhaupt noch für den Klimaschutz?
Die Wissenschaft braucht sie auf jeden Fall, weil die IPCC-Berichte immer auch zeigen, wo noch Forschungsbedarf besteht – und wenn die Wissenslücken geschlossen werden, hilft das natürlich auch dem Klima. Für die Zukunft könnte ich mir eine Zweiteilung vorstellen: Eine Art von Berichten, die sich auf die Lücken in der Forschung konzentrieren. Und eine andere, die analysiert, was in Klimaschutz und Klimaanpassung notwendig ist. Die zeigt: Was würde es bedeuten, wenn die Politik sich so oder anders entscheidet? Wenn sie ein Regenrückhaltebecken baut, Moore vernässt, massiv CO₂ aus der Atmosphäre entzieht? Welche Auswirkungen hat massives Carbon Dioxide Removal auf das globale Klima – und an dem Ort, an dem die Anlagen gebaut werden? Könnte ich damit beispielsweise in ärmeren Ländern positive sozioökonomische Folgen bewirken?
Also ein stärkerer Fokus auf Lösungen.
Ja, aber natürlich politisch neutral. Der IPCC würde verschiedene Optionen aufzeigen, ihre Vor- und Nachteile analysieren, und der Politik so eine informierte Entscheidung ermöglichen, von der globalen bis hinunter zur lokalen Ebene. Das würde ich gerne sehen.
Welche Themen müssten im nächsten Berichtszyklus Priorität haben?
Ich gehe davon aus, dass wir sehr viel Forschung zu negativen Emissionen sehen werden, und dass auch das Thema der Climate Intervention ganz massiv kommen wird – also das, was man früher Geoengineering nannte.
Welche Auswirkungen erhoffen Sie sich vom aktuellen Synthesebericht auf die Politik?
Es gibt dieses recht neue Konzept einer klimaresilienten Entwicklung. Es besagt: Man muss das Klima, die Ökosysteme und menschliche Gesellschaften gemeinsam betrachten und kann sie nur zusammen nachhaltig nach vorne bringen. Das ist ganz entscheidend. Ich hoffe, das Ideal einer klimaresilienten Entwicklung – also CO₂-neutral und sozial fair, von der globalen bis zur lokalen Ebene – wird künftig handlungsleitend für die Politik.
Die Meteorologin Daniela Jacob leitet das Climate Service Center Germany (GERICS). Sie war koordinierende Leitautorin des IPCC-Sonderberichts über die Auswirkungen einer globalen Erwärmung um 1,5 Grad und eine der führenden Autorinnen des fünften IPCC-Sachstandsberichts.
UN-Generalsekretär António Guterres fand erneut deutliche Worte. “Die Klima-Zeitbombe tickt. Aber der IPCC-Bericht ist eine Anleitung, diese Zeitbombe zu entschärfen”. Guterres rief die G20-Staaten auf, ihre Bemühungen zum Klimaschutz zu verstärken und Schwellen- und Entwicklungsländern finanzielle und technische Ressourcen bereitzustellen, damit das 1,5-Grad-Ziel “am Leben erhalten” werden könne. Konkret rief er zum Kohleausstieg bis 2030 in den OECD-Staaten und weltweit bis 2040 auf. Neue Öl- und Gasvorkommen sollten nicht mehr erschlossen werden.
Madeleine Diouf Sarr, Vorsitzende der Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder (LDC), sagte: “Die Armen und Schwachen sind die Leidtragenden unserer kollektiven Untätigkeit” beim Klimawandel. Es sei enttäuschend, dass sich “das Wachstum der Klimafinanzierung seit 2018 verlangsamt hat”, so Sarr. Der Zugang zu Finanzierung müsse verbessert werden. “Ohne eine stärkere Abschwächung der Folgen und Anpassung an den Klimawandel stürzt die Welt die am wenigsten entwickelten Länder in die Armut”. Der Fonds für Verluste und Schäden müsse bis Ende des Jahres eingerichtet sein.
Mohamed Adow, Vorsitzender der NGO Power Shift Africa sagte: “Afrikaner erleben die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels: Überschwemmungen, Stürme und Dürren, wie die, die derzeit in Ostafrika Menschenleben fordern. Es ist klar, dass dieses Leid ohne rasches Handeln zunehmen wird”. Der IPCC-Bericht sei ein “Weckruf”. Adow rief zu einer beschleunigten Energiewende auf.
Jeni Miller, Geschäftsführerin der Global Climate and Health Alliance, ein Verband von Gesundheits-NGOs und Gesundheitsexperten, sagte, der IPCC-Bericht zeige die Dringlichkeit des Handlungsbedarfs. Jede Regierung müsse auf die drohenden Verluste und Schäden (Loss and Damage) für die Gesundheit der Menschen reagieren. Der Zugang zu sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen, Kliniken und anderen lebenswichtigen Dingen für die Gesundheit sei aufgrund der Klimaauswirkungen beeinträchtigt. Die Regierungen müssten mit Anpassungs- und Mitigations-Maßnahmen wie dem Ende fossiler Rohstoffe reagieren.
Klaus Röhrig Leiter der Klima-Abteilung von CAN Europe sagte: Das 1,5-Grad-Ziel sei “kein Schlagwort, kein Wunschzettel von Umweltschützern. Es ist ein wissenschaftliches Überlebensziel”. Der European Green Deal sei “sehr unzureichend”. Die noch offenen Green-Deal-Gesetze in den Bereichen Gebäude, Gas und Erneuerbare müssten “viel höhere Ziele stecken“, sodass das Fit For 55-Paket nicht nur eine Reduktion von 55 Prozent der CO₂-Emissionen erreicht, sondern näher an 65 Prozent liegen werde.
Der umweltpolitische Sprecher der EVP im EU-Parlament, Peter Liese (CDU), fordert “massive Anstrengungen” beim Thema negative Emission. “Wir müssen die Technologien, die CO₂ aus der Atmosphäre entnehmen, besser fördern.” EU-Kommission, Ministerrat und eine Mehrheit des EU-Parlamentes hätten jedoch abgelehnt, diese Technologie in den Emissionshandel einzubeziehen, so Liese. Dies müsse so schnell wie möglich nachgeholt werden, damit rechtzeitig ein “industrielles Ausmaß” der CO₂-Entnahme möglich sei.
Gleichzeitig kritisiert der Abgeordnete, die Debatte über Emissionsminderungen dürfe sich nicht allein auf Deutschland und Europa fokussieren und stattdessen beim internationalen Klimaschutz erfolgreicher sein. Europas Klimaziele seien ambitioniert, andere Industriestaaten und viele Schwellenländer blieben jedoch hinter den Erwartungen zurück, so Liese. Insbesondere China müsse durch ein europäisches Vorbild einer dekarbonisierten Industrie überzeugt werden.
Auch EU-Klimakommissar Frans Timmermans fordert höhere Klimaziele insbesondere von Industrie- und Schwellenländern, wie sie es in Glasgow und Sharm el-Sheikh versprochen hätten, sowie solide nationale Gesetze, um die Ziele zu erreichen.
Der Niederländer Bas Eickhout (Grüne), Delegationsleiter des EU-Parlaments bei der COP27, will hingegen deutlich höhere Klimaziele auch für Europa. Reichere Länder müssten viel schneller klimaneutral werden – “nicht im Jahr 2050, sondern 2040”. Er fordert die EU-Kommission daher auf, schon für 2040 die Klimaneutralität des Kontinents als Ziel auszugeben.
Klima-Ökonom Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung PIK, sagte: “Der Report zeigt, dass in bestimmten Weltregionen gerade eine Entkoppelung von CO₂-Emissionen und Wirtschaftswachstum einsetzt”. Er forderte dennoch rasches Handels und die “Treibhausgasemissionen dauerhaft in allen Sektoren zu verringern”. Dafür seien auch “Carbon Dioxide Removal–Technologien notwendig, deren Einsatz mit moderaten ökonomischen Kosten verbunden ist”. Lili Fuhr, stellvertretende Direktorin des Climate and Energy Program des Center for International Environmental Law (CIEL) nannte Carbon Capture and Storage und Carbon Dioxide Removals hingegen “Technofixes”. Man dürfe sich darauf nicht verlassen und riskiere ein Überschreiten der Klimaziele.
Stephen Singer, Energie- und Wissenschaftsexperte des Climate Action Network International warnte vor zunehmenden Extremwetterereignissen. “Derzeitige Jahrhundert-Fluten und -Stürme werden in einigen Weltregionen zu jährlichen Vorfällen werden, wenn die Welt die CO₂-Emissionen nicht sofort senkt”. Die Politik müsse Solar- und Windenergie ausbauen, die Energieeffizienz verbessern, die Entwaldung stoppen und die Ernährung umstellen.
Oliver Geden, Mit-Autor des IPCC-Berichts, sagte: “Wir müssen anfangen, uns ernsthaft mit der Welt jenseits von 1,5 Grad Temperaturanstieg zu beschäftigen, weil wir auf diese zusteuern”. Wichtig sei die Beschäftigung mit den Fragen, was ein solcher Temperaturanstieg für das Klimasystem heißt, für die Auswirkungen, Risiken und die Anpassung. Sich mit einer Welt über 1,5-Grad zu beschäftigen, hieße nicht, sich paralysieren zu lassen. Mit Lukas Scheid
schon wieder ein IPCC-Bericht? Und dann auch noch “nur” der Synthese-Report, der bislang Bekanntes zusammenfasst? Wer so denkt, sollte sich nicht täuschen: Die umfangreiche Zusammenfassung des 6. IPCC-Sachstandsberichts hat es in sich. Deshalb hier diese schnelle Reaktion mit einer Climate.Table-Sonderausgabe.
Denn der Bericht, für den Hunderte Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Politik intensiv die Köpfe zusammengesteckt haben, zeigt nicht nur, wie rasend schnell die Klimakrise voranschreitet, dass sie die Ärmsten und Unschuldigsten am härtesten trifft und dass wir eigentlich alles gleichzeitig machen müssen, wenn wir das Schlimmste verhindern wollen. Sondern er zeigt auch, dass und was alles geht: Dass wir das Geld haben, aber falsch einsetzen. Dass wir die neuen sauberen Techniken haben, aber an den dreckigen alten festhalten. Dass wir wissen, was zu tun ist, aber zu träge sind, uns zu ändern.
So politisch und relevant war ein IPCC-Bericht noch nie. Es war aber auch noch nie so dringend, sofort und umfassend zu handeln.
Wenn Ihnen diese Ausgabe gefällt, leiten Sie uns bitte weiter. Wenn Ihnen diese Mail zugeleitet wurde: Hier können Sie das Briefing kostenlos testen.
Wir sind am Donnerstag wieder mit einem normalen Climate.Table da – und gleichzeitig sprechen wir am kommenden Donnerstag mit Jennifer Morgan, der Sondergesandten für Klima im Auswärtigen Amt, über die globale und die deutsche Klimapolitik für 2023 – sicher auch über diesen IPCC-Bericht. Schalten Sie sich hier gern dazu und sagen Sie es weiter!
Und vor allem: Behalten Sie einen langen Atem!
Die Wirkung von wissenschaftlichen Daten auf die Klimapolitik ist bislang kaum messbar. Aber der 6. Synthese-Bericht des Weltklimarats IPCC, der am Montag vorgestellt wurde, wird die globale Klimapolitik deutlich prägen:
Der Synthesebericht des 6. IPCC-Sachstandsbericht (AR6) fasst den Stand der Wissenschaft zusammen, der seit August 2021 erarbeitet wurde. Hunderte von Forscherinnen und Forschern haben in drei Arbeitsgruppen (Physikalische Grundlagen; Klimafolgen und Anpassung; und Emissionsminderung) seit 2015 Tausende von Studien ausgewertet. Außerdem fasst der Synthesebericht die Ergebnisse von drei IPCC-Sondergutachten zusammen: Den 1,5-Grad-Bericht, den Bericht zur Landnutzung und Ernährung und den Bericht über Ozeane und Eis-Regionen der Erde.
Der Synthesebericht enthält also keine neuen Fakten. Er bringt die verschiedenen Ergebnisse der Arbeitsgruppen zusammen und ordnet sie neu. Der aktuelle Bericht ist auch deutlich politischer: Er betont die Rolle der globalen Ungerechtigkeit im Klimawandel, erwähnt vernachlässigte und vulnerable Gruppen, gibt Hinweise auf Lebenstil-Änderungen und beschreibt Lösungen wie erneuerbare Energien als ökonomisch und gesundheitspolitisch vorteilhaft.
Allerdings fasst der Synthesebericht die heißen Eisen der Klimadebatte nur sehr vorsichtig an: Einen Ausstieg aus den fossilen Energien nennt er ebenso wenig konkret wie ein Auslaufen von deren Subventionen oder die Rolle eines CO₂-Preises. Vor allem die großen Schwellenländer wie Indien, China und Saudi-Arabien haben in diesen Bereichen Druck gemacht. Und in fast allen Szenarien des IPCC spielt Gas zumindest bis 2050 noch eine wichtige Rolle.
Immerhin warnt die Zusammenfassung für Entscheidungsträger (SPM), dass schon die jetzige fossile Infrastruktur bei anhaltendem Trend das CO₂-Budget für 1,5 Grad sprengt und fordert “substanzielle Reduktion beim Gebrauch fossiler Brennstoffe” für das Klimaziel. Darauf werden sich alle berufen, die mehr Klimaschutz fordern.
Denn diese Formulierungen werden von allen Regierungen geteilt. In den IPCC-Delegationen sitzen Vertreter der jeweiligen Regierungen. Alles, was der IPCC beschließt, ist also nicht nur Stand der Wissenschaft, sondern auch von den knapp 200 Regierungen abgesegnet, die beim IPCC mitarbeiten. Oliver Geden, Klimaexperte der “Stiftung Wissenschaft und Politik” und Kernautor des Syntheseberichts, nennt ihn deshalb auch ein “diplomatisches Dokument zwischen den Regierungen”. Es definiere “die Grundlagen der UN-Verhandlungen, die nicht mehr infrage gestellt werden.”
Trotzdem führt es immer wieder zu bizarren Situationen, wenn Regierungen beim IPCC Positionen zustimmen, die sie in den politischen Verhandlungen, etwa den UN-Klimaverhandlungen torpedieren. So hat der IPCC im AR6 festgestellt, dass “bestehende und derzeit geplante fossile Infrastruktur die Emissionen für 1,5 Grad-Erwärmung überschreiten” – aber Pläne zum globalen Ausstieg aus den Fossilen scheitern regelmäßig an dem Erfordernis der Einstimmigkeit in der UNO. Ebenfalls moniert der IPCC, private und öffentliche Finanzflüsse in Fossile seien “größer als jene für Anpassung und Klimaschutz” – aber ihre Selbstverpflichtung von 100 Milliarden Dollar pro Jahr an Klimafinanzierung ab 2020 haben die Industrieländer bislang nicht erreicht.
Und auch wenn der Bericht bis 2030 eine Reduzierung der globalen Treibhausgase um 43 Prozent bis 2030 fordert, um das Klimaziel von 1,5 Grad noch zu erreichen, sperren sich viele Regierungen gegen eben jene schnelle und drastische Reduktionsschritte, denen sie im Synthesebericht zustimmen.
Die entscheidende Frage ist für Bob Ward, Klimaexperte der London School of Economics, ob der abschließende Synthesebericht des AR6 “eine starke Erzählung enthält, die den Regierungen eine Richtschnur gibt”. Für ihn gehört dazu ein klares Statement zu einem Ausstieg aus den fossilen Energien. “Die sind der Lord Voldemort der Klimapolitik: Alle wissen, sie sind das Übel, aber niemand wagt es zu benennen.” Bei der COP27 in Ägypten scheiterte etwa ein Vorstoß Indiens und etwa 80 anderer Staaten – also einer Mehrheit des Plenums – einen “Rückgang aller fossilen Brennstoffe” zu beschließen.
Der Synthesebericht wird zentraler Bestandteil der weltweit ersten Bestandsaufnahme der Klimapolitik, die Ende des Jahres auf der COP28 in Dubai verhandelt und beschlossen wird. Das “Global Stocktake” (GST), das im Pariser Abkommen verankert ist, erstellt eine Bilanz, wie weit die Länder kollektiv bei der Erreichung der Klimaziele sind – und was sie noch bis 2030 tun müssen, um auf einen 1,5-Grad-Pfad zu kommen. Dazu müssten die Maßnahmen ganz konkret für die einzelnen Sektoren aufgeschlüsselt werden.
Die einzelnen IPCC-Berichte unterstützen das, wenn sie etwa die Vorteile der Erneuerbaren bei der Energiewende unterstreichen. Der Bericht sei “die zentrale Ressource für Entscheider für das Global Stocktake”, sagte der IPCC-Vorsitzende Hoesung Lee. Dadurch wird der Bericht aber auch zentral für die nächste Runde der nationalen Klimapläne (NDC), die die Regierungen bis 2025 vorlegen müssen. Auch diese Pläne, die bisher höchst unzureichend sind, werden künftig am Maßstab des Synthese-Berichts gemessen.
Für Carl-Friedrich Schleusner, Experte beim Thinktank Climate Analytics, ist deshalb “das Global Stocktake der Lackmustest für das Pariser Abkommen”. Dabei werde der Synthesebericht zeigen, “dass wir die Instrumente haben, die Emissionslücke vor 2030 zu schließen“, aber dass die Emissionen so schnell wie möglich bis 2025 sinken müssten – und dafür keine Zeit bis 2035 bleibe.
Ähnliches hofft auch der dänische Klimaminister Dan Jörgensen. “Wir sind weit weg vom richtigen Pfad, derzeit läuft es auf eine Erwärmung von 2,3 bis 2,5 Grad hinaus. Wir brauchen einen kurzfristigen Plan für schnellere Reduktionen bis 2030. Und ich bin zuversichtlich, dass der IPCC-Bericht uns den zeigen wird.” Die Zeit dränge sehr, so Jörgensen: Selbst in Dänemark, dem “Weltmeister der Windenergie” dauere es “sieben Jahre, bis eine Windkraftanlage steht” – und dann sei schon 2030 erreicht.
Für Li Shuo, Klimaexperte bei Greenpeace China, entscheidet über die Wirkung des Syntheseberichts, ob er “ein Gespür für die Dringlichkeit in die internationale Klimapolitik bringt”. Dann komme es darauf an, ob die Regierungen diesen Schwung nutzten. “Der Bericht zeigt die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht nur bei der CO₂-Reduktion, sondern auch bei Finanzen und bei Schäden und Verlusten. Da muss es eine Balance geben, wenn es Fortschritte geben soll.”
Tatsächlich haben IPCC-Berichte Wirkung: Der AR5 bereitete das Pariser Abkommen vor. Der 1,5-Grad-Bericht machte 2018 aus einem eher theoretischen Ziel eine Markierung, die seitdem weltweit akzeptiert wurde – auch wenn sich am Trend der dafür viel zu hohen Treibhausgas-Emissionen seitdem nichts geändert hat.
Die Gelegenheit, den AR6 im “Global Stocktake” als Argumente für entschiedenes Handeln zu nutzen, ergibt sich bald: Bei der UN-Zwischenkonferenz Anfang Juni in Bonn sollen die technischen Gespräche zum GST abgeschlossen werden, danach beginnt die “politische Phase”. Bisher ist das Interesse der politischen Führung an konkreten Schritten allerdings gering, beklagen Klima-Insider. Auch das soll der Synthesebericht ändern.
Der Bericht schafft auch Aufmerksamkeit für den neuen COP-Präsidenten aus Dubai, Sultan Al Jaber. Der tourt derzeit durch die Welt, um Stimmungen und Kompromisslinien vor der COP28 in seinem Land auszutesten. Anfang dieser Woche ist er in Kopenhagen, wo Dänemark Vertreter von etwa 40 Ländern versammelt, Anfang März war er in Houston bei der CERAWeek-Energie-Konferenz, demnächst wird er in China erwartet.
Auch die internationale Großwetterlage ist für eine Wirkung des IPCC-Berichts recht günstig. Zwar lähmt der russische Krieg gegen die Ukraine die G20 und die G7. Aber erst vor zwei Wochen einigten sich die UN-Staaten überraschend auf einen weitgehenden Vertrag zum Schutz der Meere. Und bereits im Dezember war eine Einigung bei der Artenschutz-Konferenz COP15 in Montreal gelungen.
Frau Jacob, zu jedem IPCC-Bericht gehört eine Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse, eigens für politische Entscheidungsträger destilliert. Wie viele Politikerinnen und Politiker lesen und verstehen diese Texte wirklich?
Ich glaube, der Synthesebericht wird von sehr vielen gelesen und auch verstanden. Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr das Interesse an den IPCC-Berichten in den vergangenen Jahren gestiegen ist, und in Kommunalverwaltungen, privaten Unternehmen und Ministerien erlebe ich sehr viel Sachverstand.
Dennoch sind Emissionen in den vergangenen Jahren trotz aller IPCC-Berichte weiter gestiegen. Wie sehr frustriert Sie das?
Ich würde das differenzierter betrachten. Es gibt heute sehr viel mehr Aufmerksamkeit für den Klimaschutz als noch vor fünf oder zehn Jahren, und viel mehr Menschen ist die Notwendigkeit für Klimaschutz bewusst. Das ist zunächst einmal gut.
Aufmerksamkeit allein reicht aber nicht. Was hat sich durch den IPCC politisch geändert?
Ohne den IPCC hätten wir kein Pariser Klimaabkommen. Die Klimaschutzversprechen der einzelnen Staaten innerhalb der UN-Verhandlungen sind ehrgeiziger geworden. Werden sie alle umgesetzt, könnte sich die Erderwärmung bei 2,3 oder 2,5 Grad plus stabilisieren – das ist zwar immer noch nicht das, was im Pariser Abkommen vereinbart wurde, aber doch deutlich besser als die drei oder vier Grad, auf die wir früher zusteuerten. Und auch die Versprechen vieler Nationen zur Klimaneutralität, zum Beispiel von Indien, das 2060 klimaneutral werden will, sind ein großer Schritt nach vorn.
Aber offensichtlich gibt es auch Widerstand gegen mehr Klimaschutz, sonst wären wir doch längst weiter.
Ja, und das ist das Frustrierende, finde ich: Die Zivilgesellschaft macht Druck, die Wirtschaft möchte Investitionssicherheit für Innovationen, und die Regierungen greifen das viel zu zögerlich auf. Auch in Deutschland gibt es ja so eine Tendenz zur Besitzstandswahrung in Teilen der Regierung. Das passt nicht mehr in die Zeit.
Sind Sie optimistisch oder pessimistisch, was die nächsten Jahre angeht?
Ich glaube, dass wir eine sehr turbulente Dekade vor uns haben, mit Konflikten zwischen denen, die schneller nach vorne wollen im Klimaschutz, und den anderen, die sich nicht reinreden lassen wollen und Verluste fürchten. Als Wissenschaftlerin überrascht mich der Widerstand zwar nicht, aber frustrierend ist es schon, dass es nicht schneller vorangeht.
Zugleich schrumpft die Zeit, die uns noch bleibt, um die Pariser Ziele zu erreichen.
Das war für mich ein Grund, nicht mehr so aktiv im IPCC mitzuarbeiten. Nach dem 1,5-Grad-Bericht hatte ich so viel Wissen angesammelt, dass ich mich lieber auf die Umsetzung konzentrieren wollte. So habe ich mehr Zeit, mein Wissen und meine Meinungen in Beratungen zur Entscheidungsunterstützung einzubringen.
Wenn Sie sagen, dass Sie in Kommunen und Ministerien viel Sachverstand erleben – wie äußert sich der?
Verantwortliche aus den Kommunen fragen mich, ob sie Entscheidungen, die sie vor fünf oder zehn Jahren auf der Grundlage der damals gültigen IPCC-Berichte getroffen haben, heute revidieren sollten. Sie haben beispielsweise ein riesiges Regenrückhaltebecken gebaut. Jetzt sagt der IPCC: Die extremen Niederschläge in ihrer Region werden mit hoher Wahrscheinlichkeit steigen. Brauchen sie also ein neues Becken, oder reicht das alte aus? Das ist eine ganz typische Frage und zeigt, dass sich die Kommunen zunehmend stärker mit den Inhalten der IPCC-Berichte auseinandersetzen.
Und international?
Da geht es häufig darum, welche Anpassungsmaßnahmen ein Land ergreifen kann. Im Rahmen der Vereinten Nationen wird debattiert, wie ein Nationaler Anpassungsplan für ein Land aussehen kann. In diese Diskussionen gehen nicht nur die Zusammenfassungen aus den IPCC-Berichten ein, sondern auch die dahinterliegenden wissenschaftlichen Arbeiten und Datenbanken.
Brauchen wir die Berichte des IPCC überhaupt noch für den Klimaschutz?
Die Wissenschaft braucht sie auf jeden Fall, weil die IPCC-Berichte immer auch zeigen, wo noch Forschungsbedarf besteht – und wenn die Wissenslücken geschlossen werden, hilft das natürlich auch dem Klima. Für die Zukunft könnte ich mir eine Zweiteilung vorstellen: Eine Art von Berichten, die sich auf die Lücken in der Forschung konzentrieren. Und eine andere, die analysiert, was in Klimaschutz und Klimaanpassung notwendig ist. Die zeigt: Was würde es bedeuten, wenn die Politik sich so oder anders entscheidet? Wenn sie ein Regenrückhaltebecken baut, Moore vernässt, massiv CO₂ aus der Atmosphäre entzieht? Welche Auswirkungen hat massives Carbon Dioxide Removal auf das globale Klima – und an dem Ort, an dem die Anlagen gebaut werden? Könnte ich damit beispielsweise in ärmeren Ländern positive sozioökonomische Folgen bewirken?
Also ein stärkerer Fokus auf Lösungen.
Ja, aber natürlich politisch neutral. Der IPCC würde verschiedene Optionen aufzeigen, ihre Vor- und Nachteile analysieren, und der Politik so eine informierte Entscheidung ermöglichen, von der globalen bis hinunter zur lokalen Ebene. Das würde ich gerne sehen.
Welche Themen müssten im nächsten Berichtszyklus Priorität haben?
Ich gehe davon aus, dass wir sehr viel Forschung zu negativen Emissionen sehen werden, und dass auch das Thema der Climate Intervention ganz massiv kommen wird – also das, was man früher Geoengineering nannte.
Welche Auswirkungen erhoffen Sie sich vom aktuellen Synthesebericht auf die Politik?
Es gibt dieses recht neue Konzept einer klimaresilienten Entwicklung. Es besagt: Man muss das Klima, die Ökosysteme und menschliche Gesellschaften gemeinsam betrachten und kann sie nur zusammen nachhaltig nach vorne bringen. Das ist ganz entscheidend. Ich hoffe, das Ideal einer klimaresilienten Entwicklung – also CO₂-neutral und sozial fair, von der globalen bis zur lokalen Ebene – wird künftig handlungsleitend für die Politik.
Die Meteorologin Daniela Jacob leitet das Climate Service Center Germany (GERICS). Sie war koordinierende Leitautorin des IPCC-Sonderberichts über die Auswirkungen einer globalen Erwärmung um 1,5 Grad und eine der führenden Autorinnen des fünften IPCC-Sachstandsberichts.
UN-Generalsekretär António Guterres fand erneut deutliche Worte. “Die Klima-Zeitbombe tickt. Aber der IPCC-Bericht ist eine Anleitung, diese Zeitbombe zu entschärfen”. Guterres rief die G20-Staaten auf, ihre Bemühungen zum Klimaschutz zu verstärken und Schwellen- und Entwicklungsländern finanzielle und technische Ressourcen bereitzustellen, damit das 1,5-Grad-Ziel “am Leben erhalten” werden könne. Konkret rief er zum Kohleausstieg bis 2030 in den OECD-Staaten und weltweit bis 2040 auf. Neue Öl- und Gasvorkommen sollten nicht mehr erschlossen werden.
Madeleine Diouf Sarr, Vorsitzende der Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder (LDC), sagte: “Die Armen und Schwachen sind die Leidtragenden unserer kollektiven Untätigkeit” beim Klimawandel. Es sei enttäuschend, dass sich “das Wachstum der Klimafinanzierung seit 2018 verlangsamt hat”, so Sarr. Der Zugang zu Finanzierung müsse verbessert werden. “Ohne eine stärkere Abschwächung der Folgen und Anpassung an den Klimawandel stürzt die Welt die am wenigsten entwickelten Länder in die Armut”. Der Fonds für Verluste und Schäden müsse bis Ende des Jahres eingerichtet sein.
Mohamed Adow, Vorsitzender der NGO Power Shift Africa sagte: “Afrikaner erleben die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels: Überschwemmungen, Stürme und Dürren, wie die, die derzeit in Ostafrika Menschenleben fordern. Es ist klar, dass dieses Leid ohne rasches Handeln zunehmen wird”. Der IPCC-Bericht sei ein “Weckruf”. Adow rief zu einer beschleunigten Energiewende auf.
Jeni Miller, Geschäftsführerin der Global Climate and Health Alliance, ein Verband von Gesundheits-NGOs und Gesundheitsexperten, sagte, der IPCC-Bericht zeige die Dringlichkeit des Handlungsbedarfs. Jede Regierung müsse auf die drohenden Verluste und Schäden (Loss and Damage) für die Gesundheit der Menschen reagieren. Der Zugang zu sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen, Kliniken und anderen lebenswichtigen Dingen für die Gesundheit sei aufgrund der Klimaauswirkungen beeinträchtigt. Die Regierungen müssten mit Anpassungs- und Mitigations-Maßnahmen wie dem Ende fossiler Rohstoffe reagieren.
Klaus Röhrig Leiter der Klima-Abteilung von CAN Europe sagte: Das 1,5-Grad-Ziel sei “kein Schlagwort, kein Wunschzettel von Umweltschützern. Es ist ein wissenschaftliches Überlebensziel”. Der European Green Deal sei “sehr unzureichend”. Die noch offenen Green-Deal-Gesetze in den Bereichen Gebäude, Gas und Erneuerbare müssten “viel höhere Ziele stecken“, sodass das Fit For 55-Paket nicht nur eine Reduktion von 55 Prozent der CO₂-Emissionen erreicht, sondern näher an 65 Prozent liegen werde.
Der umweltpolitische Sprecher der EVP im EU-Parlament, Peter Liese (CDU), fordert “massive Anstrengungen” beim Thema negative Emission. “Wir müssen die Technologien, die CO₂ aus der Atmosphäre entnehmen, besser fördern.” EU-Kommission, Ministerrat und eine Mehrheit des EU-Parlamentes hätten jedoch abgelehnt, diese Technologie in den Emissionshandel einzubeziehen, so Liese. Dies müsse so schnell wie möglich nachgeholt werden, damit rechtzeitig ein “industrielles Ausmaß” der CO₂-Entnahme möglich sei.
Gleichzeitig kritisiert der Abgeordnete, die Debatte über Emissionsminderungen dürfe sich nicht allein auf Deutschland und Europa fokussieren und stattdessen beim internationalen Klimaschutz erfolgreicher sein. Europas Klimaziele seien ambitioniert, andere Industriestaaten und viele Schwellenländer blieben jedoch hinter den Erwartungen zurück, so Liese. Insbesondere China müsse durch ein europäisches Vorbild einer dekarbonisierten Industrie überzeugt werden.
Auch EU-Klimakommissar Frans Timmermans fordert höhere Klimaziele insbesondere von Industrie- und Schwellenländern, wie sie es in Glasgow und Sharm el-Sheikh versprochen hätten, sowie solide nationale Gesetze, um die Ziele zu erreichen.
Der Niederländer Bas Eickhout (Grüne), Delegationsleiter des EU-Parlaments bei der COP27, will hingegen deutlich höhere Klimaziele auch für Europa. Reichere Länder müssten viel schneller klimaneutral werden – “nicht im Jahr 2050, sondern 2040”. Er fordert die EU-Kommission daher auf, schon für 2040 die Klimaneutralität des Kontinents als Ziel auszugeben.
Klima-Ökonom Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung PIK, sagte: “Der Report zeigt, dass in bestimmten Weltregionen gerade eine Entkoppelung von CO₂-Emissionen und Wirtschaftswachstum einsetzt”. Er forderte dennoch rasches Handels und die “Treibhausgasemissionen dauerhaft in allen Sektoren zu verringern”. Dafür seien auch “Carbon Dioxide Removal–Technologien notwendig, deren Einsatz mit moderaten ökonomischen Kosten verbunden ist”. Lili Fuhr, stellvertretende Direktorin des Climate and Energy Program des Center for International Environmental Law (CIEL) nannte Carbon Capture and Storage und Carbon Dioxide Removals hingegen “Technofixes”. Man dürfe sich darauf nicht verlassen und riskiere ein Überschreiten der Klimaziele.
Stephen Singer, Energie- und Wissenschaftsexperte des Climate Action Network International warnte vor zunehmenden Extremwetterereignissen. “Derzeitige Jahrhundert-Fluten und -Stürme werden in einigen Weltregionen zu jährlichen Vorfällen werden, wenn die Welt die CO₂-Emissionen nicht sofort senkt”. Die Politik müsse Solar- und Windenergie ausbauen, die Energieeffizienz verbessern, die Entwaldung stoppen und die Ernährung umstellen.
Oliver Geden, Mit-Autor des IPCC-Berichts, sagte: “Wir müssen anfangen, uns ernsthaft mit der Welt jenseits von 1,5 Grad Temperaturanstieg zu beschäftigen, weil wir auf diese zusteuern”. Wichtig sei die Beschäftigung mit den Fragen, was ein solcher Temperaturanstieg für das Klimasystem heißt, für die Auswirkungen, Risiken und die Anpassung. Sich mit einer Welt über 1,5-Grad zu beschäftigen, hieße nicht, sich paralysieren zu lassen. Mit Lukas Scheid